Wolfsmond
von Cúthalion


Kapitel Zehn
Bittere Heimkehr

Ein kalter Oktoberregen füllte die Vertiefungen im unebenen Asphalt der Charing Cross Road; die wenigen Passanten an diesem unangenehmen Nachmittag hasteten unter schützenden Regenschirmen vorbei und ihre Füße platschten durch die Pfützen. Wenige von ihnen hatten die Augen, um den Pub zu sehen, der zwischen einer Buchhandlung und einem Laden für gebrauchte Schallplatten eingeklemmt war, und selbst für die, die seinen Ruhm kannten, bildete seine Fassade einen nicht gerade aufregenden Anblick.

Die Schankstube hatte allerdings ein paar eindeutige und ganz offensichtliche Veränderungen durchgemacht; schäbige Bänke und Tische waren ersetzt worden, und jetzt wurden die Flammen in einem riesigen, neuen Kamin von schimmerndem, dunklen Holz und einem erst kürzlich gefliesten Boden widergespiegelt. Die Wände waren frisch geweißt und mit Kupfertöpfen, polierten Messingkesseln und ein paar sorgfältig ausgesuchten Bildern dekoriert. Über dem Kaminsims hing das Portrait einer blonden Frau mit ängstlichen, glockenblumenblauen Augen in einem weichen, runden Gesicht.

Hannah Abbott stand hinter der Bar und trocknete einen Bierkrug mit einem fleckenlosen Handtuch ab. Ihr Blick überflog den Raum mit dem ehrlichen, warmen Stolz einer Mutter, die ihren wohlerzogenen Nachwuchs betrachtet… Tom, der berühmte Wirt des Tropfenden Kessels, hatte sich vor fast zwei Jahren in den Ruhestand verabschiedet, und seitdem hatte sie ihr Bestes getan, soviel von der alten Atmosphäre zu bewahren wie möglich, während sie gleichzeitig all das änderte, was nach ihrer Meinung unbedingt verbessert werden musste. Die Anstrengungen hatten sich gelohnt. Ihre Yorkshire-Puddings, ihr Schweinebraten und ihr Lamm mit Rosmarin waren fast so berühmt wie das dunkle, süffige Ale in ihren Fässern, und ihr Keller beherbergte sogar ein paar sehr akzeptable Weinsorten.

Sie schreckte aus ihrer zufriedenen Träumerei hoch, als die Tür zum Hinterhof sich öffnete und einen kurzen Regenschauer und zwei Personen herein ließ. Eine davon war eine hoch gewachsene Frau mit haselnussbraunem Haar, das zu einem lockeren Knoten aufgesteckt war; ihr schlichtes Gesicht war bleich und müde, und sie trug den rechten Arm in einer Schlinge. Die andere Person…

Neville!” Hannah vergaß Krug und Handtuch und winkte, bis sie die Aufmerksamkeit des jungen Mannes hatte. Dann eilte sie zu ihm hinüber und scheuchte ihn und seine unbekannte Freundin an einen der gemütlichsten Tische nahe am Kamin. Sie zog einen kleinen Notizblock aus ihrer grünen Schürzentasche.

„Hättest du gern ein Ale?“ Sie wandte sich an Neville, der sie anlächelte und ganz leicht errötete. „Wir haben heute auch Shepherd’s Pie auf der Karte.“

„Ja, Hannah, vielen Dank,“ antwortete er. „Ich hätte gern beides.“

„Und Sie, Ma’am?“ Hannah sprach Nevilles Begleiterin an; der Blick der Frau war unverwandt auf den Kamin gerichtet, und das rotgoldene Licht der Flammen verlieh ihrem Gesicht ein wenig Farbe und zeichnete die scharfen Umrisse weicher. Beim Klang der Stimme der jungen Wirtin drehte sie langsam den Kopf.

Hannahs erster Gedanke war, dass sie noch nie jemanden getroffen hatte, der so unglaublich traurig aussah… obwohl diese Traurigkeit nichts Offensichtliches war; sie zeigte sich nicht in den eckigen Zügen, nicht einmal im herben Ausdruck des vollen Mundes, aber sie strahlte von ihr aus wie ein dünner Nebel. Vielleicht hatte sie Schmerzen; Hannahs Blick ruhte auf der Schlinge, und als sie der Frau wieder ins Gesicht sah, war die Trauer so deutlich in den graublauen Augen sichtbar, dass sie bestürzt nach Luft schnappte.

Sie nahm sich zusammen.

„Darf ich Ihnen ein Glas Wein bringen? Oder vielleicht einen Kürbisssaft?“ Ihre Stimme war leise und zögernd, als spräche sie zu einem äußerst scheuen Tier.

Die Frau holte tief Atem; ihr Geist kehrte zurück von wo auch immer er gewesen war, und sie lächelte.

„Ein Glas Weißwein wäre nett, vielen Dank,“ sagte sie. Ihre Stimme bot einen starken Kontrast zu ihrem schlichten, unauffälligen Äußeren; sie war warm und dunkel, ein lieblicher, voller Alt. „Und als ich noch regelmäßiger in London war – vor etwa zwanzig Jahren – da hatte Tom eine spezielle Kornische Pastete auf der Speisekarte. Wird die hier immer noch serviert?“

„Aber natürlich,“ versicherte Hannah und unterdrückte den jähen, eigentümlichen Drang, diesem geheimnisvollen Gast die Hand zu tätscheln. „Ich habe ein Blech Pasteten im Ofen; sie sind jeden Moment fertig.“

Wie absurd, dachte sie, sie ist doch bestimmt fast alt genug, um Nevilles Mutter zu sein. Ihr Blick wurde unwillkürlich von dem Portrait über dem Kamin angezogen. Die Fremde war außerdem fast alt genug, um ihre Mutter zu sein – aber das war etwas, worüber nachzudenken Hannah sich standhaft weigerte. Hazel Abbott war im Herbst 1996 von Todessern ermordet worden, und das bedeutete das Ende von Hannahs Schullaufbahn. Sie hatte um sie getrauert und versucht, die plötzliche Lücke im Leben ihres Vaters auszufüllen… nicht nur dadurch, dass sie ihm all die Liebe und den Trost schenkte, die sie aufbringen konnte, sondern auch, indem sie die Küche der Gemästeten Gans übernahm, des kleinen Gasthauses, das die Abbott-Familie seit der Zeit von Hannah Abbotts Ur-Ur-Urgroßmutter in Godric’s Hollow führte. Sie war heimlich erleichtert gewesen, dass ihr persönliches Drama sie davor bewahrte, dieses schreckliche, letzte Jahr in Hogwarts durchstehen zu müssen, aber gleichzeitig hatte sie es bitterlich vermisst, ein Teil von Dumbledores Armee zu sein. Sie behielt Hermine Grangers magische Galleone die ganze Zeit in ihrer Jackentasche, wie einen geheimen Talisman.

Und dann war die Nacht gekommen, in der sie die Münze an ihrer Handfläche brennen fühlte wie ein Stück glosende Kohle; das war ihr Ruf in die Schlacht, die um Hogwarts tobte. Verglichen mit den anderen hatte sie das Gefühl, völlig aus der Übung zu sein; sie hatte knapp überlebt und ihr blieb nur, die Verwundeten einzusammeln und in Sicherheit zu bringen. Das war auch die Nacht, in der sie Neville Longbottom als das sah, was er in Wahrheit immer gewesen war… kein schüchterner, unbeholfener Junge mit dem Talent, jede Katastrophe in Reichweite anzuziehen, sondern ein Held. Neville hatte den Dunklen Lord herausgefordert und die entsetzliche Schlange vernichtet, die jeder Laune des Bösewichts gehorcht hatte.

Und nach der Schlacht, als er in der Großen Halle saß und den Beifall derjenigen genoss, die trunken waren von ihrem unfassbaren Sieg und nicht zu sehr damit beschäftigt, ihre Verluste zu betrauern, da machte sie sich auf den Weg in die Küche. Sie dachte, dass es nicht richtig sei, dass Neville aussah, als hätte er allzu viele Mahlzeiten verpasst. Die Hauselfen hatten ihre Hilfe durchaus nötig. Viele von ihnen waren verwundet, und die anderen waren damit ausgelastet, wieder Ordnung zu schaffen. Sicher am vertrauten Heiligtum des Herdes angekommen, dirigierte Hannah eine Symphonie aus Karotten, Kartoffeln, Sahne und Speck, fügte die Gewürze hinzu, mit denen ihre Mutter sie vor langer Zeit vertraut gemacht hatte und rührte in den riesigen Töpfen und Pfannen. Sie war diejenige, die Neville heiße Suppe und frisches Brot brachte, und sein dankbares Lächeln hatte sich vollkommen richtig angefühlt und machte sie geradezu lächerlich glücklich. Die anderen hatten sich über ihr Angebot ebenfalls gefreut, und trotz allem, was verloren war, nahm sie aus Schlacht und Sieg eine neue Leidenschaft für die Heilung mit, die Trost und gutes Essen zu schenken imstande waren.

Plötzlich lag Nevilles Hand auf ihrem Arm, und mit einem Ruck kehrte sie in die Gegenwart zurück.

„Ich würde dir gern meine Freundin Ruta vorstellen,“ sagte er sanft, ein Lächeln in den Augen. „Und, Ruta – das ist Hannah Abbott.“

Also das war die Ruta, von der Neville manchmal redete. Sie war ziemlich froh, dass seine Freundin sich als deutlich älter herausstellte als Neville und sie selbst – und nicht allzu attraktiv – denn seine enthusiastischen Erzählungen über ihre Fähigkeiten in Kräuterkunde, ihre Freundlichkeit und ihren Humor hatten sie zuweilen ein bisschen nervös gemacht.

Die Frau streckte ihre linke Hand aus und warf Neville einen Seitenblick zu; Hannah sah, dass ihre Lippen zuckten, als würde ihr plötzlich etwas dämmern.

„Wie geht es Ihnen?“ Unwillkürlich irrte Hannahs eigener Blick zu der Schlinge ab; Rutas rechte Hand lag schlaff und reglos auf dem Tisch. Was für eine Verletzung auch immer den Arm fast gelähmt hatte, sie war unter dem Ärmel des burgunderroten Kleides verborgen.

„Ein schlimmer Unfall,“ sagte Ruta ruhig, aber die Trauer in ihrem Augen vertiefte sich.

„Dann wollen wir hoffen, dass alles bald verheilt,“ sagte Hannah mit ehrlicher Wärme und machte sich auf den Weg in die Küche. Die Pasteten warteten im Ofen; sie legte zwei davon auf einen Teller mit Salat, öffnete eine Flasche Pinot Grigio und holte eine frische Schüssel und einen weiteren Teller für Nevilles Shepherd’s Pie.

Sie brachte die Pasteten und den Pie zu ihren Gästen und trat dann hinter die Bar, um einen Krug mit frischem Ale zu füllen. Die ganze Zeit war ihr Blick auf das Paar am Kamin gerichtet, und der letzte Rest Misstrauen schwand dahin; es war eine tiefe Freundschaft, die sie sah, keine Liebesaffäre. Sie redeten miteinander; obwohl es eher Neville war, der das Reden besorgte. Er gestikulierte mit beiden Händen, während Ruta zuhörte, das Gesicht verschlossen und erfüllt von mühsamer gewahrter Geduld. Immerhin hatte sie eine der Pasteten aufgegessen und die erste Hälfte der zweiten, und sie trank den Wein; Hannah hasste es, wenn gutes Essen verschwendet wurde. Das war eines der vielen Dinge, die sie an Neville schätzte; er liebte ihre Küche, und sein Pie war bereits verschwunden, während Ruta noch immer den Rest der zweiten Pastete auf ihrem Teller herum schob. Hannah brachte ihm das Bier und er tat ihm so viel Ehre an wie seiner Mahlzeit. Als er eine halbe Stunde später nach der Rechnung fragte, schüttelte sie abwehrend den Kopf und lächelte.

„Bleibst du heute in London?“ fragte sie. „Ich habe Lammkoteletts zum Dinner, und vielleicht möchtest du meinen neuesten Merlot probieren.“

„Nein,“ erwiderte er, nahm Rutas Umhang vom Haken und legte ihn ihr sorgsam über die Schultern. Er warf einen kurzen, ablehnenden Blick auf den Kamin.. „Ich bringe Ruta hinauf nach Berwick. Sie ist noch nicht wirklich fit genug für das Flohnetzwerk, und allein apparieren…“

„Ich bin im Moment ein bisschen ungeschickt mit meinem Zauberstab,“ unterbrach ihn Ruta; ihre Stimme war müde und klar. „Die Heiler in St. Mungo haben mir verschiedene Übungen gezeigt, mit denen ich die verletzten Muskeln in meinem Zauberstabarm trainieren kann, aber sie haben mir gesagt, ich müsste geduldig sein, und bis dahin werde ich meine Linke benutzen müssen… was wesentlich schwieriger ist, als ich zuerst dachte.“

„Oh.“ Hannah starrte sie an. Sie war bestürzt, festzustellen, dass es so lange nach dem Krieg immer noch Verletzungen gab, die auch die besten Medizauberer nicht anständig heilen konnten. „Tut mir Leid, das zu hören.“

„Ich werde mich daran gewöhnen,“ sagte Ruta mit einer kleinen Grimasse. „Und natürlich sehen Sie Neville heute Abend wieder; alles, was er tun muss, ist, mich vor Harry Potters Haustür abzusetzen, damit ich an der Willkommens-Party teilnehmen kann, die zweifellos schon seit Tagen dort vorbereitet wird.“

Neville warf ihr einen leicht genervten Blick zu. „Sei nicht so sarkastisch. Sie haben dich gern, Ruta, und sie freuen sich wirklich darauf, dich wiederzusehen.“

„Natürlich tun sie das, mein Lieber,“ entgegnete sie. „“Aber ich bin sicher, Miss Abbott hier wird sich auch darauf freuen, dich wiederzusehen. Hilf mir, nach Hause zu kommen und geh dann zurück nach London; du hast nur noch einen freien Abend, den du in Gesellschaft dieser reizenden jungen Dame verbringen kannst, bevor du nach Hogwarts zurück musst.“

Sie schaute Hannah an; für eine flüchtige Sekunde verschwanden die Traurigkeit und Erschöpfung aus ihrem Gesicht, und sie sah sorglos aus, viel jünger… und beinahe hübsch.

„Auf Wiedersehen, Hannah,“ sagte sie mit einem leicht mutwilligen Lächeln. „Sie haben ihn bald wieder. Oh – und wenn Sie darauf warten, dass er den ersten Schritt macht, dann könnte es sein, dass Sie eine ganze Weile warten müssen.“

Neville lief scharlachrot an, und als Ruta die Tür mit ihrer heilen Hand öffnete, folgte er ihr hastig nach draußen. Aber er warf über seine Schulter einen Blick zurück, der eine wilde Mischung war aus Verlegenheit – und nervöser Hoffnung.

*****

„Bist du wirklich sicher, dass du mich den Rest des Abends nicht mehr brauchst?“

Sie standen auf der Straße in Berwick, direkt vor Harry Potters Gartentor. Der Himmel über dem Eskdale war klar; das restliche Tageslicht verblasste rasch. Ruta schaute hinauf zu den Sternen und atmete die kalte, frische Luft ein, die immer einen Hauch Salz mit sich trug. Die Irische See war kaum acht Meilen entfernt, und nach dem muffigen Geruch ihres Krankenzimmers in St. Mungo und dem unangenehmen, überwältigenden Großstadtaroma von London war jeder tiefe Atemzug hier eine schiere Erlösung.

„Ich bin sicher, Neville,“ sagte sie sanft. „Ich brauche keinen Beschützer; schließlich bin ich unter Freunden.“

„Weiß ich doch.“ Er starrte auf seine Füße hinunter. „Es ist bloß… ich will sicher sein, dass es dir gut geht.“

„Das kannst du nicht,“ erwiderte sie nüchtern. „Keiner von uns kann das. Ich versuche, weiterzumachen, so gut ich es kann, und wenn ich jemals eine Schulter zum Ausweinen brauche, dann schicke ich dir eine Eule.“

„Versprochen?“ Er lächelte sie an, und wieder einmal wurde ihr klar, dass er ganz offensichtlich keine Ahnung von seinem persönlichen Charme hatte. Nun ja… Hannah Abbott war er ganz sicher aufgefallen.

„Ich versprech’s.“ Er kam zu ihr und drückte sie an sich, sorgsam darum bemüht, den noch immer empfindlichen Arm nicht zu berühren. Für einen bittersüßen Augenblick überließ sie sich dem unerwarteten Trost seiner Umarmung, dann trat sie zurück.

„Versprich mir noch etwas anderes,“ sagte er langsam, die Hand immer noch auf ihrer Schulter.

„Was denn?“

„Normalerweise können Werwölfe nur versuchen, einen sicheren Ort für sich selbst und alle anderen zu finden, wenn der Mond voll ist, und dann darauf warten, dass die Verwandlung kommt und geht,“ sagte er; sein Ton war nervös, aber fest. „Deine Lage ist anders; du hast eine Wahl.“

„Was meinst du damit?“ Sie starrte ihn an.

„Also, jetzt komm schon, Ruta.“ Zum ersten Mal klang er entschieden ungeduldig. „Du hast dich mit einem der berühmtesten Zaubertrankmeister von England angefreundet – dem Mann, der einmal den Wolfsbanntrank für deinen Cousin gebraut hat – und jetzt willst du mir erzählen, du hast keine Ahnung, wovon ich rede?“

Ruta wurde bleich.

„Woher weißt du - “

„Machst du Witze? Ich wusste schon, wer er war, lange bevor Harry es mir erzählt hat. Und von wie vielen anderen Zauberern hast du jemals gehört, die fliegen können?“

Fliegen?“ Ruta starrte Neville an. „Er kann fliegen?“

„Ja. Er hat es getan, als er in Hogwarts aus dem Fenster sprang, um McGonagall und den anderen zu entkommen – nur damals ist er geflüchtet, und ich nehme mal an, dass er sie einfach nicht töten wollte, aber in der Nacht, als du mit Greyback gekämpft hast, da ist er auch geflogen, und diesmal flog er in die Schlacht, und nicht weg davon.“

„Ich kann mich nicht erinnern, dass irgendwer geflogen ist,“ sagte Ruta schwach.

„Na ja, da warst du ja auch schon zu Boden gegangen, und Harry und ich konnten überhaupt nichts machen, weil der arme Teddy im Weg war, und wir waren sowieso nicht dicht genug dran, und dann kam Snape mitten aus der Nacht herab. Eine Minute lang dachte ich schon, jetzt müssten wir gleich mit zwei Gegnern fertig werden, aber statt dessen hat er Greyback für uns übernommen, und sobald wir begriffen hatten, dass sein Sectumsempra-Zauber wirkte, haben wir mitgemacht, und damit war Greyback erledigt. Aber ja, er ist geflogen. Ich wünschte, ich wüsste, wie er das macht.“

„Du hast gewusst, wer er war, weil er geflogen ist?“

„Nein, das ist mir erst später aufgefallen. Genau so, wie ich das ganze letzte Jahr in Hogwarts nicht begriffen habe, was er machte, bis es zu spät war, ihm dafür zu danken. Ich meine, wir haben Prügel bezogen, aber keiner von uns ist wirklich gestorben oder so was, und weißt du, wenn er zugelassen hätte, dass die Carrows uns mit Cruciatus-Flüchen beschießen - anstatt wir uns gegenseitig - dann wäre es viel schlimmer gewesen, weil keiner von uns es wirklich ernst gemeint hat, außer Crabbe und Goyle, und die waren sowieso nie besonders gut beim Zaubern. Und ich habe ihm gedankt, als ich bei Dromeda mit ihm geredet hab.“

„Aber du wusstest vorher schon, wer er war,“ sagte Ruta, eine Linie der Verwirrung zwischen den Augenbrauen.

„Aber ja doch. Ich hab es gleich gewusst, als er anfing, Harry und mich herum zu kommandieren.“ Bei Rutas zweifelndem Gesichtsausdruck zuckte Neville die Achseln. „Ich meine, seine Stimme hatte sich verändert und alles, aber seine Art zu reden, die nicht. Und seine Hände waren dieselben – ich konnte mich nicht irren. Es war wie ein alter Alptraum, der plötzlich lebendig wird.“

„Aber doch nicht, als er euch zu Hilfe kam!“

Plötzlich sah er viel jünger aus; er wurde rot und starrte auf seine Füße hinunter. „Hat Remus dir das nie erzählt? Er hat uns mal einen Irrwicht zum Üben mitgebracht, und als ich an der Reihe war, da sah er genauso aus wie Snape. Ich hatte Todesangst vor ihm, während ich in der Schule war, gleich seit der ersten Zaubertrank-Stunde. Ich konnte einfach nichts richtig machen, wenn er in der Nähe war. Ich hab immer noch keine Ahnung, wieso er mir zugetraut hat, mit den Muggeln fertig zu werden.“

Das war, als versuchte sie, eine verständliche Geschichte aus Teddy herauszuholen, entschied Ruta. „Welche Muggel?“ fragte sie geduldig.

„Der Constabler – und die Nachbarn, die den Kampf gesehen hatten.“ Plötzlich grinste Neville, und der Junge im Mann schien deutlich durch. „Ich hab ihm die Kugeln geradewegs aus dem Gewehr gehext und dann Obliviate benutzt. Und zum Glück hatten bloß drei Leute mitgekriegt, was wirklich passiert war, was die Sache leichter machte. Snape hat mir gesagt, ich soll Greybacks Leiche in irgendwas verwandeln, was die Muggel kennen, und dann soll ich ihn abfackeln, als wäre er vom selben Blitz getroffen worden, der den Baum in Brand gesetzt hat, und das hab ich auch getan, aber Bernie Smithers zum Helden zu machen, das war meine Idee. Die Leute brauchen Helden, auch wenn Harry sagt, dass es echt zum Davonlaufen ist, wenn man die ganze Zeit einer sein muss. Und es ist ein schönes Gefühl, wenn man weiß, dass man etwas Tapferes fertig gebracht hat. Und das hätte er – Smithers, meine ich – bloß, dass es nichts genutzt hätte, also dachte ich, man müsste ihm wenigstens zugestehen, dass er das Richtige tun wollte.“

„Hmmm…“ Ruta runzelte die Stirn, und versuchte, sich geistig einen Weg durch das komplizierte Labyrinth von Nevilles letztem Satz zu bahnen. „Er wollte gern der Held des Tages sein, und du hast ihm die Chance gegeben, genau das zu werden – obwohl es nie wirklich passiert ist?“

„Ganz genau!“ Er strahlte sie an wie ein Lehrer, der sich über einen aufgeweckten Schüler freut. „Und weißt du was? Später, als ich endlich in Andromedas Haus ankam, da habe ich Snape Bericht darüber erstattet, was ich gemacht hab, und wie haben es durchgesprochen, und diesmal hat er nicht so getan, als ob er irgendjemand anderes wäre als er selbst, und weißt du, ich mochte ihn beinahe.“ Er schüttelte den Kopf. „Er hat mir sogar für meine Hilfe gedankt – kannst du dir das vorstellen? Ich war komplett sprachlos.“

Er blinzelte um Himmel hoch und zog seinen Umhang enger um sich zusammen, dann sah er sie wieder an.

„Ich erzähle dir das alles, weil es ihn offenbar kümmert, ob es dir gut geht, Ruta. Eines Tages würde ich wirklich gern die Geschichte hören, wie du ihm das erste Mal begegnet bist, ganz bestimmt… aber im Moment solltest du einfach nicht vergessen, dass er einer von den ganz wenigen Leuten ist, die den Wolfsbann-Trank überhaupt brauen können. Und ich verwette mein Jahresgehalt, dass du, wenn du seine Hilfe brauchst, nur eines zu tun brauchst: frag ihn.“

„Ich… also schön, ich werde es mir merken,“ sagte sie langsam.

„Gut. Und jetzt solltest du hinein gehen – sie warten auf dich, und es wird ganz schön kalt.“ Plötzlich lächelte er strahlend. „Und eines Tages nehme ich meinen ganzen Mut zusammen und mache diesen ersten Schritt, ob du’s glaubst oder nicht. Gute Nacht, Ruta.“

“Gute Nacht, Neville.“

Er drehte sich um, hob seinen Zauberstab und löste sich mit einem leisen Popp in Luft auf.

*****

Es gab tatsächlich so eine Art Willkommens-Party. Außer Harry und Ginny waren die einzigen Gäste Andromeda und Teddy; für einen kurzen Moment war Ruta fähig, sich in Umarmungen einhüllen zu lassen wie in angewärmte Tücher, und sie genoss das Gefühl, wieder zu Hause zu sein. Aber nachdem sie James in seiner Wiege bewundert und sämtliche passenden Kommentare darüber abgegeben hatte, wie sehr er gewachsen war, kehrte ihre innere Spannung zurück. Neville hatte sich geirrt, als er ihr früher an diesem Tag vorgeworfen hatte, sarkastisch zu sein. Es war Angst… verzweifelte Angst.

Sie tat ihr Bestes, den Blick auf ihren Teller gerichtet zu halten, um nicht festzustellen, dass man sie allzu genau beobachtete; sie fürchtete sich, den Kopf zu heben und den Augen der anderen zu begegnen… vielleicht würden sie sich von ihr abwenden. Nur Teddy war offenbar ganz unbefangen, und in seiner Nähe konnte sie sich beinahe entspannen; er war in ihrer Abwesenheit mit Ginny zu einem Quidditch-Spiel gegangen, und jetzt hatte er den Kopf voll von Schnatzen und Klatschern, und von erstaunlichen, schier unmöglichen Flugmanövern, die er ganz sicher auf einem Besen nachahmen konnte, wenn er bloß einen neuen zu Weihnachten bekam.

Aber am Ende war es ausgerechnet Teddy, der ihre Befürchtungen Wahrheit werden ließ, genau in dem Moment, als er und seine Großmutter allen eine gute Nacht wünschten. Er kam zu Ruta hinüber und schlang ihr die Arme um die Hüfte.

„Ich bin so froh, dass du wieder da bist, Tante Ruta,“ sagte er, „und dein Arm ist ganz bestimmt bald besser. Gran Dromeda sagt, sie kocht für dich, bis du wieder selbst in einem Topf rühren kannst, und sie sagt, du kannst bei uns leben, und dass sie keine Angst hat, weil du dich in deinem Haus einschließen kannst, wenn wir Vollmond haben – aber ich hab überhaupt keine Angst von dir, nicht ein bisschen.“

Ein steinernes Schweigen fiel über den Raum, und Ruta hörte, wie irgendjemand entsetzt nach Luft schnappte. Da war es – das erste Zucken, die erste Unachtsamkeit, der erste, ungewollte Schlag. Doch trotz all der lauernden Furcht merkte sie, dass sie imstande war, dem zu begegnen. Sie würde nicht in die bleichen, erschrockenen Gesichter schauen, die sie umgaben. Sie würde sich zusammennehmen, und sie würde dieses Kind, das sie so sehr liebte, weder verängstigen noch aufregen.

„Das höre ich gern, Schätzchen,“ sagte sie in leichtem Ton und streichelte ihm die Wange. „Und du hast Recht – es gibt keinen Grund, Angst vor mir zu haben. Ich würde dir nie Schaden zufügen… und auch niemand anderem, wenn ich das hinzufügen darf.“

Jetzt schaffte sie es, sich den anderen zuzuwenden, und noch immer war ihre Stimme erstaunlich gelassen.

„Würdet ihr mich bitte entschuldigen? Das war ein langer Tag… ich möchte mich gern ein bisschen hinlegen. Ich danke euch allen für euren…. liebevollen Empfang.“

Sie verließ das Wohnzimmer, ging durch den Flur und die Treppe hinauf, bis sie das kleine, kerzenhelle Gästezimmer erreichte, das Ginny für sie vorbereitet hatte. Sie schloss die Tür hinter sich, setzte sich auf das Bett und starrte blind auf ihre Hände hinab. Sie zitterte von Kopf bis Fuß, und jetzt, da die Erkenntnis dessen, was Teddy zu ihr gesagt hatte, sie endlich wie ein Keulenschlag traf, spürte sie, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. Sie beugte sich vor, bis sie den Kopf zwischen den Knien hatte und atmete in tiefen, langen Zügen, bis sie nicht länger fürchten musste, sich jeden Moment auf den Teppich zu übergeben.

Es klopfte leise an der Tür.

„Ruta?“ Die Stimme von Ginny. „Darf… darf ich herein kommen?“

„Nein.“ Sie fuhr bei ihrem eigenen Ton zusammen. „Entschuldige, Ginny… aber ich wäre lieber ein Weilchen allein.“

Eine lange Pause, dann wieder Ginnys Stimme, sanft und zögernd.

„Du weißt, dass Teddy es nicht böse gemeint hat, oder?“

„Natürlich weiß ich das.“ Merlin, sie war so schrecklich müde. „Er wiederholt nur, was er von seiner Granny hört. Und bevor du fragst, ich weiß, dass Dromeda es auch nicht böse meint. Sie hat bloß Angst, und das ist sehr begreiflich. Außer, dass ich mich lieber selbst umbringen würde, als Teddy weh zu tun, und ich habe viel größere Angst, als sie sie jemals haben könnte.“

„Es tut mir so Leid.“

Natürlich tat es ihr Leid. In diesen Tagen schien sie jedermann Leid zu tun. Den Heilern in St. Mungo, Neville, Hannah Abbott, Dromeda, Harry, Ginny… und es half ihr nicht.

„Hör zu, Ginny… ich bin erschöpft bis auf die Knochen, und ich brauche jetzt wirklich Ruhe. Würde es dir etwas ausmachen, wenn wir morgen darüber sprechen?“

„Überhaupt nicht. Gute Nacht, Ruta. Schlaf so lange du willst… ich habe das Frühstück fertig, sobald du wach wirst.“

Sie hörte leise Schritte, die sich entfernten, stand vom Bett auf und begann ungeschickt, sich auszuziehen. Sie war den Potters für ihre Gastfreundschaft ehrlich dankbar; sie machte sich wenig Illusionen darüber, wie schwierig es sein würde, sich in ihrem eigenen Haus den Weg durch die tägliche Routine zu kämpfen, mit nur einer heilen Hand und nur wenigen Zaubersprüchen, die sie tatsächlich benutzen konnte. Aber selbst diese helle, kleine Kammer fühlte sich ebenso sehr wie ein Gefängnis an wie das Zimmer in St. Mungo, und sie hatte nicht die Absicht, länger zu bleiben, als es unbedingt nötig war… ganz gleich, wie angenehm die Atmosphäre und wie weich das Bett auch sein mochte.

Ihren verletzten, halb gelähmten Arm aus dem langen Trompetenärmel zu befreien, war schwieriger als erwartet – irgendwie war es ihr leichter gefallen, heute Morgen in St. Mungo hinein zu kommen. Aber endlich brachte Ruta es zustande und schlüpfte erst aus dem Kleid und dann in ihr Nachthemd. Sie ließ sich auf das Bett sinken; der Schmerz brannte in ihrer Schulter und sie biss sich auf die Lippen, fest entschlossen, nicht zu schreien. Endlich blies sie die Kerzen aus, zog die Decke über sich und lag in der Dunkelheit, die Augen weit offen. Sie wartete auf einen Schlaf, der nicht kommen wollte.

*****

Der nächste Tag dämmerte kalt und klar. Harry stand früh auf und saß mit einer Tasse Kaffee, einem Teller Rührei und dem Tagespropheten am Küchentisch, als Ruta den Raum betrat. Sie trug das burgunderrote Kleid, das er gestern Abend gesehen hatte, aber ihr Haar hing offen und ungeflochten herunter. Sie interpretierte seinen Blick richtig und lächelte leicht, während er hastig mit dem Zauberstab auf das Buffet deutete; ein zweiter Teller, eine Tasse und Besteck ließen sich vor ihr nieder.

„Ich werde Ginnys Hilfe mit meinem Haar brauchen,“ sagte sie und streckte die linke Hand nach der Kaffeekanne aus; Harry war klug genug, ihr nicht seinen Beistand anzubieten.

„Ginny schläft noch,“ sagte er, als sie endlich den ersten Schluck nahm. „Jamie war letzte Nacht ein bisschen ruhelos.“

„Ich glaube, ich habe ihn ein- oder zweimal gehört. Wieder die Zähne?“

„Nein, nur ein besonders hässlicher Fall von Blähungen. Und er hasst Fencheltee mit Honig.“

„Versuch's mit Kamille,“ riet sie, „und mit einem Spritzer Ahornsirup statt dem Honig… in seinem Alter haben Kinder Schwierigkeiten damit, Honig zu verdauen, und das macht sein Bauchweh nur noch schlimmer.“

„Ich sag’s ihr,“ meinte Harry, nahm die Pfanne und lud Rührei und frischen Toast auf ihren Teller. „Wieso weißt du so viel darüber? Du hast nie eigene Kinder gehabt, aber Ginny sagt immer, sie braucht kein Handbuch für Eltern, so lange du in der Nähe bist.“

Wieder lächelte Ruta, diesmal entspannter und mit mehr Ehrlichkeit.

„Na ja, sie könnte ihre Mutter fragen,“ gab sie zurück. „aber ich vermute, es ist ein bisschen anstrengend, den pausenlosen Rat von jemandem zu ertragen, der ständig darauf besteht, alles besser zu wissen. – Und siehst du, ich hatte Teddy zum Üben. Als Remus und Dora starben, blieb Dromeda mit einem hilflosen Baby zurück. Teddy musste natürlich mit der Flasche gefüttert werden, was wahrscheinlich der Grund für seine monatelangen Koliken war… Dromeda hatte Dora nach der Geburt gestillt, und ein kleiner Junge, der Nacht für Nacht brüllte, war eine neue und aufreibende Erfahrung für sie. Als ich kam, hatte ich nichts anderes anzubieten als meine uneingeschränkte Bereitschaft, ihr zu helfen, und jede Menge alter Kräuterbücher. Unser Wissen ist mit den Jahren gewachsen.“

„Bis jetzt habt ihr großartige Arbeit geleistet,“ sagte Harry ehrlich, dann lächelte er sie ein wenig beschämt an. „Ich liebe Molly wirklich sehr, aber selbst ich muss zugeben, sie ist manchmal ein bisschen… überwältigend.“

Beide verfielen in Schweigen, und er sah ihr dabei zu, wie sie aß; er brachte es einfach nicht fertig, sich auf seine Zeitung zu konzentrieren. Er fragte sich, wie sie wohl reagieren würde, wenn er den vergangenen Abend erwähnte; Dromeda war niedergeschmettert gewesen über das plötzliche Ende ihres kleinen „Festes“, und war er betrübt über den schmerzhaften Graben zwischen zwei alten und engen Freunden, die ihm beide sehr lieb waren.

Ruta schien sein Unbehagen zu spüren.

„Mach dir keine Gedanken wegen gestern,“ sagte sie und legte die Gabel hin. „Ich weiß, es war nicht deine Schuld. Es war nicht einmal Dromedars Schuld – sie muss sich erst an die Situation gewöhnen; das müssen wir alle. Vielleicht sind die Dinge ein bisschen weniger schwierig, wenn ich wieder zu Hause bin… und wenn sie herausfindet, dass ich nie auch nur im Traum daran denken würde, einem Kind Schaden zuzufügen, das ich liebe, als wäre es mein eigenes.“

Sie blinzelte ein paar Mal rasch, fasste sich aber wieder, bevor er irgendwelche Tränen sehen konnte. Sie wischte sich den Mund mit einer Serviette und stand ziemlich schnell auf.

„Und jetzt, wenn du erlaubst… ich hätte gern ein bisschen frische Luft.“

„Wieso wartest du nicht, bis Ginny auf ist?“ fragte er. „Ich dachte, du wolltest, dass sie dir mit deinen Haaren hilft.“

Sie stand in der Tür.

„Nein… nein, nicht so wichtig,“ sagte sie leise. „Es gibt entscheidender Dinge, über die ich nachdenken muss. Und ich will lang genug nach Hause gehen, um nach meinem Garten zu sehen. Ich habe ihn fürchterlich vermisst.“

„Meinst du, du kriegst das hin?“ fragte Harry. „Du kommst doch gerade erst aus dem Krankenhaus.“

„Mein Arm wurde verletzt, Harry; meine Beine funktionieren perfekt. Und es sind nur ein paar Meilen. Nach vier Wochen mit immer denselben Wänden um mich herum bin ich ausgehungert nach grünen Hügeln und einem offenen Himmel.“ Sie seufzte und straffte sich. „Ich brauche etwas Zeit, das ist alles. Und ich möchte Fionnula lieber früher als später gegenüber treten. Wenn ich jetzt losgehe, dann kann ich mit ihr reden, bevor die Gärtnerei aufmacht und sie Kunden hat, um die sie sich kümmern muss.“

Und damit verließ sie die Küche und war verschwunden.

*****

Ginny kam kaum fünfzehn Minuten später vollständig angezogen herunter. Sie gab ihm einen Kuss, der nach Zahnpasta und Zärtlichkeit schmeckte, setzte sich und hatte gerade die Hand nach der Kaffeekanne ausgestreckt, als ihr der zweite, verlassene Teller auffiel.

„Hat Ruta schon gefrühstückt?“ Sie runzelte die Stirn. „Und wo ist sie? Ihr Zimmer ist leer.“

„Sie macht einen Spaziergang,“ sagte Harry und faltete die Zeitung zusammen. „Sie hat gesagt, sie will mit Fionnula Flannagan reden; bei den Verletzungen an ihrem Arm und ihrer Schulter wird sie die nächsten paar Wochen kaum imstande sein, zu arbeiten.“

„Oder Monate,“ fügte Ginny hinzu, eine steile Falte zwischen den Augenbrauen. „Zu dumm, dass man Werwolfbisse nicht wirklich durch Zauberei heilen kann. Und sie sollte ein bisschen vorsichtig mit dem sein, was sie Fionnula erzählt.“

Harry nahm einen Schluck Kaffee. „Wieso das denn?“

„Sei nicht albern, Liebster,“ entgegnete Ginny und warf ihm einen Blick irgendwo zwischen Mitgefühl und Belustigung zu. „Die Muggelzeitungen haben nur etwas über einen Wolf geschrieben, der aus einem Privatzoo entkommen ist und erschossen werden musste. Ruta könnte Fionnula etwas über einen schweren Unfall erzählen, aber selbst wenn sie schlau genug ist, vor ihr zu verbergen, was wirklich mit ihr passiert ist, und wenn Fionnula die Wahrheit nicht begreift… in dem Moment, wenn Ruta die Tatsache erwähnt, dass sie sich leider gezwungen sieht, jedes Mal bei Vollmond ein paar Tage frei zu nehmen, riecht die Frau mit Sicherheit den Braten. Sie ist doch nicht blöd. – Kommt sie gleich wieder, wenn sie fertig ist?“

„Nein… sie hat mir gesagt, sie will nach Hause laufen und nach ihrem Garten sehen.“

Ginny schüttelte den Kopf. „Ganz allein? Stures Weibsbild.“

Harry seufzte. „Ich kann’s ihr nicht verübeln. Sie hat bestimmt viel zum Nachdenken.“ Wie sie als Werwolf überlebt – vor allem, wenn sie deswegen ihren Job verliert.

Die Türglocke ließ sie alle beide zusammenfahren. Harry stand auf, machte sich auf den Weg zum Eingang und öffnete; eine dunkle Gestalt stand wartend unter dem Vordach, das Gesicht von einer großen Kapuze überschattet.

„Guten Morgen, Mr. Potter.“

Für eine Sekunde oder zwei stand Harry ungläubig und starr da, bis er seine Stimme wiederfand.

„Professor Sn… Entschuldigung, Mr. Seeker. Was… was tun Sie denn hier?“

„Einen Besuch machen,“ erwiderte sein früherer Schulleiter, Zaubertranklehrer und persönliche Nemesis trocken. „Wenn auch nicht direkt bei Ihnen. Ich würde gern Miss Lupin sehen.“

„Wer hat Ihnen gesagt, dass sie hier ist?“ fragte Harry, unfähig, sich zurückzuhalten.

„Ich habe meine Quellen,“ erwiderte Stephen Seeker gelassen. „Man hat mich informiert, dass Miss Lupin gestern aus St. Mungo entlassen wurde, und dass Mr. Longbottom sie zu diesem Haus begleitet hat. Und obwohl wir sicherlich damit fortfahren können, diese Angelegenheit auf Ihrer Türschwelle zu besprechen, denke ich, dass es wesentlich zweckmäßiger wäre, hineinzugehen.“

„Oh.“ Harry räusperte sich. „Natürlich. Bitte, kommen Sie herein.“

Er schloss die Tür und folgte seinem unerwarteten Besucher in die Küche. Ginny – die noch immer am Tisch saß – hob ihren Blick von Harrys vergessenem Tagespropheten, und ihre Augen weiteten sich. Aber als sie sprach, war ihre Stimme ruhig und beiläufig, und Harry verspürte einen plötzlichen Stich von liebevollem Stolz.

„Mr. Seeker. Willkommen in Berwick – Ihr erster Besuch, glaube ich?“

„In der Tat, Mrs. Potter.“ Stephen Seeker verbeugte sich förmlich. „Es ist mir ein Vergnügen. Aber ich muss zugeben, dass ich nicht gekommen bin, um Sie zu sehen… ich sollte kurz mit Miss Lupin sprechen. Ist sie hier?“

„Sie haben sie gerade verpasst,“ antwortete Ginny, die ihn forschend betrachtete. „Sie ist vor etwa einer Viertelstunde gegangen, um ihre Arbeitgeberin zu treffen.“

„Wozu das denn?“ fragte Seeker; sein Ton war ein wenig scharf.

Ginny zögerte, dann entschied sie sichtlich, ihn noch mehr Informationen zukommen zu lassen.

„Um ihr zu sagen, dass sie in nächster Zeit kaum wieder arbeiten kann, denke ich,“ sagte sie langsam. „Die Wunden sind noch nicht richtig verheilt, und ihre rechte Hand kann sie immer noch nicht bewegen.“

Stephen Seeker öffnete den Mund, aber was immer herauszukommen drohte, es blieb ungesagt, als er ihn fest wieder schloss. Er holte tief Atem, dann verschränkte er die Arme und gab einen frustrierten Seufzer von sich.

„Mrs. Potter… ich bin mir vollkommen der Tatsache bewusst, dass Sie Miss Lupin viel länger – und wahrscheinlich besser – kennen als ich. Aber ich habe Grund genug, zu gewissen… äh… Schlussfolgerungen über ihren Charakter zu kommen. Sie ist eine sehr ehrenhafte Frau, erstaunlich loyal… und unglücklicherweise der Wahrheit sehr ergeben. Was denken Sie, wird sie der fraglichen Dame erzählen – Mrs. Flannagan?“

„Dass sie nicht arbeiten kann,“ gab Ginny zurück. „Nicht mehr, hoffe ich… mehr zu sagen, wäre unglaublich närrisch.“

„Nicht närrisch,“ erwiderte Seeker. „Nur allzu leichtgläubig. Ich habe Anlass zu vermuten, dass Miss Lupin dazu tendiert, nur das Beste von den Menschen rings um sie her zu denken… wenigstens die, denen sie ihr Vertrauen geschenkt hat.“

Sie hat Ihnen vertraut, dachte Harry, dankbar, dass Seeker sich in diesem Moment nicht die Mühe machte, ihn anzusehen. Und überraschenderweise hatte sie Recht.

„Was glauben Sie, wird geschehen, wenn Miss Lupin sich entscheidet, die Wahrheit zu sagen?“ fragte Seeker leise.

„Das wäre eine Katastrophe,“ hörte Harry sich plötzlich selbst sagen. „Sogar Andromeda hat Angst vor ihr, und sie sind seit mehr als acht Jahren enge Freunde.“

Er hielt inne, den Klang seiner letzten Worte wie Asche auf der Zunge. „Natürlich glaube ich nicht, dass das passiert. Und ich glaube auch an ihre Fähigkeit, ein gefährliches Geheimnis zu bewahren – als sie nach Hogwarts kam, wusste sie, dass Remus ein Werwolf war. Aber sie hat es niemandem gesagt. Ich habe erst herausgekriegt, dass sie die ganze Zeit eingeweiht gewesen war, als dieses verflixte Buch von Rita Kimmkorn herauskam… und das war mehr als zwanzig Jahre später.“

„Um Himmels Willen, denken Sie nach, Mr. Potter,“ entgegnete Seeker ungeduldig. „Miss Lupins erstaunliche Entschlossenheit, die zu beschützen, die sie zu ihren Freunden zählt, wird ihr in diesem Fall nicht helfen. Wenn Mrs. Flannagan den simpelsten Tatsachen gegenüber nicht blind und taub ist, dann findet sie die Wahrheit ohnehin früher oder später heraus.“

Er schwieg einen Moment.

„Und jetzt prüfen Sie Ihr Herz,“ fuhr er endlich fort; seine Stimme war sehr leise. „Wenn Sie Ihre mauleselsture Loyalität nur eine Sekunde außer Acht lassen – machen Sie Andromeda Tonks tatsächlich einen Vorwurf daraus, dass sie sich fürchtet? Sie haben jetzt einen Sohn, glaube ich; würden Sie ihn in Rutas Obhut lassen, ohne zweimal nachzudenken?“

„Ja, sicher!“ gab Harry wütend zurück. Er hatte ein flaues Gefühl im Magen, und plötzlich überflutete ihn eine riesige Welle aus Mitleid für Ruta Lupin. „Sie würde doch nie…“

„Remus Lupin hätte Sie nie verletzt, auch nicht Mr. Weasley oder Miss Granger. Nicht mit Absicht.“ Seekers Augen brachten die alte Erinnerung zurück. „Aber sobald der Mond ihn berührt hatte, war er jenseits aller guten Absichten. Nur das Eingreifen Ihres Paten hat Sie in jener Nacht gerettet.“

Wieder fiel das Schweigen zwischen sie, schwer von beängstigenden Bildern, die keiner von beiden je wirklich vergessen hatte. Als Seeker fortfuhr, war Harry ehrlich erleichtert.

„Deshalb bin ich gekommen, um meine Unterstützung anzubieten; wenn Miss Lupin mir zutraut, den Wolfsbann-Trank für sie zu brauen, wird sie imstande sein, die Verwandlung durchzustehen, ohne dass sie sich oder sonst jemandem Schaden zufügt, und sie bleibt bei Verstand… das Äußerste, was man tun kann, wenn man den Fluch bedenkt, der sie befallen hat.“

Ein kleines, freudloses Lächeln kräuselte seine Lippen.

„Ich habe den Verdacht, dass ihr unglücklicher Sinn für Rücksichtnahme sie davon abhalten könnte, mich um Hilfe zu bitten. Deshalb habe ich mich entschlossen, nicht auf ihre – zweifellos sehr heldenhafte und selbstlose – Entscheidung zu warten, mir die Mühe zu ersparen.“ Er wandte sich wieder an Ginny. „Wann ist sie gegangen, sagten Sie?“

„Vor fünfzehn Minuten,“ sagte Ginny. „Aber es ist nicht sehr weit von hier… nur ein kurzer Spaziergang die Straße hinunter.“

„Dann beeile ich mich am Besten,“ sagte Seeker, zog sich die Kapuze wieder über den Kopf und nickte Harry und Ginny zu, als er sich zum Gehen bereit machte. „Mrs. Potter… Mr. Potter.“

Harry räusperte sich. „Warten Sie.“

Binnen einer Minute war er zur Tür hinaus und wieder zurück und reichte seinem früheren Lehrer ein schimmerndes Bündel. Seeker faltete es auseinander und berührte das unschätzbare, magische Gewebe mit einer Art staunender Ehrfurcht. Ihre Augen begegneten sich, und Harry sah, dass die Gefühle, an die er sich so lebhaft erinnerte – Bitterkeit, kalter Hass und unversöhnliche Abscheu – spurlos verschwunden waren und nichts zurückgelassen hatten als das Unbehagen und die tiefe Besorgnis um Ruta, die er selbst empfand.

„Es gibt zu viele Leute in Berwick, die Sie erkennen und versuchen könnten, Sie aufzuhalten,“ sagte Harry; sein Mund war trocken. „Und der Vielsafttrank ist mir gerade ausgegangen. Bringen Sie ihn zurück, wenn Sie und Ruta ihn nicht mehr brauchen.“

„Das werde ich. Ich danke Ihnen, Mr. Potter.“ Seeker wickelte den Umhang um seine hochgewachsene Gestalt und verschwand; Harry spürte, wie seine Frau neben ihn trat und ihre Finger, die sich mit den seinen verschränkten. Zusammen lauschten sie auf die Schritte des unsichtbaren Mannes, und auf das Öffnen und Schließen der Eingangstür. Es war Ginny, die zuerst sprach.

„Komm mit, Harry,“ sagte sie. „Lass uns noch eine Tasse Kaffee trinken.“

Harry blickte in das vertraute, hübsche Gesicht.

„Glaubst du, dass er… und wird sie…“

„Es spielt keine Rolle, was ich denke, mein Liebster, oder sogar du,“ sagte sie mit einem Lächeln. „Was vergangen ist, das ist vergangen, und du weißt das sehr gut, mein Herz.“ Ihr Lächeln vertiefte sich, und für eine Sekunde konnte er Molly in ihren Augen sehen… Geliebte, Kämpferin und Mutter gleichzeitig. „Wieso hättest du ihm wohl sonst den Umhang geliehen? Er hat immer schon Vertrauen verdient, aber jetzt hat er es sich obendrein erworben. Und obwohl wir beide ihr auch gern helfen möchten… ich glaube, im Augenblick könnte sich Ruta keinen besseren Verbündeten suchen.“

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Kornische Pastete – eine „cornish pasty“ ist eine halbmondförmige, heiße Teigtasche, die mit Kartoffeln, Zwiebeln und Fleisch gefüllt ist. Unwahrscheinlich lecker – und ich habe meine erste im King’s Cross-Bahnhof in London gegessen, ob Ihr’s glaubt oder nicht.


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