Wolfsmond
von Cúthalion


Kapitel Achtzehn
Der Stein, der vom Himmel fiel

Die Uhr im Wohnzimmer von Rutas Haus schlug drei, als Harry eintraf. Das einzige Geräusch neben dem leisen, silbrigen Läuten war das Porzellangeklapper in der Küche, wo Winky fröhlich herum fuhrwerkte, und Stephen registrierte, dass Ruta beim plötzlichen Klingeln der Messingglocke tief Atem holte. Er folgte ihr schweigend hinaus in den Flur; sie öffnete die Tür und stand Angesicht zu Angesicht Harry Potter gegenüber, der auf der Schwelle wartete. Sein schwarzes Haar war sogar noch zerzauster als üblich, und unter den grünen Augen hinter der Brille lagen dunkle Schatten. Er sah aus, als hätte er seit dem letzten, schicksalhaften Nachmittag nicht eine einzige Minute geschlafen.

„Hallo, Harry,“ Rutas Stimme war trocken und brüchig, und sie sah aus, als wollte sie vor dem Mann zurückscheuen, der einer ihrer besten Freunde war – offensichtlich, um ihm die Notwendigkeit zu ersparen, es selbst zu tun. Ein paar Sekunden lang regte sich keiner von ihnen. Dann---

Ruta.“ Potters müdes Gesicht leuchtete in einem Lächeln auf, und er umarmte sie ohne jedes Zögern und drückte sie fest an sich. „Ich bin so froh, dich zu sehen – du hast mich gestern zu Tode erschreckt, als du verschwunden bist!“

„Ich habe mich selbst zu Tode erschreckt,“ erwiderte sie, die Worte von seiner Lederjacke gedämpft. „Bitte versuch, mir zu vergeben... ich war sehr durcheinander.“

„Natürlich warst du das.“ Für einen kurzen Moment begegneten Seekers Augen den seinen, und die beiden Männer lächelten sich – vermutlich zum allerersten Mal – mit ehrlicher Wärme zu. „Ginny schickt dir liebe Grüße... sie hätte gern, dass du herüberkommst, wann immer du möchtest.“

„Wirklich?“ Ruta seufzte tief. „Ich dachte nicht, dass Ginny... ich war sicher...“ Sie brach ab, trat aus seiner Umarmung zurück und betrachtete ihn scharf. „Harry – worum ging es bei dieser Eule? Wo ist dein Besucher?“

„Oh – tut mir Leid.“ Potter wandte sich zu jemandem zurück, den Seeker nicht sehen konnte. „Mr. Radescu?“

Ein anderer Mann tauchte hinter ihm auf und verdunkelte den Türrahmen. Er war groß, größer noch als Seeker. Langes, graues Haar fiel auf seine Schulter hinab; sein Gesicht war hohlwangig und tief gebräunt, mit einer vorspringenden Nase und dunkelbraunen Augen unter schweren Brauen.

Doamna Lupin?“ Er trat ein und schloss die Tür hinter sich. „Mein Name ist Radu Radescu. Domnul Potter dachte, ich sollte herkommen und Sie kennen lernen.“ Seine Stimme war so tief und klangvoll wie ein Bronzegong, und er sprach mit einem starken Akzent, offenen, klaren Vokalen und einem harten, rollenden ,R’.

„Wie... wie geht es Ihnen, Mr. Radescu?“ Ruta streckte die Hand aus und der Mann ergriff sie. Seeker sah, wie sie erstarrte und aufkeuchte. Er warf Potter einen forschenden Blick zu, und der räusperte sich.

„Mr. Radescu ist sehr früh heute morgen aus Rumänien eingetroffen,“ erklärte er. „Er hatte eine lange Unterhaltung mit Kingsley Shacklebolt; es hat sehr dabei geholfen, das Rätsel um Greybacks Aufenthalt während der letzten sechs Jahre zu lösen.“

„Ja,“ fügte Ruta hinzu und drehte sich zu Seeker um. Ihr Gesicht hatte jegliche Farbe verloren; sogar ihre Lippen waren weiß. „Und Mr. Radescu ist ein Werwolf.“

Eine betäubende Stille senkte sich über den kleinen Vorraum. Zorn zuckte in Stephen Seeker hoch wie eine Flamme, und er begegnete Harry Potters Blick mit blitzenden Augen.

„Sie haben vermutlich einen guten Grund dafür, sich einzubilden, dass er ausgerechnet hier sein sollte?“ Seine Stimme war farblos und leise. Aber der jüngere Mann hielt die Stellung.

„Mr. Radescu ist Gast des Ministeriums,“ sagte er ruhig. „Neben manch anderem befanden sich die magischen Autoritäten in Rumänien bei diesem merkwürdigen Werwolfsorden scheinbar in einem schwerwiegenden Irrtum. Und Mr. Radescu hat viel dazu getan, die Lage zu klären.“

„Es ist nicht nötig, mich zu beschützen, Stephen.“ Das war Ruta, die ihre Fassung zurück gewonnen hatte. „Jedenfalls nicht gegen eine Ansteckung; ich wurde bereits gebissen, nicht wahr?“ Ihr schiefes Lächeln war eine Mischung aus Ironie und Bedauern, aber als sie sich ihrem Besucher zuwandte, wurde es natürlicher. „Willkommen, Mr. Radescu. Darf ich Ihnen Stephen Seeker vorstellen? Er ist ein sehr guter Freund von mir... und er hat es sich in letzter Zeit zur Gewohnheit gemacht, mich vor Bedrohungen zu bewahren, wofür ich ihm überaus dankbar bin.“

„Mr. Seeker.“ Radu Radescu verbeugte sich; eine Augenbraue stieg rasch in Richtung Haaransatz, ehe sich wieder ein Ausdruck gelassener Höflichkeit über seine Züge legte. „Ich bin wirklich sehr erfreut, Sie kennen zu lernen.“

Seeker erwiderte die Verbeugung steif, und Ruta übernahm auf dem Weg ins Wohnzimmer die Führung, die drei Männer hinter sich. Winky hatte die Zeit gut genutzt und eine fabelhafte Teetafel vorbereitet. Es gab Gurkensandwiches, kleine Törtchen mit Marmelade, einen glasierten Obstkuchen und ein Extrateller mit warmen Scones und dicker Sahne. Seeker bemerkte mit einem kleinen Lächeln, dass auch eine Kanne Assam-Tee au dem Tisch stand, und noch eine weitere mit Rutas Lieblings-Kaffeesorte.

Sie setzten sich, und Seeker wählte den großen Ohrensessel gleich neben Ruta. Harry Potter servierte dem Gast des Ministeriums eine Tasse Kaffee und hatte den Inhalt seiner eigenen Tasse und einen Scone förmlich eingeatmet, noch ehe Seeker die Gelegenheit hatte, Sahne in seinen Tee zu gießen. Nun war Potters Gesicht ein bisschen weniger bleich, und er ließ sich neben Radescu auf dem Sofa nieder.

„Vielleicht,“ sagte er zu Ruta, „solltest du Mr. Radescu erlauben, dir seine Geschichte zu erzählen. Sie ist eng mit der von Fenrir Greyback verbunden, wenigstens nach der Zweiten Schlacht. Und er ist in gewisser Weise Greybacks Opfer – genau wie du.“

Ruta wandte ihren Blick von Potter zu dem Mann neben ihm; sie betrachtete prüfend sein Gesicht und runzelte die Stirn. „Wie das? Hat er Sie auch gebissen?“

„Nein, Doamna Lupin, das hat er nicht; ich bin von Geburt an ein Werwolf.“ Das gebräunte Gesicht wurde für einen Moment hart, und etwas flackerte in den braunen Augen, wild und golden wie ein plötzliches Feuer. „Er hat meinen Vater ermordet.“

*****

„Ich komme aus dem Dorf Bojta in Rumänien,“ sagte Radu Radescu, „Es liegt am Fuß des Zibinsgebirges, in der Nähe des Turnul Rosu, wo die Händler seit Jahrhunderten mit ihren Waren gewandert sind, nach Sibiu im Norden und südlich in die Walachei. Schon meine Vorväter haben sich bei den Ruinen des Roten Turmes versammelt, wenn der Mond voll war. Dort richtet der Consiliul Lupilor über Streitfälle zwischen Familien, und Liebende heiraten mit dem Segen der Ältesten.“

Er erhob sich vom Sofa und stand sehr gerade, die Hände hinter dem Rücken. Er sah aus wie ein Märchenerzähler oder ein Barde, der eine Legende für sein Publikum spann, und während er sprach, webte seine tiefe Stimme die Musik seiner Erzählung wie einen machtvollen Zauber.

Seit Jahrzehnten, vielleicht seit Jahrhunderten, hatten die familile de lupi von Bojta in einem vorsichtigen Burgfrieden mit ihren nicht verfluchten Nachbarn gelebt. Männer und Frauen folgten den Regeln und zogen sich in die Berghöhlen zurück, wenn der Fluch am schlimmsten wirkte. Durch diesen Burgfrieden war kein Unschuldiger zum Opfer geworden, und Nachbarn hatten begonnen, Nachbarn zu ehelichen. Werwölfe heirateten Zauberer oder Hexen, und wenn die Leute ihre Kinder auch immer noch sorgsam beobachteten, um festzustellen, ob die Pubertät Magie oder Wahnwitz zur Blüte brachte – oder gleich beides – so herrschte doch zum größten Teil Ruhe.

Radescu seufzte, und einen Moment später war der Barde wieder nicht mehr als ein Mann.

„Seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war mein Großvater Iancu der Patriarh. Er zeugte nur einen Sohn, meinen Vater. Wie ich hatte er den Fluch geerbt, und er hatte im Herbst zuvor geheiratet. Meine Mutter Melitta kam aus einem anderen Dorf, aus Bodu Olt, und sie war kein Werwolf. Nur noch ein Tag fehlte bis zum nächsten Vollmond, und sie war kurz davor, mit einem Kind niederzukommen. Mein Vater war außer sich darüber, dass er wahrscheinlich einen den wichtigsten Augenblicke für einen Ehemann als blutdürstige Bestie würde verbringen müssen, versteckt in einer Höhle im Zibinsgebirge.“

Er legte die Hand um seine Kaffeetasse und atmete den duftenden Dampf tief ein. Dann nahm er einen großen Schluck.

„Meine Mutter spürte seinen Kummer und seine Unruhe, und sie versuchte, ihn zu trösten, so gut sie konnte. Aber er war noch immer unglücklich, und er warf sich selbst vor, sein schlimmes Schicksal auch über sie zu bringen. Endlich verließ er das Haus und verbrachte den Rest der Nacht im Freien, in der Nähe des Olt-Flusses. Er schlief am Fuß eines steilen Hügels ein, und als er aufwachte, war es früher Morgen. Er war sehr durstig und entdeckte mit großer Dankbarkeit einen kleinen, klaren Bach, der dicht neben ihm zum Fluss hinab rann. Er trank sich satt, und als er nach Bojta zurückkehrte, lag meine Mutter in den Wehen.“

„Es war eine schwierige Geburt; meine Mutter durchlitt große Schmerzen, und die Stunden verstrichen, ohne dass es voranging. Endlich ging die Sonne unter, und die Hebamme schickte meinen Vater aus dem Zimmer. Die Zeit der Verwandlung nahte heran, und es war ihm nicht erlaubt, seine unschuldige Frau zu gefährden. Er stand im Garten und schrie in seiner hilflosen Wut zum Himmel.“

Sein Gesicht verzog sich zu einem kleinen, ironischen Lächeln, und nicht zum ersten Mal spürte Seeker die seltsame, überraschend starke Verbindung zwischen diesem Mann und Ruta. Sie saß reglos da, den Blick unverwandt auf Radescu gerichtet.

„Der Mond ging auf, das silberne Zeichen des Fluches, und mein Vater saß zusammen gekauert am Boden; er wartete darauf, von dem vertrauten, entsetzlichen Wahnsinn überwältigt zu werden. Aber zum ersten Mal in seinem Leben suchte der ihn nicht heim.“

Seeker räusperte sich. „Was soll das heißen?“

Der Rumäne warf ihm einen scharfen Blick zu. „Das heißt, er verwandelte sich nicht. Er wartete darauf, dass das Fell seine Haut durchbrach, dass sich seine Zähne zu tödlichen Fängen schärfen würden. Aber nichts davon geschah.“

„Nichts davon geschah.“ Rutas Stimme war ein atemloses Echo, ihre Verblüffung so groß und tief greifend wie die von Seeker.

Radescu lächelte sie an.

„Mein Vater war vollkommen außer sich; er zitterte vor Staunen und Freude... aber natürlich wagte er nicht, ins Haus zu gehen. Erst als die Sonne über das Dach gestiegen war, eilte er endlich zu seiner Frau zurück... und wurde vom Geschrei eines neu geborenen, kleinen Jungen begrüßt.“ Das Lächeln wurde breiter. „Der war ich.“

„Und dann?“ fragte Ruta fasziniert.

„Er wartete, bis der Vollmond vorüber war, dann ging er zu den Ältesten und erzählte ihnen seine unglaubliche Geschichte. Sie stellten ihm eine Unzahl von Fragen. Wo war er am Tag und in der Nacht zuvor gewesen? Was hatte er getan, das anders war? Er hatte keinerlei Magie angewandt – es gab sowieso keine Magie, die gegen den Fluch geholfen hätte.“

Seekers Augen weiteten sich, als er plötzlich begriff.

„Der Bach?“ sagte er langsam. „Der Bach, aus dem Ihr Vater getrunken hatte, als er die Nacht in der Nähe von diesem Fluss verbrachte?“

„Sehr gut, Domnul Seeker.“ Radescu nickte anerkennend. „Und absolut richtig.“

Die Ältesten gingen mit Nicolae dorthin, wo er geschlafen hatte, und sie folgten dem kleinen Bach stromaufwärts, wo er aus einem Riss in einem Felsen entsprang. Sie untersuchten den Felsen; er war mitternachtsdunkel, die Oberfläche kühl und glatt wie Seide. Sie wanderten darum herum und sahen, dass er in einem tiefen, uralten Krater ruhte, der überwuchert war von Buschwerk und Bäumen. Aber die Form konnte man immer noch erkennen... eine breite Vertiefung im Hügel. Iancu, Radus Großvater, war ein weiser und gelehrter Mann, und zu der Zeit einer der Ältesten. Er sagte ihnen, dass manchmal Steine vom Himmel fielen, die aus dem weit entfernten Weltall kamen. Vielleicht war das ja so ein Stein – er sah ganz sicher nicht so aus wie die Felsen ringsherum. Also kratzten die Ältesten eine Handvoll Staub von der Oberfläche und nahmen sie mit nach Bojta. Sie wählten drei Freiwillige – Nicolae eingeschlossen – mischten den Staub mit Wasser und gaben ihnen die Mischung zu trinken. Dann warteten sie ängstlich auf den nächsten Vollmond.

Er leerte seine Tasse und stellte sie wieder auf den Tisch. Dann holte er tief Atem, und seine Augen fanden Ruta, die sehr aufrecht in ihrem Sessel saß, gespannt wie eine Bogensehne.

„Sie verwandelten sich nicht. Keiner von ihnen,“ sagte er. „Es war tatsächlich der Stein. Die Ältesten nannten ihn den Piatra Lunii – weil er ein wundersames Geschenk des Mondes war, ein unerwarteter Segen, eine Erlösung von den Fluch. Sie gruben ihn aus und brachten ihn nach Bojta.“

„Wie groß war er?“ fragte Ruta.

Radescus Blick suchte den Raum ab und kam auf der Teekanne zur Ruhe.

„Zweimal so groß wie dies da,“ sagte er. „Nicht sehr eindrucksvoll, nicht wahr? Die Ältesten kratzten genügend Staub herunter, um das ganze Dorf vor dem Wahnsinn zu bewahren... aber plötzlich verspürten sie die ersten Zweifel. Wie lange würde ihr Vorrat ausreichen? Wie viel davon war tatsächlich nötig, um einen Werwolf dauerhaft von der Verwandlung abzuhalten, und wie lange würde er das Pulver nehmen müssen? Ein Wunder war ihnen ihn die Hände gefallen, aber nun hatten sie Angst, es zu verschwenden.“

„Guter Gedanke.“ Stephen Seeker beugte sich vor. „Wie gingen sie weiter vor?“

Radescu goss ich eine zweite Tasse Kaffee ein. „Sie entschieden sich für weitere Tests.“

Die Ältesten wählten zwei vertrauenswürdige Familien, mit insgesamt fünf Söhnen und Töchtern, die um die zwanzig Jahre alt waren. Sie gaben jedem von ihnen eine Prise des Pulvers. Zu ihrer größten Verblüffung erwies es sich, dass selbst diese winzige Menge ausreichte, um einen Werwolf vor der Verwandlung zu schützen, wenn der nächste Vollmond kam. Nicolae bekam diesmal nichts von dem Pulver, aber auch er verwandelte sich nicht. Einen Monat später blieben vier der fünf „Testpersonen“ menschlich, nur eine der jungen Frauen verwandelte sich in eine Wölfin und erhielt noch eine Dosis. Beim Vollmond danach entkam auch sie dem Fluch, und sie blieb frei davon für den Rest ihres Lebens.

„Sie starb 1968,“ sagte Radescu; seine Augen hatten einen leicht wehmütigen Glanz. „Sie geriet unter ein Pferdefuhrwerk und brach sich das Genick, aber bis zu diesem Augenblick war sie die gesündeste und ,normalste’ Frau, die ich je gekannt habe.“ Sein Blick war abwesend, weich von der Erinnerung an eine vor langer Zeit verlorene Freundin.

Jetzt erhielt der Rest der Familien das Pulver ebenfalls. Manche brauchten nur eine einzige Dosis, manche insgesamt vier, aber früher oder später überwand die Kraft des Steines jedes Mal den Fluch. Zwischen den Jahren 1956 und 2002 war keiner der Werwölfe in Bojta, die behandelt worden waren, dazu gezwungen, sich während des Vollmondes zu verwandeln. Die Ältesten waren sehr vorsichtig. Sie hielten das wundersame Pulver vollkommen geheim – nicht nur, weil der Piatra Lunii nur eine sehr begrenzte Menge davon hergab, sondern auch deswegen, weil die außergewöhnliche Wirkung eine gefährliche Kehrseite hatte.

„Sie mussten sich nicht verwandeln,“ stellte Ruta fest; ihre Stimme war ein wenig unsicher. „Aber sie konnten es, nicht wahr? Und die Mondphase spielte dabei keine Rolle mehr.“

„Ja, Doamna Lupin,“ erwiderte Radescu. „Was zum Heilmittel für die meisten von uns geworden war, konnte leicht eine Waffe gegen andere sein, wie ein schlimmer Vorfall bewies. Wir wurden damit fertig, aber es wurde entschieden, dass wir den Stein alle geheim halten mussten. Wie waren viel zu dankbar für das, was der Himmel uns so unerwartet geschenkt hatte, um das Risiko einzugehen, es wieder zu verlieren. Von unseren Kindern werden jetzt immer weniger mit dem Fluch geboren, aber denen, die ihn noch tragen, muss geholfen werden.“

„Und doch,“ sagte Seeker grimmig, „betrat trotz Ihrer Geheimhaltung zu einem bestimmten Zeitpunkt Fenrir Greyback die Bühne dieses Dramas.“

„Er kam 2003 nach Bojta,“ antwortete Radescu, „Aber er nannte sich selbst Edward Wolverton. Er sah abgerissen und verhungert aus, und er sagte uns, dass er gezwungen gewesen wäre, aus England zu flüchten - wegen des unheilbaren Hasses gegen Werwölfe vor und nach dem Sturz des Stapânul Întunecat – des Dunklen Lords.“

„Das war nicht ganz und gar gelogen,“ sagte Ruta leise.

„Nein.“ Radescu seufzte. „Wir lebten nun seit mehr als vierzig Jahren in Frieden, aber wir wussten natürlich über Voldemort Bescheid. Nicht genügend, allerdings... oder wir wären vielleicht noch vorsichtiger gewesen. Die Ältesten hielten Rat und beschlossen, Wolverton die Zuflucht zu gewähren, um die er bat. Mein Vater hatte mich nach Sibiu auf eine gute Schule geschickt; als ich zurück kam, war mein Englisch gut genug, um mich mit ihm unterhalten zu können.“

Er blickte auf die Platte mit den Scones hinunter, aber er aß immer noch nichts. Statt dessen fuhr er damit fort, seine seltsame, unerhörte Geschichte zu erzählen, und sie lauschten, unfähig, ihre Augen von seinem strengen, erschöpften Gesicht abzuwenden.

Der angebliche Edward Wolverton verhielt sich zuerst unauffällig. Er akzeptierte mit scheinbarer Dankbarkeit ein kleines Häuschen, das die Ältesten ihm anboten, und für mehr als ein Jahr fügte er sich nahtlos in die Gemeinschaft ein. Rückblickend vermochte Radescu nicht zu sagen, ob „Wolverton“ ursprünglich nach Bojta gekommen war, weil er Gerüchte über ein Geheimnis im Zibinsgebirge aufgeschnappt hatte; die Familien im Dorf hatten – ebenso wie die Ältesten – inzwischen einen feierlichen Eid geschworen, den Piatra Lunii geheim zu halten. Aber was ihr englischer Flüchtling auch wusste oder vermutete, es war unvermeidlich, dass er nach dem dritten oder vierten Vollmond die Wahrheit herausfand. Nicolae Radescu hatte das vorausgesehen: als „Wolverton“ ihn besuchte und die ersten Fragen stellte, hielt er die Antworten bereit, auf die die Ältesten sich geeinigt hatten. Wolverton war freundlich und verständnisvoll. Er sagte genau die richtigen Dinge; er behauptete, dass sein einziger Wunsch wäre, sich als würdig zu erweisen, diesen ,Segen’ ebenfalls zu empfangen.

Einmal mehr trat Radescu aus der Rolle des Erzählers und hinein in seine eigenen Erinnerungen. „Ich begegnete ihm, als er das Haus verließ – er begrüßte mich mit glatter Höflichkeit, aber seine Augen brannten hell, fast wie im Fieber, und Erregung strahlte von ihm aus wie die Glut von einer Feuersbrunst. Für eine kurze Sekunde schaute ich hinter die Maske, und ich fürchtete mich... Aber einen Moment später war der kurze Blick auf die Wahrheit schon vorüber, und ich dachte, ich hätte es mir eingebildet. – Und so hielt er nicht nur mich zum Narren, sondern auch die Ältesten – ein weiteres Jahr hindurch. Wo immer eine Hand gebraucht wurde, war er da, er war höflich und hilfsbereit, und die Leute stimmten darin überein, dass sie sich keinen besseren Nachbarn hätten wünschen können.“

Potter gab ein bellendes Lachen von sich. „Fenrir Greyback, der Gute Hirte,“ murmelte er. „Das ist doch ein schlechter Witz.“

„Nicht, wenn Sie bedenken, worauf er aus war,“ entgegnete Seeker. „Wenn er nur ein wenig länger Kreide fraß, dann hatte er die Chance, sich vom Einfluss des Mondes zu befreien und zur Bestie zu werden, wann immer ihm der Sinn danach stand.“

„Ganz genau,“ sagte Radescu bitter. „Ich wünschte, wir wären nicht so naiv gewesen.“

Im März 2006 empfing „Edward Wolverton“ die Prise von dem Pulver, nach der er so lange gegiert hatte. Zuerst schien sich nichts zu ändern, aber als der Frühsommer kam, geschah etwas, das den Ältesten von Bojta klar machte, dass sie einen schrecklichen Fehler begangen hatten. Eine Schulklasse aus Sibiu wanderte im Zibinsgebirge und erforschte einige der Höhlen am Olt-Fluss. Plötzlich verschwanden zwei zwölfjährige Mädchen spurlos. Die Polizei leitete eine riesige Suchaktion ein, aber ohne jeden Erfolg.

„Es war mein Vater, der endlich herausfand, was geschehen war,“ sagte Radescu, eine tiefe, senkrechte Falte zwischen den Augenbrauen. „Er kannte die Höhlen in den Hügeln rings um Bojta viel besser als die Muggelpolizei, aus der Zeit, als er sich dort während seiner Verwandlung hatte verstecken müssen, bevor... bevor wir den Stein hatten. Endlich entdeckte er die Mädchen, an einem milden, sonnigen Morgen im Juli.“

Sein Gesicht war plötzlich sehr blass, und Seeker konnte sehen, wie sich die Muskeln an seinem Kiefer zu starren Knoten verkrampften. Es war lange still. Dann war es Ruta, die sprach.

„Waren sie tot?“ fragte sie sanft.

„Ja, das waren sie.“ Radescu schluckte, die Augen dunkel und gehetzt von etwas, das nur er selbst in seinem Geist sehen konnte. „Was ihnen zugestoßen war, war schlimmer als ein bloßer Mord; ihr Peiniger hatte sie buchstäblich in Stücke gerissen.“

Er straffte den Rücken und rang um Fassung.

„Als Werwolf erkannte mein Vater die Spuren sofort... und es war Neumond. Niemand von uns hätte so etwas Verdammenswertes getan... wir lebten in Sicherheit, weil seit fast fünf Jahrzehnten niemand von uns mehr unter dem Fluch gejagt hatte. Diese grausame Untat war eine schwere Gefahr für die Gemeinschaft der Werwölfe von Bojta.“ Seine Lippen bildeten eine schmale Linie, und sie konnten seinen Widerwillen, die Geschichte dieses Dramas fortzusetzen, wie eine dunkle Wolke spüren, die sich im Raum zusammen ballte.

Nach dem ersten Schock entschied sich Nicolae Radescu dagegen, „Wolverton“ zur Rede zu stellen und apparierte statt dessen nach Sibiu. Er suchte das Redaktionsbüro des Phoenixul Românesc auf – der landesweiten Zaubererzeitung – und verbrachte einen langen Nachmittag damit, alles über die jüngste Zaubereigeschichte in England und den Untergang von Lord Voldemort nachzulesen. Endlich fand er, wonach er gesucht hatte – einen älteren Artikel über Werwölfe in Großbritannien, der sich hauptsächlich mit einem gewissen Fenrir Greyback beschäftigte (der als Monstrum beschrieben wurde und als ein abschreckendes Beispiel für die Schlechtigkeit dieser „verfluchten Rasse“ im Allgemeinen). Es gab auch ein Photo... offensichtlich mehr als zehn Jahre alt, aber die Ähnlichkeit von Greyback mit „Wolverton“ war so eindeutig wie erschreckend.

Radescu atmete tief ein.

„Mein Vater kam noch am selben Abend zurück und berichtete mir von seiner Entdeckung. Wir stimmten darin überein, dass die Ältesten informiert werden mussten, und dass eine rasche Entscheidung zu treffen war. Ich ging zu Greybacks Haus und sah, dass er nicht da war. Er hatte bereits einmal getötet, seit er in Bojta lebte, und es war mehr als wahrscheinlich, dass der erste Mord seine Blutgier erst angestachelt hatte. Also beschloss mein Vater... er beschloss, sich zu verwandeln und ihn zu jagen, indem er seiner Fährte folgte.“

Seine Augen suchten Rutas Gesicht.

„,Eine Bestie ist nötig, um diese Bestie zu erlegen,’ sagte er.“

Er blickte auf seine Hände hinab; Seeker sah, dass seine Finger zitterten.

„In dieser Nacht kam er nicht wieder, und er blieb den gesamten nächsten Tag fort, ebenso wie die darauf folgende Nacht. Meine Unruhe wuchs, bis ich vollständig in Panik geriet, und endlich entschied ich, beiden Spuren zu folgen – obwohl ich es nicht wagte, mich zu verwandeln. Ich fand ihn am nächsten Abend. Er lag dicht an der Mauer des Turnul Rosu, und er war halb verblutet.“

Merlin.“ Rutas Stimme war scharf und entsetzt.

„Er musste schon seit der Morgendämmerung dort gewesen sein; er war in menschlicher Gestalt, und sich zurück zu verwandeln hatte ihn sehr geschwächt. Er war von Schrammen und kleinen Wunden übersät, aber sein rechtes Bein war schwer verletzt. Mein Vater war nie ein Heiler gewesen, und als Wolf hatte er seinen Zauberstab nicht bei sich tragen können. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als das blutende Bein nur mit seinem Gürtel abzubinden und auf Hilfe zu warten. Als ich endlich kam, war er ohnmächtig. Der improvisierte Verband hatte sich gelockert und Blut tränkte den Boden, wo er lag. Ich sank neben ihm auf die Erde und nahm seinen Kopf auf meine Knie. Er öffnete die Augen und sah mich an, ,Radu’, flüsterte er, ,Fiul meu.’ Er schwieg lange Zeit, und dann hörte ich wieder seine Stimme, kaum mehr als ein Flüstern. Er kämpfte um jedes einzelne Wort. ,Greyback... hat mich gebissen... stand über mir... grinsend... wie ein Wahnsinniger...,bleibe nicht hier, um dich verrecken zu sehen, alter Narr’... kehrt jetzt nach England zurück... um endlich Rache zu nehmen...’ Ihm fielen die Augen wieder zu und ich konnte spüren, wie sein Pulsschlag unter meiner Hand stolperte und langsamer wurde.“

Radescu schauderte, das Gesicht schmerzverzerrt. Aber er fuhr trotzdem fort, unfähig, die Erinnerungen einzudämmen, die aus ihm heraus strömten.

„,Rache?’ fragte ich, ,Vater, was für eine Rache? An wem denn?’ Mein Vater antwortete nicht, nicht gleich jedenfalls. Sein Atem wurde flach und mühselig, und ich... ich weinte. Plötzlich hoben sich seine Hände, packten mich am Kragen und zogen mich herab, dicht an seinen Mund. Er murmelte etwas, das ich nicht verstand. ,Noch einmal,’ drängte ich, während meine Tränen in sein Haar fielen. ,Versuch es noch einmal, Vater.’ Und dann begriff ich, was er sagte. ,Lupin’, keuchte er. ,Lupin...’ Und das war das letzte Mal, das er zu mir sprach.“

Die hochgewachsene, grauhaarige Gestalt schien in das Sofa hinein zu schrumpfen. Aus dem Augenwinkel sah Seeker eine kleine Bewegung; es war Ruta, die sich vorbeugte. Ihre Finger schlossen sich um die Hand des Werwolfs. Seeker brachte es einfach nicht fertig, den plötzlichen, finsteren Impuls zu unterdrücken, der ihn dazu brachte, zu sprechen; in der tiefen Stille des Zimmers klang seine Stimme heiser und fast wütend.

„Als Sie ihren Vater fanden, wo war da Ihr Zauberstab?“

Radescu hob langsam den Kopf und starrte blind in seine Richtung. Aber er sagte nichts. Zu Seekers Überraschung war es Potter, der antwortete.

„Er hat keinen,“ sagte der junge Mann leise. „Sein Vater war ein Zauberer, aber Mr. Radescu ist ein Squib. Er verfügte über gerade genug Magie, um mit mir zu apparieren, oder wir hätten den Zug nehmen müssen.“

Eine schmerzhafte Woge der Scham schlug über Seeker zusammen. Einen Mann mit Gift zu bespritzen, der so viel verloren hatte, und das nur, weil die Frau, die ihm so viel bedeutete, ihm eine spontane Geste der Freundlichkeit und des Mitgefühls erwiesen hatte... manchmal kam sein früheres Ich, das er hinter sich gelassen zu haben glaubte, tatsächlich zurück und suchte ihn heim.

Er räusperte sich. „Mr. Radescu, es tut mir Leid,“ sagte er schlicht. „Das war höchst unpassend.“

„Nicht so unpassend, wie Sie vielleicht denken, Domnul Seeker,“ erwiderte Radescu und richtete sich auf. „Meinen Vater konnte ich nicht schützen, aber vielleicht hätte ich Doamna Lupin schützen können.“

Ruta starrte ihn an. „Sie hätten... oh.“ Sie schluckte nervös. „Weil... weil Greyback Ihrem Vater erzählt hat, wer das Ziel seiner Rache war?“

„Genau.“ Radescu zog eine Grimasse. „Er hat es ihm ganz sicher erzählt... und obwohl ich mich klar und deutlich an jedes einzelne Wort erinnern konnte, das mein Vater in seinen letzten Momenten gesagt hatte, schob ich diese Erinnerungen monatelang von mir. Wir betteten ihn zur Ruhe und trauerten um ihn, und ich nahm seinen Platz als einer der Ältesten ein... und als der Hüter des Piatra Lunii. Ich wollte mich einfach nicht erinnern – aber der Name Lupin verfolgte mich immer wieder. Der Sommer verging, und endlich machte ich mich daran, die Dokumente meines Vaters zu durchsuchen. In einer Schublade in seinem Schreibtisch fand ich eine dicke Mappe voller Zeitungsartikel. Manche davon stammten aus dem Phoenixul Românesc, aber ein halbes Dutzend war auf Englisch, aus Ihrem Tagespropheten. Mein Vater hatte sie offenbar von seiner Reise nach Sibiu mitgebracht, um sie mir zu zeigen, damals im Juli. Jetzt las ich sie durch, und ich entdeckte den Namen Remus Lupin. Im Artikel hieß es, dass er mit seiner Frau in der Zweiten Schlacht gegen den Dunklen Lord gefallen wäre, aber es war auch die Rede von einem Sohn, einem kleinen Jungen.“

Er senkte den Kopf.

„Zuerst wusste ich nicht, was ich tun sollte. Sollte ich mich an das Zaubereiministerium in Bukarest wenden? Der Ruf der Werwölfe ist in meinem Land nicht besser als in Ihrem. Ich stellte mir vor, wie ich im Büro eines gelangweilten Beamten in Bukarest stand und versuchte, ihm von einem Geheimnis zu erzählen, das ich nicht einmal annähernd offenbaren durfte... ich wäre gezwungen gewesen, über den Piatra Lunii zu sprechen. Ich verlor beinahe den Mut... aber dann studierte ich die Zeitungsartikel noch einmal und fand andere Namen. Harry Potter... Hermine Granger.... Ronald Weasley. Und ein Artikel erwähnte Ronald Weasleys älteren Bruder – einen englischen Drachenzähmer, der mit einer Gruppe Zauberer an den Hängen des Varfûl Cindrel arbeitet.“

„Charlie Weasley,“ sagte Ruta. „Hatten Sie die Gelegenheit, ihn kennen zu lernen?“

„Ja,“ erwiderte Radescu. „Aber das war unglaublich schwierig; die Drachenzähmer arbeiten unter großer Geheimhaltung, und ihre Umgebung wird durch machtvolle Zauber geschützt. Erst vor vierzehn Tagen hatte ich Erfolg – und dann verbrachte ich eine mühselige Nacht mit dem Versuch, ihn davon zu überzeugen, dass ich nichts Böses im Sinn hatte, dass ich nicht vollkommen verrückt war und dass ich ihm die Wahrheit sagte.“

„Das hätte ich zu gern gesehen,“ murmelte Potter; grüne Augen trafen schwarze, und Seekers Gesicht entspannte sich zu einem kurzen Grinsen. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Radescu zu; der Werwolf zog etwas aus seiner Tasche.

Domnul Weasley nahm Kontakt mit dem Ministerium auf; mit seiner Hilfe konnte ich endlich mit den richtigen Leuten sprechen. Und das ist der Grund, weshalb ich jetzt hier bin... um Ihnen meine Geschichte zu erzählen und die Schuld von Bojta zurück zu zahlen, Doamna Lupin... und meine Schuld.“

„Das verstehe ich nicht,“ sagte Ruta stirnrunzelnd. „Was für eine Schuld?“

„Bojta gab Greyback Zuflucht, als er sie nötig hatte, und wir ließen zu, dass er uns mit seinen fein gesponnenen Lügen zum Narren hielt. Unsere Einfalt führte zum Tod zweier Kinder, und zu dem Angriff auf Sie, Doamna Lupin, und auf Remus Lupins Sohn. Hätte ich meine Trauer früher überwunden, dann hätte ich Sie davor bewahren können, jemals ein Werwolf zu werden.“

„Wenn ich in den letzten paar Monaten irgend etwas gelernt habe,“ erwiderte Ruta mit einem bleichen Lächeln, „dann, dass ,Was wäre, wenn’ nirgendwo hin führt. Ich gebe Ihnen für mein Schicksal nicht die Schuld, Mr. Radescu.“

„Sie sind überaus großzügig,“ sagte Radescu; sein Gesicht wirkte hart und entschieden. „Aber ich gebe mir selbst die Schuld, und es gibt nur einen Weg, meinen Seelenfrieden zurück zu gewinnen.“

Er öffnete die Hand, und ein kleines Fläschchen kam zum Vorschein. Es war fast leer; nur der Boden war mit einem feinen, schwarzen Pulver bedeckt. Seeker erhob sich hastig aus seinem Stuhl. Erregung kreiste in seinen Adern wie ein plötzliches Feuer.

„Ist das---“

„ja, Domnul Seeker. Das ist Pulver vom Piatra Lunii – genug für drei oder vier Anwendungen. Nutzen Sie es sorgsam, Doamna Lupin, und Sie werden für den Rest Ihres Lebens vom Fluch des Mondes frei sein.“

*****

Sie standen im Vorraum neben der Eingangstür; Harry Potter trug seine Lederjacke und Radu Radescu einen langen Wollumhang.

„Ich treffe Andromeda zum Abendessen, sobald ich mit Mr. Radescu nach London zurückappariert bin,“ sagte Potter. „Ich werde ihr und Teddy sagen, dass es dir gut geht.“ Er lächelte Ruta an. „Vielleicht würdest du es ihr gern persönlich sagen? Ich bin sicher, sie hätte nichts dagegen, dass du mitkommst.“

Ruta schüttelte den Kopf.

„Nein, Harry,“ sagte sie. „Ich denke, nach dem, was gestern passiert ist, wäre das noch ein bisschen... früh. Oh – übrigens, als ich Teddy das letzte Mal ein Beedle-Märchen vorgelesen habe, ist das Buch versehentlich bei mir zu Hause gelandet. Würdest du es ihr zurückgeben?“

„Natürlich,“ meinte Potter. „Wenn du wirklich denkst...“

„Ja, das tue ich.“ Ruta sprach mit fester Stimme. „Gib mir einen Moment... ich habe es oben im Schlafzimmer gelassen.“

Für einen Sekundenbruchteil begegneten ihre Augen denen von Seeker. Er sah ein winziges, warmes Lächeln und spürte, wie sich sein eigenes Gesicht zur Antwort unwillkürlich entspannte; dann war sie weg und er hörte ihre Schritte auf der Treppe. Er bezweifelte, dass Potter den kurzen Blickwechsel mitbekommen hatte, aber Radescus Gesichtsausdruck zeigte deutlich, dass er ihm aufgefallen war. Seine Brauen hoben sich, und seine Nasenflügel weiteten sich, als würde er einen überraschenden Duft wittern. Einen Moment später war Ruta wieder zurück und reichte Potter Die Märchen von Beedle dem Barden.

„Leben Sie wohl. Mr. Radescu,“ sagte sie, zu dem Werwolf gewandt. „Es war mir eine Freude, Sie kennen zu lernen. Nein... mehr als eine Freude. Ich werde nie imstande sein, Ihnen genug für Ihre Hilfe zu danken.“

„Es war das Wenigste, was ich tun konnte,“ erwiderte Radescu ernst. „Leben Sie wohl, Doamna Lupin.“ Er zögerte. „Domnul Seeker?“

„Ja?“

„Habe ich das richtig verstanden, dass Sie und Doamna Lupin nur Freunde sind? Sie sind nicht miteinander verheiratet?“

Ruta erstarrte, und Potter öffnete den Mund. Aber bevor er etwas sagen konnte, wandte Seeker den Kopf und warf ihm einen Blick zu, der die schiere, niederschmetternde Essenz aller kalten Blicke war, die Severus Snape jemals an seiner krummen Nase entlang auf den Jungen Der Lebte abgeschossen hatte. Der jüngere Mann lief scharlachrot an.

„Entschuldigen Sie mich,“ murmelte er. „Ich warte draußen.“ Er hatte den Satz kaum beendet, als die Tür bereits hinter ihm zufiel. Seeker schaute Radescu an und sah, dass dieser mit einer gewissen Verlegenheit lächelte.

„Ich hoffe, die Frage war nicht zu unverschämt,“ sagte er. „Es geht mich selbstverständlich überhaupt nichts an, aber ich muss zugeben, ich bin neugierig.“

Seeker atmete hörbar aus.

„Sie haben Recht, es geht Sie nichts an,“ entgegnete er kühl. „Aber nein, wir sind nicht verheiratet.“

„Erstaunlich,“ stellte Radescu leise fest, und dann sagte er – fast unhörbar – etwas in seiner eigenen Sprache.

„Würden Sie das wohl bitte auf Englisch wiederholen?“ sagte Seeker, und die Temperatur seiner Stimme sank weit unter die Kälte von arktischem Frost. „Mein Rumänisch ist ziemlich schwach.“

„Vergeben Sie mir,“ antwortete Radescu gelassen, und dann fanden seine Augen die von Seeker und hielten seinen Blick fest. „Ich sagte: Ich kann ihren Duft überall auf Ihrer Haut riechen.“

Seeker starrte ihn an; ihm fehlten die Worte. Der Zorn, den er zuvor erfolgreich nieder gekämpft hatte, kehrte mit voller Macht zurück. Wie konnte er es wagen... und was, wenn seine Geschichte nichts anderes war als ein klug ausgedachtes Märchen, um die Familien in seinem Dorf vor Verfolgung zu schützen? Sein Geist streckte sich aus und begegnete keinerlei Widerstand; Radescus Augen weiteten sich plötzlich und er fror ein, eine Hand zu einer Verteidigung gehoben, die viel zu spät kam.

Das Erste, was er fand, war Rutas Gesicht... und sein eigenes, die Lippen misstrauisch verzogen, Dann überspülte ihn eine Welle unerträglicher Trauer, während er auf die verzerrten Züge eines sterbenden Mannes hinunter schaute. Von seine Händen und Kleidern stieg der schwere, warme Dunst von frisch vergossenem Blut auf. Seeker fuhr zurück, aber er wurde unwiderstehlich tiefer in Radescus Erinnerungen hinein gezogen, und Greybacks bösartiges Grinsen flackerte an ihm vorüber, gefolgt von einem Ansturm entsetzter Furcht. Da war auch ein schwarzer, schimmernder Felsen, begleitet von einem starken Eindruck unaussprechlicher Erleichterung. Doch über und unter all diesen lebhaften Bildern spürte er die bleiche Helligkeit des Mondes, eine ewige Drohung, ein überwältigender, schicksalhafter Fluch.

Seeker zog sich aus Radescus Geist zurück und der Werwolf entspannte sich abrupt. Seine Augen sprühten rötliches Feuer... aber dann kehrten sie zu dem tiefen, ruhigen Braun zurück und zu Seekers Erstaunen lächelte er.

„Das habe ich wohl verdient,“ sagte er. „Ist meine Vertrauenswürdigkeit ausreichend bewiesen, Domnul Seeker?“

„Das ist sie,“ erwiderte Seeker brüsk. „Und ich hoffe, Sie verstehen, dass ich sicher sein wollte.“

Er sah zu, wie Radescu Rutas Hand nahm, sich darüber beugte und ihre Fingerknöchel mit den Lippen streifte. Dann verbeugte der Werwolf sich tief.

La revedere,“ sagte er. „Sollten Sie jemals den Wunsch haben, den Ort zu besuchen, wo der Piatra Lunii behütet wird, dann sind Sie höchst willkommen.“ Ein letztes Mal blickte er Seeker an. „Sie alle beide.“

Und damit war er fort.

*****

Das Schweigen, das ihr Besucher hinterließ, was fast ohrenbetäubend. Es war Ruta, die es zuerst brach; sie trat neben Seeker und berührte ihn am Arm.

„Es ist nur natürlich, dass er etwas bemerkt hat,“ sagte sie leise. „Er ist schließlich ein Werwolf.“

„Und auf brutale Weise taktlos,“ gab Seeker leicht gereizt zurück.

„Ich schulde ihm sehr viel,“ erwiderte Ruta und schuf einen kleinen Abstand zwischen ihnen; die Stelle, wo nur Sekunden zuvor noch ihre Hand gelegen hatte, fühlte sich eigentümlich leer und kalt an. „Er hat mir das größte Geschenk angeboten, das mir irgendjemand hätte geben können – Freiheit vom Mond, Erlösung von dem Fluch, den Greyback über mein Leben gebracht hat.“

Er antwortete nicht.

„Und da ist noch ein weiterer Aspekt,“ fuhr Ruta fort. „Die ganze Zeit hat es mir großen Kummer gemacht, dass diese Bürde nicht nur meinen Schultern aufgezwungen wurde. Du bist nichts als großzügig und selbstlos gewesen, Stephen, aber eine Verwicklung in dieses wahnwitzige Drama kann wohl kaum ganz oben auf deiner Wunschliste gestanden haben, als du neu angefangen und darüber nachgedacht hast, was du mit dieser zweiten Chance machen sollst.“

Ihre sachliche Auslegung seiner Träume und Hoffnungen sorgte dafür, dass seine Lippen in schwacher Belustigung zuckten.

„Deine Vorstellung von Selbstlosigkeit ist ziemlich ungewöhnlich,“ versetzte er trocken. „Ich würde nicht sagen, dass dein Bett zu teilen eine Frage reiner Menschenfreundlichkeit war.“

Er blickte Ruta an. „Lass uns zurück ans Licht gehen; ich kann dein Gesicht kaum sehen.“

Winky hatte die Vorhänge zugezogen und ein Feuer angezündet; der Raum war eine beruhigende Zuflucht vor der kalten Dunkelheit der Nacht. Stephen dankte der kleinen Hauselfe und schickte sie zum Ausruhen nach Hause; er versicherte ihr, dass nicht noch mehr Tee und Gebäck gebraucht wurde. Ruta setzte sich auf das Sofa und streckte seufzend die Beine aus.

„Radescu... er klang so... verblüfft,“ sagte sie. „Denkst du, es war deswegen, weil es ihn überrascht hat, dass jemand, der frei vom Fluch ist, den Mut hat, mit einer Werwölfin ins Bett zu gehen?“

„Nicht bei seiner Abstammung,“ sagte Stephen ironisch. „Ich habe den niederschmetternden Verdacht, dass seine Verblüffung einen Grund hat, der weit entmutigender ist.“

„Oh?“

„Wenn er noch ein Knabe wäre, würde die bloße Tatsache, dass Leute in mittlerem Alter allen Ernstes miteinander schlafen, dafür sorgen, dass er sich vor Entsetzen krümmt.“ Ihre Blicke trafen sich, und sein eigener wurde weich, angesichts des plötzlichen Lachens, das in ihren Augen aufdämmerte. „Aber in diesem besonderen Fall könnte er einfach überrascht sein, dass du jemanden von meinem Aussehen und meiner... ähm...düsteren Natur in dein Bett genommen hast.“

„Ich hatte keinen Grund zur Klage,“ sagte sie sanft und wandte den Kopf zum Feuer; das Licht der Flammen tanzte über ihre Haut und malte lebhafte Reflexe aus Helligkeit und Schatten. „Ganz im Gegenteil, Stephen.“

Er sah ein knappes Lächeln, aber sie wurde rasch wieder ernst.

„Ich war daran gewöhnt, allein zu sein; mein Leben hatte ein festes, verlässliches Muster. Aber jetzt hat es sich aufgelöst wie ein schlecht gestrickter Schal, und es gibt Entscheidungen, die ich treffen muss. Schwierige Entscheidungen.“

Seeker wartete schweigend.

„Radescus Pulver wird die Tatsache nicht ändern, dass ich nicht mehr bei Fionnula arbeiten kann. Ich bin noch immer arbeitslos, und ich muss mir immer noch etwas Neues suchen. Wenigstens muss ich mir keine Geschichten mehr darüber ausdenken, wieso ich jedes Mal fehle, wenn wir Vollmond haben; das wird die Dinge viel leichter machen. Und ich brauche den Wolfsbanntrank nicht mehr. Das gibt auch dir eine Wahl.“

„Mir?“ Er studierte ihr müdes Gesicht. Ruta sah ihn an, die Augen ruhig und sehr klar.

„Die Wahl, fortzugehen, wenn du das willst,“ sagte sie. „Du möchtest dir vielleicht etwas Zeit nehmen, um nachzudenken, Stephen. Die letzten paar Wochen waren unglaublich schwierig für uns beide; das Schicksal hat uns mitgerissen wie eine riesige Lawine. Vielleicht brauchst du eine Gelegenheit zum Luft holen.“

„Vielleicht,“ entgegnete er, wobei er seinen Ton so neutral wie möglich hielt. „Aber bedeutet das notwendigerweise, dass ich fortgehen muss?“

„Nein,“ gab sie zu. „Wahrscheinlich nicht. Aber du könntest meine Gegenwart ein wenig... ablenkend finden.“ Ein Lächeln bebte auf ihren Lippen. „Ich kenne deine Geschichte nur zu gut – du bist wieder und wieder gezwungen gewesen, wichtige Entscheidungen zu treffen, manche davon qualvoller, als ich sie mir vermutlich je vorstellen kann. Ständig hast du blitzschnell auf katastrophale Umstände reagieren müssen.“

Sie stand von dem Sofa auf und kam zu ihm herüber: sie stand dicht genug vor ihm, dass er ihren Atem warm und sacht auf seinem Gesicht fühlen konnte.

„Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass es mir gleich ist, was am Ende dabei herauskommt,“ sagte sie. „Aber ich glaube, du solltest die Chance haben, deine Möglichkeiten ohne Druck abzuwägen.“

„Sehr ungewöhnlich,“ sagte er langsam. „Und vielleicht ein wenig allzu dramatisch. Was ist mit ,Wenn es nicht funktioniert, können wir ja nur Freunde bleiben’?“

„Stephen.“ Jetzt lagen Rutas Hände flach auf seiner Brust. „Du hast deine Deckung geopfert, um zu meiner Rettung herbei zu eilen. Du hast Greyback getötet, um mir das Leben zu retten, und du hast meine Wunden versorgt. Du hast den Wolfsbanntrank für mich gebraut... und du hast mir bewiesen, dass ich es immer noch wert bin... dass ich es noch wert bin, geschätzt zu werden.“ Da war ein seltsamer, kurzer Bruch in ihrer Stimme, aber sie sprach trotzdem weiter. „Nein, ich denke nicht, dass wir dazu zurückkehren könnten, ,nur’ Freunde zu sein, oder Nachbarn, die sich gerade einmal über den Gartenzaun grüßen. Was meinst du?“

Er war nicht närrisch genug, zu bestreiten, dass sie Recht hatte. Sie hätte ihm ohnehin nicht geglaubt – sie war entschieden zu klug, als es gut für sie war.

„Nein.“ Er nahm ihre Hand und küsste sie.

Sie lächelte – nicht traurig, aber mit jener Entschiedenheit, die er am liebsten an ihr sah. „Die letzten Wochen haben mir bodenloses Entsetzen beschert, aber auch grenzenlose Freude, und alles, was hell und hoffnungsvoll war, hatte seinen Ursprung bei dir, und nur bei dir. Ich möchte – ich muss – dir etwas zurückgeben. Freiheit – und Zeit.“

Er beugte sich dem Unvermeidlichen; ihm war bewusst, dass er Radescus Abschiedsgeste wiederholte, aber er stellte fest, dass es ihm nicht wirklich etwas ausmachte.

„Also schön – ich gehe jetzt; es gibt ohnehin ein paar Angelegenheiten, um die ich mich kümmern muss. Iss etwas, Ruta, und schlaf. Du bist immer noch ein wenig angeschlagen; versuch dich auszuruhen.“

Sie trat zurück und brach den Kontakt. „Das werde ich, versprochen. Ich wünsche dir einen guten Abend, Stephen.“

„Gute Nacht, Ruta.“

Seeker sah zu, wie sie das Zimmer verließ; er blieb zurück und wartete. Nach einer Weile hörte er, wie die Schlafzimmertür zufiel. Er ging hinaus, nahm seinen langen Umhang vom Haken und verließ das Haus.

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Anmerkungen der Autorin:

Zuallererst würde ich gerne meinen unermüdlichen Betaleserinnen danken, rabidsamfan und clevertoad; ohne die beiden wäre ich nie so weit gekommen. Und in diesem speziellen Fall geht mein Dank auch an die großartige und hilfsbereite luthien23 – ihr Rumänisch ist viel besser als das von Seeker, und ganz sicher besser als meins. :-)

Doamna/ Domnul – Herr/ Frau
Turnul Rosu
– Roter Turm
familile de lupi
– Wolfsfamilien
Consiliul Lupilor
– Rat der Wölfe
Piatra Lunii
– Stein des Mondes
Patriarh
– Häuptling oder Patriarch
Stapânul Întunecat
– Dunkler Lord
Phoenixul Românesc
– Der Rumänische Phönix
Fiul meu
– Mein Sohn
La revedere
– Auf Wiedersehen

Ein paar zusätzliche geographische Details:

Sibiu ist die frühere, deutsche Gründung Hermannstadt – die Hauptstadt von Transsylvanien. Das Zibinsgebirge kann man von dort aus deutlich sehen, hohe schneebedeckte Gipfel, und der höchste ist der Vârful Cindrel (2800 m). Ich entschuldige mich in aller Form bei den Einwohnern von Bojta – die dortige Werwolfs-Gemeinschaft ist ein Produkt meiner Vorstellung und hat mit der Realität rein gar nichts zu tun. ;-)


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