Wolfsmond
von Cúthalion


Kapitel Neunzehn
Mein Herz wird dich erkennen

Das Schloss war eine schwarze Silhouette gegen den dunklen Horizont. Im Lake District hatten Wolken den Himmel verdeckt; hier glitzerte eine Myriade strahlender Sterne auf Zinnen und Erkern, und die Luft war klar und eiskalt.

Stephen Seeker stand kaum fünfzig Fuß vom großen Tor von Hogwarts entfernt, seine Füße schon auf dem vertrauten Weg, Er hielt den Tarnumhang in den Händen; er würde ihn Harry Potter zurückgeben, sobald seine neueste Mission vollendet war. Wenn alles so lief wie geplant, würde er ihn nicht länger brauchen.

Seit fast acht Jahren war er nicht mehr hier gewesen; er hatte sich zweimal mit Minerva McGonagall getroffen, aber nicht in der Schule. Sie besaß noch immer das Haus ihres Vaters in Edinburgh, am Ufer des Firth of Forth. 1998 hatten sie gemeinsam sein neues Leben geplant, während er auf den breiten, grauen Wasserarm hinaus blickte und die goldenen Lichter der Züge beobachtete, die die Forth Bridge überquerten.

Aber jetzt war er nach Hogwarts zurückgekommen, nach Hause. Hier hatte er seine Jugend verbracht. Hier hatte er erfolgreich Wissen erworben und tragisch darin versagt, wahre Freundschaft zu finden, ehe seine Jugend nicht lange vorüber war. Hier hatte er fast siebzehn Jahre unterrichtet, gefangen zwischen seiner Treue zu Albus Dumbledore und seiner falschen Loyalität zum Dunklen Lord. Hier hatte er hilflos gegen den alten Hass angekämpft, der ihn ständig überfiel, wann immer er James Potters Sohn zu Gesicht bekam... obwohl der Junge auch Lilys Kind war. Hier hatte er sich zu dem Mann verändert, der in der Heulenden Hütte „starb“. Und hier, in dieser Nacht, auf der Schwelle zwischen einem alten und einem neuen Leben, verspürte er große Dankbarkeit, dass seine widerwillige Wache über den Jungen Der Lebte einer der Schlüssel zu seiner persönlichen Erlösung geworden war.

Er konnte ihre Gesichter vor seinem inneren Auge sehen: James, arrogant und unerträglich selbstbewusst – aber James hatte Lily geliebt, er hatte sie wirklich geliebt, und das war Grund genug, die alte Abneigung der Vergangenheit zu überlassen, wo sie hingehörte. Sirius, dessen grausame Haft in Askaban ihn daran gehindert hatte, zu dem Mann aufzuwachsen, der er vielleicht hätte werden können. Remus... Remus. Er war der Einzige, der Seeker im Rückblick tatsächlich anrührte... weil Remus die selben Qualen durchlitten hatte wie Ruta, weil sie ihn so hoffnungslos geliebt hatte... und weil ihr schmerzhaftes Schicksal so viel darüber offenbarte, was Remus den größten Teil seines Lebens durchgemacht hatte.

Ruta.

Endlich war er imstande, seine alten Feinde der Vergangenheit zu überantworten. Aber sie war seine Gegenwart, und vielleicht seine Zukunft, wenn es ihm gelang, sie von der eisigen Furcht zu erlösen, die zu ihrem erstaunlichen, großzügigen Angebot geführt hatte.

Freiheit... und Zeit.

Ihm war die Möglichkeit geschenkt worden, zu wählen, und er hatte gewählt. Er konnte seinen Weg klar vor sich sehen... der Weg, der vom Elend in Spinner’s End hin zu diesem Schloss führte, zu einem Ende und einem unerwarteten Neuanfang in der Heulenden Hütte und von dort aus in eine Zukunft, die er nicht allein verbringen würde. Nicht, wenn er den nötigen Mut in seinem Herzen fand, nicht, wenn er die richtigen Worte sprach... der stärkste Zauber, den er je benutzt hatte, kraftvoll genug, um die Seele der Frau aufzuschließen, die ihn genug liebte, um ihn freizugeben.

Jetzt stand er direkt vor dem Tor. Er faltete den kostbaren Umhang auseinander, zog ihn sich über den Kopf und spürte, wie der feine, dünne Stoff über seine Nase und seine Wangen wisperte. Er kannte die Zaubersprüche, die das Tor versiegelten, auswendig, und die schweren, hölzernen Flügel schwangen zurück, als er sie mit seinem Zauberstab berührte und die wohlbekannten Worte flüsterte.

Bleiches Mondlicht durchflutete die Große Halle, und der vertraute Geruch nach Büchern, Stein und uraltem Staub auf geschnitztem Holz legte sich um ihn wie eine liebende Umarmung. Seeker holte tief Atem und ging mit lautlosen Schritten... die Korridore waren segensreich leer, und seine Füße fanden den Weg zum Büro der Schulleiterin ohne jede Hilfe. Sie war ganz sicher nicht in ihren Privaträumen. Er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass ihre Pflichten sie bis spät in der Nacht beschäftigt halten würden. Wie sie ihn beschäftigt hatten, in jenem Büro, das nie das seine gewesen war, weil es für ihn immer dem einzigen Mann gehören würde, den er jemals seinen Freund genannt hatte.

Er kam zu dem Wasserspeier und zögerte einen Moment, während er nach dem Passwort suchte. „Glenfiddich,“ murmelte er endlich und erinnerte sich an die kurze Notiz, die sie ihm vor drei Monaten geschickt hatte, „nur für den Fall“. Der Wasserspeier machte ihm den Weg frei, nicht im mindesten irritiert, dass es nur eine Stimme gab, aber keine menschliche Gestalt, von der sie kam.

Einen Augenblick später hatte er den Eingang erreicht; die Tür war angelehnt, und keine Stimmen waren zu hören, nur das ganz leise Kratzen einer Feder. Er trat ein, ließ den Riegel hinter sich einschnappen und blickte die Frau an, die hinter dem Schreibtisch saß.

Sie schrieb auf einem Pergament, eine steile, senkrechte Falte zwischen den Augenbrauen, und in ihren viereckigen Gläsern spiegelte sich das Licht des Feuers. Er konnte helle Strähnen in der schlichten Frisur erkennen, und müde Linien, die sich von ihrer Nase zu den Mundwinkeln herab zogen. Er ließ den Tarnumhang von seinen Schultern gleiten.

„Minerva.”

Ihr Kopf zuckte hoch und sie schnappte erschrocken nach Luft. „Severus?“

„Höchstpersönlich.“ Er faltete das wertvolle Gewebe wieder zusammen und sah ihren verblüfften Blick, als sie ihn erkannte.

„Um Himmels Willen, aber der gehört Potter!“ rief sie aus. „Wie hast du...“

„Ich habe ihn mir geliehen, mit seinem vollen Einverständnis,“ erwiderte er, und ein Lächeln spielte um seine Mundwinkel. „Dir ist doch klar, dass ich nicht vollständig sichtbar durch Hogwarts marschieren wollte, oder?“

„Oh... gewiss doch.“ Sie schaute leicht verwirrt drein. „Aber ich verstehe immer noch nicht...“

„Das wirst du schon noch. Ich würde dir gern eine überaus interessante Geschichte erzählen, und ich brauche deine Hilfe.“ Er setzte sich gegenüber von ihr in den Sessel. „Entspricht das Passwort noch immer der geheimen Flasche in dem Schrank da drüben?“

„Ja, tut es. Klug von dir.“ Minervas Gesicht entspannte sich zu einem seltenen Grinsen, und ein kleines Wedeln mit ihrem Zauberstab ließ die Tür zu dem fraglichen Schrank aufspringen. Eine grüne Flasche mit schwarzgoldenem Label segelte elegant auf den Tisch hinab. Sie entkorkte sie und eine bernsteinfarbene Flüssigkeit rann in zwei Kristallschwenker, die plötzlich vor ihr erschienen. Sie reichte ihm einen der Schwenker, nahm einen kräftigen Schluck aus ihrem und lehnte sich zurück, während sie sein Gesicht prüfend über den Rand ihres Glases betrachtete.

„Nun, Severus... ich bin ganz Ohr.“

*****

Der nächste Morgen dämmerte kalt herauf, mit schweren, dunklen Wolken, die fast die Dachfirste von St. Mary Green berührten. Ruta saß im Wohnzimmer am Fenster, ihren Morgenmantel eng um sich gewickelt, die Wärme des Kamins hinter sich. Schnee trieb gegen das Haus und überstäubte die Astern im Garten und das Fensterglas mit einem dünnen Schleier aus frischem Weiß.

Sie war bis auf die Knochen erschöpft. Winky hatte ihr am Abend zuvor noch ein frühes Abendessen serviert, und sie war lange vor Mitternacht zu Bett gegangen, um die Ruhe zu finden, die sie so dringend nötig hatte. Aber der Schlaf floh sie, und sie lag unter dem warmen Federbett zusammengerollt und starrte gegen die Wand.

Sie hatte das Richtige getan. Sie hatte das Richtige getan.

Es hatte sie bestürzt, zu sehen, wie bereitwillig er ihr Angebot angenommen hatte. Sie hatte ihm einen Ausweg gezeigt, und er hatte ihn tatsächlich gewählt. Aber was hätte sie sonst tun können? Radescu hatte ihr die perfekte Lösung für ihr persönliches Dilemma gebracht... und gleich, nachdem der Werwolf fort gegangen war, in der Dunkelheit des Korridors, hatte sie begriffen, dass das Pulver des Piatra Lunii nicht nur Freiheit für sie zu bedeuten hatte. Stephen war nicht länger an ihr Schicksal gebunden; es ging ihr jetzt gut genug, für sich selbst zu sorgen, und nachdem sie das Pulver genommen hatte, würde sie nicht mehr jeden Monat den Wolfsbanntrank trinken müssen, den er für sie braute.

Sie hatte das Richtige getan.

Nach jenem lächerlichen, schmerzhaften Drama mit Remus hatte sie sich mit ein paar anderen Männer getroffen, einer davon der Bruder einer jungen Hexe, mit der sie sich in der Gärtnerei in Dover angefreundet hatte. Er war nett und fürsorglich, und es war nicht sein Fehler, dass er sie ständig an ihren Cousin erinnerte... und an ihr eigenes, fürchterliches Versagen. Diese Beziehung endete, bevor sie zu ernst werden konnte, und nach ein paar weiteren, halbherzigen Versuchen – und mehreren Jahren – hatte sie entschieden, dass es das Beste sein würde, allein zu bleiben.

Das Richtige.

Was sie für Stephen empfand, war so anders als alles, was sie jemals für irgendjemand anderen empfunden hatte; Neugier zuerst, dann eine wachsende Freundschaft, die sich langsam in tiefe Zuneigung verwandelte. Seine Geschichte warnte sie davor, mehr von ihm zu verlangen, als er zu geben bereit war. Und dann hatte Greybacks Rache ihr Leben in Stücke gerissen, und Stephen gab ihr mehr, als sie je zu träumen gewagt hatte. Sie hatte sich mit beinahe furchterregender Geschwindigkeit daran gewöhnt, sich auf ihn zu verlassen, überwältigt von seiner ruhigen Großmut... es war so einfach gewesen, auf ihn zu vertrauen, so verhängnisvoll natürlich, auf seine Kraft zu bauen. Und als Radescus erstaunliches Geschenk ihre Lebensumstände einmal mehr auf den Kopf stellte, da wurde sie ganz plötzlich von dem Gefühl überwältigt, dass ihre Bedürfnisse ihn gefangen hielten, ebenso wie das schicksalhafte Versprechen, dass Albus Dumbledore ihm nach Lily Potters schrecklichem, unzeitigen Tod abgerungen hatte.

Sie hatte das Richtige getan.

Sie konnte ihn nicht noch einer weiteren, langjährigen Verpflichtung aussetzen. Wenn sie irgend etwas über diesen ungeheuer komplizierten Mann gelernt hatte, dann, dass er seine Versprechen und Pflichten grimmig ernst nahm. Für den letzten Menschen, dessen Sicherheit man ihm anvertraute, hatte er beinahe sein Leben geopfert, und seine Fürsorge für ihre persönliche Sicherheit hatte fast zu seiner Entdeckung geführt. Sie wusste, dass er ihr ehrlich zugetan war, aber sie war sich ziemlich unsicher, ob drei Monate einer zögerlich wachsenden Freundschaft, ein entsetzliches Drama und zwei gemeinsame Nächte ausreichten, um ihrer beider tief verwurzelte Gewohnheiten und die unvermeidlichen Befürchtungen zu überwinden.

Das Richtige.

Aber sie vermisste ihn... vermisste ihn schon jetzt mit einem Gefühl, das der Verzweiflung unbehaglich nahe kam, sie zitterte bei dem Gedanken, dass er tatsächlich fortbleiben und zurückscheuen mochte vor dem, was sie so wunderbarerweise erreicht hatten. Mit einer Mischung aus Furcht und Staunen erkannte sie, dass ihre gesamte Verteidigung zusammen gebrochen war; sie fühlte sich unglaublich einsam, verwundbar und verloren. Verloren ohne seine Stimme, seine Berührung, seinen sarkastischen Witz, verloren ohne seine Augen, die ihren Blick suchten. Vielleicht hatte sie ja das Richtige getan, aber was, wenn ihr edelmütiges Angebot das Ende der kleinen, hoffnungsvollen Flamme bedeutete, die sie so unerwartet in ihrem Herzen genährt hatte?

Um halb sieben an diesem Morgen entschied sie, dass es nutzlos war, auf einen Schlaf zu warten, der doch nicht zu ihr kam. Sie stand auf, ließ sich ein Bad mit Rosmarin ein, um ihre niedergeschlagene Seele aufzumuntern und saß in den duftenden Dampfwolken, bis sie wieder imstande war, klar zu denken.

Ihr alter Morgenmantel war aus verblichenem, burgunderroten Samt und nach fünfzehn Jahren ziemlich abgetragen, aber sie hüllte ihren nackten Körper mit erschöpfter Dankbarkeit in die warmen Falten.

Sie ging hinunter in die Küche; sie war blitzsauber und leer. Winky war noch nicht gekommen... und Ruta war nicht ganz sicher, ob die kleine Hauselfe nicht ganz fort bleiben würde, wenn ihr Herr es tat. Eine kleine Szene trieb in ihre Erinnerung zurück: Winky, die mit einer eleganten Geste ihrer langen Finger Kaffee kochte und zur gleichen Zeit lauthals sang. Sie teilte Andromeda Tonks’ und Molly Weasleys Begeisterung für Celestina Warbecks zweifelhaftes Oeuvre; ihre quäkende Stimme, die „Ich wär’ so gern dein Liiieee-beeees-traaank...“ hinausposaunte, war einer der seltenen Höhepunkte während der Tage nach Rutas Rückkehr aus St. Mungo gewesen.

Sie vermisste nicht nur den Herrn, sondern auch seine Dienerin. .

Im Wohnzimmer war es kalt, und nach einer Sekunde des Zögerns kniete sie sich vor den Kamin, nahm trockene Apfelholzscheite aus dem Korb und stapelte sie auf den Rost. Es war noch immer einfacher, ein Feuer mit der linken Hand anzuzünden, als den Incendio-Zauber zu versuchen, während sie sich gleichzeitig bemühte, den Zauberstab mit der rechten Hand nicht ungeschickt fallen zu lassen. Endlich fühlte sie die Glut der Flammen auf dem Gesicht und sank mit einem kleinen, befriedigten Seufzer auf die Fersen zurück.

Ein paar Minuten später hatte sie sich in dem Sessel neben dem Fenster nieder gelassen; sie zog den Vorhang beiseite und schaute in das dämmerige, blaue Licht des frühen Morgens hinaus. Genau gegenüber von ihrem Haus malte die Straßenlaterne einen weichen, hellen Kreis in die wachsende Schneewehe rings um ihren Fuß, und während Ruta noch immer hinsah, bemerkte sie Callista Ogilvie, die mit Fancy an der Leine auf die Biegung zum Mill Walk zuging. Die alte Frau machte langsame, vorsichtige Schritte; ihr weißer Hund war nur deshalb vor den sauberen Hügeln entlang des geräumten Gehwegs zu erkennen, weil er einen knallroten Pullover trug und etwas, das verdächtig nach Strickschuhen aussah. Vor fünfundzwanzig Jahren hatte Mrs. Ogilvie ihren Ehemann begraben, dachte Ruta, und seither residierte sie in ihrem Cottage, umgeben von Photographien in Silberrahmen, gestickten Blumen auf Rüschenkissen und einem Schoßtier zur Gesellschaft (die aktuelle Fancy war Nr. 4 in einer Reihe von Pudeln).

Wo würde sie, Ruta, wohl in fünfundzwanzig Jahren sein? Noch immer in St. Mary Green, noch immer damit beschäftigt, in ihrem hinteren Garten Rosen und Gemüse zu züchten, während sie die Fensterläden gegen die Dämonen schloss, die sie überwunden... und den Mann, den sie fort geschickt hatte?

Sie folgte der alten Dame mit den Augen, bis Mrs. Ogilvie um die Biegung verschwand, und plötzlich wurde ihr Blick zu der Stelle unter der Straßenlaterne zurück gezogen. Trotz der Kälte schien die Luft zu wabern, als würde sie über den Flammen eines Feuers erhitzt. Es folgte ein kleiner, scharfer Knall, selbst durch das geschlossene Fenster noch deutlich zu vernehmen, und eine hoch gewachsene Gestalt erschien, wo Sekundenbruchteile zuvor nur treibende Schneeflocken gewesen waren. Ruta starrte; sie traute ihren Augen kaum.

Das...

Sie blinzelte, Müdigkeit brannte hinter ihren Lidern, und für einen Moment war ihre Sicht verschwommen, Als sie wieder deutlich sehen konnte, war die Stelle unter der Straßenlaterne leer.

Bravo. Jetzt fing sie schon an zu halluzinieren. Als ob ihr Leben nicht auch ohne diese zusätzliche Komplikation schon aus den Fugen ging.

Ruta spürte, wie ihr Kopf nach hinten sank; sie kämpfte gegen das trotzige Verlangen an, nach einer ausreichenden Menge Schlaf in ihrem Bett aufzuwachen, getröstet von der Aussicht auf Winkys Kaffee und von der warmen, beruhigenden Gegenwart von Stephens Körper neben ihr.

„Guten Morgen, Ruta.“

Mit einem Ruck fuhr sie hoch und riss die Augen auf.

Er stand mitten im Wohnzimmer; er trug noch immer seinen langen, dunklen Umhang. Schnee schmolz auf Schultern und Haar, und jede Linie in dem vertrauten Gesicht war so deutlich, als wäre er mit einer frisch geschärften Feder gezeichnet worden. Sie sah müde Schatten unter den schwarzen Augen und eine gewisse Anspannung rings um seinen Mund... als hätte es einen langen Weg gebraucht, zu ihr zurückzukehren, und eiserne Entschlossenheit obendrein.

Das war ihr letzter, bewusster Augenblick. Jeder klare Gedanke, die letzten Überreste ihrer noblen Selbstlosigkeit wurden von einer Woge aus nackter Erleichterung fort geschwemmt, und im nächsten Moment schoss sie aus ihrem Sessel hoch, die Hände blind nach ihm ausgestreckt. Er fing sie in seinen Armen auf und stolperte unter der Heftigkeit ihres Zusammenpralls einen halben Schritt rückwärts. Ruta wurde sicher festgehalten und vergrub ihr Gesicht in schneefeuchter Wolle, überwältigt von dem vertrauten Geruch und der Festigkeit seines Körpers unter dem dicken Kleiderschichten.

Minutenlang standen sie so da und schwankten sachte hin und her. Ruta konnte seinen Atem warm in ihrem Haar spüren. Endlich traute sie ihrer Stimme genug, um zu sprechen. „So viel zu meiner unerschütterlichen Willenskraft“, murmelte sie in seine Schulter hinein und spürte, wie Gelächter durch seine Brust zitterte.

„Sie war ziemlich eindrucksvoll,“ entgegnete er. „Ich muss gestehen, ich hatte die Befürchtung, dass du mich sofort wieder wegschicken würdest. Vielleicht in das australische Outback, um dort wenigstens ein halbes Jahr über meine Entscheidungen zu... brüten.“

Ruta trat zurück und nahm das große Taschentuch, das plötzlich in Stephens Hand auftauchte. Sie trocknete sich die Augen und stellte zu ihrer großen Überraschung fest, dass sie mit ihm gemeinsam lachte.

„Brüten? Das glaube ich kaum.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich kann mit viel eher vorstellen, wie du die primitive Magie der Aborigines erforschst und eifrig Rezepte für Tränke mit fremden Kräutern und getrockneten Insekten sammelst.“

„Sehr klug.“ Er lächelte sie an. „Und eine sehr gute Idee; vielleicht komme ich irgendwann einmal darauf zurück. Aber lass mich erst einmal diesen nassen Umhang loswerden. Winky wird jeden Moment hier sein, um Frühstück für uns zu machen. Es tut mir Leid, dass sie nicht eher kommen konnte; ich habe letzte Nacht ein paar wichtige Vorbereitungen getroffen, und sie war woanders beschäftigt.“

„Vorbereitungen?“ fragte sie stirnrunzelnd.

„Zu denen kommen wir später,“ sagte er, schüttelte den Umhang von seinen Schultern und dirigierte ihn mit einem lässigen Schwung seines Zauberstabes aus dem Wohnzimmer, während sie sich wieder in dem Sessel niederließ. Et betrachtete ihr Gesicht und sein Lächeln vertiefte sich. „Ich war den größten Teil der letzten zwölf Stunden in Schottland. Und ich habe dir ein Arbeitsangebot mitgebracht.“

„Du hast...“ Sie starrte ihn an. „Wer würde---“

„Minerva McGonagall, selbstverständlich,“ sagte er gelassen. „Einen Werwolf zu beschäftigen ist nichts Neues für Hogwarts, erinnerst du dich?“

Ruta holte tief Luft. „Ist ihr klar, was gestern passiert ist?“

„Ja, das ist es.“ Er sprach immer noch in diesem ruhigen, zuversichtlichen Ton. „Es macht ihr nicht mehr aus als mir.“

Sie gab ein ungläubiges Schnauben von sich. „Versuchst du ernsthaft, mir zu erzählen, es sei ihr egal?“

„Das habe ich nicht gesagt,“ Er setzte sich ihr gegenüber auf das Sofa. „Aber sie baut auf deine Vertrauenswürdigkeit – genau wie ich. Und die Idee, dich als Assistentin für Professor Longbottom anzustellen, hat eindeutig ihre Vorzüge. Er ist sehr geschickt im Umgang mit Kräutern, aber er bringt ständig die Papiere durcheinander. Und da ist dieses gemeinsame Projekt mit Beauxbatons, dessen Durchführung einen fähigen Kräutermeister erfordert. Neben profundem Wissen ist eine ordnende Hand dringend vonnöten, und Mr. Longbottom wird zweifellos entzückt sein, zu erfahren, dass es sich dabei um deine Hand handelt.“ Er zog eine kleine Pergamentrolle aus der Tasche. „Das hier ist ein offizieller Arbeitsvertrag für die nächsten zwei Jahre, mit der Option, verlängert zu werden, wenn es nötig sein sollte, und mit einem mehr als vernünftigen Gehalt. Alles, was du tun musst, ist, ihn zu unterschreiben.“

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“ Sie nahm das Pergament und drehte es zwischen den Händen, aber sie rollte es nicht auseinander.

„Du solltest dir überlegen, nach Hogwarts umzuziehen,“ fuhr er fort. „Natürlich kannst du apparieren, aber es würde die Sache viel einfacher machen. Minerva ist mehr als bereit, dir eine Wohnung zur Verfügung zu stellen, wenn du sie brauchst, und St. Mary Green zu verlassen, würde bedeuten, einen klaren Schlussstrich zu ziehen.“ Er lächelte leicht. „Ganz abgesehen davon, dass deine Gegenwart Mr. Longbottom davon abhalten würde, mit den Papieren Schindluder zu treiben und jeden Fortschritt zu sabotieren, den du vielleicht gemacht hast.“

Sie verspürte einen kurzen, scharfen Stich des Bedauerns. Es würde das Ende ihrer Zeit in St. Mary Green bedeuten. Acht friedliche, erfüllende Jahre... aber sich an eine idyllische Vergangenheit zu klammern, machte keinen Sinn. Greyback hatte das Muster ihres Lebens in Stücke gerissen, und es gab keinen Weg zurück. Stephen hatte Recht gehabt, gestern am Ufer des Bléa Tarn; sie musste für die Zukunft planen. Und die ersten Schritte in diese Zukunft an einem vertrauten Ort zu tun würde es ganz bestimmt leichter machen.

„Nur zwei Jahre, Ruta,“ sagte er; seine Stimme war sehr sanft. „Zwei Jahre, um die Fäden deines Lebens wieder aufzunehmen. Minerva hat sehr klar gemacht, dass sie dich, wenn möglich, gern in Hogwarts behalten würde, auch wenn das Projekt vorüber ist. Und in zwei Jahren bekommt Teddy seinen Brief...“

Teddy.

„Bis dahin kannst du ihn jederzeit besuchen... jedes Wochenende, wenn du möchtest. Ich bin sicher, dass du sehr bald wieder ohne Hilfe apparieren kannst... aber so lange du Hilfe brauchst, werde ich dafür sorgen, dass du sicher hier ankommst.“

„Du willst, dass ich dieses Angebot annehme.“ Es war keine Frage.

Er seufzte, „Ja, ich will, dass du dieses Angebot annimmst, Ruta. Für ein müßiges Leben bist du nicht geschaffen.“

„Was ist mit dir?“ Ruta betrachtete ihn prüfend. „Du bist es doch auch nicht.“

„Ich weiß.“ Er erhob sich vom Sofa, ging zum Fenster hinüber und wandte ihr den Rücken zu. „Vielleicht ist dir die Tatsache nicht bewusst, dass die Schule mehrere Anwesen in der Gegend um Hogsmeade besitzt. Minerva hat mir ein Haus angeboten, Kelpie Cottage. Es ist geräumig genug, um komfortabel zu sein; es gibt sogar genug Platz, um ein Laboratorium einzurichten.“

„Oh.“ Sie legte die Pergamentrolle sorgfältig auf den Tisch. „Wirst du es kaufen?“

„Ich habe mich noch nicht entschieden.“ Er zögerte. „Aber ja... es ist gut möglich, dass ich es kaufe.“

„Stephen...“ Sie starrte auf ihre Hände hinunter. „Du hast dich monatelang hier in St. Mary Green versteckt. Aber du hattest nie geplant, dass das eine dauerhafte Angelegenheit wird, nicht wahr? Du wolltest nur sicher sein, dass es Harry gut ging... bis ich daher kam, natürlich, und die Dinge viel komplizierter wurden. Wenn du jetzt nach Schottland übersiedelst und dich so nahe bei der Schule nieder lässt, wo die Erinnerung an dich lebendiger ist als irgendwo sonst... das wäre ein weit größeres Risiko. Eines Tages wird die nächste Vicky Stone auf deiner Türschwelle auftauchen... oder sogar irgend ein ahnungsloser Lehrer, der geradewegs in dein Geheimnis hinein stolpert. Was wirst du dann tun?“

„Vertrau mir, das wird nicht geschehen.“ Noch immer sah er sie nicht an. „Die Zeit für Versteckspiele ist vorbei.“

„Augenblick mal.“ Sie stand aus ihrem Sessel auf und trat hinter ihn. „Willst du mir allen Ernstes weismachen, dass Severus Snape seine Rückkehr plant?“

„Merlin, nein.“ Seine Schultern versteiften sich. „Es ist nicht Severus Snape, der in Kelpie Cottage leben wird, sondern Stephen Seeker. Nur, dass er bisher nicht mehr gewesen ist als ein bloßer Name. Es ist Zeit, ihm ein anständiges Gesicht zu geben.“

*****

Das Wohnzimmer war still... still genug, dass Ruta das zarte Flüstern der Schneeflocken an der Fensterscheibe hören konnte. Plötzlich knackste ein Holzscheit im Kamin und ließ sie zusammenfahren. Ein anständiges Gesicht?

„Ich verstehe nicht.“ Sie berührte ihn an der Schulter. „Du sprichst in Rätseln, Stephen. Würdest du mich bitte ansehen?“

Endlich drehte er sich um. Als er sprach, war seine tiefe Stimme so angespannt wie sein ganzer Körper.

„Ich wollte nicht nur, dass Minerva ein Haus in Hogsmeade für mich findet,“ sagte er. „Ich habe dir ja schon erzählt, dass sie meine neue Identität erschaffen hat, vor acht Jahren. Gestern Abend habe ich sie darum gebeten, für mich noch einen Schritt weiter zu gehen, mit einer dauerhaften Transformation.“

„Aber Stephen...“ Sie schluckte. „Das würde bedeuten...“

„Das würde bedeuten, dass meine äußerliche Erscheinung sich demnächst vollständig und unumkehrbar verändert,“ beendete er ihren Satz. „Natürlich ist diese Methode ohne eine offizielle Genehmigung des Ministeriums für Magie streng verboten, wenigstens, wenn sie benutzt wird, um den Körper eines Menschen zu verwandeln. Unter Gellert Grindelwalds Anhängern war sie vor fünfzig Jahren sehr populär; Voldemort lehnte sie ab, eben weil man sie nicht rückgängig machen kann. Und man braucht einen wirklich mächtigen Meister – oder eine Meisterin – der Transfiguration, um die Zauber auszuüben, ohne schwere Schäden anzurichten.“

Sie spürte einen plötzlichen, eisigen Hauch von Panik in ihrem Herzen. „Dann ist es also gefährlich.“

„Ja, das ist es.“ Sein Blick war ebenso ruhig wie entschieden. „Aber diese Maskerade fortzusetzen ist ebenfalls gefährlich, wie die jüngsten Ereignisse hinlänglich bewiesen haben.“ Er streckte die Hand aus und ließ die Fingerspitzen von ihrer Schläfe zu ihrem Kinn hinunter gleiten, in dem bloßen Hauch einer Liebkosung. „Und ich könnte mein Schicksal nicht in fähigere Hände legen, glaub mir das.“

Sie stellte die nächste Frage, ohne nachzudenken.

Aber wenn die ganze Angelegenheit so gefährlich ist und obendrein illegal – wieso bestehst du dann darauf, dieses Risiko einzugehen, und wieso ist sie damit einverstanden?“

Er antwortete nicht. Ruta begegnete seinen Augen: sie sah etwas Unerwartetes in ihren schwarzen Tiefen, ein Flackern von... was? Unsicherheit? Angst?

„Stephen?”

„Nun...“ Er räusperte sich. „Weil wir beide der Ansicht sind, dass du wahrscheinlich nicht den Rest deines Lebens mit einem Ehemann verbringen möchtest, der sich ständig hinter geschlossenen Vorhängen versteckt.“

Die Zeit verlangsamte sich jäh und blieb plötzlich stehen. Ruta stand da wie angewurzelt, ihr Blick unverwandt auf sein Gesicht gerichtet, hypnotisiert von ihrem eigenen Herzschlag. Sie konnte den starken, regelmäßigen Puls in ihren Fingerspitzen und hinter ihren Schläfen spüren; ihr Atem folgte seinem Rhythmus und passte sich sachte dem kreisenden Strom ihres Blutes an.

Ruta.”

Mit einem Ruck kam sie wieder zu sich; er betrachtete sie mit wachsender Besorgnis. Und ja, da war wirklich Angst, sie konnte es jetzt deutlich sehen... die Angst, sich zu weit vorgewagt zu haben, vor hinter ihm verbrannten Brücken, davor, noch einmal zurückgewiesen zu werden. Die Erkenntnis, dass sie imstande war, seine Hoffnungen mit einem einzigen Wort zunichte zu machen, traf sie wie ein heftiger Schlag gegen den Brustkorb.

Stephen.“ Sie erkannte ihre eigene Stimme kaum. „Bittest du... bittest du mich, dich zu heiraten?“

„Es sieht fast so aus.“ Seine Lippen zuckten in einem halben Lächeln, aber sein Blick war vollkommen ernst. „Ich habe Himmel und Erde in Bewegung gesetzt, um dich wieder in Lohn und Brot zu bringen, und um ein Haus zu finden, das ich dir als neues Heim anbieten kann. Ich habe eine der einschüchterndsten und willensstärksten Hexen in Britannien dazu gebracht, die Regeln zu brechen und mir ein neues Gesicht zu geben, und ich habe sie auch noch dazu überredet, eine Sondererlaubnis vom Ministerium zu beschaffen, damit sie die Trauung selbst vollziehen kann. Ja, Ruta Lupin, ich bitte dich tatsächlich, mich zu heiraten.“

Unwillkürlich musste sie über diese eindrucksvolle Aufzählung lächeln. Und doch...

„Nur für das Protokoll: du weißt, was ich bin. Radescus Pulver mag mich davor bewahren, mich jeden Monat verwandeln zu müssen, aber ich werde nie wieder imstande sein, mir selbst vollkommen zu trauen.“

„Jeder, der sich selbst vollkommen traut, ist nichts anderes als ein schwachsinniger Narr,“ sagte Stephen fast zornig. Aber dann umschloss er ihre Schultern mit festem Griff, und sein Ton wurde sanfter. „Wenn du in deinem Herzen statt dessen Vertrauen zu mir entdecken solltest und meinen Antrag annimmst, dann werden wir von nun an unsere Dämonen gemeinsam bekämpfen, Rücken an Rücken.“

Ungläubige Freude wallte in ihr auf, hell und unwiderstehlich.

„Ich habe dir immer schon vertraut, von Anfang an,“ erwiderte sie leise. „Und du solltest genug über mein Herz wissen, um das selbe zu tun.“

„Also dann...“ Er zog sie an sich und drückte das Kinn in ihr Haar. „Bist du einverstanden? Ich werde nicht jünger, mein Gnadenkraut.“

Ruta lachte in die warme Haut seines Halses hinein und spürte den Schauder, der ihm den Rücken hinunter rann. „Ich auch nicht. Und du hast Recht, wir haben schon genug Zeit verloren.“

Sie trat zurück und hob den Kopf; ihre Augen trafen sich. Sie fand seine Hände und nahm sie. Sein Gesicht war jünger, als sie es je zuvor gesehen hatte, erstaunlich unbeschwert und voller Hoffnung.

„Ja, Stephen Seeker, ich werde dich heiraten. Ich habe keine Ahnung, wie der Mann, mit dem ich den Rest meines Lebens teilen will, aussehen wird, aber er wird immer noch du sein, und das ist alles, was zählt.“

„Ich danke dir.“ erwiderte er ernsthaft. „Ich verspreche dir, du wirst es nicht bereuen.“

„Ich fürchte viel eher, dass du es eines Tages bereuen könntest,“ sagte sie, und ihre Stimme schwankte ein wenig – aber bevor sie noch mehr Worte finden konnte, brachte sein Mund sie zum Schweigen. Der Kuss war zärtlich und zuversichtlich, und sie erwiderte ihn mit ungläubiger Freude.

Stephens Arme schlossen sich um sie. Seine Hände streichelten ihre Schultern und folgten einer köstlichen Spur ihr Rückgrat entlang. Er liebkoste ihren Nacken und sie hörte ein tiefes, stockendes Einatmen, als er ihre Nacktheit unter dem Morgenmantel entdeckte. Kuss und Umarmung wandelten sich von Sanftheit zu plötzlichem Hunger, schlug Funken in ihrem Fleisch und ließ es vor Entzücken aufflammen.

Ja, dachte sie, oh ja... und plötzlich schien alles in dem schwierigen, verwickelten Muster ihres Lebens an den richtigen Platz zu fallen. Die Niederlagen der Vergangenheit, die endlosen Jahre selbst gewählter Einsamkeit – das Ergebnis ihrer furchtbaren Unfähigkeit, Remus’ liebevolle Freundschaft zu akzeptieren und zufrieden zu sein, mit dem, was er ihr zu geben bereit war – all das hatte sie hierher geführt, zu diesem Moment, an diesen Ort. Selbst Greybacks sinnlose Grausamkeit war auf gewisse Weise nützlich gewesen... um ihre versteinerte Überzeugung zu zerschmettern, dass sie niemand anderen brauchte. Denn sie hatte Stephen gebraucht, sie würde es von nun an immer tun; das Schicksal hatte ihren gefrorenen Stolz endlich zum Einsturz gebracht.

Glorreiche Hitze breitete sich in ihrem Körper aus und brachte ihre Haut zum Prickeln, und sie seufzte in seinen Mund hinein, während seine Finger sanft den Knoten des Samtgürtels um ihre Taille lösten. Es fühlte sich so gut an, so unglaublich richtig. Das Wissen über ihren neu gefundenen Bund strömte in ihrem Blut wie eine fremde Melodie, ungezähmt und triumphierend. Mein, dachte sie und vergrub ihre Hände in seinem Haar, du bist mein. Und ich bin dein.

Ein metallisches Klappern kam aus der Richtung der Küche, gefolgt von lautem Wasserplätschern.

Lass mich in deinem Kessel rüüüüühr’n...“

Die Stimme war unverwechselbar. Ruta brach den Kuss mit einem leisen Keuchen ab, Stephens Atem warm und rasch auf ihrem Gesicht.

Deinen Zauberstaaaab im Walzer spüüüüüür’n...“

„Merlins Bart!“ stöhnte Stephen. Gelächter sprudelte in Rutas Brust nach oben, ansteckend genug, dass seine Schultern bebten. Sie standen Stirn an Stirn, und die schwarzen Augen dicht vor ihr glitzerten in einer Mischung aus Verlegenheit und Belustigung. „Ich kann mich für ihren Musikgeschmack nur entschuldigen.“

„Ganz ehrlich, ich finde das ziemlich reizend,“ protestierte Ruta und versuchte erfolglos, ihr eigenes, ausgelassenes Vergnügen zu bemeistern. „Warte, bis sie zu den Strophen kommt...“

„Versuchst du mir mitzuteilen, dass der Refrain nicht das Schlimmste ist an diesem Lied?“. Er blickte entschieden entsetzt drein.

Mein Herz gehört für immer dir,“ zitierte Ruta fröhlich, „deine Kunst verzaubert mich, Leidenschaft, sie brennt in mir, mein Herr und Meister, ich liebe dich!“

Stephen hob eine Hand. „Erbarmen, mein Gnadenkraut... genug ist genug. Sogar meine Leidensfähigkeit hat Grenzen.“

Er trat zurück; noch immer hielt er ihre Hand.

„Du musst hungrig sein,“ sagte er, „und wenn man deine Sucht nach Winkys Kaffee bedenkt, dann sollte ich mich glücklich schätzen, dass ich dir ihre Dienste sozusagen als eine Art Morgengabe anbieten kann.“

„Ihre Kochkünste waren bestimmt eine große Versuchung,“ sagte Ruta, und ein Lächeln spielte um ihre Mundwinkel, “aber sie haben die Waagschale nicht zum Kippen gebracht.“

„Ich kann nur hoffen, dass der Hauptgrund meine inneren Werte sind,“ bemerkte Stephen, „denn selbst wenn du meine äußere Erscheinung tatsächlich anziehend findest – was ich nur unter Schwierigkeiten glauben kann – dann wirst du sie nicht mehr lange genießen können.“ Das Lachen schwand aus seinen Augen. „Dir ist doch bewusst, dass du die Katze im Sack kaufst?“

„Stephen...“ Ruta schüttelte den Kopf und suchte nach Worten. Das war vielleicht eine letzte Art Test, und sie musste vollkommen ehrlich sein. „Du irrst dich; als ich dir begegnet bin, hatte ich nicht die mindeste Ahnung, wer du warst, und trotzdem fühlte ich mich zu dir hingezogen. Ich habe deine Klugheit bewundert, deinen scharfen Verstand, deinen Humor... lange bevor ich deine wirkliche Identität entdeckte Und nach all diesem...“ Sie hielt inne und fühlte den sanften Druck seiner Finger um die ihren, als er sie ermutigte, fortzufahren. „... nach all diesem Drama habe ich... ich schämte mich, dass ich dir soviel aufgebürdet hatte. Deshalb musste ich darauf bestehen, dir die Wahl zu lassen und dich weg zu schicken... und dann begriff ich plötzlich, dass ich mich selbst betrog.“

„Wieso?“ Seine Stimme war sehr leise.

„Weil ich den Gedanken einfach nicht ertragen konnte, dich wieder zu verlieren,“ antwortete sie offen. „Meine Gefühle für dich haben nichts mit deinem Aussehen zu tun – ich werde jede Veränderung akzeptieren, solange der Mann unter der Haut der selbe bleibt. Mein Herz wird dich überall erkennen, Stephen Seeker.“

Sie umschloss sein Gesicht mit beiden Händen und küsste ihn.

„Und jetzt hätte ich liebend gern Kaffee und Rühreier. Ich überlasse es dir, ob du Winky gleich von unseren Plänen erzählst... du könntest einen Wasserfall von Warbeck-Schnulzen riskieren, weil sie beschließt, die gute Neuigkeit zu feiern. Und danach würde ich mich gern ein Weilchen hinlegen... ich habe letzte Nacht nicht viel Schlaf gehabt.“

„Ich auch nicht,“ sagte Stephen. „Ich brauche einen Ausgleich für Minervas Glenfiddich. Die Zeiten, als ich eine Nacht voller Diskussionen und mit einer halben Flasche Malzwhisky ohne unangenehme Nachwirkungen verkraftet habe, sind lange vorbei.“

„Tut mir wirklich Leid,“ lachte Ruta. „Vielleicht sollten wir uns zusammen hinlegen. Und nachdem wir uns genügend ausgeruht haben, könnte ich vielleicht tatsächlich entscheiden, was an dir du vielleicht behalten solltest.“

Verständnis dämmerte in seinen Augen auf, und neuerliche Belustigung. „Erzähl mir nicht, du hast deine Vorliebe für meine Nase entdeckt!“

„Ich könnte ohne weiteres damit leben,“ sagte sie ihm. „Nur gibt es in Hogsmeade und Hogwarts wahrscheinlich zu viele Leute, die sich lebhaft an das Gesicht erinnern, zu dem sie achtunddreißig Jahre gehört hat.“ Sie blickte auf seine Finger hinunter. „Aber was ich inzwischen wirklich sehr mag, sind deine Hände, Stephen.“

„Nur meine Hände?“ Er neckte sie, und er tat es offensichtlich mit großem Genuss.

„Gib mir eine Tasse Kaffee oder zwei,“ sagte sie, „und gönn mir ein paar Stunden ungestörten Schlaf, und ich werde dir sagen, was mir sonst noch ganz besonders an dir gefällt.“ Sie hob den Kopf und lächelte ihm unschuldig in die Augen. „Ich gehe jetzt nach oben und ziehe mich um.“

„Bist du sicher, dass das nötig ist?“ In seiner Stimme klang mehr als eine Spur Bedauern, und eine Sekunde später spürte sie seine Finger, die unter dem Morgenmantel die Rundung ihrer Brüste streiften. Sie fing seine Hand mit festem Griff ein, ehe er sich weiter vor wagen konnte.

„Frühstück zuerst.“ Sie sprach dicht an seinen Lippen. „Ich bin gleich wieder bei dir.“

„Versprochen?“

„Versprochen.“

Auf dem Weg in die Küche blieb er auf der Schwelle stehen, fuhr sich durch das Haar und wandte sich zu ihr zurück und sah sie lange an. „Ruta...“

Der Klang seiner Stimme trug sie zu dem Abend zurück, als er ihr das Märchen vorgelesen hatte. Selbst im Körper eines wilden Tieres, vom Fluch gefangen gehalten, hatte sie instinktiv auf die Art reagiert, wie er ihren Namen sagte... voller Staunen und einer Freude, die er kaum zu fühlen wagte, gleichzeitig zögernd und fast unwillig. Aber jetzt waren alles Zögern und Widerstreben verschwunden, ersetzt durch neues Vertrauen und Frieden, und die Melodie in ihrem Blut wurde jubilierend, als sie sah, dass er sie mit der gleichen, tiefen Freude anlächelte, die durch ihre eigenen Adern sang.

Er verließ das Zimmer, und sie konnte hören, wie er in der Küche mit Winky sprach, obwohl sie nicht verstehen konnte, was er sagte. Sie ging ebenfalls hinaus und die Treppen zum Schlafzimmer hinauf, ihre Schritte rasch und leichtfüßig.

Er hatte nie die berühmten drei Worte gesagt, die die Leute normalerweise mit dem Bund zweier Herzen in Verbindung brachten... nicht in den vergangenen Wochen und nicht heute. Und Ruta glaubte kaum, dass sie sie irgendwann in nächster Zukunft von ihm hören würde.

Es störte sie nicht. Ihr Herz wusste es, ohne den Schatten eines Zweifels.

Ihr Herz wusste es.

FINIS

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Anmerkungen der Autorin:

Damit geht eine Geschichte zu Ende, an der ich über ein Jahr geschrieben habe, und zwar ohne Epilog, weil ich den nach diesem Kapitel schlichtweg für überflüssig halte. Meinen allerherzlichsten Dank an meine großartigen Betas clevertoad und rabidsamfan und an alle meine Leser!

Übrigens – wer gerne noch ein paar mehr Details will, der kann ab sofort meine Geschichte Es war einmal in Hill Top lesen - und möglicherweise erfährt das Publikum darin sogar, wie „Stephen Seeker“ nach seiner Transfiguration aussieht...


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