Wolfsmond
von Cúthalion


Kapitel Siebzehn
Gnadenkraut

Es war fast dunkel, als Ruta Lupin nach St. Mary Green zurückkehrte. Sie kam von den Feldern, an Mrs. Ogilvies kleinem Haus vorbei; sie sah das bläuliche Licht vom Fernseher der alten Dame hinter den zugezogenen Vorhängen flimmern. Die Fenster von Stephens Cottage waren dunkel, und Ruta hielt abrupt vor der Gartenmauer inne und und starrte auf die Tür. War er Zuhause? Und würde er öffnen, falls sie tatsächlich den Mut aufbrachte, die Glocke zu läuten?

Mit sinkendem Herzen begriff sie, dass sie einfach nicht die Courage besaß, ihm jetzt gegenüber zu treten. Sie wandte sich ab und kämpfte gegen den irrationalen Drang an, sich die große Kapuze ihres Umhanges tiefer in die Stirn zu ziehen, um sich gegen die Blicke feindseliger Augen abzuschirmen. Die alten Bauwerke entlang Mill Walk schienen sich drohend nach vorne zu neigen; ihre Schindeldächer ragten über ihr auf wie misstrauische Wachtposten.

Während sie die Abbiegung nach Tulip Close erreichte und ihr Zuhause immer näher kam, wurden ihre Schritte langsamer. Die Gartenmauern zur Rechten und zur Linken funkelten im Licht der Straßenlampen; sie waren von einer dünnen Schicht Raureif überzogen. Der November war fast unmerklich gekommen und hatte einen frühen Winterschleier über das Dorf fallen lassen. Sie konnte ihren Atem wie eine frostige Wolke rings um ihren Kopf sehen.

Das Cottage würde so kalt sein wie diese nächtlich verschattete Straße. Als sie vor ein paar Stunden Andromedas Haus verlassen hatte, war es voller Leute gewesen. Ginny, Hermine, Harry… Sie erinnerte sich an Teddys kleine, schlaffe Gestalt, die über dem Tisch hing… Vickys Gesicht, weiß und voller Hass, bevor Ginnys Fluch sie als verkrümmten Haufen zu Boden streckte.

Jetzt stand Ruta vor ihrem eigenen Gartentor, die Hand auf dem Riegel. Wenn es doch nur einen Weg gäbe, die Erinnerung schwinden zu lassen… die Erinnerung an ihre verängstigten Augen, als sie endlich dem verlockenden Feuer der Verwandlung entronnen war, zitternd vor Entsetzen über das furchtbare Ausmaß ihrer Wut.

Das war es, was Fenrir Greyback aus ihr gemacht hatte. Sie würde nie fähig sein, die Furcht derer zu ertragen, die sie liebte… die Gefahr, die sie für jeden bedeutete, der ihr in den Weg geriet.

Sie konnte sich vielleicht einen Schlaftrunk brauen; er mochte nicht so wirkungsvoll sein wie der, den ihr Stephen erst vor fünf Tagen durch Winky geschickt hatte, aber er würde vermutlich ausreichen, um ihr ein paar Stunden des Vergessens zu schenken. Und als sie auf ihrer eigenen Türschwelle stand, wurde sie plötzlich von dem finsteren, bestürzend machtvollen Verlangen überwältigt, Kräuter auszusuchen, die viel mehr tun würden… die sie in einen Schlaf sinken ließen, der tief genug war, dass sie niemals wieder zu Bewusstsein kam, einem neuen, hoffnungslosen Tag ausgeliefert.

Der bloße Gedanke erfüllte sie bis auf die Knochen mit Kälte. Er reichte beinahe aus, sich abzuwenden und wieder in die Dunkelheit zu flüchten… aber mit einer gewaltigen Anstrengung brachte sie es fertig, den Schlüssel umzudrehen und den Vorraum zu betreten. Für einen Augenblick zögerte sie in der Dunkelheit, zitternd und verängstigt, aber dann sah sie das dünne, goldene Band aus Licht aus der Richtung des Wohnzimmers. Sie bewegte sich vorwärts, stieß die Tür auf… und stand still.

Der Raum war warm, hell erleuchtet von einem lodernden Feuer im Kamin. Eine Karaffe mit Rotwein und zwei Gläser standen auf dem Tisch, die Vorhänge waren zugezogen… und in dem Sessel neben dem Fenster saß Stephen, ein Buch in den Händen; sie erkannte ihr Herbarium sofort.

Er blickte auf und nickte ihr kurz und kommentarlos zu. Ruta starrte ihn ungläubig an; sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber ihr fehlten die Worte. Er war derjenige, der zuerst sprach, und er überraschte sie vollkommen.

Ruta graveolens,” sagte er, wobei er offensichtlich aus dem Buch zitierte. „Wusstest du, dass Muggelheiler im Mittelalter sie gegen die Pest eingesetzt haben?”

Das war weder die Stimme des Freundes noch die des Geliebten; es war der Lehrer, der da sprach, und irgendein gut trainierter Instinkt tief in Rutas Geist ließ sie gehorsam auf diesen Ton reagieren… so wie sie es sieben lange Jahre in Hogwarts getan hatte.

„Ja,” erwiderte sie, „weil die Ratten den Geruch nicht mochten.” Sie lächelte schief und mühsam. „Wusstest du, dass die Mönche sie nahmen, um ihre sündige Lust auf Frauen zu bezähmen? Es gab sogar einen römischen Dichter, der eine Kur mit Raute gegen die Schmerzen einer fehlgeschlagenen Liebe empfahl, und in Frankreich wurde sie ,L’Herbe à la belle fille’ genannt, weil Frauen sie benutzten, um unerwünschte Kinder loszuwerden.”

Muggel-Kräuterkunde,” bemerkte Stephen; sein Mund verzog sich in kühler Verachtung. „Richtig verwendet ist Ruta Graveolens eine Zutat in nicht weniger als einem halben Dutzend Tränke, und ein sehr nützliches Gegenmittel gegen mehrere lebensbedrohliche Gifte. Es wird allgemein auch gegen Augenleiden eingesetzt.” Er seufzte. „Ich bin überrascht, dass du scheinbar so viel vergessen hast. Die wissbegierige Schülerin, die vor zwanzig Jahren einen Aufsatz über die Verwendung von Mandragora Vernalis schrieb, hätte zuerst an den magischen Gebrauch gedacht.”

„Ich denke einfach, du hättest dir ein besseres Beispiel aussuchen sollen,” gab Ruta zurück; ihre Stimme war müde und scharf. Plötzlich spürte sie, wie die Knie unter ihr nachgaben, und sie sank gerade noch rechtzeitig in den Sessel neben dem Tisch, bevor er Zeuge ihres würdelosen Zusammenbruches werden konnte.

„Weinraute ist giftig,” murmelte sie bitter. „Wenn du sie mit bloßen Fingern berührst, endest du mit zahllosen Blasen auf den Händen.” Ihre Kehle brannte vor Abscheu gegen sich selbst und ließ ihre Stimme schwanken.

Stephen klappte das Buch zu und erhob sich aus seinem Sessel. Ruta fühlte, wie sich ihr Körper verkrampfte; was, wenn er zu ihr herüber kam und sie berührte? In diesem Moment war sie unfähig, seine Umarmung zu akzeptieren… nicht einmal den kleinsten Hauch einer Liebkosung. Sie hatte jedes Recht auf Trost eingebüßt.

„Entschuldige mich,” sagte er, Gesicht und Stimme ruhig und unbeeindruckt. „Ich bin gleich wieder da.”

Sie sah ihm zu, wie er in Richtung Küche verschwand und lehnte sich in den Sessel zurück, während die Wärme des Zimmers langsam in ihre erschöpften Glieder einsickerte. Es war fast eine Erleichterung, allein zu sein… mit nichts zur Gesellschaft als dem gleichmäßigen Ticken der Uhr an der Wand, den Orgelklängen des Windes im Schornstein und dem gelegentliche Knistern des brennenden Holzes im Kamin.

Stephen kam mit einem Tablett zurück. Ruta roch den kräftigen Duft von etwas, das frisch und köstlich war… appetitlich genug, dass ihr zu ihrer eigenen Verblüffung das Wasser im Mund zusammen lief.

„Das hat Winky für dich vorbereitet,” sagte Stephen und stellte das Tablett vor sie hin, „und sie wäre schrecklich enttäuscht, wenn du es nicht essen würdest.”

Dicke Sandwiches aus frischem, warmen Roggentoast, belegt mit Schinken und Cheddar und liebevoll dekoriert mit frischem Schnittlauch und gebratenen Zwiebelringen; ein knackiger grüner Salat mit Ziegenkäse und einem sahnigen Dressing. Ruta fragte sich, wo Winky wohl den Salat her hatte… und mit einen plötzlichen Schwall aus Schmerz und Scham erinnerte sie sich an Fionnulas Treibhaus in Berwick.

Es ist nicht meine Schuld, dass Werwölfe alles besudeln, was sie berühren.” Fionnulas Stimme, die Gift und Abscheu spie.

Und sie hatte Recht… mehr, als sie jemals wissen würde.

Plötzlich steckte Ruta ein dicker Kloß im Hals. Ohne nachzudenken schob sie den Teller zurück, hob den Kopf… und begegnete Stephens Augen.

„Der Salat ist aus dem Treibhaus hinten in deinem eigenen Garten,” sagte er. Sein Ton war gleichmäßig und leidenschaftslos. „Winky hat beschlossen, dass sie den Umsatz deiner ehemaligen Chefin nicht weiter in die Höhe treiben möchte.”

„Ich…” Sie räusperte sich und rang um Fassung. „Ich bin immer noch nicht sicher, ob ich Hunger habe.”

„Ich weiß, du hast heute morgen mit mir gefrühstückt,” erwiderte er gelassen, „und es war sicherlich ein sehr üppiges Frühstück, aber es war heute deine einzige Mahlzeit. Wenn man den Zustand bedenkt, in dem du vor vier Stunden fort gegangen bist – und dein Bedürfnis nach Bewegung, wenn dich etwas aus der Fassung bringt – dann musst du heute wenigstens fünfzehn Meilen gelaufen sein. Glaub mir, du hast Hunger.”

Also aß Ruta; sie arbeitete sich langsam und entschlossen durch die Hälfte des Salates und wenigstens eins der riesigen Sandwiches. Als sie den Teller zum zweiten Mal zurück schob, erhob er keinen Widerspruch mehr. Sie nahm einen Schluck Wein und sah ihn an; er war zum Sessel und zu seiner Lektüre zurück gekehrt. Lange Finger blätterten langsam die Seiten ihres Herbariums um. Sein Gesichtsausdruck war beinahe friedlich, aber sie hatte zu viel Zeit damit verbracht, die Geheimnisse seines Gesichtes zu studieren und zu enträtseln, als dass ihr die feinen, tiefen Linien um seinen Mund entgangen wären, die seine innere Spannung verrieten.

„Stephen?”

Er antwortete, ohne die Augen von dem Text zu nehmen. „Ja?”

„Was tust du hier?”

Er schloss das Buch und stellte es auf das kleine Regal neben dem Fenster zurück. „Es wäre keine gute Idee gewesen, dich in ein leeres Haus zurückkehren zu lassen.” Eine kurze Pause. “Dein Wissen über Kräutergifte ist ein wenig zu… grundlegend für meinen Seelenfrieden.”

Es war en erschreckendes Echo ihrer eigenen Gedanken, bevor sie die Tür zum Wohnzimmer geöffnet hatte, vor einer halben Stunde erst.

„Das wäre die einfachste Lösung, oder nicht?” gab sie zurück; ihre Stimme war leise und brüchig. „Für uns alle.”

„Ach, wirklich?” Er erhob sich aus dem Sessel; ganz plötzlich war sein Gesicht streng und zornig, und für eine Sekunde wirkte er tatsächlich alt. „Nach allem, was deine Freunde an diesem Nachmittag mit ansehen mussten, nach dem Alptraum, diesem rachsüchtigen Weibsbild entgegentreten zu müssen, die deine gesamte Familie an ein Monstrum verraten hat und die nicht einmal davor zurück geschreckt ist, ein Kind zu vergiften? Möchtest du ihnen zusätzlich zu ihrem Schock und ihrem Schmerz tatsächlich noch einen feigen Selbstmord aufbürden? Ich hätte dich nie für so selbstsüchtig gehalten.”

Ruta saß mit zusammen gebissenen Zähnen da und blickte auf ihre Hände hinunter. Seine Missbilligung war wie ein eiskalter Wasserguss, entnervend… und gleichzeitig durch und durch aufrüttelnd.

„Vielleicht hast du meinen Charakter ja schon die ganze Zeit über falsch eingeschätzt,” flüsterte sie. „Vielleicht bin ich nicht besser als Greyback. Ohne dich hätte ich die Menschen, die ich liebe, heute in Stücke gerissen.”

„Ohne mich?” Er schnaubte abfällig. „Ich hatte nichts damit zu tun, Ruta.”

Sie biss sich auf die Lippen. „Du warst es, der mich zurückrief, bevor ich mich der Verwandlung unterwerfen konnte.”

Ruta.”

Stephen kam zum Tisch herüber und kauerte sich vor ihr hin, so dass sie auf Augenhöhe waren. Zwei Hände umfassten ihre Wangen und hielten ihren Kopf in einem sanften, festen Griff; sie war unfähig, sich abzuwenden.

„Ich habe dich gerufen, so viel ist wahr,” sagte er. „Aber wenn du dich nicht bereits selbst gegen den Wahnwitz des Fluches entschieden hättest, dann hätte nichts und niemand dich davon abhalten können, dich zu verwandeln. Du hattest den größten Teil des Weges zurück zur Vernunft schon allein zurückgelegt… nicht wegen dem, was du bist, sondern wer du bist. Ich habe dir nur bei den wenigen letzten Schritten beigestanden.”

Angesichts der unerschütterlichen Absolution in seinen Augen blinzelte sie unwillig. Wie konnte sie seine Vergebung akzeptieren, ohne gleichzeitig hinzunehmen, was aus ihr geworden war?

„Begreifst du denn nicht, dass ich eine ständige Gefahr bin für alle, denen ich etwas bedeute?” sagte sie anklagend. „Begreifst du nicht, dass ich Angst habe vor mir selbst?”

„Natürlich tue ich das.”

Seine Hände umfassten noch immer ihr Gesicht, und obwohl ein Teil von ihr in zurückstoßen wollte, lehnte sie sich instinktiv in seine Berührung hinein. Sie spürte, wie seine Daumen eine zärtliche Linie an ihrem Kiefer entlang zogen, und sie hätte weinen mögen; ihre Gefühle waren eine wilde Mischung aus Sehnsucht und hilfloser Verzweiflung.

„Natürlich tue ich das,” wiederholte er rau. „Vergiss nicht, wer ich einmal war. Es ist nicht nötig, ein Werwolf zu sein, um zu hassen, was du jeden Morgen im Spiegel siehst.”

„Aber ich bin ein Monstrum!” schnappte sie.

„Nein, das bist du nicht.” Nicht einmal eine Spur Schroffheit oder Sarkasmus war in seiner Stimme zu finden; der kleine Teil ihres Geistes, der nicht in Selbstmitleid getränkt war, staunte über seine ruhige Geduld. „Fenrir Greyback war ein Monstrum, und nicht etwa wegen des Fluches, sondern wegen seiner Grausamkeit und Blutgier. Du bist vollkommen anders; du hast deine Kraft und die gesamte Macht deines Willens eingesetzt, um gegen die Gefahr in deinem Blut anzukämpfen.”

„Und was passieren, wenn das nächste Mal jemand mich bedroht, oder die, dich ich liebe, und wenn auch noch der letzte Rest meiner Willenskraft nicht ausreicht?” Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück und unterbrach den Kontakt. „Glaubst du wirklich, dass du mich so gut kennst?”

„Gut genug.” Stephen stand vom Fußboden auf. “Und der Wolfsbanntrank wird die Zeiten abdecken, wenn der Mond voll ist.” Er hielt inne und schaute auf sie hinunter. „Es ist allerdings eine interessante Frage. Ich frage mich, ob du dich überhaupt verwandeln musst.”

„Was meinst du damit?”

„Denk nach, Ruta,” Sie sah das plötzliche Aufblitzen von wissenschaftlicher Neugier in seinen Augen. „Wenn Fenrir Greyback imstande war, sich zu verwandeln, wann immer ihm der Sinn danach stand und gleichgültig, in welcher Mondphase – und diese Fähigkeit scheinst du von ihm geerbt zu haben – dann könnte es durchaus möglich sein, dass das Ganze auch anders herum Gültigkeit hat… dass nämlich er imstande war – und du imstande bist – der Macht des Vollmondes zu widerstehen.”

„Aber wieso… wieso habe ich mich dann in London verwandelt? Und wieso habe ich mich wieder verwandelt, vor nur ein paar Tagen?”

„Vielleicht nur, weil du geglaubt hast, dass du es musst.” Er warf ihr ein schiefes Lächeln zu. „Ich muss zugeben, dass mein Argument auf unsicheren Beinen steht. Es zu beweisen, würde bedeuten, den nächsten Vollmond abzuwarten und ihm ohne den Trank entgegen zu treten, nur um zu sehen, was geschieht, und zum Wohl der Wissenschaft… und ich bezweifle, dass du das Risiko unter so dürftigen Voraussetzungen eingehen möchtest.”

„Überaus wahr.” Ruta seufzte erschöpft; für ein paar Minuten schwiegen sie beide. Sie war müde… unglaublich müde. Der Weg hinauf in ihr Bett schien ihr viel zu weit zu sein, und sie begriff, dass sie drauf und dran war, einzuschlafen, wo sie war, den Kopf auf dem Tisch. Plötzlich erinnerte sie sich an etwas.

„Wo ist Vicky jetzt?”

„In London,” sagte Stephen langsam, mehr als nur ein Spur Bedauern in der Stimme. „Ich hätte es vorgezogen, höchstpersönlich mit ihr nach Askaban zu apparieren und sie dort in das dreckigste Loch fallen zu lassen, das verfügbar wäre, aber das hätte zu viele Fragen aufgeworfen. Potter und ich dachten, es wäre besser, ihr Gedächtnis so gründlich zu verändern, dass sie ihre Begegnung mit Fenrir Greyback vollständig vergisst. Sie denkt, er sei in der Zweiten Schlacht gestorben, und sie hat nie von seiner Vendetta gegen die Lupin-Familie erfahren. Und – zu allererst und vor allem – sie war nie in St. Mary Green.”

„Und wenn sie Teddy getötet hätte?” gab Ruta zurück; sie rang darum, ein plötzliches, weißglühendes Aufflammen der Wut zu bemeistern. „Hättet ihr sie dann auch so leicht… vergessen lassen?”

„Nein.” Es war ein leises Grollen. „Wie ich schon sagte – ich hätte sie in das dreckigste Loch fallen lassen, das verfügbar war.”

„Aber nicht in Askaban.” Sie sah ihn scharf an.

„Doch, in Askaban.” Sein Blick war sehr direkt, eine offene, kühle Herausforderung. „Ich kann nicht sagen, dass die Versuchung, etwas anderes zu tun, nicht da gewesen wäre – ich bin daran gewöhnt, die zu beschützen, die mir anvertraut sind. Aber eines ist und bleibt wahr: am Ende ist Vindictia Stone ein zu armseliger Feind, um derart drastische Maßnahmen zu verdienen. Von uns beiden.”

Sie hatte an diesem Nachmittag zu viel gelernt, um nicht mit brutaler Klarheit zu wissen, worüber er sprach.

„Ich habe keine Ahnung, wie ich ihnen jemals wieder gegenüber treten soll,” murmelte sie.

„Wem?”

„Meinen Freunden. Harry, Ginny… und Hermine auch. Sie haben Dinge gesehen, die sie niemals hätten sehen sollen.”

„Sie haben schon früher genug gesehen, dass sich der Schock jetzt auf ein erträgliches Ausmaß beschränken dürfte, würde ich sagen.” Stephen goss sich ein Glas Wein ein und füllte ihr Glas nach. „Harry Potter hat zuviel von der Natur des Bösen gesehen, um vor deinem gerechten Zorn zurück zu schrecken. Und Hermine hat sieben Jahre lang Seite an Seite mit ihm gekämpft.”

Er nahm einen langen Schluck.

„Ginny? Sie ist eine Veteranin der Schlacht im Ministerium, und von der Zweiten Schlacht. Sie ist eine mächtige Hexe und eine erbitterte Kämpferin. Du hast das Leben eines Kindes gerettet, das sie liebt – nicht nur einmal, sondern gleich zweimal. Vergiss nicht, sie war einmal von Voldemorts Tagebuch besessen, und ihr Bruder trägt die Erinnerung an Greyback auf seinem Gesicht… sie ist wahrscheinlich diejenige, die sich am meisten damit identifizieren kannst, was du durchmachst. Denkst du wirklich, sie würde dir wegen all dem die Freundschaft verweigern?”

„Ich weiß nicht, was ich denken soll,” sagte Ruta und schloss die Augen. „Ich fürchte, ich kann überhaupt nicht denken.”

„Durchaus begreiflich.” Er stellte sein Glas auf den Tisch. „Geh schlafen; ein paar Stunden Ruhe sínd die beste Medizin, die du jetzt bekommen kannst.”

Sie stieß den Sessel nach hinten und stand mit einiger Mühe auf. Für einen schwindelerregenden Moment drehte sich der Raum rings um sie; Stephen streckte rasch die Hand aus und schloss seine Hand um ihren Arm. Sie betrachtete ihn stirnrunzelnd.

„Du gehst jetzt besser nach Hause,” flüsterte sie.

„Spar dir den Atem,” antwortete er ebenso leise. „Denkst du wirklich, ich gehe und überlasse dich deinen eingebildeten Gewissensbissen?”

„Vielleicht solltest du das.” Sie wandte das Gesicht ab. „Du hast meinetwegen sowieso schon genug durchgemacht.”

Zu ihrer Überraschung lachte er.

„Du solltest die Entscheidung, wie viel ich aushalten kann, mir überlassen.” Er geleitete sie in Richtung Tür. „Du weißt doch, dass ich ziemlich hartnäckig bin.”

„Dickköpfig, meinst du,” gab sie zurück und hielt am Fuß der Treppe inne.

„Mindestens so dickköpfig wie du, Ruta Lupin.”

Ruta schüttelte den Kopf, besiegt und gleichzeitig beschämend erleichtert. Sie ging langsam die Stufen hinauf und fühlte ihn hinter sich wie einen stillen, schützenden Schatten.

*****

Stephen Seeker war froh, als er daran gedacht hatte, ein Feuer im Schlafzimmer zu machen; jetzt war es dort angenehm warm, und er sah, wie sich Rutas Schultern entspannten, als sie hinen ging.

Sie würde niemals wissen, wie unglaublich schwierig es gewesen war, sich zurück zu halten, sie von der schmerzhaften Qual ihrer Panik und Selbstverachtung weg zu steuern, ohne auch nur ein einziges Mal seinen eigenen Zorn über das zu verraten, was ihr zugestoßen war. Es hatte all seine Fähigkeiten als Legilimens und Okklumens erfordert, herauszufinden, wo ihre größte Furcht drohte, den schlimmsten Schaden anzurichten… um das Gespräch so zu dirigieren, dass ihre Verzweiflung in Schach gehalten wurde, während er sich gleichzeitig gegen die schiere Gewalt ihrer bodenlosen Angst abschirmte. Er hatte sie wie eine blutende Wunde in seinem Geist gespürt; die Nähe und Verbindung zwischen ihnen war stark genug, um seine eigenen, ältesten Ängste wieder zum Leben zu erwecken.

Du gehst jetzt besser nach Hause.”

Als ob das so einfach wäre.

Sie hatte sich geduldig durch seine Verteidigung gearbeitet, schon lange vor dieser entsetzlichen Nacht im August, die ihr Leben auf den Kopf gestellt hatte; er hatte gelernt, ihre wachsende Freundschaft zu schätzen, hatte festgestellt, dass er heimlich auf den warmen Klang ihrer Stimme wartete, auf den Anblick ihres Gesichtes, wenn sie ihm das zuversichtliche Lächeln schenkte, dass so sehr ein Teil von ihr war. Und er wusste, dass selbst die gesamte Last bitterer Erfahrungen eines verlorenen Lebens ihn nicht davon abhalten konnte, etwas für sie zu empfinden… auf eine Weise, die er nie zuvor gekannt hatte, so unterschiedlich von der Erinnerung an seine tragische, besessene Liebe zu Lily Evans, dass ihm nie in den Sinn gekommen war, die beiden miteinander zu vergleichen, bis es viel zu spät war.

Nun beobachtete er sie dabei, wie sie mitten auf dem altem Teppich mit seinen verblassten Farbtönen von Braun und Grün stand. Ohne ihn anzusehen, fing sie an, sich auszuziehen; sie schlüpfte aus Bluse und Rock und setzte sich in den Sessel neben dem Kamin, um ihre langen Wollstrümpfe abzustreifen. Er stellte fest, dass ihre Bewegungen viel glatter und leichter waren als zuvor; vielleicht würden ihre Verletzungen nie vollständig heilen, aber ihr Zustand hatte sich immerhin deutlich verbessert.

Er stand regungslos in den Schatten neben der Tür, den Blick unverwandt auf ihren Hals und ihre Arme gerichtet; im Licht der Flammen hatte ihre Haut die weiche Tönung von altem Elfenbein. Endlich war sie nackt; ohne sich die Mühe zu machen, nach ihrem Nachthemd zu suchen – und noch immer, ohne ihn anzuschauen – ging sie zum Bett hinüber und verschwand unter der Decke.

Er kam näher, halb entschlossen, ihr eine gute Nacht zu wünschen und auf dem Sofa im Wohnzimmer zu schlafen. Das einzige, was er von ihr sehen konnte, waren eine bloße Schulter und ihr Hinterkopf. Aber es war nicht nötig, Legilimantik einzusetzen, um die völlige Hoffnungslosigkeit zu spüren, die von ihrer stillen Gestalt ausstrahlte; jetzt zu gehen, würde eine Zurückweisung all dessen bedeuten, was sie noch immer zu geben hatte. Er suchte nach den richtigen Worten und beschloss endlich, überhaupt nichts zu sagen.

Er entledigte sich seiner eigenen Kleidung und legte sich neben Ruta. Das Bett war breit und die Decke großzügig genug, um ihnen einen gewissen Abstand zu gestatten. Er konnte die Wärme ihres Körpers fühlen, aber er berührte sie nicht; sie lagen Seite an Seite, während das Feuer auf dem Kaminrost herunter brannte und der Raum dämmrig wurde.

Plötzlich war da eine kleine Regung neben ihm; trotz der Anspannung war er kurz davor, einzudösen, und er hätte sie fast verpasst, aber dann kam sie noch einmal. Er streckte die Hand aus, und seine Fingerspitzen streiften ihren Arm. Ruta zitterte, aber als sie seine Berührung spürte, erstarrte sie und lag völlig still. Einen Moment später rann die winzige Welle einmal mehr durch ihre Glieder; seine Finger wanderten über ihre Schulter aufwärts und fanden eine nasse Wange.

Er wollte Fenrir Greyback noch einmal umbringen. Er wollte die Zeit zurückdrehen, um sie davor zu schützen, gebissen zu werden… bevor der Wolf auch nur die Chance hatte, sie zu berühren. Er wollte sie anschreien, weil sie sich stur weigerte, den Trost anzunehmen, den er – endlich! – willens und bereit war, ihr zu geben. Er wollte sie lieben, bis alle Furcht unter dem hungrigen Angriff seiner Hände und seines Mundes starb, und bis sein eigener, verzweifelter Zorn in der Hitze einer gedankenlosen Erlösung dahin schmolz.

Doch statt dessen liebkoste er sachte ihre Schulter und streichelte hinunter bis zu ihrem Handgelenk; er fand ihre eisigen Finger und schloss seine Hand darum. Plötzlich wandte sie sich ihm zu und vergrub ihr Gesicht an seiner Brust. Jetzt weinte sie wirklich – ein hemmungsloses, krampfhaftes Schluchzen, unterbrochen von verzweifeltem Ringen nach Luft, während sie sich an ihn klammerte, unfähig, die Flut noch länger zurückzuhalten. Ihr Körper zitterte wie ein Blatt im Herbst, und er hielt sie fest an sich gedrückt. Er wiegte sie wie ein Kind, seine Stimme ein leises, gesenktes Wispern des Trostes.

Nach langen Minuten ließ der Sturm langsam nach. Ruta machte den schwachen Versuch, sich aus seiner Umarmung zu lösen. Sie hob den Kopf und er sah ein tränenüberströmtes Gesicht mit rot geränderten Augen.

„Tut mir Leid.” Es war kaum mehr als ein Murmeln, dünn und unsicher. “Ich hätte nicht… Stephen, es tut mir so Leid.”

„Was denn?” erwiderte er, während er ihr die feuchten Strähnen, die an ihren Wangen klebten, vorsichtig aus dem Gesicht strich. „Dass du zugegeben hast, ein Mensch zu sein? Dass du dich fürchtest?”

„Alles auf einmal.” Noch einmal schluchzte sie auf. „Dass ich dich in diesen Wahnsinn hinein gezogen habe.”

Er schüttelte den Kopf.

„Keine Sorge,” flüsterte er. „Ich beklage mich nicht, mein Gnadenkraut. Und ich werde nicht gehen.”

Er drückte einen Kuss in das zerzauste Haar unter seinem Kinn und schloss die Augen.

*****

Als Stephen Seeker am kommenden Morgen die Augen wieder aufschlug, hatte die Novemberkälte sich in das Zimmer geschlichen, und das Bett neben ihm war leer. Für einen Moment kämpfte er gegen die irrationale Befürchtung an, dass Ruta aus ihrem Zuhause Gott weiß wohin geflüchtet war; er stand auf, sammelte seine Kleider ein und zog sich rasch an. Dann trat er zum Fenster hinüber und zog die dicken Vorhänge zurück.

Die Sonne hatte sich noch kaum über den Horizont erhoben. Das Licht war bleich, aber fast übernatürlich klar; es zeichnete die nackten Zweige und die Schindeln der Hausdächer wie Winterskulpturen nach, und jeder Zentimeter war mit einer dünnen Lage aus Eis bedeckt. Stephen drehte sich um und verließ den Raum: im Korridor begrüßte ihn angenehme Wärme und die ebenso angenehmen Düfte von Badewasser mit Rosenöl und frisch aufgebrühtem Kaffee.

Als er hinunter ins Wohnzimmer kam, saß Ruta in ihrem Lieblingssessel am Feuer, die Hände um eine große, dampfende Tasse gelegt. Das Lächeln, das sie ihm zuwarf, war schmal und verlegen.

„Guten Morgen,” sagte sie. „Ich hoffe, du hattest eine gute Nacht, trotz meines dramatischen… Auftritts.”

„Ich habe sehr gut geschlafen,” antwortete er. „Und du siehst viel besser aus als gestern.”

„Oh, bitte!” Jetzt lachte sie tatsächlich. „Ich hatte keine Ahnung, dass du kurzsichtig bist. Und nebenbei – ich habe einen Spiegel im Badezimmer.”

„Mit meinen Augen ist alles in Ordnung,” entgegnete er trocken. „Übrigens… hat Winky daran gedacht, mir Assam-Tee zu kochen?”

Bevor Ruta antworten konnte, öffnete sich die Tür zur Küche und die Hauselfe kam herein gesegelt; sie trug ein Tablett mit einer silbernen Teekanne, einem kleinen Kristallkrug mit Sahne und einem Schüsselchen mit Kandis.

„Guten Morgen, Herr!” quäkte sie und betrachtete die ziemlich heimelige Szene mit offensichtlicher Befriedigung. Sie stellte das Tablett auf den Tisch und wollte gerade nach der Kanne greifen, als Ruta den Kopf schüttelte.

„Nein, Winky,” sagte sie. „Lass mich das tun.”

„Aber, Miss…” protestierte die Hauselfe. „Sie sollten sich nicht die Mühe machen – das ist doch Winkys Aufgabe. Und Ihr Arm ist immer noch nicht wieder ganz heil.”

Ruta lächelte sie an. „Aber du hast mich mit deinen Übungen nicht umsonst maltätriert, oder?” Angesichts von Winkys schockiertem Blick hob sie beruhigend die Hand. „Das war ein Witz, Liebes. Deine Sturheit hat mir dabei geholfen, die Kraft in den zerrissenen Muskeln und Sehnen zurückzugewinnen; ohne deine unbeugsame Entschlossenheit, mein tägliches Training zu überwachen, wäre mein Arm noch immer vollständig gelähmt.”

Sie beugte sich vor und ihre Finger schlossen sich um dem Griff der Teekanne. Der Mann und die kleine Hauselfe beobachteten gespannt, wie sie die Kanne anhob und vorsichtig Seeker Tasse voll goss. Sie stellte sie zurück auf das Tablett und hob den Kopf; ihre Augen leuchteten triumphierend. Winky klatschte ehrlich entzückt in die Hände, und Seeker fühlte den spontanen Wunsch, genau das selbe zu tun.

„Großartig, Ruta,” sagte er. „Und, Winky… du hast Wunder bewirkt. Wir sollten das mit einem richtig guten Frühstück feiern.”

„Winky wird Omeletts machen!” rief Winky aus; sie glühte vor Freude. „Und möchte der Herr auch Würstchen? Pilze und Tomaten? Speck und Eier? Und Croissants natürlich, weil das Fräulein Winkys Croissants so liebt, und…”

„Was du dir auch ausdenkst, wir werden es zweifellos außerordentlich genießen,” sagte Seeker und gab ihr einen sanften Schubs in Richtung Küche. „Und sei vorsichtig mit den Pilzen – beim letzten Mal hast du zuviel Knoblauch genommen und zu wenig Thymian.”

„Ja, Herr!”erwiderte Winky und nickte enthusiastisch. „Weniger Knoblauch und mehr Thymian. Und vielleicht eine Spur Rosmarin…”

Der Rest des Satzes wurde abgeschnitten, als die Tür hinter ihr zufiel.

„Sie ist unbezahlbar,” sagte Ruta hinter Seeker mit sanfter Stimme. „Ich weiß nicht, was ich ohne sie getan hätte… und ohne dich.”

Er drehte sich um und hatte gegen einen unerwarteten Schwall der Ungeduld anzukämpfen. Ihre ständige Dankbarkeit fühlte sich plötzlich an wie eine Mauer zwischen ihnen… ein solides Hindernis, das er irgendwie überwinden musste, um endlich die Frau zu erreichen, die sich dahinter verbarg.

Aber ehe er noch das Wort ergreifen konnte, schlug von draußen etwas gegen das Fenster. Beide wandten gleichzeitig den Kopf und entdeckten die große Schleiereule, die mit allen Anzeichen von Zorn gegen das Glas pickte. Seeker erkannte sie sofort und stöhnte innerlich. Wirklich ein brillantes Timing, Mr. Potter.

„Sokrates!” sagte Ruta und öffnete rasch das Fenster. Der Vogel flatterte herein und ließ sich auf ihrem Arm nieder, während sie die kleine Pergamentrolle von seinem Bein entfernte. Sie überflog die Nachricht und ihr voller Mund wurde sofort angespannt und schmal.

„Was ist los?” Stephen streckte die Hand aus und sie ließ das Stück Pergament wortlos in seine Handfläche fallen.

Ich würde heute Nachmittag gern kommen und dich treffen; ich werde einen Besucher vom Ministerium mitbringen. Bitte stell sicher, dass du allein bist (abgesehen von S., wenn du das vorziehst), und halte das hier geheim. H.

„Ich habe keine Ahnung, was ich davon halten soll,” sagte sie langsam. „Hat er vielleicht… glaubst du, er hat Shacklebolt über mein… Missgeschick von gestern Bericht erstattet?”

Ihre Stimme hatte plötzlich einen scharfen Unterton von Panik, und ihre Fingerknöchel wurden weiß. Sanft nahm er ihr die Tasse ab und stellte sie auf den Tisch.

„Ich möchte doch stark bezweifeln, dass wir jeden Moment eine grimmige Einheit des Werwolf-Fangkommandos zu erwarten haben, die die Tür aufbricht,” entgegnete er ruhig, stand aus seinem Sessel auf und trat hinter sie. „Wenn das der Fall wäre, dann hätte Mr. Potter diese Nachricht an mich gerichtet und mir befohlen, dich auf der Stelle in Sicherheit zu bringen, es sei denn, ich will den ungebändigten Zorn des Jungen Der lebt riskieren.”

Sie gab ein schwaches Glucksen von sich; er fing an, ihre Schultern und ihren Nacken mit kraftvollen Fingern, und nach einer kurzen Sekunde des Zögerns lehnte sie sich in die Wärme seines Körpers zurück.

„Aber was will er dann? Und wer ist dieser geheimnisvolle Besucher vom Ministerium?”

„Ich habe keine Ahnung,” sagte Stephen ehrlich. „Aber da diese Nachricht offensichtlich nicht deine Festnahme ankündigt – oder irgend einen Plan, mein geheimes zweites Leben offen zu legen – sollten wir uns in Geduld üben.”

„Und was noch?”

„Einen langen Spaziergang machen.“ Er lächelte, erfüllt von einer unerklärlichen, ruhigen Zuversicht. „Aber bevor du den tapferen und unvermeidlichen Versuch machst, mich dafür zu begeistern, die steilen Hügeln des Eskdales hinauf zu krabbeln, bestehe ich auf ein anständiges Frühstück.“

*****

Sie bewältigten den Weg zum Bléa Tarn in etwas mehr als einer Stunde, und obwohl sich Stephen während der letzten Monate hauptsächlich auf sein Haus beschränkt hatte, hielt er ziemlich gut mit ihr Schritt. Die Wintersonne vertrieb die letzten Nebelreste um die Berggipfel, während sie am Rand des stillen, blauen Wassers Rast machten.

Ruta saß auf einem der verstreuten Felsbrocken und sah ihm zu, wie er langsam am Seeufer entlang wanderte, wo kleine Wellen an dem gefrorenen Gras leckten. Sein Gesicht war gerötet, und die kalte Brise wehte ihm das Haar aus der Stirn. Mit einem kleinen Stich des Bedauerns sah sie, dass sich an seinen Schläfen ein starker Silberschimmer zeigte.

Als ich ihn zuerst gesehen habe, schien er alterslos zu sein, dachte sie, aber jetzt hat das Schicksal die Waagschale gesenkt. Mein Schicksal wahrscheinlich.

„Was denkst du?“ sagte sie laut. „War es die Mühe wert?“

„Welche Mühe?“ Er blickte über seine Schulter zurück und warf ihr ein überraschend jungenhaftes Grinsen zu. „Du bist viel mehr außer Atem als ich.“

Ruta schnaubte. „Hast du vergessen, dass ich verletzt bin?“

„Deine Schulter und dein Arm sind verletzt, nicht deine Beine,“ sagte Stephen; das Grinsen vertiefte sich. „Und ich kann mich nicht erinnern, dass du diesen Hügel auf den Händen hinauf gelaufen bist, wie ein Gaukler aus dem Mittelalter.“

Touché.” Sie wurde wieder ernst. „Weißt du, das hier ist immer mein Refugium gewesen. Ich habe die letzten zwanzig Jahre allein gelebt, aber selbst mein Haus kann zuweilen ziemlich bevölkert sein. Der Bléa Tarn ist immer der Ort gewesen, wo ich mich in Frieden zurückziehen konnte, wo ich meinem täglichen Geschäft entkommen und den Kopf frei machen konnte.“

Er nickte langsam. „Vielleicht ist es genau das, was du jetzt nötig hast,“ sagte er. „Zu entkommen und deinen Kopf frei zu machen... selbst wenn das bedeutet, dass du viel weiter gehen musst als bis zum Bléa Tarn.“

Es war nur zu offensichtlich, was er meinte, aber sie schüttelte abwehrend den Kopf. „Stephen...“

Ruta.” Er stand vor ihr, und ihre Augen begegneten sich. „Du weißt, dass du Pläne für die Zukunft machen musst.“

„Ich weiß.“ Sie biss sich auf die Lippen und klammerte sich an den nächsten verfügbaren Strohhalm. „Aber so lange ich nicht weiß, worum es in Harrys Nachricht geht, kann ich nicht klar genug sehen, um irgendwelche Pläne zu machen. Ich werde jede schwerwiegende Entscheidung über mein Leben auf die Zeit nach dem Besuch verschieben.“

Er schaute sie an, und sein Gesichtsausdruck war undurchdringlich. „Wie du möchtest. Und jetzt stehst du am Besten von diesem Felsbrocken auf und gehst mit mir zurück. Das hier ist ein schöner Flecken Erde, aber der Wind schneidet wie ein Messer.“

„Versuch’s mit einem Wärmezauber,“ sagte sie; ihre Mundwinkel zuckten. „Für einen Helden bist du erstaunlich dünnblütig.“

„Ein Held, der den größten Teil seiner Zeit in einem klammen Kerker verbracht hat,“ sagte er mit einer Grimasse. „Und in ein paar anderen, abstoßenden Löchern obendrein. Wir sollten jetzt nach Hause zurückkehren, wenn wir wieder dort sein wollen, bevor Mr. Potter eintrifft... es sei denn, du möchtest, dass ich mit dir appariere.“

„Du kannst ja apparieren, wenn du willst,“ sagte Ruta, „aber ich werde ganz sicher laufen. Ich habe... du hast ja nicht...“ Sie schluckte. „Du hast dieses Zimmer in St. Mungo nie gesehen. Da gab es nicht mehr als das Bett und der Tisch, und die Vorhänge des einzigen Fensters waren die ganze Zeit zugezogen. Drei Wochen, ohne den Himmel zu sehen oder frisches Gras zu riechen... vielleicht ist das der Grund, weshalb ich jetzt nicht genug davon bekommen kann. Ohne Lottie Stanhope wäre ich verrückt geworden. Sie weigerte sich, vor der Tür zu bleiben und mich meiner Verzweiflung zu überlassen.“

Erneut stand er vor ihr und streckte wortlos die Hände aus. Ruta nahm sie; sie wurde auf ihre Füße und geradewegs in seine Arme gezogen. Ihre Wange fand einen natürlichen Ruheplatz an der weichen Wolle seines dunklen Winterumhanges, und sie schloss die Augen. Zwei Nächte hatten sie miteinander verbracht; sein Körper hatte ihr beides geschenkt, jubelndes Entzücken und tiefen Trost... und noch immer fühlte sich seine Umarmung merkwürdig fremd an. Seine Haut unter den warmen Kleiderschichten hatte allerdings ein Aroma, das beruhigend und unverwechselbar war, nach Kräutern und einer Vielzahl von starken Tränken und lang verdunsteten Gebräuen.

„Ich wünschte, ich hätte den Tarnumhang bei mir,“ murmelte er, den Mund in ihrem Haar.

„Wofür?“

„Ich würde dir zeigen, wie man fliegt, ohne einen Besen zu benutzen.“ Eine warme Hand bewegte sich unter ihr Kinn und hob ihren Kopf an. Ruta betrachtete prüfend sein Gesicht.

„Das ist Bestechung, Sir,“ erwiderte sie. „Sie versuchen, mich mit etwas in Versuchung zu führen, das Sie davor bewahren würde, zurück wandern zu müssen.“

„Erschreckend scharfsinnig, wie immer,“ gab er zurück; Belustigung glitzerte in seinem Blick, und noch etwas anderes, das ihren Herzschlag zum Stolpern brachte. Dann beugte er sich vor und sie spürte seinen Mund, eine sachte Berührung zuerst... aber der Kuss wurde rasch tiefer und fordernder, und als er sie endlich freigab, da sang ihr das Blut in den Ohren und sie fühlte den kalten Wind nicht mehr. Sie räusperte sich und sagte das erste, das ihr in den Sinn kam.

„Du hast mich noch nie zuvor bei Tageslicht geküsst.“

„Ja,“ erwiderte er und wandte sich dem Weg zu, der vom See weg und den Hügel hinab führte; er sprach über die Schulter. „Aber ich könnte mich daran gewöhnen, mein Gnadenkraut. Komm jetzt... es gibt keinen Grund, sich zu fürchten. Was immer der Tag auch bringt, du wirst dem nicht allein gegenübertreten müssen.“


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