Wolfsmond
von Cúthalion


Kapitel Sechzehn
Die Bestie in mir

Vicky Stone stand hinter den dicken, knorrigen Zweigen einer blattlosen Hecke versteckt, während sie Ruta Lupin dabei zusah, wie sie Teddy umarmte, bevor sie ihn ins Haus seiner Großmutter zurückschickte. Sie beobachtete, wie Ruta durch den Garten davon ging, mit dem leichtfüßigen, entspannten Gang eines Menschen, der keine Eile hat. Nun hatte sie einen weit besseren Blick auf ihr Gesicht... und sie fand es immer noch allzu schlicht und langweilig. Wie hatte Severus Snape Ruta wohl kennen gelernt? Waren sie Freunde... oder war es sogar möglich, dass er mit ihr ins Bett ging?

Vicky verkniff sich ein aufgeregtes Kichern, und ihre Hand schloss sich fester um die Phiole mit Vielsafttrank. Es spielte nicht wirklich eine Rolle, ob die beiden bloß Verbündete waren oder die Nächte zusammen verbrachten. Sobald sie die Information hatte, hinter der sie her war, würde sie ihrer Phantasie freien Lauf lassen; sie würde Tatsachen und bloße Gerüchte freizügig kombinieren, zum Nutzen des rauschenden Erfolges, von dem sie träumte. Wen kümmerte schon die Wahrheit?

Sie blickte Ruta nach, bis sie sah, wie die andere Frau um die Straßenbiegung verschwand. Es war höchst unwahrscheinlich, dass sie sehr bald zurückkommen würde; dies war der Augenblick, auf den Vicky gewartet hatte, Sie zog sich tiefer in den Schatten der Hecke zurück, öffnete die Phiole und gleichzeitig die kleine Silberdose. Sie ließ die letzte, spinnwebfeine Haarsträhne in die schlammfarbene Flüssigkeit gleiten und sah, wie sie so klar wurde wie Wasser. Dann leerte sie die Phiole mit einem langen Zug.

Vicky schloss die Augen und ertrug stoisch das unangenehme Gefühl der Verwandlung; sie vergaß nicht, einen kleinen Spiegel aus ihrer Handtasche zu ziehen, um ihre äußere Erscheinung zu überprüfen. Einmal mehr verspürte sie einen scharfen, stechenden Schock beim Anblick von grauem Haar und Falten: mochte Merlin verhüten, dass sie der Zeit jemals gestattete, ihrem eigenen Gesicht soviel Schaden zuzufügen. Aber ein paar Runzeln für eine Stunde waren die Sache wert, Wenn sie wirklich ein Vermögen verdiente mit der Geschichte, die sie bald erzählen würde, dann hatte sie die Mittel, ihre eigene, kostbare Lieblichkeit über Jahre hinaus zu konservieren.

Sie holte tief Luft, strich das graue Gewand glatt (graues Haar und graue Kleidung; die alte Schachtel hatte wirklich kein bisschen Geschmack!) und ging die letzten paar Meter die Straße entlang, bis sie Andromeda Tonks’ Gartentor erreichte. Sie durchquerte den Garten, stand vor der Tür und zog an der Kette. Ein melodisches Läuten kam von drinnen, dann hörte sie Schritte. Die Tür öffnete sich und Teddy Lupin blinzelte zu ihr hoch. Offene Freude blitzte in seinen Augen, als er ihr verwandeltes Gesicht erkannte.

„Sie... Sie sind Lottie Stanhope, nicht? Wer haben über Sie geredet, Tante Ruta und ich... Sie haben sie gerade verpasst! Ich hab heute morgen bei ihr gefrühstückt, wissen Sie, und sie hat mich eben nach Hause gebracht.“

Er strahlte sie an, drehte sich um und rief ins Haus hinein.

„Gran Dromeda, schau mal, wer zu Besuch gekommen ist!“

„Hallo, Teddy,“ sagte Vicky Stone mit einem gütigen Lächeln. „Ich freue mich sehr, dich wiederzusehen. Darf ich hereinkommen?“

*****

Die Stille im Wohnzimmer der Potters war schwer von unausgesprochenen Befürchtungen. Endlich rührte sich Seeker; seine Lippen zuckten. „Und hat Miss Kimmkorns letztes Machwerk schon einen Titel?“

Ginny sah ihn aus dem Augenwinkel an. „Ja,“ murmelte sie; ihre Stimme schwankte am Rand eines nervösen Kicherns. „Severus Snape – Schurke oder Heiliger?“

„Brilliant,“ bemerkte Seeker säuerlich. „Zu schade, dass ich nicht als Geist zurückkommen kann, um dieses unerträgliche Weibsstück heimzusuchen.“

Harry lachte, um die Spannung zu brechen.

„Wenn Kimmkorns Biographie über Sie so scheußlich ist wie die über mich, dann kann ich nur hoffen, dass Sie das Ding niemals wirklich lesen müssen. Meine hab ich gelesen, und ich habe Wochen gebraucht, um mich davon zu erholen.“

Harry.“ Ginnys Stimme hatte einen scharfen Unterton. „Begreifst du das nicht? Es mag wohl sein, dass Ruta nicht die Einzige ist, die beobachtet wird. Eine Geschichte über die Cousine des ,getreuen Werwolfs’, die unter dem selben Fluch leidet wie er, ist ja schon ein saftiges Stückchen Klatsch – aber stell dir die Sensation vor, wenn diese Frau dem Cocktail auch noch die Auferstehung von Severus Snape hinzufügen kann!“

„Ich frage mich, was zuerst kam,“ sagte Stephen Seeker gedankenvoll. „Hat diese Miss Stone nach ein paar unbekannten Tatsachen gesucht – oder nach interessanten Gerüchten – und hat sie dann Ruta Lupin als Extra-Bonus entdeckt? Oder war Ruta von Anfang an das Ziel ihrer Nachforschungen?“

„Und wieso?“ fügte Hermine hinzu. „Wenn das eine Art Rachefeldzug ist, dann muss sich Ruta in ihr eine schlimme Feindin gemacht haben.“ Sie fuhr sich mit beiden Fingern durch das Haar und zerzauste sich dabei ihren Pferdeschwanz.

„Einen Augenblick mal...“ sagte Seeker langsam. „Vindictia Stone... Vindictia... Vicky Stone. Ravenclaw. Sie hing immer am Rand von Slughorns Hofstaat herum, als ich in meinem siebten Jahr war. Er hat ständig von ihren großartigen Kniffen mit Liebestränken geschwärmt.“ Er rieb sich die Nase, die Augen vor Konzentration halb geschlossen. „Ruta war im selben Jahr wie sie... und im selben Haus. Sie könnte ihr irgendwie in die Quere geraten sein.“

„Ruta?“ Harry schaute ihn stirnrunzelnd an. „Aber sie ist besser in Kräuterkunde als in Zaubertränken – ich meine, sie hat den Anti-Mehltau-Trank erfunden, aber das war vor fünfundzwanzig Jahren, und nebenbei... wie wahrscheinlich kann es sein, dass diese Miss Stone ihre Schulhof-Feindschaft so lange aufrecht erhält?“

Er begegnete Seekers Blick, und die knochentiefe Ironie in den schwarzen Augen traf ihn wie ein Schlag.

„Wollen Sie wirklich eine Antwort auf diese Frage?“ sagte Seeker sehr leise.

„Nein.“ Harry schlug die Augen nieder. „Wohl eher nicht.“

Schweigen senkte sich über den Raum. Als Seeker wieder sprach, machten die Erinnerungen seine Stimme sanft.

„Vicky Stone... Sie kann nicht ganz und gar harmlos gewesen sein, selbst als Schülerin. Lily hat ihr eine Weile bei ihren Hausaufgaben geholfen. Aber bis Weihnachten in dem Jahr muss dieses Arrangement sich zerschlagen haben. Und Stone war ganz sicher eine der Schülerinnen, denen nach dem Debakel in der Großen Halle Hauspunkte abgezogen wurden. Ich denke nicht, dass sie seither jemals wieder den Mumm gehabt hat, sich Ihrer Mutter noch einmal zu nähern.“

„Sie sind sich nicht sicher?“ fragte Harry, und Seekers Gesicht verdunkelte sich.

„Nein.“ Er sprach ganz ruhig, aber seine Anspannung war mehr als offensichtlich. „Zu der Zeit sprachen Lily und ich nur noch miteinander, wenn es absolut nicht zu vermeiden war. Aber bei der Szene in der Großen Halle war ich Zeuge.“ Ein sehr kleines Lächeln. „Ich glaube nicht, dass ich jemals vorher oder nachher so viele junge Idioten gesehen habe, die von einer Vertrauensschülerin mit so wenigen Zaubersprüchen außer Gefecht gesetzt wurden.“

Er erhob sich vom Sofa.

„Ich denke, ich sollte mit Minerva McGonagall Kontakt aufnehmen; sie kann uns mit noch mehr Details über Miss Stones Schulkarriere versorgen... und sie könnte vielleicht herausfinden, wie gut Ruta und Vindictia sich kannten.“

„Äh... McGonagall?“ fragte Harry, der kaum seinen Ohren traute. „Heißt das, sie weiß...“

„Ja, so ist es, Mr. Potter.“ Seeker schaute ihn an. „Sie können sich selbst gratulieren, meinen heimlichen Verbündeten in Hogwarts entdeckt zu haben.“ Er kam auf die Beine und machte eine Bewegung in Richtung Kamin.

„Nicht den,“ sagte Harry hastig; er versuchte noch immer, dieses neueste und spektakulärste Stückchen Information zu verdauen. „Sie müssen den Kamin in meinem Studierzimmer nehmen; er ist an das Flohnetzwerk angeschlossen, weil es leichter ist, mehr Schutzzauber auf einen Raum zu legen, wo... ähm...“ Ihm wurde klar, dass er schwafelte; er drehte sich um und stellte fest, dass seine Frau ihn mit milder Belustigung betrachtete. „Würdest du ihm den Weg zeigen, Liebes?“

Ginny verließ den Raum, Stephen Seeker im Kielwasser, und Harry goss sich eine Tasse Tee ein. Ihm drehte sich der Kopf.

Minerva McGonagall. Das war ja unglaublich.

*****

Fünf Minuten später waren sie wieder da.

„Sie wird das Archiv und die Jahrbücher zu Rate ziehen, und Flitwick,“ sagte Seeker. „Innerhalb einer Stunde sollten wir von ihr hören.“

„Wir müssen Ruta bald warnen,“ warf Ginny ein. „Aber Andromeda sollte auch gewarnt werden. Ich hab nachgedacht, und wenn Lottie Stanhope schon früher in der Werwolf-Registratur war, dann müssen die dort wissen, wie sie aussieht. Vielleicht hat Miss Stone ja jemanden gefunden, der ihr Vielsafttrank verkauft hat... das würde es ihr möglich machen, nicht nur Miss Stanhopes Unterschrift zu benutzen, sondern auch ihre Identität. Und Dromeda würde sicher einer Person vertrauen, die mit Lottie Stanhopes Gesicht auf ihrer Türschwelle auftaucht.“

„Sehr gut möglich,“ erwiderte Seeker grimmig.

„Ich kann gehen,“ bot Hermine an. „Es wäre besser, wenn Sie,“ sie schaute Seeker an, „ein paar Tage außer Sichtweite bleiben – falls Vicky Stone tatsächlich versuchen sollte, ihre Nachforschungen in St. Mary Green abzuschließen. Sie mag mich ja vielleicht nicht kennen, aber Sie kennt sie ganz bestimmt.“

„Mich kennt sie auch,“ sagte Ginny, „aber ich kann jederzeit das harmlose Heimchen am Herd spielen. Und wenn sie wirklich in der Gestalt von Lottie Stanhope auftaucht, dann sollten wir imstande sein, sie solange festzuhalten, bis sie sich wieder zurück verwandeln muss.“

„Das könnte gefährlich sein,“ sagte Harry mit einem besorgten Stirnrunzeln.

„Die Schlacht im Ministerium war auch gefährlich,“ sagte Ginny und nahm seine Hand. Ihr Blick war klar und scharf. „Genau wie die Schlacht in Hogwarts. Du und ich, wir sind immer noch ein Teil von Dumbledores Armee... und dieses Mal werde ich nicht zu Hause herum sitzen und darauf warten, dass du vom Kampf zurückkommst... oder nicht.“

Harry seufzte, hin- und her gerissen zwischen Stolz und Ärger. „Ich werde Kreacher sagen, dass er ein Auge auf James haben soll, während er sein Mittagsschläfchen macht.“

„Er wird entzückt sein,“ entgegnete Ginny mit einem Grinsen. „Er räumt jetzt seit zwei Wochen den Keller auf... eine Pflicht, die weit unter seiner Würde ist.“

„Viel länger sollten wir nicht warten,“ sagte Seeker; seine Augen waren abwesend und besorgt. „Mir gefällt der Gedanke nicht, dass Ruta Lupin einer alten, maskierten Feindin gegenüber treten muss... sie kann noch immer ihren Zauberstab nicht benutzen.“

*****

Ruta stand im hinteren Garten ihres Cottages; auf dem Heimweg hatte sie einen kleinen Umweg gemacht und war an den Ständen des wöchentlichen Bauernmarktes entlang gegangen. In ihrem Weidenkorb hatte sie Eier, ein ordentliches Stück Cheddar-Käse und eine Scheibe Räucherspeck. Vielleicht konnte sie ein paar Lauchstangen aus ihrem Treibhaus holen und Winky bitten, eine Lauchtorte zu machen – obwohl sie sicherlich noch eine ganze Weile keinen Hunger haben würde, nicht nach diesem Riesenfrühstück mit Teddy.

Sie wollte gerade durch die Gartentür die Küche betreten, als sie Teddys langen Fransenschal entdeckte, der über ihrer alten Harke drapiert war. Also hatte der Junge den Schal doch vergessen... und sie hatte es gar nicht bemerkt, als sie ihn zu Andromeda zurück begleitete.

„Eine großartige Tante bist du,“ schalt sie sich selbst, aber wirklich verärgert war sie nicht; die Sonne war mehr als angenehm, und wenn sie Teddys Schal nahm und ihn dem kleinen Schussel zurück brachte, dann hatte sie die Chance, noch mehr Zeit an der frischen Luft zu verbringen. Nach allzu vielen Wochen als Invalidin und dem Schock des letzten Vollmondes fühlte sie sich heute beinahe normal – ihr Körper hungerte nach der Bewegung, an die er fast sein ganzes Leben gewöhnt war. Und sie würde nur zwanzig Minuten länger brauchen, wenn sie schnell ging.

Sie zog Teddys Schal von der Harke und schlang ihn sich um den Hals. Dann ließ sie den Korb neben der Harke stehen und nahm den Weg zurück zur Vorderseite des Hauses. Es war kühl genug hier draußen, und sie würde sowieso bald wieder da sein.

Zehn Minuten später hatte sie Andromedas Haus erreicht. Sie ging zur Tür und zog an der Kette; sie wartete darauf, dass Teddy oder Andromeda aufmachten, eine heitere Bemerkung schon auf der Zunge – aber niemand kam. Wieder zog sie an der Kette, aber alles blieb still.

Ruta versuchte, den Knauf zu drehen; die Tür schwang auf und sie trat in den leeren Vorraum. Kleine Staubkörnchen tanzten in einem goldenen Flecken Sonnenlicht.

„Teddy?”

Ruta ging in Richtung Küche, von wo sie das Murmeln einer weiblichen Stimme hörte.

„Dromeda?”

Sie betrat den Raum... und erstarrte.

Teddy hing gefährlich zwischen seinem Stuhl und dem Tisch, den Kopf auf seinem Teller; ein Arm baumelte unheilverkündend und schlaff herunter. Neben seiner Schule war ein Glas umgekippt; ein dünnes Rinnsal Kürbissaft sickerte über den Tischrand und tröpfelte langsam auf Andromedas normalerweise makellose Fliesen hinab. Ruta konnte sein Gesicht sehen; es war bleich und leblos, die Augen halb geschlossen.

Mit zwei schnellen Schritten war sie bei ihm und hob mit zitternden Händen seinen Kopf an. Sein Atem ging schwer und röchelnd.

„Merlin, Teddy.“ Sie streichelte seine Wange mit ihrer gesunden Hand, und dann tastete sie nach seinem Puls. Er war alarmierend langsam. „Teddy, um Himmels Willen...“

„Hallo, Ruta.“

Sie wirbelte herum und sah die Frau, die mit gezücktem Zauberstab aus den Schatten hinter der Küchentür heraus trat. Lottie...? Konnte das Lottie Stanhope sein? Aber da war irgend etwas ganz merkwürdig, irgend etwas ganz entschieden falsch... Strähnen von rötlichem Blond durchzogen die vertraute, graue Frisur; sie vervielfältigten sich unter ihrem entsetzten Blick, und die Züge verschwammen wie das schäumende Wasser in einem schlammigen Strudel. Wer...

Petrificus Totalus!”

Der Fluch traf Ruta mit voller Wucht; sie taumelte nach hinten und krachte gegen die Wand. Ein schrecklicher Schmerz schoss ihr das Rückgrat hinunter. Sie rang darum, sich zu bewegen, aber gegen die Magie hatte sie keine Chance. Sie stand starr wie ein Stock und starrte die Fremde an, die rapide wenigstens zwanzig Lebensjahre verlor, während sie sie mit gieriger Erregung beobachtete.

„Erinnerst du dich an mich?“ fragte ihre Angreiferin, trat dicht an sie heran und schaute Ruta in die weit aufgerissenen Augen. „Nicht? Macht nichts; du wirst sehr bald begreifen, meine Liebe. Wir haben jede Menge Zeit.“

*****

Hermine und Ginny apparierten kaum zehn Minuten später in Tulip Close. Das Haus durch die Vordertür zu betreten, erwies sich als unmöglich... der Vorraum war mit Seifenwasser überschwemmt, und Winky dirigierte fröhlich einen Wischmopp kreuz und quer über die Fliesen; sie versicherte ihnen, dass sie Miss Ruta eine Weile nicht mehr gesehen hatte, aber sie würde sicherlich bald von ihren Besorgungen zurück sein. Die beiden beschlossen, es im hinteren Garten zu versuchen. Wieder keine Ruta – aber Ginny entdeckte den Korb neben der Harke und untersuchte rasch den Inhalt.

„Dann war Ruta also schon hier!“ sagte sie. „Diese Sachen sind frisch; sie muss sie gerade erst nach Hause gebracht haben... aber wieso ist sie nicht hinein gegangen? Glaubst du, es ist irgendwas passiert?“

„Wenn sie den Korb fallen gelassen hätte, dann wären die Eier zerbrochen,“ gab Hermine zu bedenken. „Vielleicht hat sie bloß etwas vergessen. Wir können von hier aus zu Andromedas Haus gehen... mit etwas Glück fangen wir Ruta unterwegs ab.“

Die beiden jungen Frauen gingen die Straße hinunter und blickten sich in alle Richtungen um, aber als sie Gardenia Close erreicht hatten, gab es noch immer keine Spur von Ruta oder Vicky Stone.

Andromeda Tonks Haus wirkte seltsam verlassen. Ein Fenster im ersten Stock stand allerdings weit offen; der Vorhang flatterte in der frischen Brise.

„Das ist komisch,“ sagte Ginny und blinzelte in das helle Sonnenlicht. „Das ist ihr Schlafzimmer, und es sieht Dromeda gar nicht ähnlich, so die Herbstkälte herein zu lassen. Neben ihrem eindrucksvollen Wissen über Haushaltsmagie ist sie ein Genie mit Wärmezaubern.“

„Hmmmm...“ Hermine rieb sich die Nase. „Vielleicht wird sie auf ihre alten Tage ein bisschen vergesslich.“

„Andromeda? Nie im Leben.“ Ginny schnaubte. „Sie hat ein Gedächtnis wie ein Elefant. Lach, wenn du willst, aber ich bin lieber vorsichtig. – Was ist das denn?“

Sie trat von dem Pfad hinunter und fischte ein kleines Polsterkissen aus Dromedas größtem Asternbeet. Es war aus Samt und mit feiner Stickerei geschmückt... nichts, was irgend jemand an einem kalten Tag im Oktober draußen liegen lassen würde.

„Ich lache ganz bestimmt nicht,“ sagte Hermine und starrte mit zusammen gekniffenen Augen zu dem Fenster hoch. „Ich frage mich, wo das Ding hergekommen ist... und wenn sie es aus Versehen hat fallen lassen, wieso hat sie es dann nicht zurück ins Haus gebracht? Komm... wir schleichen uns hinein und schauen uns die Sache genauer an; wenn alles in Ordnung ist, dann kann Dromeda sich über uns alle beide lustig machen.“

Die Tür war nicht abgeschlossen, und sie betraten mit leisen Schritten das Haus. Der Vorraum war leer. Alles sah vollkommen normal aus; Ginny wollte gerade den Mund öffnen und nach Teddys Großmutter rufen, als plötzlich ein merkwürdiges Geräusch von oben kam.

„Hast du das gehört?“ flüsterte Hermine.

„Ja, hab ich,“ gab Ginny zurück und zog den Zauberstab. „Pass auf, Hermine... ich gehe nach oben und sehe nach, was los ist, und du bleibst hier und hältst Wache.“

Sie huschte nach oben und war verschwunden. Hermine ging in Deckung und arbeitete sich lautlos hinter die biegsamen Zweige der riesigen Zierfeige, die Andromedas ganzer Stolz war; die ganze Zeit über lauerte sie auf ein Zeichen von oben. In der Küche war eine Stimme zu hören. Es war die einer Frau, aber sie sprach leise, und Hermine versteckte sich nicht dicht genug an der Tür, um zu verstehen, was sie sagte. Für einen Moment wünschte sie sich ein paar von George Weasleys Langziehohren... und dann zuckte sie heftig zusammen, als sich eine Hand um ihren Oberarm schloss.

Merlin!“ hauchte sie und senkte ihren Zauberstab, bevor die Spitze sich in Ginnys Nase bohren konnte. „Mach das ja nie wieder!“

Beim Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Freundin klappte ihr Mund zu. Sie holte tief Luft. „Was...?“

Dromeda,“ flüsterte Ginny; ihre Lippen kitzelten sie am Ohrläppchen. „Sie ist oben in ihrem Schlafzimmer, verschnürt wie ein Truthahn zu Weihnachten.“

Oh.“ Hermine verspürte einen Stich der Panik. „Dann sind wir zu spät gekommen! Hast du sie befreit?“

„Nein,“ entgegnete Ginny. „Den Knebel habe ich herausgekriegt, aber Vicky Stone hat ziemlich kitzlige Magie verwendet. Wenn man die Fesseln mit einem Zauberspruch angeht, dann ziehen sie sich noch enger zusammen – und ja, sie ist hier in Lottie Stanhopes Gestalt aufgetaucht. Sie lähmte Andromeda und verfrachtete sie nach oben. Dromeda hat das Polsterkissen aus dem Fenster gekickt. Sie hoffte, dass es jemand entdeckt und merkt, dass irgend etwas nicht stimmt.“

Hermine wandte sich in Richtung Küche. „Was ist mit Teddy?“

„Nirgendwo zu finden,“ murmelte Ginny grimmig. „Er muss in der Küche sein, bei ihr. Ich denke nicht, dass wir es riskieren können, darauf zu warten, dass Harry und Snape auftauchen, oder?“

„Ganz bestimmt nicht,“ sagte Hermine und befreite sich aus dem Ficus. Sie schlich auf Zehenspitzen hinüber zur Tür, drückte die Klinke herunter und öffnete sie sachte einen Spalt. Ginny stand hinter ihr und lauschte mit angehaltenem Atem.

... zwanzig Jahre.“ Die Stimme, die Hermine schon vorher gehört hatte, driftete aus der Küche; jetzt war sie deutlich zu verstehen. „Zwanzig Jahre Schreiberei für Seite drei, die schwachsinnigen Manuskripte von Möchtegern-Autoren lesen und Kaffee für diesen alten Trottel Cuffe kochen. Und dann ,durfte’ ich plötzlich neben Rita Kimmkorn die zweite Geige spielen, ihren Papierkorb ausleeren und zuschauen, wie sie sich mit meinen Federn schmückt.“ Ein scharfes Auflachen. „Und alles bloß deshalb, weil du über dieses Buch nicht deinen Mund halten konntest. Ich habe Monvoisins Rezepte verbessert! Ich hätte die beste Lehrerin für Zaubertränke werden können, die Hogwarts je gesehen hat, anstelle von deinem schmierigen Todesser. Oh ja, ich weiß Bescheid über ihn. Ich habe den Ausdruck auf seinem Gesicht gesehen, als er dein Haus verlassen hat.“

„Redet sie mit Ruta, was glaubst du?" flüsterte Ginny.

„Keine Ahnung,“ flüsterte Hermine zurück und hielt ihren Zauberstab vor sich wie eine Waffe, „Aber wir finden es heraus, und zwar – JETZT!“

Die Tür flog auf und die beiden jungen Frauen platzten in die Küche, Sie sahen den über dem Tisch zusammen gesunkenen Teddy und eine Frau mir rotblondem Haar, die bei ihrem plötzlichen Erscheinen zurück fuhr, ihr Gesicht eine Mischung aus schierer Verblüffung und Wut. Und sie sahen Ruta Lupin mit dem Rücken zur Wand, die Hände in hilfloser, starrer Abwehr erhoben.

Ginny wandte sich zu der Fremden um. „Expelliarmus!“

*****

„Natürlich erinnere ich mich an Vindictia Stone,“ sagte Minerva McGonagall und wischte sich sorgsam etwas verirrte Kaminasche von der Brille. Sie war vor fünf Minuten in Harry Potters Studierzimmer eingetroffen und hatte eine große Ledermappe bei sich. „Hübsches Ding... hat immer so ausgesehen und sich aufgeführt, als könnte sie kein Wässerchen trüben. Wenn man sie im Unterricht bei irgend etwas erwischt hat, dann hat sie es jedes Mal mit großen Augen und gekränkter Rechtschaffenheit versucht. Doch wenn Sie mich fragen... ich denke, sie war überehrgeizig, hinterhältig und faul. Und schlau ebenfalls... sehr schlau. Sie benutzte ihre Schlauheit allerdings ständig dazu, um den Einsatz ihres Gehirns zu vermeiden. - Ich glaube, das hier sollten Sie sich zuerst ansehen.“

Sie zog ein Blatt aus dem schmalen Pergamentstapel in der Mappe und reichte es Harry.

AUSZEICHNUNG, las Harry, in goldenen Buchstaben geschrieben, und dann RUTA LUPIN. Er überflog hastig den Text und fand „... für einen brillanten Aufsatz über den Gebrauch von Mandragora Vernalis...“ und „... außerordentlich begabte Schülerin, auf die jedes Institut zu Recht stolz wäre...“, und endlich ruhten seine Augen auf der schwungvollen Unterschrift des Schulleiters. Albus Dumbledore.

Er tat sein Bestes, den vertrauten, schmerzhaften Stich zu verdrängen... das Erbe eines bitteren Krieges und vom Verlust des Mannes, zu dem er den größten Teil seiner Jugend aufgesehen hatte.

„Dromeda hat das mal erwähnt. Aber was hat es mit Vindictia Stone zu tun? Und war das nicht nach ihrem letzten Jahr?“

„1980, ja,“ sagte Minerva McGonagall, während sie ein weiteres Blatt studierte. „Es war allerdings kein Geheimnis, dass Vicky Stone ebenfalls für diese Auszeichnung im Rennen war. Sie waren in einer Klasse, in Ravenclaw. Während ihres fünften Jahres fing Miss Stone damit an, Liebestränke zu verkaufen, und zwar mit großem Erfolg. Bis zum Ende ihrer Schulkarriere war sie danach eines von Slughorns Protegées.“

Harry registrierte den Blickwechsel zwischen McGonagall und Seeker: scheinbar stimmten sie in ihrer Meinung über den früheren Lehrer für Zaubertränke mehr als überein.

„Irgendetwas muss in diesem Jahr allerdings passiert sein, in den letzten Monaten vor den U.T.Z.-Prüfungen,“ fuhr McGonagall fort, „denn im Juni 1980 wurde Vicky Stone in das Büro des Schulleiters vorgeladen, weil sie in Rutas Schultruhe eingebrochen war und den Originaltext ihres Aufsatzes verbrannt hatte, sämtliche Notizen eingeschlossen.“

Harry blinzelte. „Sie hatte... was?“

„Den Text von Rutas Aufsatz verbrannt,“ wiederholte McGonagall ruhig. „Aber eine fertige Kopie war bereits an den Redakteur von MAGISCHE KRÄUTER HEUTE geschickt worden. Der Artikel wurde veröffentlicht und gut aufgenommen, und Miss Stones Vandalismus fiel auf sie zurück. Sie entging um Haaresbreite einem Schulverweis, und Ruta fand nie heraus, wer ihr diesen ganz besonders hässlichen Streich gespielt hatte.“

„Wieso haben die es ihr nicht gesagt?“ fragte Harry in ehrlicher Verwirrung. „Sie hätte es doch erfahren müssen, oder nicht?“

Seeker schüttelte den Kopf.

„Dumbledore hatte immer schon eine ganz... besondere Art, mit der Wahrheit umzugehen.“ sagte er. „Und er war ziemlich versessen darauf, hoffnungslosen Fällen eine zweite Chance zu geben.“ Seine Lippen kräuselten sich zu einem schiefen Lächeln, und Harry sah, wie sich das selbe Lächeln ganz kurz in McGonagalls Augen spiegelte.

„Können wir sicher sein, dass das hier eine persönlich Sache ist?“ fragte er. „Vielleicht ist es nur Reportergier auf eine saftige Geschichte.“

„Das wäre schlimm genug,“ gab McGonagall zurück, „und gefährlich obendrein.“ Wieder blätterte sie den Pergamentstapel durch. „Aber ich habe Filius Flitwick nach dieser Konfrontation mit Miss Stone in Dumbledores Büro gefragt, damals im Juni 1980. Als ihr Hauslehrer war er natürlich anwesend. Und er erinnerte sich ziemlich lebhaft, dass Miss Stone beim Weg zurück in die Schlafsäle außer sich vor Wut war über Ruta; sie war vollkommen davon überzeugt, dass es ihre Schuld sei, dass ihre Schulkarriere ein so miserables Ende fand. ,Sie hat mich verpfiffen,’ hat sie gesagt, da ist er sich sicher, und irgendetwas in Richtung ,eines Tages zahl ich es ihr zehnfach heim’. Nicht sehr schlau, natürlich, obwohl sie immerhin so viel Verstand hatte, nicht vor Albus vom Leder zu ziehen. Es war trotzdem nicht besonders clever, in Hörweite ihres Hauslehrers Drohungen zu murmeln.“

„Absolut dämlich,“ sagte Harry zustimmend.

„Sehr wahr. Danach behielt er Vicky im Auge, aber sie versuchte nichts mehr, und er hoffte, sie hätte die ganze Angelegenheit inzwischen vergessen. Sogar Ravenclaws tun das zuweilen.“ McGonagall schob die Blätter in die Mappe zurück. „Ich muss jetzt gehen... ich habe in zehn Minuten ein Treffen des Lehrkörpers in meinem Büro anberaumt, und ich bin wohl besser rechtzeitig dort. Halten Sie mich auf dem Laufenden, bitte.“

„Selbstverständlich, Minerva,“ sagte Seeker, eine tiefe, senkrechte Falte zwischen den Augenbrauen.

Sie legte die Mappe auf den Tisch, nickte ihm zu und lächelte Harry an; dann trat sie in den Kamin hinein und verschwand in einem Wirbel aus grünen Flammen.

„Ich denke, wir sollten nach St. Mary Green gehen und uns darauf vorbereiten, Miss Stone so schnell wie möglich unschädlich zu machen.“ Ungeduld ging in spürbaren Wellen von Seeker aus, und Harry fand seine Besorgnis mehr und mehr ansteckend.

„Geben Sie mir einen kurzen Moment,“ sagte er. „Ich sage Kreacher Bescheid.“

*****

Relaschio!”

Hermine deutete mit ihrem Zauberstab auf die starre Gestalt, die an der Wand lehnte. Rutas Glieder entspannten sich ganz plötzlich; sie stieß einen kleinen Schmerzensschrei aus und rutschte zu Boden.

„Bist du in Ordnung?“ fragte Ginny, die noch immer Vicky Stone in Schach hielt. „Hat sie dir weh getan?“

„Mir geht’s gut,“ schnappte Ruta und stemmte sich rasch wieder hoch. „Aber Teddy! Und Dromeda? Habt ihr Dromeda gesehen?“

„Die ist oben,“ sagte Hermine. Sie hatte bereits den Tisch erreicht, fühlte Teddy den Puls und hob eines seiner Augenlider hoch. „Gefesselt und geknebelt, aber sonst unverletzt.“

Zwischen sich bugsierten sie den ohnmächtigen Jungen sachte zum Schaukelstuhl neben dem Küchenfenster hinüber und fingen an, ihn zu untersuchen. „Ich denke nicht, dass es ein Zauber ist,“ wagte Hermine sich vor. „Es sieht mehr aus, als wäre er vergiftet.“

Ruta drehte sich rasch herum und untersuchte den verschütteten Kürbissaft. „Ich rieche nichts,“ sagte sie, tupfte einen Tropfen mit der Fingerspitze auf und berührte ihn vorsichtig mit der Zunge. „Und schmecken tue ich auch nichts. Wir brauchen Stephen.“

Stephen?“ fragte Vicky wissbegierig; ihre Augen leuchteten vor Neugier.

„Das geht Sie nichts an,“ antwortete Ginny scharf.

Hermine öffnete Teddys Mund und schaute hinein. „Ich sehe keine Blasenbildung. Ich denke, es geht am schnellsten, wenn wir ihn dazu kriegen, dass er das Zeug wieder ausspuckt.“

„Was brauchen wir?“

„Erst einmal Wasser, und dann Brechwurz.“

Als Ruta ein Glas für das Wasser herunter holen wollte, gab Vicky einen ungeduldigen Laut von sich. „Mach nicht so einen Aufstand – die Wirkung wird bald genug nachlassen. Wenn Fenrir Greyback den Bengel damals nicht umbringen konnte, dann wird ihm ein bisschen Veritaserum wohl kaum schaden.“

Das Glas zerschellte auf dem Fußboden.

Ruta fuhr zu ihrer alten Klassenkameradin herum. „Was weißt du über Greyback?“ sagte sie; ihre Stimme klang tief und kehlig.

„Ich weiß, dass er verschwand. Und nur ein paar Tage später bist du in St. Mungo gelandet. Nach dem, was Pemberthy gesagt hat...“

„Woher wusstest du, dass Greyback noch lebt?“ knurrte Ruta.

Hermine und Ginny wechselten alarmierte Blicke, und zum ersten Mal schien Vicky Stone zu begreifen, dass sie einen Fehler gemacht hatte.

„Er wollte wissen... wissen, wo... der Junge... Es war meine Chance! Er sagte, er könnte mir Dinge über Werwölfe sagen, die mich endlich aus Kimmkorns Schatten befreien würden. Ich konnte es ihm unmöglich nicht erzählen!“

Bevor Ginny oder Hermine auch nur anfangen konnten, das enorme Ausmaß von dem zu begreifen, was Vicky Stone gerade zugegeben hatte, war Ruta schon in Bewegung. Mit einem langen Satz war sie über ihrer Feindin und presste die Kehle der wehrlosen Hexe gegen den Boden. Ihre Zähne waren gefletscht, und ihre Augen wechselten die Farbe, von Graublau zu einem glühenden, wilden Gelb.

„Nein!“ schrie Hermine. „Ruta, nicht!“

*****

Harry Potter hörte den Schrei im selben Moment, als seine Füße den Weg berührten, der zu Andromedas Vordertür führte. Einen Augenblick später waren er und sein Kampfgefährte durch die Tür und in der Küche.

In der Mitte des Zimmers: eine Frau mit erdbeerblondem Haar, die mit gespreizten Armen und Beinen auf dem Boden lag, Ruta Lupins Hand über ihrem Mund. Ihre andere Hand presste sich auf den entblößten Hals der Frau, und sie kniete über ihr wie ein siegreicher Jäger über seiner Beute. Harry sah Rutas Gesicht, und sein Herzschlag stolperte vor Entsetzen.

Er konnte die Knochenstruktur unter ihrer Haut erkennen, das vertraute Muster aus Flächen und Vertiefungen völlig verzerrt und fremd. Er sah das Blitzen von Zähnen in ihrem halb geöffneten Mund – waren sie immer schon so weiß gewesen? – und die scharf vorspringende Linie ihrer Nase. Und er sah ihre Augen, die ihre Beute mit einem unverwandten, feurig goldenen Starren fixierten.

Selbst ohne hinzusehen wusste er, wieso Ginny mit gezücktem Zauberstab bereit stand, und wieso sie zögerte. Aus dem Augenwinkel registrierte er Hermine, die sein Patenkind abschirmte, das ohnmächtig in dem Schaukelstuhl hing. Er war sich überdeutlich der Gestalt von Seeker neben sich bewusst, aber selbst so fuhr er beim Klang dieser tiefen, barschen Stimme zusammen.

„Wie lange ist sie schon in diesem Zustand?“

Ginny räusperte sich, und der goldene Blick richtete sich sofort auf sie. „Seit... gerade eben.“

„Und der Junge?“

Es war Hermine, die antwortete. „Wir sind nicht sicher. Nach dem, was sie gesagt hat, ist es wahrscheinlich eine Überdosis Veritaserum, aber...“

„Hier.“ Harry grub in seiner Tasche nach der Notausrüstung, die er ständig bei sich trug; er förderte einen kleinen Gegenstand zutage, den er Hermine zuwarf. Die gelben Augen zuckten zu ihm hinüber, und er hob seine Hände, um zu zeigen, dass sie leer waren. „Es ist ein Bezoar. Ein Bezoar, Ruta. Er wird dafür sorgen, dass es Teddy besser geht.“

Es gab kein Anzeichen, dass die Worte zu ihr durchgedrungen waren.

„Und was noch?“ fragte Seeker. „Wenn das alles wäre, dann würde Ruta ihr Bestes tun, dem Kind zu helfen.“

„Das hat sie doch auch,“ sagte Ginny. „Aber das war, bevor wir herausgefunden haben, wer Greyback darauf brachte, hierher zu kommen.“

„Was?“ flüsterte Harry, dem sich plötzlich der Magen herumdrehte. „Sie hat...?“

„Aha.“ Seeker betrachtete Rutas Opfer ohne jeden Hauch von Mitleid. „Das erklärt alles.“

Eines von Vicky Stones Beinen zuckte schwächlich, und sie gab ein panisches Wimmern von sich.

„Was...“ Harry zögerte. Noch immer war er nicht imstande, seine Augen von Rutas starrem, wachsamen Gesicht abzuwenden. „Was machen wir jetzt?“

Seeker seufzte. „Und Ihnen die Wahrheit zu sagen, es gibt nicht sehr viel, was wir wirklich machen können. Es ist Ruta, die jetzt die meiste Arbeit tun muss. Die Tatsache, dass sie sich noch nicht vollständig verwandelt hat, gibt mir etwas Hoffnung... es könnte noch genug von ihrer menschlichen Natur vorhanden sein, um zu reagieren.“

Er wandte sich zu den beiden Gestalten auf dem Boden zurück. Rutas linke Hand lag noch immer über Vicky Stones Gesicht; bei seiner Bewegung, so langsam und unauffällig sie auch war, schloss sich die andere Hand wieder um die Kehle ihrer Feindin; die gab ein ersticktes Stöhnen von sich.

„Ruta? Ich bin es, Stephen.“

Harry starrte in verblüffter Ehrfurcht auf seinen ehemaligen Lehrer und die Frau hinunter, die er zu retten versuchte. Seekers Stimme war voll von zuversichtlicher Autorität, und gleichzeitig unendlich sanft. Es war die Stimme eines Mannes, der nach der Frau rief, die er liebte.

„Ruta? Hör mir zu. Lass sie los – jetzt. Sie ist deiner Rache nicht würdig. Lass sie los und komm zurück.“

*****

die welt ist ein roter nebel der wut und ihr fleisch hungert nach verwandlung hungert danach dem süßen lockenden ruf des blutdurstes zu folgen der sie ausfüllt bis zum rand es wird so einfach sein sich dem fluch zu unterwerfen der nicht länger ein fluch ist sondern segen und erlösung und feuriges entzücken und ihr Geist sehnt sich danach aus der nutzlosen hülle zu flüchten in der er gefangen ist um mit dem Mond zu rennen um das fleisch ihrer hilflosen beute zu zerreißen

nein

das kann nicht sein

ich werde mich ganz und gar verlieren

ich werde alles verlieren was ich liebe

das kann nicht sein

aber das blut das blut die bestie brüllt vor gier das blut und das fleisch und die lust am töten du wirst mir das nicht wegnehmen wag es nicht vor dem zurückzuweichen was du wirklich bist töte sie töte deine feindin sie hat dich überfallen sie hätte dich ans licht gezerrt und alles vernichtet was noch übrig ist von deinem leben

oh aber es ist solch ein überwältigender drang ein solch verzehrender hunger

er rinnt in meinen adern wie feuer wie kann ich ihn bekämpfen ganz allein

gib auf gib jetzt auf vollende die jagd nimm dir deinen anteil es ist dein recht du bist neu geboren unter der macht des mondes nimm dein geburtsrecht in anspruch vollende die jagd

Ruta? Ich bin es, Stephen.”

nein nein nein wag es nicht zuzuhören wag es nicht in dein elendes schwaches selbst zurückzukehren der mond ist stärker der mond wird immer stärker sein

Ruta? Hör mir zu. Lass sie los – jetzt.“

hör nicht auf diesen mann er betrügt dich wie sie es getan hat er hat seinen eigenen anteil an der finsternis gehabt er wird dir nicht helfen er wird dich nicht retten er ist ebenso verloren wie du hör nicht auf ihn vollende die jagd

Sie ist deiner Rache nicht würdig. Lass sie los und komm zurück.”

hör nicht auf ihn hör nicht auf ihn hör nicht zu

stephen

wag es nicht auf ihn zu hören

Das ist Stephen.

wag es nicht

Ich muss nicht ganz allein kämpfen.

nicht

Ich bin nicht allein.

*****

Stephen…?”

*****

Ruta blinzelte. Sie löste ihren Griff von Vicky Stones Mund und Hals und blinzelte noch einmal. Ihr Gesicht veränderte sich... nicht das dramatische Umschmelzen der Züge, das Harry als Wirkung des Vielsafttrankes kannte, sondern etwas weit Subtileres. Dies war die Frau, die er kannte, Geist und Körper wieder vereint... die Wölfin war fort.

„Ruta.“ Harry konnte die bodenlose Erleichterung, die er selbst empfand, auch in Seekers Stimme hören. „Willkommen zurück.“

Plötzlich regte sich Vicky Stone; sie tastete krampfhaft mit beiden Händen über den Fußboden. Ihr Gesicht war eine Maske aus Hass.

„Du dreckiges Vieh! Warte, bis ich...“

Sie bäumte sich auf und Ruta schoss mit einem entsetzten Keuchen nach vorn; Seeker warf sich in ihre Richtung, packte ihre Handgelenke und brachte sie mit einem kraftvollen Schwung in Sicherheit. Vicky Stone rollte sich herum, so schnell und geschmeidig wie eine Schlange, und Harry sah, dass sie Rutas Zauberstab zwischen den Falten ihres Gewandes entdeckt hatte. Sie kreischte kurz und triumphierend auf, als sich ihre Hand darum schloss, und Harry stellte zu seiner Bestürzung fest, dass Seekers Körper sie perfekt gegen jeden Versuch abschirmte, einen Fluch zu schleudern.

Stupor!”

Vicky erstarrte und sank zu einem unordentlichen Haufen auf dem Boden zusammen.

Harry drehte sich um und sah seine Frau hinter sich; ihr Zauberstab zielte noch immer auf die ohnmächtige Miss Stone.

„Na also!“ Sie grinste mit grimmiger Befriedigung. „Das hätte ich schon viel eher tun sollen; ich bin eindeutig aus der Übung.“

Bravo, Schatz.“ Harrys Gesicht entspannte sich in einem breiten Lächeln. „Saubere Leistung!“

„Stephen?“ Ruta befreite sich aus Seekers festem Griff und machte einen Schritt weg von ihm; sie sah zunehmend verwirrt aus. „Ich verstehe das nicht... Ich erinnere mich, wie Vicky mir sagte, sie hätte Teddy Veritaserum gegeben... und dann: nichts.“

„Sie hat dir erzählt, dass sie es war, die Greyback nach St. Mary Green schickte,“ sagte Seeker; er wählte jedes Wort mit großer Sorgfalt. „Und du – nun, sagen wir, du hast die Beherrschung verloren. Wenigstens bis zu einem... gewissen Grad.“

„Aber ich erinnere mich an gar nichts davon!“ erwiderte Ruta stirnrunzelnd. „Das Einzige, was ich weiß, ist , dass sie versuchte, ihren Verrat zu rechtfertigen... und das Nächste, woran ich mich erinnere, ist deine Stimme.“

Mit einem Mal verlor ihr Gesicht alle Farbe.

„Jetzt begreife ich,“ hauchte sie. „Der Mond wird immer stärker sein. Ich habe gehört, wie die Bestie es gesagt hat. Die Bestie in mir.“

Sie sah sie an, einen nach dem anderen. Ihre Augen waren zu dem vertrauten Graublau zurückgekehrt, aber Harry erinnerte sich lebhaft an das gelbe, raubtierhafte Starren, das er zuvor gesehen hatte. Er konnte einen Schauder nicht unterdrücken, und er hasste sich selbst dafür.

„Habe ich... habe ich irgend einen von euch verletzt?“ Ruta wandte ihren Blick der stillen Gestalt von Teddy in dem Schaukelstuhl zu. „Habe ich... nein. Teddy... Teddy war schon...“

Sie rang ihre Hände.

„Aber ich hätte es sein können, oder nicht?“ Ihre Stimme brach. „Wenn ich mich vollständig verwandelt hätte, ich hätte euch vielleicht alle umgebracht.“

„Das hast du aber nicht,“ sagte Hermine; sie sprach sehr sanft. „Es ist vorbei. Vergiss es einfach, ja?“

„Aber das ist das Einzige, was ich niemals tun kann!“ rief Ruta aus. „das Einzige, was ich nicht wagen darf... und es wird niemals vorbei sein. Niemals.“

Sie zitterte von Kopf bis Fuß und starrte zu Boden.

„Entschuldigt mich,“ sagte sie endlich. „Mir ist übel. Ich glaube, ich brauche... etwas frische Luft.“

„Ich gehe ihr nach,“ sagte Ginny rasch; sie senkte ihren Zauberstab, als die Tür zum Garten sich hinter Ruta schloss.

„Nicht,“ sagte Seeker.

Sie wandte sich ihm zu, um zu widersprechen, aber der Anblick seines Gesichtes verschloss ihr den Mund. Sie sah Trauer und bitteres Verständnis. Alter Schmerz schien seine Schultern zu beugen und belastete ihn mit einem Alter weit jenseits seiner Jahre.

„Nicht,“ wiederholte er. „Sie wäre jetzt nicht imstande, zuzuhören, und wenn Ihre Absichten noch so nobel sein mögen. Lassen Sie sie gehen.“

*****

Als sie die schwierigen Aufgaben dieses Tages endlich bewältigt hatten, berührte die Sonne schon fast den Horizont. Harry war es gelungen, Andromeda zu befreien, und Seeker hatte Teddy gründlich untersucht; der Trank, den Vicky ihm aufgezwungen hatte, war offensichtlich von minderer Qualität, und sie hatte ihn obendrein eine Überdosis eingetrichtert. Obwohl der Bezoar den größten Schaden verhindert hatte, wurde entschieden, dass seine Großmutter und Hermine mit ihm nach St. Mungo apparieren würden, nur für alle Fälle. Hermine versprach, sobald wie möglich Nachricht zu schicken. „Meine Eule braucht Übung,“ sagte sie trocken und umarmte Harry und Ginny rasch, bevor sie verschwand.

Ginny brachte erst noch die Küche in Ordnung, bevor sie nach Berwick zurückkehrte. Harry hätte nichts dagegen gehabt, wenn sie geblieben wäre, aber sie schüttelte nur den Kopf. „Kreacher ist ein Wunder,“ meinte sie, „aber selbst die mächtigste Elfenmagie ist nur ein armseliger Ersatz für Muttermilch.“

Doch zuletzt gab es keine Ablenkungen mehr, und sie wandten ihre Aufmerksamkeit Ruta Lupins besiegter Feindin zu.

*****

Ginnys Fluch ließ endlich nach, und Vicky stellte fest, dass sie mit den selben Fesseln gebunden war, die sie bei Andromeda benutzt hatte – obwohl sie weit bequemer auf einem Bett lag als die alte Hexe, die auf dem Boden auf ihre Rettung hatte warten müssen. Der Raum war klein, die Fenster und Vorhänge geschlossen, das Licht schwach. Sie drehte vorsichtig ihren schmerzenden Kopf und sah zwei Männer, die dicht an der Tür standen und leise miteinander sprachen: Harry Potter und Severus Snape.

Severus Snape.

Sie musterte ihn mit gierigem Interesse. Er hatte sich verändert – natürlich musste es nach acht Jahren so sein. Sein Haar war kurz geschnitten und silbrig gesträhnt – aber es war unmöglich, den Mann von dem schonungslos ehrlichen Portrait nicht zu erkennen, das im Büro des Schulleiters in Hogwarts hing. Der Mann war eine Legende – widersprüchlich und verrufen, aber trotzdem eine Legende. Sie fluchte innerlich, überwältigt von einer Woge aus hilflosem Zorn und bitterem Verlust. Sie war dicht dran gewesen... so dicht dran.

„Ah – sie ist wach.“

Snape kam zu Bett herüber und blickte mit einem undurchdringlichen Gesichtsausdruck auf sie herunter. Sie starrte zurück und versuchte, sich den Anschein von unbeeindruckter Tapferkeit zu geben.

„Machen Sie sich nicht die Mühe, eine Show abzuziehen,“ sagte er kühl. „Wie verzwickt Ihre Pläne auch gewesen sein mögen, sie sind Ihnen misslungen – obwohl Sie weit mehr Schaden angerichtet haben, als wir Ihnen hätten gestatten sollen.“

„Teddy Lupin geht es gut,“ fügte Harry Potter ebenso ruhig hinzu. „Nur für den Fall, dass Sie vergessen sollten, sich zu erkundigen.“

Ihr Blick irrte von Snape ab und fand den Jungen Der lebte. Kein Junge mehr. Sie kannte seine Gesichtszüge ebenso gut wie die des früheren Zaubertrank-Meisters – welcher Zauberer oder welche Hexe tat das nicht? – aber da war nichts mehr übrig von dem verwahrlosten Kind, das unschuldig in die Falle des Trimagischen Turniers gestolpert war – und auf die Seiten des Tagespropheten, wo sein persönliches Drama von Rita Kimmkorns Flotte-Schreibe-Feder bis zur Unkenntlichkeit entstellt wurde. Das ist der größte Unterschied zwischen mit und Rita Kimmkorn, dachte Vicky boshaft. Ich habe nie magisches Zubehör gebraucht, um jemanden zu verleumden.

„Daran habe ich keinerlei Zweifel,“ sagte Snape mit einem trockenen, kalten Glucksen, „obwohl Sie sie in mehr als in einer Hinsicht nachgeahmt haben, nicht wahr?“

Plötzlich fühlte sich Vicky schwindelig, hilflos und entsetzlich nackt... jeder Gedanke, jede einzelne Erinnerung in ihrem Geist lag offen vor diesen schwarzen, leidenschaftslosen Augen.

„Was werden Sie jetzt mit mir machen?“ verlangte sie zu wissen; ihre Stimme klang in der Stille des Zimmers übermäßig laut. „Mich umbringen? Mich nach Askaban verschleppen?“

„Wohl kaum,“ gab Harry Potter zurück. „Sie umzubringen, würde mehr Ärger bedeuten, als Sie wert sind, Miss Stone... und auf die Öffentlichkeit einer ausgewachsenen Verhandlung vor dem Zauberergamot möchten wir lieber verzichten.“

„Also, was dann?“ fragte Vicky. In ihrem Herzen regte sich das erste Flüstern einer irrationalen Hoffnung. Vielleicht konnte sie...

„Nein, das können Sie nicht. Wir werden Sie nicht mit dieser Sache davonkommen lassen, und wir hören uns auch nicht irgendwelche Versprechungen an, die Sie möglicherweise machen möchten,“ sagte Seeker, seine Augen scharf wie eine gezogene Klinge. „Wir sind nicht dumm... und Sie sind es auch nicht. Wissen Sie, was uns Minerva McGonagall über Ihre Verdienste als Schülerin erzählt hat? Überehrgeizig, hinterhältig und faul. Das hat sich nicht im Mindesten geändert, oder?“

„McGonagall?“ krächzte Vicky. „Sie haben die Aufzeichnungen der Schulleiterin eingesehen?“

„Haben Sie wirklich geglaubt, Sie sind die Einzige, die willens und fähig wäre, gründliche Recherchen anzustellen?“ sagte Seeker verächtlich. „Sie haben sich dieses Mal zu viele Leute zu Feinden gemacht, als es Ihnen gut tut, Miss Stone.“

„Und die falschen Leute obendrein,“ knurrte Harry.

Seeker warf dem Mann neben sich noch nicht einmal einen Blick zu. Er hielt die bodenlosen, schwarzen Augen unverwandt auf sie gerichtet, bis ihre eigenen Augen schmerzten und sie blinzeln musste.

„Mr. Potter empfindet weit mehr Rachsucht als ich. Schreiben Sie das seiner Jugend zu... und der Tatsache, dass Sie seinem Patenkind und seiner Freundin ernsthaften Schaden zugefügt haben, indem Sie die beiden an einen Mörder verrieten.“

„Und was sind Sie?“ spuckte Vicky. „Einmal ein Todesser, immer ein Todesser, Sie elender Heuchler – Sie haben jede Menge Blut an den Händen, genauso wie Greyback! Kommen Sie mir bloß nicht von oben herab!“

„Das tue ich nicht,“ erwiderte er mit aufreizender Ruhe, „Ich bin nur klug und vorsichtig genug, meinen eigenen Rachedurst nicht zum Maßstab meines Handelns zu machen.“

Er kam einen Schritt näher und sie zuckte zurück; es gab kein Entkommen, nur die weichen Tiefen des Kissens hinter ihr.

„Und ja, ich bin viel zu lange ein Heuchler gewesen,“ sagte er; plötzlich war seine Stimme seidenweich. „Aber ich war trotz aller Charakterschwächen immer bereit, dazu zu lernen. Sie können sich glücklich schätzen, dass ich genug gelernt habe, um einige meiner schlimmsten Fehler nicht zu wiederholen... oder Sie würden die Strafe bekommen, die Sie verdienen.“

Er zog ein kleines Glasfläschchen aus der Tasche, hob den Zauberstab und drückte die Spitze fest gegen ihre Schläfe. Mit ungläubigem Entsetzen sah sie, wie dünne, graue Strähnen von ihrer Haut aufstiegen und auf die Öffnung der Flasche zutrieben.

„Das können Sie nicht machen...“ flüsterte sie. „Sie können mir diese Geschichte nicht wegnehmen!“

„Natürlich kann ich das, und ich werde es auch,“ sagte er. „Sie sollten froh sein, dass ich Ihnen nur die Erinnerungen nehme... und nicht Ihr Leben.“

Seine Augen schienen zu wachsen, bis sie ihr gesamtes Blickfeld ausfüllten. Einmal mehr flammten blaue Augen golden in einem verzerrten Gesicht. Einmal mehr sah sie Ruta, die erstarrt an der Wand von Andromeda Tonks’ Küche lehnte. Einmal mehr beobachtete Vicky einen Mann, der Ruta Lupins Haus verließ, und sie fühlte wilden Triumph und die jubilierende Aussicht auf Ruhm in ihrem Herzen aufsteigen. Wieder sah sie die Korridore von St. Mungo, hörte die tratschenden Muggel in dem Frisiersalon. Eine Gestalt mit Kapuze, unmöglich und aufregend, ragte im Hinterhof der Lüsternen Hexe über ihr auf und sprach mit einer tiefen, knurrenden Stimme auf sie ein. Die Szenen flackerten durch ihren Geist und kamen für einen Moment auf einem erstaunlich klaren Bild von Ruta Lupin zur Ruhe, die in einem Klassenzimmer in Hogwarts saß, über eine Pergamentrolle gebeugt... und noch einmal im Gemeinschaftsraum von Ravenclaw: Du solltest Madam Pince nach einer Ausgabe von ,Philtres d’Amour’ von Catherine Monvoisin fragen... Aber all diese Erinnerungen vergingen jetzt, schrumpften zu blassen Miniaturen ohne jede Bedeutung... Endlich konnte Vicky die Gedanken nicht mehr festhalten und ertrank in dem schwarzen Blick eines Mannes, dessen Gesicht sie nur von den Recherchen kannte, die sie für Rita Kimmkorns Buch gemacht hatte... ein Mann, der seit acht Jahren tot war.

*****

Eine halbe Stunde später saßen sie in Andromedas Wohnzimmer, eine Flasche Feuerwhisky auf dem Tisch zwischen sich.

„Das war knapp, oder?“ bemerkte Harry, nahm einen Schluck und spürte, wie der starke Alkohol sich den Weg hinunter in seinen Magen brannte. Seeker schaute ihn an; seine Lippen formten eine schmale Linie.

„Das war es tatsächlich,“ sagte er. „Und wir können nicht vorhersagen, ob nicht eines Tages eine andere Vicky Stone daher kommt.“

Harry nahm noch einen Schluck.

„Vielleicht sollte Ruta St. Mary Green verlassen,“ sagte er gedankenvoll. „Neville hofft noch immer, sie in sein Kräuterkunde-Projekt in Hogwarts hinein zu locken.“

„Vielleicht.“ Seeker starrte in den Kamin. „Aber erst einmal muss sie zurück kommen; sie ist jetzt seit mehr als vier Stunden weg.“

Er erhob sich aus seinem Sessel.

„Ich gehe besser und bewahre Winky vor einem Nervenzusammenbruch. Sie hätte Ruta davor warnen sollen, das Haus zu verlassen, und wenn sie hört, was heute geschehen ist, dann wird sie außer sich sein.“

„Und ich bringe besser Miss Stone nach London zurück, bevor sie aufwacht, und Pemberthy muss ich auch noch anzeigen,“ antwortete Harry; er tat sein Bestes, bei dieser Aussicht kein Gesicht zu ziehen. „Werden Sie versuchen, Ruta zu finden?“

„Ich kann nicht das ganze Eskdale absuchen.“ Seekers Stimme war sehr müde. „Aber früher oder später wird sie nach Hause kommen.“ Er hielt inne. „Es ist wahrscheinlich der einzige Ort, an dem sie sich jetzt sicher fühlt.“

„Vielleicht nicht der einzige Ort,“ sagte Harry. Er fingerte an dem Fläschchen mit Erinnerungen herum und rief sich alles ins Gedächtnis, was er gesehen und gehört hatte, seit der Mann vor ihm wieder in sein Leben getreten war. „Ich glaube, in Ihrem Haus würde sie sich auch sicher fühlen. Bei Ihnen, meine ich. Falls Sie auf sie warten.“

Ihre Augen begegneten sich.

„Dann werde ich auf sie warten,“ versprach Stephen Seeker. „Egal, wie lange es dauert.“


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