Wolfsmond
von Cúthalion


Kapitel Elf
Von Lüge und Wahrheit

Der Himmel zeigte ein blasses, durchscheinendes Blau, als Stephen Seeker die Straße hinunter ging, in die Richtung, in die Ginny Potter ihn geschickt hatte. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass er es ehrlich genoss, endlich mehr als nur die paar Schritte von der Eingangstür seines Cottages bis zum Gartentor zu tun, aber er musste sich den kostbaren Umhang sehr sorgfältig um den Leib schlingen, um zu verhindern, dass er sich in der frischen Brise blähte. Er war deutlich größer als sein wahrer Besitzer und dadurch gezwungen, in einer leicht gebückten Haltung zu laufen, um neugierige Blicke auf bestiefelte Füße zu vermeiden, die scheinbar ganz allein dahinspazierten.

Ginny Potter hatte Recht gehabt; es war nur ein kurzer Weg. Weniger als fünf Minuten später sah er ein einstöckiges Haus vor sich, aus dem gleichen, grauen Stein gebaut wie das Cottage der Potters. Lange Reihen von Beeten mit Astern füllten den üppigen Garten, und ein riesiges, goldenes Schild mit grünen Buchstaben sagte ihm, dass er Fionnula Flannagans Fröhliche Flora erreicht hatte.

Breite Glastüren öffneten sich zu einem großen Verkaufsraum, und Oberlichter ließen die Sonne herein. Die Vielfalt der Düfte war überwältigend und beinahe betäubend. Er kam an einem Dutzend Eimern mit Schnittrosen und einer gewaltigen Pflanzschale mit langstieligen Blumen in glühenden Rot- und Orangetönen vorbei, und einer Plakette, auf der es hieß: “VORSICHT, MAGISCHE FEUERLILIEN – RISKIEREN SIE KEINE BLASEN!” Er fragte sich flüchtig, was wohl für Muggelaugen auf dieser Plakette zu lesen stand, aber dann wurde er von einer jungen Frau abgelenkt, die ihr blondes, lockiges Haar zu zwei langen Zöpfen gezähmt trug; sie war in eine Auseinandersetzung mit einer älteren Dame verwickelt.

“Sie haben mir doch gesagt, dass ich die Reihen mit diesen neuen Plappernden Petunien weiter auseinander pflanzen soll, damit sie damit aufhören, miteinander zu schwatzen, Miss Veronica,” beklagte sich die Dame mit schriller Stimme. “Aber jetzt schreien sie sich an, und mein armes Hundchen hört nicht mehr auf zu winseln und weigert sich stur, wieder unter dem Bett hervor zu kommen!”

Er ließ die beiden Frauen hinter sich, während er durch einen hohen Torbogen in ein riesiges Gewächshaus ging. lange Tische mit Pflanzkästen erstreckten sich in die Entfernung, aber abgesehen von den Pflanzen gab es kein Lebenszeichen. Zu seiner Rechten führte ein zweiter Torbogen in ein weiteres Gewächshaus, und von dort hörte er den Klang von Stimmen… oder genauer gesagt, von einer Stimme. Er wandte sich nach rechts, durch den zweiten Torbogen… und rannte fast in Ruta hinein, die direkt dahinter stand. Sie hielt ihm ihren Rücken zugewandt, der so gerade und steif war wie ein Besenstiel.

„... meine liebe Ruta, Sie verstehen bestimmt, dass ich es nicht leicht mit meinem Gewissen vereinbaren kann, jemanden in Ihrem besonderen... äh... Zustand hier arbeiten zu lassen. Ich muss meine Kundschaft berücksichtigen...“

Er machte einen lautlosen Schritt nach links, und jetzt konnte er die Frau sehen, die da sprach; sie war um die Sechzig, ziemlich klein und plump, und sie trug die selbe, grüne Schürze, die er schon an der jungen Gärtnerin im Verkaufsraum gesehen hatte. Sie hatte auch das selbe feine, blonde Haar und sehr ähnliche Gesichtszüge; die beiden waren offensichtlich verwandt. Die grüne Schürze verdeckte den überwiegenden Teil eines Kleides mit einem großzügigen Muster aus farbenfrohen Blumen... ein Kleid, das ausgezeichnet zu dem Typ Großmutter gepasst hätte, die Plätzchen und Obstkuchen buk, und die ihren Nachwuchs mit handgestrickten Pullovern bedachte. Nur dass die Frau, die es trug, nicht zu diesem gemütlichen Bild passen wollte. Ihr rundes Gesicht war zu einer krampfhaften, ängstlichen Grimasse verzogen, und das Lächeln auf ihren Lippen war falsch.

„Hören Sie, Fionnula...“

Er stand neben Ruta, noch immer unter dem Umhang verborgen, und betrachtete ihr Profil. Sie war totenbleich, und über ihrem Wagenknochen zuckte ein Muskel. Aber ihre Stimme verriet nichts von dem Aufruhr, den er unter der ruhigen Oberfläche spüren konnte.

„Ich habe Ihnen schon gesagt, dass ich während der nächsten paar Monate sowieso noch nicht arbeiten kann. Das hier ist nichts, was wir jetzt und hier besprechen müssen. Und sobald ich meinen rechten Arm wieder gebrauchen kann, werde ich dafür sorgen, das ich jedes Mal nicht hier bin, wenn der...“ Eine kurze Pause, dann fuhr sie in leicht angestrengtem Ton fort. „... jedes Mal, wenn es nötig wird. Es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen.“

„Seien Sie doch nicht naiv, Mädel,“ schnappte Fionnula. „Vielleicht lesen Zauberer diese dummen Muggelzeitungen üblicherweise nicht, aber ich tu’s. Ich habe viele Kunden in St. Mary Green und dem gesamten Eskdale, die in ihrem ganzen Leben noch keinen Zauberstab in der Hand gehabt haben, und das wissen Sie auch ganz genau. In einer Nacht wird ein Wolf getötet, am nächsten Tag erscheint meine beste Rosengärtnerin nicht zur Arbeit und verschwindet dann wundersamerweise für mehr als einen Monat hinter den Mauern von St. Mungo... dachten Sie wirklich, ich wäre so dämlich? Bedenken Sie bitte, dass meine Tochter hier arbeitet, und ich will ihr Leben und ihre Gesundheit nicht riskieren... von meinem Leben rede ich gar nicht erst.“

Sie warf Ruta einen Blick voll dünn verschleiertem Abscheu zu. Als würde sie irgendein räudiges Vieh anstarren, dachte Seeker, und plötzlich musste er gegen den kindischen Impuls ankämpfen, den Umhang abzuwerfen und zu Rutas Verteidigung einzuschreiten.

Er erinnerte sich an Minervas Erzählung davon, wie Harry vor acht Jahren ganz genau das getan hatte, als Amycus Carrow ihr im Gemeinschaftsraum von Ravenclaw ins Gesicht gespuckt hatte, unmittelbar vor der letzten, großen Schlacht. Sie hatten dabei im Büro des Schulleiters gesessen; Entschuldigungen und Erklärungen wurden über einer sehr guten Flasche Scotch ausgetauscht, keine drei Monate nach seiner „Auferstehung“.

Ich frage mich, wie er es geschafft hat, diese letzten Jahre in der Schule zu überleben, mit seiner idiotischen Gryffindor-Ritterlichkeit, seinem Leichtsinn und diesem Überschuss von pubertären Hormonen!“ Das war seine unmittelbare, scharfzüngige Reaktion gewesen.

Minervas Antwort wurde von einer hochgezogenen Augenbraue und dem Hauch eines Lächelns begleitet; ihr schottischer Akzent rollte wie ein ferner Trommelwirbel in ihrer Stimme. „Seines Mutes wegen, und wegen der Treue seiner Freunde... und deinetwegen ebenfalls. Und das weißt du verdammt gut, mein lieber Severus.“

Er bekam beinahe nicht mit, dass Fionnula wieder sprach.

„Abgesehen von der Gefahr muss ich auch die finanzielle Situation bedenken,“ fuhr sie gnadenlos fort. „Nach Ihrer eigenen Aussage werden Sie monatelang nicht mehr hier arbeiten können... wenn überhaupt.“ Sie warf einen Blick voller Abneigung auf die schlaffen Finger von Rutas rechter Hand. „Ich brauche jemanden, der verlässlich hier ist, um die Rosenzucht zu übernehmen... jemand, der nicht jedes Mal verschwindet, wenn der Mond voll ist. Und selbst wenn Sie in nächster Zukunft arbeiten könnten – denken Sie wirklich, die Leute wären immer noch bereit, etwas von Ihnen zu kaufen?“

Er spürte, wie Ruta neben ihm zusammen fuhr, aber sie hielt ihre Stimme noch immer vollkommen unter Kontrolle.

„Sie würden es nicht wissen, es sei denn Sie entscheiden sich, es Ihnen zu erzählen... und selbst wenn, warum sollte jemand zögern, meine Arbeit zu anzuerkennen?“ fragte sie. „Meine Fähigkeiten haben sich nicht geändert, selbst wenn mein Körper es tut. Ich bin, was ich immer schon war.“

„Ich sage es ungern, aber da liegen Sie falsch,“ sagte Fionnula, und er konnte einen Hauch von kaltem Mitleid in ihrer Stimme hören. „In dem Moment, als Sie dieser Bestie in den Weg geraten sind, haben Sie jede Chance verloren... äh... normal zu bleiben.“ Seeker konnte Rutas Gesichtsausdruck nicht sehen, aber die ältere Frau wohl, und jetzt wurde ihr Tonfall gleichzeitig verlegen und wütend. „Sehen Sie mich nicht so an, Mädel – es ist nicht meine Schuld, dass Werwölfe alles besudeln, was sie berühren!“

„Meine Schuld ist es auch nicht.“ Rutas Stimme war beinahe unhörbar.

„Ich habe nicht gesagt, dass es Ihre Schuld ist!“ konterte Fionnula abwehrend; sie hörte sich schrill und verärgert an. „Aber mit den Konsequenzen werden Sie klarkommen müssen, meine Liebe, wie unangenehm sie auch sein mögen, und ich glaube, wir sollten dieses Gespräch jetzt beenden. Wir drehen uns im Kreis.“

Sie zögerte und beäugte ihre frühere Angestellte mit berechnendem Blick.

„Wie auch immer, Sie haben während der letzten acht Jahre eine ausgez... eine durchaus angemessene Arbeit geleistet. Und wenn Sie mir versprechen, keinen Ärger zu machen, dann wäre ich bereit, Ihnen drei... nun ja, zwei Monatsgehälter als Abfindung zuzubilligen, Ihrer... äh... schwierigen Situation wegen.“

„Wie überaus großzügig.“ Rutas Stimme war ein verblüffend nahes Echo seiner eigenen, sarkastischen Gedanken, und aus irgend einem Grund durchschnitt diese Erkenntnis seine schützenden Barrikaden wie ein Schwert. „Ich glaube, ich sollte jetzt besser gehen.“

„Viel Glück, Ruta.“ Fionnula wandte sich ab und fing an, mit einer Pflanzschaufel, einem Blumenkasten und einem Dutzend Setzlingen herum zu hantieren. „Ich habe Veronica gestern gebeten, Ihre persönlichen Habseligkeiten zusammen zu packen; sie sind in der Holzkiste im Rosenhaus. Wenn Sie sie nicht mitnehmen können, dann sorgen Sie dafür, dass jemand sie bis zum nächsten Wochenende abholt. Sie müssen mich entschuldigen; ich habe jetzt ziemlich viel zu tun.“

„Natürlich haben Sie das. Leben Sie wohl, Fionnula.“ Ruta wirbelte herum und hastete unter dem Torbogen hindurch in das nächste Gewächshaus. Aber anstatt ihren Weg in den Verkaufsraum fortzusetzen, ging sie zu einer schmalen Glastür hinüber, die er zuvor nicht bemerkt hatte.

Sie führte in einen kleinen, sonnigen Raum, die Hälfte davon voll von zahllosen Rosen, die andere Hälfte schwer von ihrem berauschenden, würzigen Duft. Ruta steuerte geradewegs auf einen großen Tisch mit Phiolen, Flaschen, Messbechern und Destillierkolben zu; Seeker verspürte einen plötzlichen Stich schierer Sehnsucht nach der vertrauten Ausrüstung, die er in einem anderen Leben zurückgelassen hatte, und nach der Erfüllung, die sie versprach. Aber dies hier war nicht seine verlorene Zuflucht.

Er hielt sich im Hintergrund und beobachtete, wie sie still mit den Fingern über Glas, Ton und Holz strich; nach einer Weile zog sie einen kleinen Schlüssel aus der Tasche ihres burgunderroten Gewandes. Sie öffnete eine Schublade vorn am Tisch, zog ein kleines Buch heraus und ließ es in die Tasche gleiten. Dann wandte sie sich ab, und ihr Blick wanderte die langen Reihen von Setzlingen entlang, an der Vielfalt von Rosenstöcken in jeder vorstellbaren Farbe und in allen Stadien von der Knospe zu voller Blütenpracht. Er sah, wie sie die Augen schloss und tief einatmete. Dann schüttelte sie ihre Erstarrung ab, ließ den Schlüssel auf den Tisch fallen und ging aus dem stillen, duftenden Raum hinaus; sie ließ die Tür weit offen stehen.

Sie hatten den Eingang der Gärtnerei fast erreicht, als die jüngere Miss Flannagan hinter ihnen her rannte. Er duckte sich rasch hinter einen riesigen Blumenbottich und sah zu, wie sie zögernd die Hand ausstreckte und Ruta am Arm berührte.

„Kommst... kommst du bald wieder? Was hat Mama gesagt?“

„Wir haben beschlossen, dass es für deine Mutter wahrscheinlich besser ist, nach einer Nachfolgerin für das Rosenhaus zu suchen,“ erwiderte Ruta. „Sie... wir denken nicht, dass ich in nächster Zeit zurückkommen kann.“

„Aber - “

„Sie hat Recht,“ sagte Ruta sanft. „Und nach unserem Gespräch denke ich sowieso nicht mehr, dass das eine gute Idee wäre.“

Oh.“ Die junge Frau starrte auf ihre Hände hinunter und biss sich auf die Lippen. „Es... es tut mir Leid.“

„Mir auch.“ Ruta beugte sich vor und küsste sie auf die Wange. „Aber das bedeutet nicht, dass wir uns aus den Augen verlieren müssen, oder? Du weißt, wo ich wohne, und du bist mir immer willkommen, Veronica.“

„Es tut mir so Leid.“ wiederholte Veronica, den Blick noch immer gesenkt.

Ruta wandte sich ab und ging durch die breite Glastür hinaus, an den Asternbeeten vorbei und auf die Straße. Sie gönnte dem Ort, wo sie in den letzten acht Jahren ihren Lebensunterhalt verdient hatte, keinen Blick mehr, sondern drehte ihm mit entschiedener Endgültigkeit den Rücken zu. Seeker fragte sich, ob sie nun wohl zum Haus der Potters zurückkehren würde, um dort ihre Wunden zu lecken, aber zu seiner Überraschung nahm sie den Weg, der an grauen Häusern und herbstlichen Gärten aus Berwick hinaus und in Richtung St. Mary Green führte.

Er musste schnell gehen, um mit ihr Schritt zu halten – was sich als mühseliger herausstellte, als er gedacht hatte, der unzureichenden Länge des Tarnumhanges wegen – und sehr bald hatten sie die kleine Stadt und die letzten Gebäude hinter sich gelassen und wanderten zu einer Abbiegung, wo auf einem altmodischen Straßenschild Smithybrow Lane zu lesen stand. Sie wandte sich nach rechts, wo ein Wäldchen aus Eichen und Buchen ein tanzendes Muster aus Grün und Gold auf den Asphalt zeichnete. Die Sonne segelte jetzt hoch an einem klaren, blauen Himmel, und die gekräuselten Wellen eines großen Teiches glitzerten hell hinter den Baumkronen zur Linken, während Ruta vorüber ging; sie lief jetzt sehr schnell. Sie hatten das offene Land erreicht, wo die Straße nach St. Mary Green schmale Eisenbahngleise überquerte und ein paar Bauernhöfe passierte, bevor sie wieder im Schatten des nächsten Wäldchens verschwand.

Sie befanden sich dicht hinter dem Bahnübergang, als der hohe, klare Ton einer Pfeife sie beide dazu brachte, sich umzudrehen. Seeker sah eine erstaunlich kleine Lokomotive, die sich von Berwick her näherte; sie zog eine weiße Dampfwolke und ein halbes Dutzend ebenso kleiner Eisenbahnwagen hinter sich her. Der gesamte Zug war in fröhlichen Farben gestrichen, in Rot, Blau und Grün, und Seeker konnte hinter dem Glas der Fenster ein paar Gesichter ausmachen... offenbar Muggel, die einen kleinen Freizeitausflug genossen.

Ruta folgte dem Zug mit den Augen, bis die Gleise sich leicht nach links wandten und alles, was sie noch sehen konnten, die weiße Fahne aus Dampf war, die wie Nebel über die üppigen Wiesen dahin trieb. Sie wandte sich ab und ging weiter, viel langsamer diesmal; sie erreichte den Wald, aber nach ein paar Dutzend Schritten blieb sie auf einmal stehen. Er ließ sich zurückfallen und beobachtete sie. Sie atmete mühsam, ballte die unverletzte Hand zur Faust und öffnete sie wieder. Urplötzlich verließ sie die Straße und steuerte auf eine dicke, uralte Buche zu. Sie legte die Handfläche gegen den Stamm und ihr Kopf sank nach vorne, bis ihre Stirn die glatte, graue Rinde berührte. Ihre Schultern bebten, und mit einem Stich des Unbehagens begriff er, dass sie weinte.

Sein erster und heftigster Impuls war, sich auf der Stelle aus der Situation zurückzuziehen. Für ihn waren Tränen immer eine peinliche, elende und geradezu kränkende Angelegenheit gewesen, und ein Schüler von Slytherin, der Trost brauchte, hätte es vermutlich vorgezogen, einen schändlichen Tod zu sterben, ehe er sich ausgerechnet bei ihm auf die Suche nach irgend einem Seelenbalsam machte.

Aber bevor er sich einem seiner ältesten Instinkte beugen konnte, sah er die Szene in der Gärtnerei wieder vor seinem inneren Auge, deutlich und scharf wie eine magische Photographie. Dieses kleine, bösartige Weibsstück, das Ruta ihre Furcht und ihre Vorurteile wie einen Schild entgegen hielt... das sich weigerte, anzuerkennen, dass sie Freundschaft nötig hatte, Hilfe oder doch wenigstens unerschrockene Unterstützung. Und Ruta, die ihre Würde bis weit über den Punkt hinaus bewahrte, an dem er selbst seinen Zauberstab gezückt haben würde, um Fionnula die gründliche Bestrafung zuteil werden zu lassen, die sie verdient hatte. Mit ehrlicher Verblüffung entdeckte er, wie ungeheuer aufgebracht er um Rutas willen war.

Genug von diesem lächerlichen Versteckspiel. Sie hatte Besseres verdient... sie alle beide.

Er ließ den Tarnumhang von seinen Schultern gleiten und dehnte dankbar den Rücken.

„Ich bewundere Ihre Selbstbeherrschung,“ sagte er ruhig. „Wenn ich Sie wäre, dann hätte Mrs. Flannagan jetzt Karnickelohren, peinlich übergroße Nagezähne und einen unstillbaren Appetit auf ihre kostspieligsten Pflanzen.“

Ruta fuhr herum. Sie war kalkweiß, ihre Wangen feucht, und ihre Augen flammten vor Schreck und Zorn.

„Um Himmels Willen – Stephen! Was tun Sie denn hier?“

Sie rieb sich das Gesicht mit dem Ärmel, und er sah, dass ihre Finger heftig zitterten. Er langte in seine Manteltasche und hielt ihr wortlos ein Taschentuch hin. Sie nahm es und putzte sich ohne viel Federlesens die Nase, dann starrte sie ihn über den weißen Stoff hinweg an. Sie bemerkte den Tarnumhang, den er über dem Arm trug, und erbleichte noch mehr.

„Wie lange...“ Sie räusperte sich. „Wie lange haben Sie mich schon... verfolgt?“

„Verfolgung würde ich das nicht nennen,“ entgegnete er. „Ich kam zu den Potters hinüber, um meine Hilfe anzubieten, und sie sagten mir, Sie wären fort gegangen, um sich mit Ihrer Arbeitgeberin zu treffen. Ich muss zugeben, dass ich den Verdacht hatte, dass Sie – bei Ihrer unglückseligen Wahrheitsliebe - nichts Geringeres tun würden, als Mrs. Flannagan die ganze Geschichte zu offenbaren und sich dann demütig ihrer Gnade auszuliefern.“

Sie starrte ihn an und presste das feuchte Taschentuch in ihrer Faust zusammen.

„Ich – nein. Natürlich nicht. Ich bin kein völliger Idiot.“ Sie schnaubte. „Alles, was ich getan habe, war ihr zu sagen, dass ich in nächster Zukunft nicht arbeiten könnte. Und die ganze Zeit starrte sie auf meinen Arm und fing an, mich nach diesem geheimnisvollen Wolf auszufragen, der in St. Mary Green erschossen wurde. Ginny hatte ihr nur etwas von einem schweren Unfall erzählt, aber sie bekam heraus, dass ich nach St. Mungo gebracht worden war. Ihre Tochter Veronica ist ziemlich in den jungen Heiler verliebt – Tiberius Tondrake – und sie gehen jetzt schon seit Monaten miteinander aus. Vielleicht ist ihm versehentlich etwas herausgerutscht; der Rest war leicht, nehme ich an.“

Stephen Seeker hob eine Augenbraue.

„Sie hätten sich für sie irgendeine Geschichte ausdenken können.“

„Oh, aber sicher.“ Ihr Ton war bitter. „Und sie hätte es mir vielleicht sogar abgekauft – bis zum nächsten Vollmond.“ Sie biss sich auf die Lippen und verschränkte die Arme in einer unbewussten Geste der Abwehr. „Und ich ziehe die Wahrheit vor. ich glaube wirklich nicht, dass es eine gute Idee wäre, jemanden dauerhaft hinters Licht zu führen – Fionnula eingeschlossen.“

Er studierte ihr ausdrucksloses Gesicht.

„Erzählen Sie mir etwas,“ sagte er. „Als Sie 1974 nach Hogwarts kamen, wussten Sie da bereits, dass Ihr Cousin ein Werwolf war?“

Ruta betrachtete ihn leicht überrascht.

„Ja, natürlich. Als er die Grundschule verließ, war er schon seit drei Jahren ein Werwolf, und er hatte entsetzliche Angst, dass man ihn nicht akzeptieren würde. Es war eine ungeheure Erleichterung für ihn, dass er tatsächlich seinen Brief bekam. Als ich nach Hogwarts kam, da hatte er schon Freunde gefunden... sie waren die Einzigen außer mir und seinen Eltern, die es wussten.“

Seeker beschloss weise, jeden Kommentar über Remus’ Freunde für sich zu behalten, aber ein kurzes Aufblitzen in ihren Augen sagte ihm, dass sie sich seiner Rücksichtnahme wohl bewusst war.

„Was bedeutet, dass Sie die Einzige außer den... hmmm... legendären Rumtreibern waren, die sein Geheimnis hätten offenbaren können,“ sagte er. „Aber Sie haben es nie getan... nicht einmal Ihren engsten Freunden.“

„Weil ich keine engsten Freunde hatte,“ konterte sie. „Es gab ein paar Mädchen, mit denen ich ziemlich gut zurecht kam, und die übliche Handvoll Klassenkameraden, die ich aus der Ferne bewunderte... aber niemanden, dem ich das hätte erzählen mögen.“

Sie brach ab, den Blick abwesend, als wäre sie in alten Erinnerungen versunken.

„Außerdem... Remus bat mich, einen gewissen Abstand zu halten, um seiner Sicherheit willen... und meiner eigenen. Wie redeten kaum miteinander, abgesehen von ein paar Familientreffen Zuhause, in den Oster- und Weihnachtsferien.“

Er sah das geisterhafte Lächeln, das um ihre Lippen spielte.

„Sie müssen wissen, ich war eine bemerkenswert farblose Schülerin, die ständig in einer Ecke des Gemeinschaftsraumes von Ravenclaw herum saß, die Nase in einem Buch. Niemand dachte, dass ich etwas über so ein saftiges Geheimnis wissen könnte, deshalb fragte auch niemand.“ Ihre Augen trafen sich. „Nicht einmal Sie. Und sie müssen mit aller Macht nach einer Waffe gesucht haben, gegen James Potter und seine... Bande.“

„Falls Sie sich auf den unglückseligen Versuch in meinem sechsten Jahr beziehen, unter der Peitschenden Weide herauszufinden, wo Ihr Cousin steckte...“ sagte er steif; unwillkürlich bildeten seine Lippen eine dünne Linie.

„Wozu ich eine ziemlich eindeutige Meinung habe,“ entgegnete sie prompt. „Aber ich bezweifle, dass Sie die hören wollen.“

„Ganz im Gegenteil,“ bemerkte Seeker kühl, während er das blasse Gesicht neben sich betrachtete. „Ich kann es kaum erwarten, zu hören, wie Sie über die Sache denken.“

„Das ist doch wohl offensichtlich, oder?“ sagte Ruta brüsk. „Meiner Ansicht nach hat sich Sirius aufgeführt wie ein verantwortungsloser Arsch, und James kam gerade noch rechtzeitig zu Verstand, um die Folgen in Grenzen zu halten. Selbst zwanzig Jahre später noch fühlte Remus sich deswegen schuldig. Als ob er es hätte verhindern können!“ Sie seufzte. „Er fühlte sich wegen so vieler Dinge schuldig... darunter einige, die wirklich nicht sein Fehler waren.“

Seeker betrachtete sie gedankenvoll.

„Sein Geheimnis zu kennen, hätte mich damals vielleicht davon abgehalten, mich in Gefahr zu begeben,“ sagte er langsam. „Aber ich denke noch immer, dass ich mich wahrscheinlich glücklich schätzen kann... anders als Sirius Black und Ihr Cousin bin ich noch am Leben.“

Ruta rieb sich die Stirn.

„Am Ende haben Sie mich nicht gebraucht, um die Wahrheit herauszufinden, nicht wahr?“ Sie lachte auf. „Sie haben mich während Ihrer Schulzeit sowieso nicht bemerkt. Kein Wunder – ich sagte ja schon, ich war ein farbloser Bücherwurm, der sich ständig zwischen den Regalen der Bücherei versteckte.“

„Ich habe auch eine ganze Menge gelesen.“ Seine Lippen kräuselten sich zu einem kleinen Lächeln. „Madam Pince hat mich immer mit einer schwarzen Krähe verglichen.“

„Dann sollte ich vielleicht dankbar sein, dass wir uns dort nicht begegnet sind.“ Sie warf ihm einen ironischen Blick zu, „Sie wissen doch, was Krähen mit Würmern anstellen, oder?“

Sein Gesicht wurde wieder ernst, und für einen kurzen Moment fühlte er sich sehr unbehaglich.

„Ich weiß nicht, was ich getan hätte,“ sagte er. „Ich war so verzweifelt scharf darauf, meinen Wert und meine erstaunlichen Fähigkeiten zu beweisen, egal wem. Sie können sich glücklich schätzen, dass ich diese einzigartige Chance, herauszufinden, was ich wissen wollte, schlicht und einfach... verpasst habe.“

Er räusperte sich, verblüfft über seine eigene Ehrlichkeit.

„Sie sind heute in meiner Gesellschaft definitiv sicherer, als Sie es damals gewesen wären. Und aus welchem Grund auch immer, es ist Ihnen gelungen, sein Geheimnis zu hüten, so wie Sie meines während der letzten paar Wochen gehütet haben. Scheinbar hat selbst Ihre bewunderungswürdige Unverblümtheit ihre Grenzen.“

Ruta warf ihm einen eigenartigen Seitenblick zu. „Sehr wahr... mehr, als Sie vielleicht jemals wissen werden.“

Sie trat auf die Straße zurück, und sie gingen langsam Seite an Seite in Richtung St. Mary Green. Der Wald lichtete sich, und der Weg wurde ein wenig breiter; er war jetzt von niedrigen Bruchsteinmauern gesäumt. Zur Rechten und zur Linken breiteten sich Wiesen und Felder bis zu den Füßen der Hügel aus, die wie die Wogen eines riesigen, versteinerten Ozeans in die Höhe stiegen, die Hänge mit Felsbrocken und Bäumen übersät; sie kamen an ein paar Bauernhöfen und einem weitläufigen Hotelgebäude vorbei, mit einem großen, fast leeren Parkplatz und einem verwaisten Gartencafé.

"Die Sommerferien sind lange vorbei,“ sagte Ruta, „und der Zug, den wir gesehen haben, war halb leer. Er hat mich an Teddy erinnert, wissen Sie... ein Muggel hat eine Buchreihe geschrieben und diesen Zug als Vorbild benutzt, und Teddy ist ebenso mit den Geschichten von Thomas, der kleinen Lokomotive wie auch mit den Märchen von Beedle dem Barden aufgewachsen. Ich habe sie ihm beide vorgelesen, als er noch kleiner war, und der erste Ausflug, den wir je zusammen gemacht haben, fand in diesem Zug statt, von St. Mary Green an die Küste und zurück. Er war begeistert, und wann immer er heutzutage Zeit für sich hat, besucht er die Drehscheibe.“

„Die Drehscheibe?“

„St. Mary Green ist der Endbahnhof,“ erklärte Ruta. „Die Dampflok rollt auf eine Drehscheibe, wird von zwei Männern herumgedreht und fährt dann zurück. Teddy wird es nie müde, sich das anzuschauen.“

Sie verfiel in Schweigen, den Blick unverwandt auf die Straße gerichtet. Nach der Anspannung in ihrem Gesicht zu urteilen, nahmen ihre Gedanken eine unerfreuliche Richtung, aber er beschloss, keine Fragen zu stellen. Es war erstaunlich genug, dass sie seine Gesellschaft ertrug... er selbst an ihrer Stelle hätte sich wie ein verwundetes Tier in seiner Höhle verkrochen und nach jedem geschnappt, der sich zu nahe heranwagte.

Es dauerte fast eine weitere Meile, bis sie endlich wieder sprach.

„Ich werde versuchen müssen, einen anderen Job zu finden.“ Ihre Stimme hatte einen merkwürdig ungläubigen Klang... als würde sie ihre radikal veränderten Lebensumstände aus der Entfernung betrachten und nur unwillig die Notwendigkeit anerkennen, sich damit zu befassen. „Fionnulas Gartenmarkt ist der größte in der Gegend – tatsächlich ist es der einzige im gesamten Eskdale – und die Möglichkeiten hier sind ziemlich begrenzt.“

„Sie könnten an den Ort zurückkehren, wo Sie früher gearbeitet haben,“ merkte er vorsichtig an. „Wo war das – in der Nähe von Dover?“

„Ja,“ erwiderte sie. „Wahrscheinlich habe ich noch Glück, dass die Gesetze gegen die Anstellung von Werwölfen Geschichte sind, aber ich sollte trotzdem besser versuchen, einen toleranten Arbeitgeber zu finden. Und ich bin nicht ganz sicher, dass sie das dort sind.“ Sie seufzte. „Ich könnte genauso gut Nevilles Angebot annehmen und mich um die Stelle als Assistentin des Professors für Kräuterkunde in Hogwarts bewerben. Wenigstens wäre ich nicht der erste Werwolf, der dort unterrichtet.“

„Was würden Sie denn tun, wenn Sie die Wahl hätten?“ fragte er.

Ein weiteres, lastendes Schweigen, dann blickte sie ihn an, ihre graublauen Augen erfüllt von einer plötzlichen, brennenden Verzweiflung. „Aber ich habe ja keine Wahl!“ platzte sie heraus. „Ich kann nicht tun, was ich wirklich tun will; mein Konto bei Gringotts ist nie üppig gewesen, die Rente meines Vaters reicht kaum aus, ihn zu ernähren, und die Aufträge von den Muggeln in St. Mary Green reichen nicht aus, um mich zu ernähren. Selbst mit den zwei Monatsgehältern Abfindung von Fionnula werde ich fortgehen müssen... und alles, was ich wirklich tun möchte, ist, bei Teddy zu bleiben.“

Ein plötzlicher Windstoß verwandelte ihr Haar in eine schimmernde Wolke rings um ihr Gesicht; zum ersten Mal registrierte er, dass sie nicht ihren üblichen, schlichten Zopf trug. Die langen, flatternden Strähnen gaben ihr ein ungewohntes Aussehen, und plötzlich erinnerte er sich daran, wie sie sich dem Werwolf entgegen geworfen hatte, ihre Stimme ein wildes Knurren, die Hände zu Klauen gekrümmt. Sie war willens und bereit gewesen, ihr Leben für den Jungen zu opfern... und die erschütternde Ähnlichkeit mit seinem schlimmsten, persönlichen Kummer überhaupt durchdrang die Mauern, die er so sorgsam aufgerichtet hatte, um seine Seele abzuschirmen. Eine unerwartete Woge ärgerlicher Ungeduld spülte über ihn hinweg.

„Wie alt ist Teddy? Acht?“ Sein Ton war schroffer als beabsichtigt, aber er konnte es nicht ändern. „Geben Sie ihm noch drei Jahre, und er wird seinen Brief aus Hogwarts bekommen. Das wird der Tag sein, wenn er Sie verlässt, um nur noch in den Ferien zurückzukehren, und diese einfache Tatsache wird Sie der letzten Entschuldigung berauben, Ihre Talente zwischen Rosensträuchern, Chrysanthemen und Efeu zu begraben. Ich kenne Andromeda Tonks nicht sehr gut, aber ich denke, sie ist vollkommen imstande, allein mit dem Jungen zurecht zu kommen, selbst wenn Ihre Mithilfe in den letzten acht Jahren zweifellos sehr... bequem war.“

Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder; ihre Augen schossen Blitze. Als sie endlich imstande war, zu sprechen, war ihre Stimme fast unhörbar vor Zorn.

„Sie... Sie haben keine Ahnung, wovon Sie reden,“ sagte sie. „Selbst wenn Sie nicht begreifen, was ich für Teddy empfinde, sollten Sie doch genug über die bindende Natur von Versprechen wissen. Sie haben immer weiter über Lilys Jungen gewacht, nicht wahr – obwohl Sie ständig sahen, wie James’ Gesicht sich in seinem widerspiegelte.“

Sie brach ab, die Stimme ein ersticktes Schluchzen in der Kehle.

„Es tut mir wirklich Leid, Stephen. Ich hätte das nicht sagen sollen, aber bitte – ich kann nicht von Teddy fortgehen, ich kann ihn nicht im Stich lassen. Ich habe schon seinen Vater verraten, und ich werde den gleichen Fehler nicht noch einmal machen.“

Er starrte sie an, als hätte er sie noch nie zuvor gesehen... ihr Gesicht glühte vor Zorn und leidenschaftlicher Wildheit. Dahin war die Ruta, die er während der letzten Wochen kennen gelernt hatte, spurlos verschwunden die gelassene, humorvolle Frau, die sich geduldig ihren Weg durch seine Verteidigung gebahnt und ihn Dinge über Freundschaft und Vertrauen gelehrt hatte, die er sich während eines mühseligen, tristen Lebens in Finsternis und Geheimhaltung nie hätte träumen lassen. Dies hier war eine vollkommen andere Person, und mit plötzlicher, kalter Klarheit begriff er.

„Remus Lupin ist immer mehr für Sie gewesen als nur ein wertgeschätzter Cousin.“ Es war eine Feststellung, keine Frage. „Sie haben ihn geliebt.“

Ruta warf ihm einen harten Blick zu und hob das Kinn... aber es war nicht mehr als ein letztes Rückzugsgefecht, und sie wussten es beide. Ihre Schultern sanken nach unten; sie ging zu der Bruchsteinmauer hinüber und lehnte sich dagegen, den Kopf gesenkt.

„Natürlich habe ich das,“ erwiderte sie endlich, die Stimme leise und brüchig. „Ich liebte ihn immer schon, seit ich ein kleines Mädchen war. Er war der Held meiner Kindheit, und ich hatte nie Augen für jemand anderen... wenn Greyback ihn nicht für seine persönliche Rache an meinem Onkel missbraucht hätte, dann wären die Dinge vielleicht anders gelaufen. Aber es macht keinen Sinn, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Nachdem Remus angegriffen und infiziert worden war, änderte sich alles... das musste es einfach. Wir wuchsen auf und unsere Freundschaft hielt, aber er weigerte sich standhaft, zu sehen, dass sich meine Gefühle für ihn langsam in etwas viel Ernsteres und Erwachseneres verwandelten. Alles, was er bemerkte, war die ungeschickte, anhängliche kleine Cousine, aber ich fing an, ihn als den Mann zu betrachten, mit dem ich mein Leben verbringen wollte.“

Sie blickte Stephen an, die Augen dunkel und gehetzt.

„Ich habe es nie jemandem gesagt, ich wollte es nie. Und es jetzt ausgerechnet Ihnen zu erzählen...“

Warum sprach sie dann überhaupt? Es war kein Wunder, wenn ihre Widerstandskraft fadenscheinig wurde, nach all dem, was geschehen war. Seine Vermutungen über ihre Vergangenheit mochten sie durchbrochen haben. Aber wieso machte es einen Unterschied für sie, dass er es war, mit dem sie darüber redete?

„Ich kann Ihnen versichern, dass ich nie die Absicht hatte, Ihre tiefsten Geheimnisse herauszufinden... obwohl ich zugeben muss, dass ich neugierig war,“ sagte er langsam. „Ich würde es nur zu gut verstehen, wenn Sie sich entschließen würden, diese schwierige Unterhaltung hier und jetzt zu beenden.“

„Danke,“ antwortete Ruta ernst. „Aber in gewisser Weise habe ich das Gefühl, dass ich Ihnen wenigstens ein Stück der Wahrheit schulde... um unserer Freundschaft willen.“ Ihre Lippen zuckten. „Das heißt, falls Sie mir zustimmen, dass es tatsächlich Freundschaft ist.“

Seeker zögerte, dann machte er eine kleine, feierliche Verbeugung. „In diesem Fall... erzählen Sie mir soviel darüber, wie Sie es für richtig halten.“

Ruta stieß sich von der Mauer ab, und wieder gingen sie Seite an Seite.

„In den Jahren, nachdem Greyback ihn angegriffen hatte, traf ich Remus nur ein paar Mal, aber wenigstens regelmäßig,“ fuhr sie fort. „Dank Dumbledores Großzügigkeit wurde ihm gestattet, nach Hogwarts zu gehen, und zwei Jahre später folgte ich ihm. Wie ich Ihnen schon gesagt habe, unser Kontakt beschränkte sich strikt auf Anlässe außerhalb der Schule, und auch, wenn ich meine Kindheit langsam hinter mir ließ und anfing, mich in ihn zu verlieben, gab es kein Anzeichen dafür, dass er meine Gefühle vielleicht erwidern könnte. Es war mir egal... ich dachte, die Zeit würde für mich arbeiten. Der Tag würde ganz sicher kommen, an dem ihm die Augen geöffnet wurden und er endlich die Frau bemerken würde, zu der ich mich entwickelt hatte, und wir würden glücklich miteinander leben, bis ans Ende unserer Tage.“ Sie erhaschte einen Blick auf sein undurchdringliches Gesicht, und einmal mehr zuckten ihre Lippen. „Versuchen Sie, mich zu ertragen... ich war fürchterlich jung und dumm.“

Er machte ein unverbindliches Geräusch.

„Und ich fürchte, dass ich mit den Jahren nicht gerade klüger wurde.“ Sie gluckste voller Selbstverachtung in sich hinein. „Wir waren Cousins, so gute Freunde... Ich war sicher, dass ich wusste, was er dachte, und es gab Zeiten, da konnte ich seine Sätze schon fast zu Ende sprechen, bevor er es tat... Ich dachte wirklich, wir wären füreinander bestimmt. Aber dann wurde mir langsam klar, dass der Fluch, der auf ihm lag, zwischen uns stand wie eine Mauer, und die verstellte ihm den Blick, auf mich und auf sich selbst. Er war vollständig davon überzeugt, dass eine Heirat oder auch nur die Suche nach einer Geliebten für ihn absolut keine Option darstellte... und was immer ich auch fühlte, was immer ich ihm auch zu verstehen geben wollte, meine Hoffnungen zerschellten ständig an seiner steinernen Entschlossenheit, die Welt vor der Gefahr in seinem Blut zu bewahren.“

Sie seufzte und fuhr sich mit den Fingern ihrer heilen Hand durch das lange, zerzauste Haar.

„Und doch... obwohl er sich selbst nicht gestattete, zu lieben, hungerte er doch nach Freundschaft. Merlin, wie sehr er danach hungerte! Das dürfte einer der Hauptgründe dafür gewesen sein, warum er seine Pflichten als Vertrauensschüler nicht ernst genug nahm, jedenfalls, so lange es sich um die Rumtreiber handelte.“

Ihre Augen begegneten sich.

„Er wusste, er hätte sie daran hindern müssen, Sie zu drangsalieren,“ sagte sie; ihre Stimme war sanft. „Wenn es irgend etwas gab, weswegen er sich ehrlich geschämt hat, dann war es seine ständige Unfähigkeit, das zu unterbinden.“

Seeker schüttelte den Kopf.

„Ich weiß Ihren Versuch, Balsam auf eine meiner alten Wunden zu streichen, wahrlich zu schätzen, aber wir reden hier nicht über meine lang zurückliegenden Tragödien. Ich würde immer noch gern wissen, wie Sie zu der ausgefallenen Vorstellung kommen, Sie hätten Ihren Cousin verraten.“

„Das ist ziemlich einfach,“ gab sie zurück. „Ich muss Ihnen wohl nichts über die schrecklichen Jahre erzählen, als der Dunkle Lord sich zum ersten Mal erhob... und über die Konsequenzen dieser ominösen Prophezeiung?“

„Nein,“ gab er grimmig zurück. „Nein, das müssen Sie nicht.“

„Als James und Lily sich verstecken mussten, war Remus niedergeschmettert. Er vermisste sie so sehr, und das nicht nur, weil James immer dafür gesorgt hatte, dass er genügend Geld für Essen und etwas zum Anziehen hatte. Er war nie wirklich glücklich damit gewesen, Almosen zu akzeptieren, nur, dass James und Sirius – und Peter auch – immer sagten, dass es keine Almosen wären, sondern Freundschaft. Aber es war nicht möglich, zu ihnen zu gehen und mit ihnen zu reden, er konnte nicht sehen, wie es Harry ging, und so schwankte er ständig zwischen Hoffnung und Furcht. Und ich war diejenige, an die er sich mit seinen Befürchtungen wandte – während ich immer noch ängstlich darauf wartete, dass er über die Spielgefährtin seiner Kindheit hinaus blickte, das anhängliche, kleine Mädchen. Und dann brach diese Oktobernacht 1981 über uns herein. Ein paar Stunden nach Lilys’ und James’ Tod stand er auf meiner Türschwelle.“

Er sah sie an, aber sie wandte das Gesicht ab.

„Er war völlig außer sich.“ Ihre Stimme klang leise und angespannt. „Er war kaum imstande, deutlich zu sprechen, aber endlich kam er stammelnd damit heraus, was in dieser Nacht geschehen war. Ich... ich wusste nicht, was ich tun sollte, ich hatte ihn noch nie so erlebt. Ich weinte mit ihm, und ich hielt ihn in den Armen, und ich hörte ihm zu, während er sich hilflos und wütend selbst anklagte, unvorsichtig gewesen zu sein, sie nicht anständig beschützt zu haben, nicht rechtzeitig begriffen zu haben, dass Sirius ein schmutziger Verräter war, ein Mörder... Er hatte all seine Freunde auf einen Schlag verloren, und in diesem Moment kümmerte es ihn nicht im Mindesten, dass Voldemort offenbar vernichtet worden war, während er den Versuch machte, Lilys Kind umzubringen. Ich gab ihm Wein und hoffte, dass der Alkohol diese unerträgliche Flut aus Selbsthass und nackter Verzweiflung endlich eindämmen würde.“

Wieder verfiel sie in Schweigen, und er wartete geduldig. Endlich fuhr sie fort.

„Der Alkohol beruhigte ihn, wenigstens ein bisschen. Wie waren beide vollkommen erschüttert, aber während die Nacht voran schritt, wurde mir plötzlich klar, dass die ganze, tragische Situation für mich so etwas war wie ein... Geschenk.“

„Ein Geschenk?“

Ihre Lippen formten ein verzerrtes Lächeln. „Ja... es war das erste Mal seit Jahren, dass ich die Chance hatte, mit ihm allein zu sein, und obwohl ich den selben Schmerz verspürte wie er, konnte ich gleichzeitig mein Glück kaum fassen. Remus war verrückt vor Trauer: er war bis auf die Knochen erschöpft, unglaublich verwundbar – und er wurde immer betrunkener. Deshalb nahm ich meinen ganzen Mut zusammen, schlug alle Vernunft in den Wind und beschloss, die Gelegenheit zu nutzen, die mir so unerwartet in den Schoß fiel.“

„Und Sie taten was?“

„Das ist doch ganz offensichtlich.“ Sie starrte ihn an, die Augen voller Selbstverachtung und finsterer Ironie. „ich habe ihn in mein Bett gelockt. Ich habe mir eine Nacht mit ihm gestohlen und ganz ehrlich geglaubt, dass dies der Anfang eines neuen Lebens wäre.“

„Was lächerlich romantisch und vollkommen fehlgeleitet war, wie ich annehme.“

„Absolut,“ erwiderte sie. „Ich wünschte, ich hätte danach endlich Vernunft angenommen... obwohl der nächste Morgen wahrlich ernüchternd genug ausfiel. Er erwachte mit einem gewaltigen Kater, völlig entsetzt, als er begriff, was geschehen war. Er bat mich um Entschuldigung; er hatte genügend billigen Bordeaux getrunken, um sich nicht mehr deutlich daran erinnern zu können, wer den ersten Schritt gemacht hatte. Es gab kein romantisches Frühstück von frisch vereinten Liebenden, keine Schwüre unendlicher Treue. Stattdessen fand ich mich allein zwischen zerknitterten Bettlaken wieder, wie ich den Mantel anstarrte, den er in seiner Hast zurückgelassen hatte.“

Er schnaubte verächtlich.

„Und das ist der Grund, wieso Sie glaubten, Sie hätten ihn verraten?“ fragte er ungläubig. „Eine unbedachte Balgerei zwischen den Laken als überspannter Kindskopf hat Ihnen ausgereicht, sich in St. Mary Green zu vergraben und jegliche strahlende Möglichkeit zu opfern, die Sie gehabt haben mögen – für Remus’ Kind?“

„Nein.“ Ruta ballte die Faust. „Das ist noch nicht das Ende der Geschichte... ich lernte meine Lektion nicht. Ich weigerte mich, zu erkennen, dass die ganze Sache ein trauriger Fehlschlag gewesen war, geboren aus zu lang unterdrücktem Verlangen und zuviel Wein. Meine Mutter war kurz zuvor gestorben, und der Tod von Lily und James – und so vielen anderen, die ich kannte – trug nur noch zu dem Gefühl bei, dass ich den Boden unter den Füßen verloren hatte. Ich klammerte mich an die Vorstellung, dass Remus mein Rettungsanker sein würde... und ich der seine. Ich war so... besessen von einer wahren Liebe, von der ich jahrelang geträumt hatte, dass ich fieberhaft darum betete, das Schicksal möge die Waagschale zu meinen Gunsten kippen... ich hoffte krampfhaft darauf, dass ich schwanger sein könnte.“

Sie lachte, kurz und scharf.

„Als mir klar wurde, dass ich es nicht war, stellte ich fest, dass ich es nicht fertig brachte, das miserable Scheitern meines armseligen Plans zu ertragen. Ich schickte Remus eine Eule und teilte ihm mit, dass ich sein Kind erwartete.“

Er starrte sie an.

„Sie teilten... meine Güte. Was dachten Sie, das Sie mit einer solch idiotischen Betrügerei gewinnen könnten?“

„Sein Herz.“ Ihre Stimme klang dünn und klar. „Glauben Sie’s oder nicht, ich dachte tatsächlich, ich könnte ihn an mich binden. Ich wusste, er war ein freundlicher, verantwortungsbewusster Mann, und dass er sich ehrlich um mich sorgte. Ich wusste, er würde mich eher heiraten, als mich mit einem Kind sitzen zu lassen. Ich dachte... um Himmels Willen, ich war wahnsinnig!“ Sie schluckte mühsam. „Ich weiß, das ist keine Entschuldigung für das, was ich tat.“

„Wie überaus wahr. Wie weit haben Sie diese Mitleid erregende Scharade getrieben?“

„Ich kam endlich wieder zu Verstand und stoppte die ganze Sache, bevor sie ganz und gar außer Kontrolle geraten und irgendein Familienmitglied etwas über das ,glückliche Geheimnis’ herausfinden konnte. Aber nachdem... nachdem ich ihn wochenlang hintergangen hatte, war ich immer noch zu feige, ihm die ganze Tiefe meines Verrats klar zu machen. Statt endlich ehrlich zu sein, saugte ich mir die Geschichte einer Fehlgeburt aus den Fingern. Ich führte ein Drama auf, in dem es um ein nobles Opfer und um Selbstaufgabe ging und sagte ihm, er sei nun frei von aller Verantwortung... Sie haben völlig recht, es war bemitleidenswert.“

Ruta schloss die Augen, ihr Gesicht eine bittere Maske der Trauer.

„Ich war eine solch selbstsüchtige, kleine Närrin! Anstatt ihn ernsthaft frei zu geben, bürdete ich ihm eine Schuld auf, die er nie auf seinen Schultern hätte tragen dürfen. Und ich zerstörte, was wir hatten, indem ich eine seltene, kostbare Freundschaft für die Illusion einer Liebe opferte, die es nie hätte geben sollen.“

Er wahrte sein Schweigen; seine Gedanken folgten der Spur dieser ganz und gar elenden, lächerlichen Geschichte, zurück zu einem gedankenlosen, verzweifelten Mädchen von Zwanzig, die versuchte, ihren Lebenstraum gegen alle Widerstände zu erzwingen. Damals hatte er sie noch nicht gekannt, aber er erinnerte sich nur zu deutlich daran, was er getan hatte, während sie sich und ihren Cousin in ihrer lang unterdrückten Liebe und ihren Hoffnungen verstrickte, blind und taub gegen jedes bessere Wissen. Nun, dies hier war wenigstens etwas, das er eindeutig allzu gut verstand... den wilden Selbsthass, die schmerzhafte Selbstverachtung, die niederschmetternde Erkenntnis, dass man manche Dinge nie wieder gut machen konnte.

Für eine flüchtige Sekunde erwischte er sich dabei, wie er auf den Mann zurückblickte, der er einst gewesen war... der Mann, der ihr niemals zugehört haben würde, der Mann, der sich nie gestattet haben würde, zu fühlen oder sich ehrlich zu sorgen, abgesehen von jener verborgenen Besessenheit tief in seinem ummauerten Herzen, diesem einen, hauchzarten Faden der Hingabe, der ihn davor bewahrt hatte, ganz zu Stein zu werden.

„Haben Sie ihm jemals die Wahrheit gesagt?“

„Ja,“ sagte sie. „Ja, das habe ich... aber ich habe Jahre gebraucht, um den Mut dazu aufzubringen.“ Sie gab einen schaudernden Seufzer von sich. „Viel zu spät, natürlich.“

Seeker schüttelte langsam den Kopf.

„Vielleicht spät, Ruta – aber nicht zu spät.“ Die Sanftheit seiner eigenen Stimme erstaunte ihn. „Als Sie sich entschlossen haben, reinen Tisch zu machen, da war er noch da, um Ihnen zuzuhören. Nicht alle reuigen Übeltäter haben so viel Glück.“

Sie antwortete nicht, und zum ersten Mal stellte er fest, dass sie sehr bleich war und ganz leicht auf Beinen schwankte, die immer unsicherer wurden.

„Sie hatten genügend Bewegung und frische Luft für einen Tag,“ erklärte er mit Festigkeit. „und genügend Drama obendrein. Ich würde Ihnen nicht empfehlen, auch nur noch eine weitere Meile zu laufen. Darf ich davon ausgehen, dass Sie Ihren Zauberstabarm noch nicht wieder vollständig benutzen können?“

Ruta nickte wortlos. Sie war tatsächlich am Ende ihrer Kraft.

Ohne weitere Vorrede ließ er seinen Zauberstab aus dem Ärmel gleiten und zog sie an sich; er konnte die Finger ihrer unverletzten Hand spüren, die seine Linke fanden und sich mit zögerndem Griff darum schlossen. Er konzentrierte sich auf den Zauber und malte sich ihr Ziel vor Augen... und plötzlich wurde ihm klar, dass er sie tatsächlich zum allerersten Mal in den Armen hielt. Ihr Haar kitzelte ihn an der Wange, und für einen Sekundenbruchteil vergaß er beinahe den Grund, weshalb sie sich an ihn lehnte. Die Nähe ihres Körpers war ein Angriff auf seine Sinne, gleichzeitig verstörend und erregend. Sie duftet nach Gras und Rosen, dachte er, während er noch immer mit seiner eigenen, überraschenden Reaktion rang. Ihre Augen trafen sich und ihr Blick hielt den seinen fest... und dann riss der Zauber mit unwiderstehlicher Gewalt an ihnen und trug sie beide mit sich davon.


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