Wolfsmond
von Cúthalion


Kapitel Acht
Unerwartete Offenbarungen

Harry und Neville apparierten auf dem Weg vor Andromeda Tonks’ Cottage; sie  blieben einen Moment stehen und warteten darauf, dass sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Für einen Moment sah es so aus, als wäre ihre Mission überflüssig. St. Mary Green war mitternächtlich still, und nichts regte sich im wechselnden Licht des abnehmenden Mondes als eine Ranke der Wächterrose, die Andromedas Tor hütete. Sie zog ihre Dornen wieder ein, als sie die beiden vertrauten Besucher erkannte. 

In einem ihrer Fenster brannte ein Licht. Neville  steckte seinen Zauberstab weg, die Hand schon auf dem Riegel des Gartentors, als wollte er hineingehen, aber Harry packte ihn am Arm. „Warte! Ich höre etwas…“

Wieder kam der Schrei – kein Quietschen eines Tores oder das Ächzen eines Baumes im Wind, sondern eine menschliche Stimme, und dann ein tieferer, jubilierender Ausruf, ein Wort, durch die Entfernung verzerrt, und doch klang es immer noch schreckerregend nach „Crucio!“

„Da entlang!“ sagte Harry, schon in Bewegung, aber Neville war gleich neben ihm. Sie rannten Kopf an Kopf in Richtung der Gefahr, die Zauberstäbe bereit. Aber selbst als sie die Biegung der Straße erreichten, waren sie noch zu weit weg.

Es gab keine Frage, wohin sie mussten – dreißig Meter weiter brannte eine Feuerspur auf dem Straßenpflaster. Ihr ersterbendes Licht erleuchtete die Unterseite der struppigen Zweige einer uralten Eiche. Gegen das Feuer sahen sie eine beängstigende Szene – zwei Umrisse, die sich im Kampf vereinigten: eine riesig, gekrümmt und bestialisch, die zweite kleiner, aber wild entschlossen in ihrem Angriff. Das Gewand verbarg flatternd Alter und Geschlecht. Eng ineinander verschlungen gingen sie zu Boden.

Harry senkte den Kopf und rannte noch schneller, verzweifelt darum bemüht, in Fluch-Reichweite zu kommen. Lichter erschienen in den Fenstern der Häuser die Straße hinauf und hinunter, als Antwort auf die Schreie, Lichter, in denen er kurz gesträubtes Grau und blaues Gewand aufblitzen sah, und das Rot von Blut. Er hob den Zauberstab, um einen Stupor-Zauber auf die Kämpfenden zu schleudern – auseinander sortieren konnte er sie auch noch hinterher – aber Neville stieß seine Hand beisete, und der Zauber versprühte nutzlose Funken auf dem Asphalt. „Nein!“

Und jetzt konnte Harry sehen, was Neville schon vor ihm gesehen hatte; eine kleine, entsetzlich vertraute Gestalt, die taumelnd auf die Füße kam, mitten zwischen einer möglichen Rettung und der Schlacht. „Teddy! Runter!“ Er konnte es nicht riskieren, den Jungen niederzustrecken, mitten in den Kampf hinein.

Aber der Junge hörte ihn nicht; vielleicht war er von Entsetzen oder Unentschlossenheit gelähmt. Für den Bruchteil einer Sekunde ging es Harry ebenso, und in diesem Augenblick erschien ein weiterer Kämpfer auf der Szene. Aus dem Himmel kam er herab, ein weitere Schattengestalt, einer übergroßen Fledermaus gleich, die hinuntersegelte und über dem betäubten Kind und den sich hin- und her wälzenden Gestalten auf dem Boden schwebte.

Noch ein paar Fuß – das war alles, was Harry brauchte, um sich dieser frischen Bedrohung zu stellen, aber der Neuankömmling zückte einen Zauberstab und richtete seine Feindseligkeit nicht gegen Teddy, sondern gegen die Kreatur auf den Asphalt.

Sectumsempra!"

Die Stimme war tief und grollend, aber es schwang kein tierischer Wahnwitz darin mit. Der Werwolf, von dem Fluch getroffen, ließ seine Beute los und stolperte rückwärts; dann duckte er sich zum Sprung.

Sectumsempra!"

Diesmal trieb der Fluch die Bestie zurück, über die ersterbenden Feuerlinie hinaus, und Harry konnte das Blut sehen, das aus einem langen Schnitt  quer über seine Brust hervorsprang. Es war eindeutlig Greyback; man konnte ihn nicht verwechseln, in welcher Gelstalt auch immer. Wie um Himmels Willen war es ihm gelungen, sich zu verwandeln?

Der fliegende Mann ließ sich auf den Boden herab und ging mit langen Schritten vorwärts. Der Werwolf knurrte und machte sich zum Angriff bereit.

„Wer ist das?“ schnaufte Neville, als er und Harry endlich neben Teddy zum Stehen kamen.

„Ist mir egal,“ sagte Harry, froh darüber, dass er endlich handeln konnte. „Er hat den richtigen Einfall.“

Er hob seinen Zauberstab und fügte sein eigenes „Sectumsempra“ dem des Fremden hinzu; Nevilles Stimme klang wie ein Echo. Greyback blutete jetzt heftig, und der Fluch hatte ein grausames Eigenleben entwickelt; er zog neue Streifen aus Blut über Glieder und Torso. Der Werwolf versuchte einen letzten Satz in Richtung Freiheit, brach aber zusammen, als eine Fluchlinie ihm die Beinsehnen durchtrennte. Er kroch auf den Baum zu und fiel blutüberströmt gegen den Stamm.

„Lumos“, sagte Harry, während er sich vorwärts bewegte, um zu sehen, was von dem Monster noch übrig war. Neville war neben ihm, und gemeinsam standen sie da und sahen unbewegt zu, wie das Licht aus Greybacks gelben Augen schwand und sein Atem stillstand.

Harry trat zurück und beugte sich über sein Patenkind; er berührte ihn sanft am Rücken.

„Teddy…?”

Der Junge drehte sich um und starrte ihn an. Er sagte nichts, aber ihm liefen Tränen die Wangen hinunter. Harry hob ihn auf, hielt ihn fest an sich gedrückt und fing das heftige Zittern des kleinen Körpers auf, als Teddy das Gesicht an seinem Hals vergrub; noch immer gab er keinen Laut von sich. Harrys Hände tasteten hastig seine Arme, seine Beine und seinen Rumpf ab... er fand ein aufgeschrammtes, verdrehtes Knie, aber nirgendwo die klebrige Nässe von Blut.

„Teddy. Hat er dich gebissen? Hat dieser Wolf dich gebissen?“

Harry konnte spüren, wie Teddy heftig den Kopf schüttelte, und für eine Sekundenbruchteil wurden ihm in unaussprechlicher Erleichterung die Knie weich.

„Schon gut, Sprössling,“ murmelte er. „Du bist in Sicherheit. Ich bringe dich gleich nach Hause.“

Neville wagte sich dichter an den blutigen Kadaver unter dem Baum heran.

„Haben wir… haben wir ihn endlich erledigt?“ Er beugte sich über den Wolf, dann stieß er ihn vorsichtig mit dem Fuß an. „Ich kann es nicht glauben – das ist tatsächlich Fenrir Greyback, und er ist ein verdammt guter Grund, einen der Unverzeihlichen zu benutzen; ich wünschte, ich hätte es getan, als wir uns das letzte Mal begegnet sind.“

„Das solltest du besser nicht,“ gab Harry zurück, sein Ton ein wenig scharf. „Glaub mir, es gibt einen verdammt guten Grund, warum sie geächtet sind.“ Und einen verdammt guten Grund, warum man sie die „Unverzeihlichen“ nannte – den Crucio-Fluch in der Hitze des Gefechtes einzusetzen, war ihm zu jenem Zeitpunkt ganz und gar folgerichtig vorgekommen… aber er wünschte niemandem das stille Entsetzen, das er in späteren Jahren immer empfunden hatte, wenn der Gedanke an diesen tumultartigen Moment ihm in den Sinn kam. 

Seine Augen suchten das verlassene Opfer des Werwolfes, aber bevor er sich noch bewegen konnte, rauschte eine hochgewachsene Gestalt wortlos an ihm vorbei und kniete sich auf den Boden dicht neben den reglosen Körper. Er sah, wie der Mann sanft den Hals berührte, den Puls fühlte und schweigend wartete… und jetzt begriff Harry endlich, wer es war, der dort lag.

Ruta.

Ihr Gesicht war totenbleich und sehr still, ihre Augen geschlossen. Sie trug ein Gewand in weichem Blau – aber über dem rechten Arm war es in Fetzen gerissen, das Gewebe zu einem hässlichen Tiefschwarz verfärbt – und der größte Fleck dicht unter der Schulter verbreitete sich noch immer sehr rasch. Er holte tief Luft und versuchte, seinen revoltierenden Magen zu beruhigen; ihm drehte sich der Kopf vor Schreck und Entsetzen. Neville schnappte bestürzt nach Luft.

„Ist sie… ist sie…“

„Sie ist am Leben,“ sagte der Fremde; er sprach über seine Schulter, ohne sich umzudrehen. Seine Stimme war dunkel und heiser. „Aber sie braucht dringend die richtige Behandlung.“

„Der nächste Heiler lebt in Berwick,“ hörte Harry sich selbst sagen. „Aber ich weiß nicht, ob er imstande wäre, mit… dieser Art… Bissen unzugehen.“ Werwolf-Bisse, dachte er, das sind Werwolf-Bisse, und du bringst es nicht einmal über dich, es laut auszusprechen.

„Sie meinen Werwolf-Bisse?“ erwiderte der Mann ruhig. „Das sollte er, wenn er die letzten zwanzig Jahre nicht in seliger Ahnungslosigkeit verbracht hat. Aber unglücklicherweise ist nicht er hier, sondern wir.“ Und selbst wenn… Harry erinnerte sich daran, dass der fragliche Heiler seine Ausbildung gerade erst abgeschlossen hatte... ein freundlicher, junger Mann, ein wenig schüchtern und ängstlich darum bemüht, nichts falsch zu machen. Ob er mit einer solchen Situation klarkommen würde?

Die ganze Zeit über waren die Hände des Mannes in Bewegung. Sie tasteten sorgsam Arm und Schulter ab und fanden die Stellen, wo noch immer frisches Blut das zerrissene Gewand durchweichte.

 „Da…“ Er drückte seine Finger in das verletzte Fleisch. „Wir müssen sie von diesem ziemlich… öffentlichen Ort wegbringen, so schnell wie möglich.“ Jetzt wandte er den Kopf, aber Harry konnte kaum mehr erkennen als den Schimmer von Augen unter der großen Kapuze. Und der Mann schaute nicht ihn an, sondern Neville; er betrachtete ihn prüfend von Kopf bis Fuß.

„Ihren Mantel... und rasch, wenn ich bitten darf.“

Harry war nicht im Mindesten überrascht, dass Neville tat, wie ihm geheißen; er machte nicht einmal den Versuch, die stille, stählerne Autorität in der Stimme des Mannes in Frage zu stellen. Er schlüpfte aus dem ausgebeulten Kleidungsstück und reichte es ihm hinüber; der Mann ließ es auf den Boden fallen und hob den Zauberstab.

Alligatura!“  

Der Mantel verschwand, und ein halbes Dutzend Verbandrollen erschienen in der Luft. Der Mann murmelte einen zweiten, fast unhörbaren Zauberspruch, und Rutas Körper hob sich ein paar Zentimeter vom Asphalt. Harry sah, wie der Fremde mit großer Geschwindigkeit arbeitete; er wickelte Verbandrolle um Verbandrollle ab, fixierte Schulter und Arm und machte beides unbeweglich. Harry war froh, dass Teddy das Gesicht an seiner Schulter vergraben hielt; so musste er nicht dabei zuschauen. Aus dem Augenwinkel konnte Harry sehen, dass Neville die Hände rang.

„Wird… wird sie wieder gesund?“ fragte er zögernd. „Wie schwer ist sie verletzt?“

„Schwer genug,“ antwortete der Mann, während er die bewusstlose Frau behutsam auf seine Arme hob. „Muskeln und Sehnen sind zerfetzt, und der Knochen im Oberarm ist gebrochen.“ Zu ersten Mal hörte Harry den Hauch eines grimmigen, beinahe arroganten Lächelns in seiner Stimme. „Aber keine Angst, ich werde sie nicht sterben lassen.  – Jetzt gehen Sie und machen Sie sich nützlich. Schieben Sie diesen Kadaver noch dichter an den Baum und verwandeln Sie ihn in irgendein Raubtier, das Sie für passend halten. Sammeln Sie Greybacks Kleidung ein – Sie werden sie nötig haben, wenn Sie die Absicht haben, seine Spur zu verfolgen. Aber die anderen Spuren müssen Sie vernichten, vor allem das Blut. Und Sie werden Feuer brauchen.“

„Wieso?“

„Um jede Gefahr der Ansteckung zu verhindern. Und so können die Muggel glauben, ihr mysteriöses Monster sei vom Blitz getroffen worden… Es gibt keine Chance, dass das Ministerium jeden findet und mit dem Obliviate-Fluch belegt, der die Nachrichten über den Angriff heute Morgen gesehen oder gehört hat… und jetzt rasch! Wir bekommen Gesellschaft.“

Von einem Moment wurde sich Harry wieder ihrer Umgebung bewusst. Die Hälfte der Häuser die Straße hinunter hatte jetzt erleuchtete Fenster, in denen sich Köpfe drängten, und Sirenen näherten sich – glücklicherweise nicht aus der Richtung von Andromedas Haus. Harry drehte sich um und rannte, so schnell er es fertigbrachte, solange er gleichzeitig Teddy trug, und der Mann folgte ihm, Ruta in den Armen.

„Incendio!“ 

Feuer brüllte auf, als die Krone der alten Eiche in Flammen aufging, aber Harry verschwendete keine Zeit mehr mit dem Versuch, dabei zuzuschauen, wie Neville seine Aufgabe erfüllte; er lief weiter, und binnen einer Minute befanden sie sich hinter der hohen Hecke von Andromedas Garten in Sicherheit. Harry blickte in Rutas totenblasses Gesicht, plötzlich von schweren Zweifeln geplagt.

"Meinen Sie nicht, dass wir sie nach St. Mungos bringen sollten?“

“Sind Sie tatsächlich so ein Schwachkopf?“ Jetzt hatte die Stimme des Mannes einen scharfen, verärgerten Tonfall. „Doch nicht in ihrem Zustand! Würden Sie ernsthaft den Versuch machen, mit jemandem zu apparieren, der solche Verletzungen davongetragen hat? Sie würden riskieren, ihren halben Arm zu zersplintern!“

„Oh. – daran habe ich nicht gedacht.“

„Ganz offensichtlich,“ gab sein bemerkenswerter Verbündeter eisig zurück. „Und jetzt würde ich vorschlagen, dass Sie Mrs. Tonks aufwecken und ihr die Lage erklären, damit wir hinein und weg von der Straße kommen.“

Harry blickte den Mann an, von dem er noch immer nicht einmal den Namen kannte – und dessen Gesicht er noch immer nicht gesehen hatte, jetzt, wo er darüber nachdachte. Die Wächterrosen zuckten unsicher; sie warteten darauf, dass eine bekannte Person den Fremden für vertrauenswürdig erklärte.

„Wer sind Sie?“ fragte er. Er wusste, dass die Frage spät kam, aber die Antwort wollte er trotzdem wissen.

Plötzlich hob Teddy seinen Kopf von Harrys Schulter, die Wangen feucht und die Augen verschwollen.

„Das ist doch Stephen Seeker,“ schniefte er. „Tante Rutas neuer Freund.“

Also das war der geheimnisvolle Nachbar, von dem Ruta ihm nur so zögerlich erzählt hatte. Er konnte ihre Stimme wie ein leises Echo in seinem Geist hören. Unter seiner schroffen Oberfläche ist er ein guter, vertrauenswürdiger Mann.  

Die Erinnerung schien auszureichen, um Adromedas pflanzliche Beschützer zu befriedigen; die Rosen zogen sich zurück. Aber Harry war immer noch unsicher. „Ich bin froh, dass ich Sie endlich einmal persönlich kennenlerne, Mr. Seeker,“ sagte er, wobei er sich unbehaglich steif und förmlich vorkam. „Ich glaube nicht, dass wir ohne Ihre Hilfe eine Chance gehabt hätten, Greyback zu besiegen. Vielen D..“

„Ich bin zutiefst gerührt, Mr. Potter,“ unterbrach Seeker ihn schroff. „Aber können wir jetzt alle weiteren Diskussionen verschieben, bis ich die Möglichkeit gehabt habe, mich um sie zu kümmern?“

“Tut mir Leid.“ Harry wandte sich ab; er sehnte sich verzweifelt nach ein paar stillen Momenten, um wieder klar denken zu können. Wie auch immer, Seeker hatte Recht… alles andere musste warten.

Er konnte nicht anders als sich an die persönlichen Verluste zu erinnern, die Andromeda Tonks bereits erlitten hatte. Ihr Ehemann, ihre Tochter, ihr Schwiegersohn… und jetzt trägt man eine ihre besten Freundinnen in ihr Haus, schwer verletzt, einen Wolfsfluch im Blut. Und ich konnte es nicht verhindern. Aber nachdem ihm der Grund für sen Zögern einmal aufgegangen war, gab es keinen Anlass, noch länger zu warten. Er straffte den Rücken, stählte sich gegen ihre Bestürzung und ihre Tränen und klopfte an die Tür.

*****

Die nächste halbe Stunde stellte sich ais weniger turbulent heraus, als er gefürchtet hatte. Natürlich war Andromeda entsetzt, aber nach einem kurzen Ausbruch des Schreckens und der Verwirrung kam sie bewundernswert mit der Situation zurecht; sie nahm dias plötzliche Auftauchen von Stephen Seeker hin, one mit der Wimper zu zucken. Sie scheuchte auf der Stelle alle nach oben und machte sich daran, ein Zimmer für Ruta vorzubereiten. Ein paar Minuten später kam sie kurz ins Wohnzimmer; sie reichte Harry ein Fläschchen Diptam, eine beruhigende Salbe und eine Phiole Baldrianessenz für Teddy; all das nahm sie von einem Tablett mit Verbänden und stärkeren Tränken, die sie für Seeker zusammengestellt hatte.

Und Teddy hatte großes Glück gehabt; gegen alle Befürchtungen war sein Bein nur verstaucht, nicht gebrochen. Harry versorgte das Bein und steckte das erschöpfte Kind ins Bett. Er gab ihm einen Löffel Baldrianessenz mit einem Glas Kürbissaft und versiegelte das Zimmer mit ein paar Schweigezaubern gegen das Tohuwabohu von Lärm und flackernden Lichtern draußen auf der Straße (wo die Muggel dabei waren, das Feuer zu löschen und vermutlich versuchten, sich auf die verwirrenden Beweise, die Neville hinterlassen hatten, einen Reim zu machen). Die Zauber würden den Jungen auch davor bewahren, etwaige Schreie aus dem Zimmer zu hören, in dem Andromeda und Seeker sich um Ruta kümmerten. Er wartete, bis Teddy die Augen zufielen, dann hastete er wieder in das kleine Wohnzimmer hinunter, das auf den hinteren Garten hinausging.

Sein Blick fand den Käfig, in dem Dromedas Schleiereule schlief… aber nein, selbst der schnellste Vogel würde heute Nacht zu lange brauchen.

Dann also das Floh-Netzwerk.  

Harry seufzte, nahm eine Prise Flohpulver aus der kleinen Schale auf dem Kaminsims unad streute sie ins Feuer. Er zog eine Grimasse, trat in die grünen Flammen hinein und ertrug den übelkeitserregenden Wirbel, der ihn davontrug… bis das Feuer ihn geradewegs in Kingsley Shacklebolts Büro im Ministerum hineinspie.

*****

Zehn Minuten später platzte er aus einem Küchenkamin heraus, diesmal beinahe hundert Meilen weiter östlich, im Fuchsbau.

Der Raum war leer, abgesehen von der schlanken, jungen Frau, die am Tisch saß und angespannt in eine Tasse Tee starrte. Als das Licht aus dem Kamin sich von rot zu grün verwandelte, hob sie den Kopf und sprang so achtlos auf, dass der Stuhl mit einem lauten Knall umkippte.

„Harry!“ 

Ginny warf sich in seine Arme, und für einen kostbaren Augenblick gestattete sich Harry selbst den Trost und die Beruhigung durch den Blumenduft ihres Haars und die Wärme ihrer Berührung. Aber gerade, als er sie so sanft wie möglich von sich schieben wollte, war sie es, die zuerst zurücktrat; sie betrachtete ihn scharf und forschend. 

„Hattest du Recht? War es Greyback?“

„Er war’s. Aber er ist tot,“ sagte Harry. Er hasste es, den Triumph auszulöschen, der in ihren Augen aufflammte, aber er fuhr trotzdem fort. „Zu spät allerdings, um ihn davon abzuhalten, Schaden anzurichten.“

Ginny erbleichte und biss sich auf die Lippen; sie dachte an die offensichtlichste Gefahr. „Hat er Andromeda verletzt? Oder Teddy?“ Jetzt wurde der Triumph zu schierer Panik. „Hat er einen von ihnen gebissen? – Harry?“

„Ruta.“ Hary seufzte. „Er hat Ruta gebissen, und er hat sie schwer verletzt. Sie ist in guten Händen und wird wahrscheinlich überleben, aber ich brauche Hilfe.“

Er brach ab und versuchte, seine Gedanken zu ordnen.  

„Ron und Hermine sind noch in Frankreich, in diesem Haus in St. Guenolé… kannst du dort hin apparieren und Ron bitten, dass er sofort zurückkommt und sich mit mir und Neville in St. Mary Green trifft?“

„Können die anderen Auroren dir denn nicht helfen?“

„Das kann ich nicht riskieren. Ich weiß, Ron und Hermine können ein Geheimnis für sich behalten. Vertrau mir, Ginny, das letzte, was wir jetzt brauchen ist eine Rita Kimmkorn, die in St. Mary Green herumschnüffelt wie ein gieriger Bluthund. Ich war gerade bei Kingsley Shacklebolt, und er wird einen Medizauberer finden, der kommt und sich um Ruta kümmert – einer, den den Mund halten kann.“

Er hielt sie ein wenig fester; er konnte ihr einfach nicht das Schlimmste erklären, nicht einmal mit der Erlaubnis des Ministers.

„Ginny… bitte…“ Wenn die Nachricht durchsickerte, dass Greyback sich auch ohne Vollmond vollständig verwandelt hatte, dann würde das die Existenz aller vernichten, die ihm je zum Opfer gefallen waren, seinen Schwager Bill eingeschlossen.

„Ich werde ihnen sagen, was du mir gesagt hast,“ meinte Ginny. „Und ich schicke sie dir alle beide. Vielleicht brauchst du Hermines Hilfe, um der Kimmkorn das Maul zu stopfen, falls sie Wind von der Geschichte bekommt. Sie können Rosie ja hier lassen; Mum wird mehr als erfreut sein, wenn sie sich um noch ein Baby kümmern kann.“

„Danke, Liebes.“ Harry küsste seine Frau und wandte sich wieder dem Kamin zu, „Ich gehe jetzt zu Andromedas Haus zurück, und ich habe keine Ahnung, wie lange es dauern wird, dort alles zu regeln.“ Er bediente sich mit einer ordentlichen Dosis Flohpulver und verschwand einmal mehr in einer grünen Flammenmauer.

Ginny starrte hinter ihm her; jetzt verlor ihr Gesicht auch noch den letzten Rest Farbe, als der grimmigste Teil der Neuigkeiten, die Harry ihr gebracht hatte, endlich einsickerte.

Er hat Ruta gebissen.

Ihr wurden die Knie weich, und sie ließ sich schwer auf den Stuhl am Tisch sinken. Sie schloss ihre Finger um die Tasse und schob sie dann weg. Ihr war durch und durch übel.

*****

Kaum eine halbe Stunde, nachdem Harry St. Mary Green verlassen hatte, kam er wieder zurück; Scheinwerfer und das Blaulicht eines Polizeiautos erleuchteten noch immer die Straße, und er bemerkte die dunkle Silhouette eines Reporters, der in ein Mikrophon sprach, während er gefilmt wurde. Offenbar hatte BBC Cumbria die neueste Entwicklung des Dramas entdeckt.

Neville beobachtete das verwickelte Hin und Her der Muggles aus den Schatten, aber er nickte Harry zu und signalisierte, dass er die Dinge unter Kontrolle hatte; also ging Harry wieder nach drinnen, um die Mission zu erfüllen, die Shacklebolt ihm aufgetragen hatte – Greybacks Opfer zu beschützen. Aber ob er sie vor Gefahr bewahrte oder darauf achtete, dass sie keine Gefahr darstellte, dessen war er sich nicht so ganz sicher.

Er schlüpfte ins Haus und machte sich auf den Weg nach oben, aber in Rutas Krankenzimmer brannte Licht und es ertönten Stimmen, also schaute er zuerst noch einmal nach Teddy. Als er vorsichtig die Tür öffnete, hörte er eine leise, schläfrige Stimme, die aus der Richtung des Bettes kam.

 „Onkel Harry…?“

„Ja, Sprössling, ich bin’s. Ich dachte, du schläfst.“

„Nein. Ich meine, ja… ich hab geschlafen. Und dann bin ich wieder wach geworden, und ich hab… nachgedacht.“ Eine kurze Pause. „Könntest…. Liest du mir bitte eine Gute-Nacht-Geschichte vor?“

Harry schluckte eine ungeduldige Antwort herunter, noch ehe sich die Worte formen konnten; heimlich war er wütend auf sich selbst. Sein Patenkind hatte einen Alptraum durchlebt, und er hatte ihn damit alleingelassen. Es würde kaum schaden, sich jetzt hinzusetzen und dem Jungen seinen Wunsch zu erfüllen.

Harry nahm die Legenden von Beedle dem Barden vom Regal. Als Kind hatte er diese uralten Märchen nicht gekannt, doch in letzter Zeit hatte er um Teddys Willen gelernt, sie zu mögen, und er hoffte, dass die vertrauten Worte das Kind beruhigen würden. Aber als er anfing zu lesen, schien der Kleine ihm kaum zuzuhören; er rutschte ruhelos unter seiner Decke hin und her.

„Wird… wird Tante Ruta jetzt auch ein Werwolf?“ fragte er unvermittelt.

Harry hob seine Augen voin dem Buch und sah ihn an; in dem großen Bett wirkte er sehr schwach und verängstigt.

„Wird… wird sie sich jetzt bei jedem Vollmond in ein Monster verwandeln?“ Teddys Blick war dunkel vor Angst. „Wie.. wie mein Vater?“

Harry schloss die Augen, für ein paar Momente vollkommen sprachlos. Wie sollte er eine solche Frage beantworten? War es fair, ein Kind wie Teddy mit den Ängsten der Älteren zu belasten? Aber dann erinnerte er sich an die vielen Jahre, die er damit zugebracht hatte, nach seiner verlorenen Geschichte zu suchen, und nach einem Schicksal, das niemand ihm vollständig offenlegen wollte – nicht einmal Albus Dumbledore, der Mann, dem er mehr vertraut hatte als irgendjemand anderem. Er schluckte und entschied sich für die Wahrheit.

„Ja, Teddy,“ sagte er langsam. „Wahrscheinlich wird sie das. Aber wir werden ihr helfen, so gut wir können. Und sie wird kein Monster sein, nicht so wie Greyback. Das würde sie nicht wollen, ebenso wenig wie dein Vater.“

Teddy setzte sich auf, sein Gesicht blass und elend. „Das ist alles meine Schuld,“ platzte er heraus. „Als Mr. Seeker mir gesagt hat, ich soll die Finger von seinen Sachen lassen, da hatte ich schon… ich meine, er hat mirein Buch gegeben, über Drachen, und das war richtig gut, mit tollen Bildern, aber ich war doch so neugierig, was er da in dieser großen, alten Kommode hatte, und ich musste einfach mal gucken… und keiner hat’s gemerkt, und dann hab ich Winky getroffen, und sie hat mir Kuchen gegeben, und Kakao und Apfelsaft, und ich konnte das Ding nicht mehr zurücktun, aber ich konnte es ihm doch nicht einfach so erzählen, oder? Und dann bin ich nach Hause gegangen, und als Tante Ruta mich an dem Abend ins Bett gebracht hat, da hat sie die Medaille gefunden und war böse auf mich. Und ich durfte nicht zu Mr. Seeker gehen und mich entschuldigen, weißt du, und einen Brief musste ich schreiben, und ich bin nicht gut im Briefeschreiben, und Tante Ruta ist nicht mehr gekommen, um mich zu besuchen, und da bin ich gegangen, um sie zu sehen.. und dann kam der Werwolf und… das ist alles meine Schuld.“ Er schluchzte auf und wischte sich die Nase mit dem Schlafanzugärmel.

Harry hätte dieses plötzliche, ausführliche Geständnis weit mehr zu schätzen gewusst, wäre mitten in dem verzweifelten Wortschwall nicht ein bestimmter Name aufgetaucht. 

„Winky?“ fragte er stirnrunzelnd. „Wer ist Winky?“

„Mr. Seekers Hauselfe,“ sagte Teddy. „Sie ist sehr nett… bloß ein bisschen schüchtern, weißt du. Und jetzt ist sie bestimmt auch sauer auf mich,“ fügte er betrübt hinzu.

„Er hat eine Hauselfe, die Winky heißt?“

„Wieso… na sicher!“ Jetzt war es Teddy, der die Stirn runzelte. „Das ist nicht so komisch… du hast doch auch einen Hauself, oder?“

„Ja, in der Tat,“ antwortete Harry, der noch immer versuchte, seine Gedanken zu ordnen. „Hör mal, Teddy… es ist nicht deine Schuld, dass ein wahnsinniger Werwolf beschlossen hat, hierher zu kommen und dich zu beißen, nicht im Mindesten. Er war eine gefährliche, bösartige Kreatur. Ich bin unglaublich froh, dass wir es heute Nacht geschafft haben, ihn loszuwerden… und dass deine Tante dich auf diese Weise beschützt hat. Sie war unwahrscheinlich tapfer… genau wie du.“

Er erhob sich aus seinem Sessel, klappte das Buch zu und legte es beiseite. Er blickte sich in dem hübschen Zimmer um; es wurde von einem Kandelaber und einer wunderschönen, alten Laterna Magica erleuchtet, die die lebensechten Gestalten von Zentauren still die Wände entlang galoppieren ließ. Dann streckte er die Hand aus und zerstrubbelte dem Jungen den Haarschopf.

„Versuch wieder zu schlafen,“ sagte er sanft. „Ich bin einen Moment draußen, aber ich werde die Kerzen für dich brennen lassen, und ich komme dann später wieder und mache sie aus.“

„Dankeschön,“ flüsterte Teddy. „Und die Laterna auch… Gran sagt, dass die Zentauren immer auf mich aufpassen.“ Er errötete ein wenig verlegen, und Harry lächelte.

„Natürlich tun sie das,“ sagte er. „Genau wie ich. Gute Nacht, Teddy.“

„Gute Nacht, Onkel Harry.“

Harry ging hinaus und schloss leise die Tür hinter sich. Was er jetzt dringend nötig hatte, war eine ordentliche Portion frische Luft und ein ruhiger Ort zum Nachdenken; er rannte die Treppe hinunter und fand sich kurz darauf draußen im Garten wieder, an den rauen Verputz der Hauswand gelehnt.

Eine Hauselfe namens Winky.

Bilder und Erinnerungen wirbelten durch seinen Kopf. Die Winky, die er kannte, hatte der Crouch-Familie gedient; aber nach dem Tod von Barty Crouch Senior und dem miserablen Schicksal seines Sohnes hatte ihr Leben buchstäblich keinen Sinn mehr gehabt. Er rief sich ins Gedächtnis, wie er ihr in Hogwarts begegnet war, ständig betrunken und in einem Dauerbad aus Selbstmitleid. Wenn Mr. Seekers Hauselfe dieselbe Winky war – und nur wenn – dann musste sie sich einen neuen Herrn gesucht haben. Aber wo, und wann? Winky hatte die berühmte Schule bis zur Zweiten Schlacht nie verlassen; nach der Niederlage des Dunklen Lords – und den Verlust von Dobby noch immer wie eine frische Wunde im Herzen – hatte Harry sie vollkommen aus den Augen verloren.

Stephen Seeker.

Das Wenige, das er über diesen Mann wusste, war das, was Ruta ihm erzählt hatte – das, und was er an diesem Abend gesehen hatte. Die dunkle Gestalt, die durch die Luft segelte wie ein phantastischer Deus ex Machina, die tiefe, vibrierende Stimme, die den Zauberspruch schrie, der Greyback niederwarf… Er rief sich jeden einzelnen Augenblick des Kampfes ins Gedächtnis, den sie gerade erst gewonnen hatten, erinnerte sich an die Gesten, die Worte, die sie gesprochen hatten.

Sectumsempra.

Plötzlich hörte er wieder seine Stimme, wie sie diesen Fluch zum ersten Mal ausprobierte, gegen Draco Malfoy… das verängstigte, geisterhafte Wimmern der Maulenden Myrte, das von den Wänden der Toilette widerhallte, zusammen mit Dracos Schmerzensschreien… Er erinnerte sich ebenfalls an den eisigen Zorn von Severus Snape, und nach fast zehn Jahren des Nachdenkens über den tieferen Sinn seines lebenslangen Dramas betrachtete er seine eigene Rolle in dieser Szene mit ehrlichem Bedauern. Er hatte mit dem neuen Zauberspruch herumgespielt wie ein Kleinkind mit einer Schachtel Streichhölzer, ohne sich um die Gefahr zu kümmern. Er hätte Malfoy damit töten können, genauso, wie sie an diesem Abend gemeinsam den Werwolf getötet hatten… Snapes wütendes Verlangen, ihn von der Schule verwiesen zu sehen, war mehr als gerechtfertigt gewesen.

Sectumsempra.

Er erinnerte sich an die wilde Hatz durch die Burg; an Snape, der auf ihn wartete und höhnisch von ihm verlangte, seine Ausgabe von Zaubersprüche für Fortgeschrittene zu sehen… und er selbst, der versuchte, diese scharfen Augen mit Rons Buch zu täuschen. Schrecklich dumm und obendrein vollkommen nutzlos, denn Snape hatte zweifellos gewusst, wo der Zauberspruch herkam, er hatte ihn selbst in das Buch des Halbblutprinzen gekritzelt, sein Buch… Und Remus’ geisterhafte Stimme kam zu ihm zurück, nach Moodys Tod, und nachdem George sein Ohr durch einen fehlgeleiteten Fluch eingebüßt hatte: „Sectumsempra war immer eine Spezialität von Snape.“

Wie viele Zauberer kannte er, die tatsächlich fliegen konnten?

Es fühlte sich an wie ein Schleier, der von einem verborgenen Bild zurückgezogen  wurde… als blinzelte er in ein blendendes Licht, und Harry stand in dem stillen Garten, den Mund weit offen, als die Offenbarung ihn mit voller Wucht traf.

Es gab nur einen Zauberer, den er kannte und der flliegen konnte – er hatte gesehen, wie er durch ein Fenster aus Hogwarts flüchtete, am Tag der Zweiten Schlacht, während die Flüche von McGonagall und Flitwick hinter ihm herzischten wie rote Blitze. Und es gab nur einen Zauberer, den er außer sich selbst jemals hatte Sectumsempra benutzen sehen, jedenfalls vor dem heutigen Tag… der eine Zauberer, der ihn selbst entwickelt und niedergeschrieben hatte.

Nein. Das war unmöglich. Severus Snape lag auf dem Gelände von Hogwarts beerdigt, in einem großartigen, schwarzen Grabmal, sein Leichnam ebenso sicher weggesperrt wie Harrys Erinnerungen an ihn.

Er hatte ihn sterben sehen, vor acht Jahren.

Harry drehte sich um und ging ins Haus zurück, und irgendwie kam es ihm so vor, als würde er durch einen unwirklichen Traum dahintreiben. Er schwamm durch den Vorraum und in Richtung der Schlafzimmer; auf halber Höhe der Treppe begegnete er Andromeda.

„Hallo, Harry,“ sagte sie; ihr müdes Gesicht wurde von einem kleinen Lächeln erhellt. „Dieser Mann – Stephen Seeker – ist wahrhaftig bemerkenswert. Ich bezweifle, dass der junge Tondrake imstande sein wird, so geschickt und sanft für Ruta zu sorgen, wie er es tut. Ich habe natürlich nach ihm geschickt, und Tiberius ist ein netter Junge, aber er hat die Heiler-Akademie von St. Mungos erst vor einem halben Jahr verlassen, und er ist immer noch ein bisschen feucht hinter den Ohren.“ 

„Ja, Andromeda,“ erwiderte Harry automatisch; die Worte waren nicht mehr als ein dröhnendes Gemurmel in seinen Ohren. „Ja, natürlich.“   

„Ich gehe hinunter in die Küche,“ sagte Andromeda. „Ich mache Tee.“

Er wartete, bis er hören konnte, wie die ältere Frau mit Kessel, Bechern und Löffeln herumhantierte, dann setzte er seinen Weg zu dem Zimmer fort, in dem ein Krankenbett für Ruta hergerichtet worden war. Vor der Tür hielt er inne; noch immer war er sich nicht sicher, ob er hinein gehen wollte, ob er wirklich Bescheid wissen wollte. Es würde einfach genug sein, zu gehen, das Haus zu verlassen, Neville zu helfen, mit den Muggeln klarzukommen und darauf zu warten, dass Ron auftauchte – und so zu tun, als wäre er dem Mann, der sich selbst Stephen Seeker nannte, nie begegnet.

Er hatte Teddy die Wahrheit über Ruta gesagt. Sollte er sich jetzt für eine glückliche Ahnungslosigkeit entscheiden, nur um sich seinen kostbaren Seelenfrieden zu erhalten?

Einen Moment lang schloss er die Augen, dann biss er sich auf die Lippen und öffnete die Tür.

Kerzen brannten in Leuchtern auf einer Kommode und auf dem Nachttisch, so wie in Teddys Kinderzimmer. Aber anstatt ein fröhliches Muster aus Drachen zu zeigen, waren die Wände dieses Zimmers in einem sanften Pfirsichton gestrichen. Die Möbel waren weiß und zierlich, die zugezogenen Vorhänge aus einem schillernden Gewebe genäht, was dem Zimmer die Atmosphäre einer Muschel verlieh. Harry betrachtete die stille Gestalt der Frau, die in dem Bett lag. Sie trug ein weites Nachthemd, das sich über dicken Verbänden um Arm und Schulter wölbte. Er konnte sehen, dass sich ihre Brust hob und senkte, ein fast unmerkliches Lebenszeichen.

Jetzt wurden seine Augen von der Gestalt angezogen, die in einem Sessel am Fenster saß. Er sah den Hinterkopf und die schwarz gekleideten Schultern; in dieser weiblichen Umgebung wirkte der Mann so fehl am Platze wie eine Krähe in einem Taubenschlag.

Harry räusperte sich.

„Würden Sie mir den Gefallen tun, mir Ihr Gesicht zu zeigen?“ fragte er; seine eigene Stimme klang ihm merkwürdig heiser und dumpf in den Ohren.

Der Mann regte sich nicht. Langsam tickten die Sekunden dahin, während Harry weiter auf eine Reaktion wartete, seinen Herzschlag im Mund.

Dann erhob sich Rutas Nachbar aus dem Sessel, drehte sich um und hob das Kinn; Harry sah ein kleines, sardonisches Lächeln auf schmalen Lippen und das Glimmen fiinsterer Ironie in schwarzen Augen… und er fror ein, während er sprachlos seinen ehemaligen Lehrer anstarrte.

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Alligatura ist das lateinische Wort für Wundverband.


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