Wolfsmond
von Cúthalion


Kapitel Neun
Familienfluch

„Ach du Schande, Harry… bist du sicher?“

Ron Weasleys Stimme war kaum mehr als ein schockiertes Flüstern. Es war der Tag nach Fenrir Greybacks brutalem Angriff, und er, seine Frau und Harry Potter waren in Andromeda Tonks’ stillem Wohnzimmer versammelt. Der späte Vormittag war kalt und grau; er vertrieb die Spätsommerwärme mit dicken Wolken und Regen. Harry sprach, ohne sich umzudrehen.

„Natürlich bin ich sicher. Glaubst du denn, ich würde dieses Gesicht nicht erkennen?“

Hermine Weasley saß in dem Schaukelstuhl dicht am Fenster. Sie trug ihr üppiges, braunes Haar zu einem dicken Zopf geflochten, und ihr klares Gesicht war ein wenig blass. Das plötzliche Ende ihrer Ferien mitten in der Nacht hatte sie sichtlich mitgenommen.

„Harry.“ Ihr Ton war ganz leicht nervös. „Es ist… es ist ja bloß so, dass wir ihn sterben gesehen haben, vor acht Jahren.“

„Ich weiß.“ Harry wandte sich ihr zu; seine grünen Augen hinter der Brille waren gleichzeitig müde und zornig. „Nur, dass er nicht wirklich gestorben ist. So weit habe ich keine Ahnung, wie er Naginis Angriff überlebt hat – ausgerechnet in dem Moment tauchte der Heiler auf, und ich hatte keine Zeit, mehr darüber herauszufinden – aber glaub mir, dieser Mann ist Severus Snape.“

„Aber was um Himmels Willen macht er denn bloß hier?“ platzte Ron heraus; er beugte sich vor, die Fäuste auf die Knie gestützt. „Ich meine, wenn er sich versteckt, dann sollte man doch erwarten, dass er das möglichst weit weg von England tut… und dann hängt er ausgerechnet in diesem Dorf hier herum, kaum drei Meilen weit weg von dort, wo du wohnst?“

„Keine Ahnung… aber ich habe vor, es herauszukriegen, und zwar bald.“ Harrys Ton war grimmig. „Trotzdem… was immer er hier auch tut, er hat Neville und mir geholfen, Fenrir Greyback den Garaus zu machen. Und er ist nicht der Grund, wieso ich nach euch geschickt habe. Wir waren schon in ziemlichen Schwierigkeiten, bevor ich wusste, wer er war.“

„Na, ich weiß nicht.“ Ron gähnte, aber über der langen, sommersprossigen Nase waren seine Augen munter und wachsam. „Ich glaube, einen Werwolf zu haben, der seit acht Jahren tot ist, und der dann von einem Mann umgebracht wird, der genau so lange tot sein sollte, das ist ein ziemlich großes Problem. Gibt aber eine gute Geschichte ab.“

„Bestimmt,“ gab Harry zurück. „Außer dass ich auch da war, zusammen mit Neville, und dass Rita Skeeter jeden Köder schlucken würde und die Angel gleich mit dazu, wenn sie die Chance sieht, noch so einen schmalzigen Artikel über eine Heldentat des ,Jungen Der Lebt’ zu verbrechen.“

Hermine schnaubte. „Sie würde ihren eigenen Zauberstab roh schlucken, wenn sie den Rest dieser Geschichte kennen würde; Severus Snape steht aus seinem Grab auf, um dich vor dem gefährlichsten, lebenden Werwolf zu beschützen, und ihr besiegt die tödliche Gefahr obendrein noch gemeinsam.“ Sie zog ein Gesicht. „Sie würde allerdings vergessen, Neville zu erwähnen.“

Es darf nie einen Artikel geben,“ sagte Harry; er atmete tief ein. „Vergesst, wer genau gestern der Held gewesen ist, vergesst meinetwegen auch Snape – die wichtigste, die allergefährlichste Sache ist die, dass sich Greyback in einen Wolf verwandelt hat, obwohl der Mond nicht voll war.“ Er sah, dass Hermine den Mund öffnete – zweifellos, um zu widersprechen – und hob die Hand. „ Ich weiß, dass das unmöglich ist, aber ich hab’s gesehen. Glaub mir, er war vollständig verwandelt. Ich hatte letzte Nacht ein kurzes Gespräch mit Kingsley Shacklebolt, und zu sagen, dass er von Greybacks unerwarteter Fähigkeit alarmiert war, ist so ziemlich die Untertreibung des Jahres. Heute Morgen – als ihr noch im Fuchsbau wart – hat er mir eine Eule geschickt. Es gab immer schon Gerüchte, dass Greyback nach der Schlacht entkommen war. Ambrose Smithwick vom Werwolf-Fangkommando behauptet, dass die stärkste Spur nach Frankreich und dann nach Österreich führte, aber irgendwo in Wien löste sie sich in Rauch auf, vor sechs Jahren.“

Er fing an, im Zimmer hin und her zu gehen.

„Natürlich waren die meisten Werwölfe, die sich Voldemort angeschlossen hatten, gleich nach seinem Sturz sehr vorsichtig… aber nach einer Weile trieben Hunger oder Gier sie aus ihren Löchern, und das Werwolf-Fangkommando erwischte die meisten von ihnen, tot oder lebendig… aber Greyback konnten sie nicht finden. Als haben sie entschieden, dass er sich wohl irgendwo zum Sterben verkrochen hätte.“

Er stand jetzt am Fenster, den Rücken seinen Freunden zugewandt; er sprach leise.

„Letztes Jahr erhielt Shacklebolt eine Bitte um Amtshilfe vom Ministerium für Magie von Rumänien. Ihr wisst, wie schlimm es dort unter Ceauçescu war – sogar für die Zauberer, aber seit er weg ist, geht es ihnen viel besser, und sie sind sehr zurückhaltend damit, geradeheraus um Unterstützung zu bitten. Sie versuchen es lieber mit einem Projekt von beidseitiger Zusammenarbeit, um freundschaftliche und stabile Beziehungen zu schaffen.“

„Hört, hört!“ bemerkte Ron aus der Tiefe seines bequemen Sessels hervor. Hermine lächelte anerkennend, und Harry lachte plötzlich, in einer Mischung von Überraschung und Ironie.

„Merlin, jetzt klinge ich tatsächlich wie einer von diesen unerträglich bombastischen Typen aus der Abteilung für Internationale Magische Zusammenarbeit!“

Er schüttelte den Kopf.

„Auf alle Fälle… nach vielem Hin und Her kamen sie scheinbar auf Shacklebolt zu und erzählten ihm, dass die Probleme in Transsylvanien immer schlimmer geworden sind. Sie haben in der Gegend immer schon Ärger mit Vampiren und Werwölfen gehabt – obwohl ihr diese albernen, alten Muggelmärchen nicht ernst nehmen solltet, Vlad Tepes hatte nichts damit zu tun. Die Wahrheit war viel gefährlicher. Gerüchte breiteten sich aus über einen Werwolfs-Orden irgendwo in den Bergen… und das Wichtigste daran war, dass die uralten Gesetze scheinbar keine Gültigkeit mehr hatten.“

Ein Werwolf wird sich mit dem vollen Mond verwandeln, und man kann ihn verlässlich mit Silber töten, “ zitierte Hermine leise. Ihr Blick wurde scharf, als das nächste Stückchen des Puzzles mit einem Mal an seinen Platz fiel. „Du glaubst, dass Greyback dort war“, stellte sie fest. „Du glaubst, er hat sich diesem geheimnisvollen Orden angeschlossen.“

Harry nickte. „Kingsley glaubt fest daran, genau wie der Zaubereiminister von Rumänien, Antonin Secerescu. Es ist ihnen noch immer nicht gelungen, herauszufinden, was genau diese Werwölfe gemacht haben, um sich von den Einschränkungen des Fluchs zu befreien, aber was immer es war, sie nutzten ihre neue Macht mit großer Vorsicht; es gab nur eine Handvoll Opfer, und keines von ihnen hat überlebt. Shacklebolt denkt, dass Greyback einige Zeit in Transsylvanien verbracht haben muss, und dass er eine Art persönliche Rache plante. Was auch der Grund war, weshalb er allein nach England zurück kam… hoffentlich jedenfalls. Remus hat mir mal erzählt, dass sein Vater ihn beleidigt hat; es scheint, als hätte sich Greyback sein Opfer sehr sorgfältig ausgesucht, als Bestrafung dafür.“

„Und jetzt, nach ein paar geheimnisvollen Veränderungen, die Greyback in diesem Orden durchgemacht hat…“ Hermine ertastete sich langsam den Weg auf die nächste, beängstigende Schlussfolgerung zu. „Wenn er jetzt jemanden beißen würde, dann könnte sein mögliches Opfer…“ Ihre Augen wurden weit. „… dann könnte ein Opfer möglicherweise auch…“

Plötzlich saß ihr Ehemann sehr aufrecht. „Aber das würde nicht auf Bill zutreffen, oder?“ sagte er, seine Stimme scharf und laut in dem stillen Zimmer. „Greyback war nicht verwandelt, als er ihn verletzt hat, und er war auch noch nicht in Transsylvanien gewesen!“ Harry sah, dass Hermine instinktiv die Hand ausstreckte; ihre Hand schloss sich um Rons Faust, und seine Finger entspannten sich langsam.

„Nicht auf Bill,“ sagte er. „Aber es trifft ganz sicher auf Ruta zu… sie war die letzte Person, die er in seinem Leben gebissen hat. Und wenn es einen Artikel im Tagespropheten geben würde… glaubst du wirklich, die Leute wären vernünftig genug, zu bemerken, dass Greyback seine neue Fähigkeit wahrscheinlich nicht mit jedem einzelnen Werwolf in England gemeinsam hat?“

„Merlins Herz, du hast Recht!“ flüsterte Hermine; sie zitterte von Kopf bis Fuß. „Die würden glauben, dass jeder Werwolf sich verwandeln kann, wann immer er will, um Wunden zu reißen und zu töten, wann immer er Lust darauf hat. Wir hätten die perfekte Hetzjagd. Und all die Änderungen der letzten acht Jahre an diesen gehässigen Sondergesetzen, die Scrimgeour damals durchgedrückt hat, wären völlig nutzlos. Die meisten Vorurteile Werwölfen gegenüber sterben sowieso nicht aus, egal, was wir tun.“

Sie rieb sich die Stirn.

„Wie geheim ist die ganze Sache?“ fragte sie. „Hier in St. Mary Green, meine ich… und in Berwick?“

„Neville hat großartige Arbeit geleistet,“ sagte Harry. „Die Muggel, die den Angriff und den Kampf mit angesehen haben, hatten ein verändertes Gedächtnis, noch bevor Shacklebolt irgendwen her schicken konnte. Der Constabler von hier – Bernie Smithers – wird als Held der Stunde gefeiert, denn jetzt erinnert jeder sich lebhaft daran, wie er die Bestie erlegt hat, die die Bürger in diesem Dorf bedroht hat… er selbst auch.“

„Und… Ruta?“

„Noch immer bewusstlos… weil Sn… weil er sie gründlich unter Drogen gesetzt hat, damit sie still liegen bleibt. Wenn sie sich herumwälzt oder um sich schlägt, dann könnten die Wunden wieder aufbrechen. Man kann erst mit ihr apparieren, wenn die Blutung ganz aufgehört hat. Dromeda hat den Heiler von hier gerufen, Tiberius Tondrake, und Shacklebolt hat gleich noch einen geschickt, sehr früh heute Morgen. Aber Snape hat darauf bestanden, dass man ihn aus der ganzen Sache heraushält. Tondrake haben wir weisgemacht, dass es Dromeda war, die Erste Hilfe geleistet und die Wunden versorgt hat, und als die Spezialistin von St. Mungo ankam, da kam heraus, dass sie eine von Tondrakes Professorinnen an der St. Mungo-Heiler-Akademie gewesen ist. Ihr früherer Student fiel vor Ehrfurcht fast in Ohnmacht, als er ein Kompliment für seine Arbeit bekam… aber er hat das Lob ohne Widerspruch akzeptiert.“ Harry grinste schwach. „Beide haben versprochen, über die Angelegenheit Stillschweigen zu bewahren.“

Hermine warf ihm einen neugierigen Blick zu. „Wo hat Prof… wo hat Snape sich versteckt, während die beiden damit beschäftigt waren, sich gegenseitig zu bewundern?“

„Er ist nach Hause appariert, um sich umzuziehen,“ entgegnete Harry kurz; bei diesem Thema fühlte er sich noch immer entschieden unbehaglich. „Keiner von den beiden hat ihn zu Gesicht gekriegt… Ich bin nicht so ganz sicher, wie er Dromeda dazu gebracht hat, dass sie niemandem von seiner Anwesenheit erzählt. Sie hat keine Ahnung, wer er ist… wie gesagt, er nennt sich Stephen Seeker.“

„Nicht gerade schrecklich einfallsreich,“ murmelte Ron und grinste.

„Ja, nicht wahr?“ sagte Harry, und für eine Sekunde spiegelte sich in seinem Gesicht genau derselbe, jungenhafte Mutwillen. „Er hat sich nicht mal die Mühe gemacht, seine Initialen zu ändern, oder?“

Hermine schüttelte verärgert den Kopf. „Ach, um Himmels Willen, Ihr zwei, werdet erwachsen. Wenn niemand, der von dieser Sache weiß, darüber redet, sollten wir relativ sicher sein. Und nächste Woche bin ich wieder in der Abteilung; ich kann das Besucherbuch des Werwolf-Registers regelmäßig überprüfen, wenigstens sobald es Ruta gut genug geht, um sich dort eintragen zu lassen. Und wenn ich zufällig einen bestimmten Käfer in diesem Büro entdecken sollte, dann wird Miss Kimmkorn sich schneller in einem Einmachglas wiederfinden, als sie ihre Flotte-Schreibe-Feder zücken kann.“

Rons Grinsen wurde noch breiter. „Absolut brillant, Schatz… die hat sowieso schon eine Heidenangst vor dir.“ Er hievte sich aus dem Sessel. „Ich weiß ja nicht, wie das mit euch ist… aber ich versuche mal, Dromeda aufzutreiben, und eine Tasse Kaffee. Und vielleicht ein paar Rühreier…“ Er verließ den Raum und Harry sah, dass Hermine ihm mit liebevoller Belustigung nachblickte.

„Manche Dinge ändern sich nie, was?“ Er lachte in sich hinein, aber Hermines Gesicht war schon wieder ernst. Sie blickte ihn an, mit diesem forschenden, leicht entnervenden Starren, das immer schon so sehr ein Teil von ihr gewesen war.

„Was unternimmst du wegen Snape?“

Er zögerte. „Ich… ehrlich, ich weiß es noch nicht,“ sagte er endlich.

„Ich dachte ja bloß…“ fuhr sie fort und legte den Kopf schief. „Weißt du, es ist schon ziemlich interessant.“

„Was denn?“

„Die Dinge, die er getan hat,“ sagte Hermine. „Gestern… er hat keine Sekunde gezögert, aus der Deckung zu kommen. Er ist Ruta zu Hilfe geeilt… er ist sogar in freier Sicht durch ein Muggeldorf geflogen – und all das, um eine Frau zu retten, die er erst seit ein paar Monaten kennt.“ Ihre Augen begegneten sich, und ein kleines Lächeln kräuselte ihre Lippen. „Das ist nicht der Severus Snape, den ich kenne… er muss sich ganz schön verändert haben. Und sie müssen wirklich sehr gute Freunde sein.“

Harry zuckte unbehaglich die Achseln. „Das ist etwas, das ich nur schwer glauben kann,“ sagte er.

*****

Sie trieb durch eine Dunkelheit, die von Feuer und Schrecken wirbelte, und sie versuchte hilflos, die Hand nach etwas auszustrecken, woran sie sich festklammern konnte… und dann ließ der unbarmherzige Sog nach, und sie fand sich in dem Körper eines kleinen Mädchens wieder…

… die Sonne schien, sie trug einen brandneuen Umhang und es war ihr allererster Besuch in der Winkelgasse. Sie war sechs Jahre alt, und ihr Onkel Reginald hatte endlich zugestimmt, sie nach London mitzunehmen. Remus würde auch dabei sein, und das war einer der hauptsächlichen Gründe, warum Ruta ihre Mutter unablässig bestürmt hatte, bis die sich erweichen ließ. Sie wusste gar nicht, wo sie zuerst hinschauen sollte… viel zu viele Wunder überall in den Schaufenstern, bunte Roben, Eulen, Kessel und Besen (dazu Remus, der sich nur mit Mühe von Qualität für Quidditch weg zerren ließ, und der Onkel Reginald pausenlos anbettelte, weil „alles, was ich jetzt zu Weihnachten will, das ist ein Sauberwisch Sechs, Daddy, und ich will gar nichts anderes!“)

Onkel Reginald beschloss, eine Runde Eis bei Florean Fortescue auszugeben, und Ruta genoss ihren Erdbeer-Walnuss-Eisbecher und träumte dabei von einer Puppe, die sie bei Theodora Tondrakes Tausendfachem Tand im Schaufenster gesehen hatte, dekoriert in einem sehr lebensechten Miniatur-Wohnzimmer – ein Wunderwerk mit langen, goldenen Locken und einem edlen Gewand aus echter Seide. Remus hatte ritterlich entschieden zu vergessen, dass er ein Junge und Puppen die dümmste Sache der Welt waren, und er las ihr die Platte zu Füßen der Puppe vor: „Gloriana – die großartigste Gefährtin, die Sie Ihrer kleinen Prinzessin zum Geschenk machen können – wechselt täglich die Farbe von Haaren und Kleid – kann eine echte Unterhaltung führen – Preis auf Anfrage.“

„Was bedeutet das – Preis auf Anfa… Anfrage?“ wollte sie wissen, während sie noch immer verzaubert die Puppe anstarrte.

„Dass du sehr viel Geld brauchst,“ entgegnete Remus altklug. „Mehr als deine sechs Sickel, Kleine.“

Ruta – die sich nur eine Sekunde zuvor mit zwei Wochen erspartem Taschengeld für unglaublich reich gehalten hatte – fühlte, wie ihr das Herz sank, und der Traum, mit dieser Puppe zu spielen, platzte wie eine Seifenblase. Kein Mitglied der Lupin-Familie konnte man zu Recht als wohlhabend bezeichnen; Onkel Reginald arbeitete im Ministerium für Magie (Ruta wusste nicht, wo genau), und ihr eigener Vater, Rudolphus, verkaufte Kräutervorräte für alle Arten von Tränken und Gebräuen. Slug und Jiggers Apotheke war einer von Vaters besten Kunden, und Corminius Slug einer seiner ältesten Freunde. Und obwohl Rudolphus’ Beruf die Familie sicherlich anständig ernährte, war ein luxuriöses Spielzeug wie Gloriana völlig außer Reichweite.

Nachdem sie mit ihrem Eis fertig waren, machten sie sich auf den Weg zu Flourish & Blotts; Ruta war nicht sonderlich interessiert daran, ihren Onkel nach drinnen zu begleiten, und Remus versprach, mit ihr in Hörweite zu bleiben, bis sein Vater die Bücher gefunden hatte, die er brauchte. Sie schlenderten an den Geschäften entlang und blieben hier und da stehen, bis sie an eine schmale, ziemlich schwach erleuchtete Seitenstraße kamen.

„Nokturngasse…“ buchstabierte Remus langsam das Schild an der Wand; er wandte sich an Ruta, die Augen strahlend vor Aufregung.

„Dad hat mir von dem hier erzählt,“ sagte er. „Da gibt es einen Laden, wo sie lauter mächtige, verfluchte Sachen verkaufen, und ich wollte mir das immer mal anschauen. Magst du es auch sehen?“

Ruta zögerte. Die krumme Gasse sah entschieden unerfreulich aus, und sie war sich nicht so sicher, ob sie auch nur in die Nähe von Gegenständen kommen wollte, die gleichzeitig beides waren, machtvoll und verflucht.

„Onkel Reginald hat gesagt, dass wir nicht zu weit vom Buchladen weggehen sollen,“ sagte sie.

„Wir sind gleich wieder da, und ich pass auch auf dich auf, Kleine,” sagte er ernsthaft und nahm ihre Hand. „Ich versprech’s.”

Natürlich war es das, was den Ausschlag gab. Remus war ihr Held, und sie wäre ihm an jeden Ort gefolgt, den er vorschlug, solange er sie bloß nicht allein ließ. Also widersprach sie nicht, als er sie über das Kopfsteinpflaster auf das bleiche Rechteck eines weiteren Schaufensters zu führte, zwanzig Meter weiter die Nokturngasse hinunter.

Es fühlte sich an wie der Weg in einen langen, dunklen Tunnel; das fröhliche Chaos von Händlern, Restaurants und Fußgängern schien hinter ihnen zurück zu weichen, bis sie von einem merkwürdigen, stillen Halbdämmer umgeben waren. Die Straße war leer (obwohl Ruta sicher war, dass sich in den Schatten noch weiter voraus etwas regte), und als sie bei dem Laden ankamen, den Remus so eifrig hatte erreichen wollen, stellte er sich als Enttäuschung heraus. Nur eine Handvoll Gegenstände waren überhaupt ausgestellt; ein Ring mit einem roten Edelstein, auf einem Kissen aus staubigem, schwarzen Samt, ein kleiner Kessel aus angelaufenem Silber und etwas, das dafür sorgte, dass beide Kinder einstimmig nach Luft schnappten (Ruta vor Schreck, Remus in aufgeregtem Entzücken); ein menschlicher Schädel, die leeren Augenhöhlen mit goldenen Ornamenten und zwei riesigen, grünen Juwelen geschmückt.

„Ich will wieder zurück, Remus,“ sagte Ruta mit Nachdruck, von der plötzlichen Panik überwältigt, dass ihr Cousin es tatsächlich wagen könnte, diesen beängstigenden Laden zu betreten. „Mir gefällt es hier nicht, ich mag diese Straße nicht und den Laden auch nicht, ich mag… Und Onkel Reginald wird furchtbar böse auf uns sein!“ Sie zerrte an Remus’ Ärmel; der Junge hielt die Nase buchstäblich gegen das trübe Glas des Schaufensters gepresst. „Remus? Ich will zurückgehen! Bitte…?“

Endlich gelang es ihm, sich loszureißen; ihr flehender Ton war ernüchternd.

„Also schön,“ sagt er, den Blick auf ihr ängstliches, kleines Gesicht gerichtet. „Wir gehen ja zurück, gleich jetzt.“

Im nächsten Moment trat eine hochgewachsene Gestalt aus den Schatten direkt neben dem Eingang zum Geschäft.

„So ein nettes, kleines Püppchen.“ sagte eine dunkle, heisere Stimme. „Nein… tatsächlich sind es gleich zwei. Ein Paar Püppchen, verirrt in der Nokturngasse… was für eine schreckliche Schande.“

Ruta blickte auf und in ein Gesicht, das über ihr aufragte… Augen von einem gelblichen Braun unter dicken Brauen, struppige Koteletten, die schlecht rasierte Wangen einrahmten, eine lange Nase und einen breiten, rotlippigen Mund. Das schmutzig blonde Haar des Mannes war so ungepflegt wie sein Gesicht, und er war von einem schalen Geruch umgeben, der Ruta stark an den feuchten Keller im Haus ihrer Großmutter erinnerte… an unsichtbare, zu lange aufbewahrte Dinge, die in dunklen Winkeln vermoderten.

Unwillkürlich zuckte sie zurück, und ihre Finger fanden Remus’ Hand; sie schlossen sich in einem so harten Griff darum, dass er ebenfalls zusammen fuhr.

„Wir haben uns nicht verlaufen,“ sagte Remus; seine Stimme war überraschend fest und beruhigend. „Mein Vater wartet in der Winkelgasse auf uns, gleich um die Ecke. Wir gehen dann jetzt… Sir.“

„Oh, aber ihr solltet nicht allein gehen müssen,“ sagte der Mann, das Gesicht von einem Grinsen gespalten, das Rutas Herzschlag in ihrer Kehle flattern ließ. Er hatte gelbe Zähne, und als er die Hand hob und sich abwesend an der Wange kratzte, bemerkte sie seine Fingernägel… sie waren ebenfalls gelb und erschreckend lang, wie Krallen. „Ich begleite euch zu… eurem Vater.“

Ruta sah seine Augen; jede Spur von Braun war verschwunden und hatte einer fiebrigen Erregung Platz gemacht, einer leuchtenden Helligkeit, die sie im Dämmer der Gasse beinahe glühen ließ. Und plötzlich war sie todsicher, dass dieser Mann (dieses böse… Ding) sie nicht zu Onkel Reginald zurück begleiten würde. Nein, er würde sie mit sich fort zerren, in irgendein geheimes Versteck, wo niemand sie je wiederfinden würde… wo niemand hören konnte, wie sie schrieen.

Sie schloss den Mund gegen das hilflose Wimmern, das ihr zu entschlüpfen drohte… und dann hörte sie eine laute, erschrockene Stimme aus der Richtung der Winkelgasse.

Remus? Ruta?“

„Dad, wir sind hier unten!“ Remus’ Stimme bebte so heftig, dass sie sie kaum erkannte. Der Kopf des Mannes zuckte hoch, während schnelle Schritte näher kamen, und er machte ein Geräusch tief in der Kehle, das sich anhörte wie das Knurren, eines großen, bösartigen Hundes. Er machte einen hastigen Schritt rückwärts, und dann war Onkel Reginald da… mit gezücktem Zauberstab, der geradewegs auf die Brust des Mannes deutete.

Greyback!“ Seine Stimme war scharf und eisig. „Weg von meinen Kindern! Zurück, sage ich, oder ich beweise dir, dass das Ministerium vollkommen gewillt ist, die Unverzeihlichen zu akzeptieren, so lange man sie gegen ein Monstrum benutzt!“

Remus zog sie hinter sich her, bis sie beide hinter der sicheren Deckung von Onkel Reginalds umfangreichem Umhang standen. Ruta schloss die Augen; ihr zitterten die Knie und sie konnte den Mann nicht mehr sehen… der Mann, den ihr Onkel „Greyback“ genannt hatte. Aber sie konnte seine Stimme hören, ölig und erfüllt von falscher Unterwürfigkeit:

Ihre Kinder? So ein süßes, kleines Mädchen, und so ein hübscher, kleiner Junge! Wie stolz Sie sein müssen, Lupin… und wie vorsichtig Sie sein sollten!“ Ein merkwürdiger Laut, irgendetwas zwischen einem Bellen und einem leisen Glucksen. „Da draußen gibt es tatsächlich Monster… obwohl ich freigesprochen worden bin, wenn Sie sich erinnern.“

„Aus Mangel an Beweisen!“ Ihr Onkel spie die Worte förmlich aus; sein Ton war wütend und schwer von Verachtung. „Du magst deine Spuren geschickt verwischt haben, aber ich weiß, dass du da warst, und dass du den Tod dieser armen Zwillinge auf dem Gewissen hast. Hätten das Zauberergamot und das Werwolf-Fangkommando auf mich gehört, du würdest jetzt schon seit Monaten in Askaban verrotten.“

„Sie sehen sich selbst als Verteidiger der Schwachen, oder?“ grollte Greyback, und Ruta spürte, wie der Rücken ihres Onkels sich versteifte. „Gegen alle unnatürlichen Geschöpfe, vor allem gegen jeden einzelnen Werwolf, nehme ich an? Wie unglaublich tapfer!“

„Gegen die, die sauber im Werwolf-Register eingetragen sind und die versuchen, so gut sie können, ein normales Leben zu führen, habe ich nichts einzuwenden,“ entgegnete Reginald Lupin kalt. „Es ist deine Art, die ich verabscheue… die, die an lebendigem Fleisch Geschmack findet, die den Schmerz und den Kummer anderer feiert wie ein Fest, und die sich am Geruch von Blut und an der Furcht von Kindern weidet. Ich werde ein Auge auf dich haben, und eines Tages werde ich der Zaubererwelt beweisen können, dass du nichts anderes bist als ein räudiger Köter, krank und gefährlich genug, dass man dich im nächstbesten Dorfteich ersäuft.“

Ein Laut bestialischer Wut kam von dem unsichtbaren Mann, und ihr Onkel erhob wieder den Zauberstab.

„ZURÜCK!“ schrie er. „Zurück, oder du wirst dich gelähmt und festgenommen finden, weil du auf einen Mitarbeiter des Ministeriums und zwei Kinder losgegangen bist.“ Er lachte freudlos. „Gib mir einen Vorwand, Hund.“

„Das werde ich schon noch,“ knurrte Greyback, „und der Tag wird kommen, an dem du den Augenblick verfluchst, als du es gewagt hast, mich zu bedrohen, Reginald Lupin.“

Schnelle Schritte entfernten sich, und für einen Sekundenbruchteil sah Ruta, wie die Schultern ihres Onkels nach unten sackten, ehe er herumwirbelte und seinem Sohn geradewegs ins Gesicht sah, ein Ungewitter im Blick.

Remus Lupin! Was um Himmels Willen hast du dir dabei gedacht?“

„Tut… tut mir Leid, Dad,“ murmelte der Junge mit hängendem Kopf. Ruta sah, dass seine Lippen zitterten und brach prompt in Tränen aus; sie hatte sich immer ein bisschen vor ihrem strengen, stolzen Onkel gefürchtet, aber nie zuvor in ihrem Leben war sie so froh gewesen, dass er da war. Reginald gab einen tiefen, resignierten Seufzer von sich und presste beide Kinder in einer harten Umarmung an sich.

„Kommt,“ sagte er in einem brüsken Tonfall, der kaum seine Besorgnis und Erleichterung verschleiern konnte, „ich bringe euch zurück in die Winkelgasse. Zeit, nach Hause zu gehen.“ …

sie blickte auf das kleine Grüppchen von Leuten hinunter, die sich gegenseitig umarmten, und dann spürte sie, wie sie auf hoch oben auf einer riesigen Woge dahin trieb, während Finsternis sie einmal mehr einhüllte. Fort war das kleine Mädchen, für immer verloren der hochgewachsene Zauberer und der wagemutige Junge, und da war eine Oberfläche, eine Oberfläche von Wissen, von Erkenntnis…

und von Schmerz.

*****

Ihre gesamte rechte Körperhälfte pochte in dumpfer Pein. Sie versuchte, ihre Hand von etwas zu heben, das weich und nachgiebig war, aber das sorgte nur dafür, dass der Schmerz sich zu kreischender Qual vervielfältigte.

Ihre Augen flogen auf.

Sie starrte an eine Decke, die vom unruhigen Licht vieler Kerzen erleuchtet wurde. Der Raum war ihr vage vertraut, warm und sehr still. Wieso lag sie hier… und was war mit ihrer Schulter und ihrem Arm passiert? Ihre Gedanken waren so dumpf wie der Schmerz, der sie aufgeweckt hatte, und der Versuch, sich zu konzentrieren, erwies sich als schwierig und verwirrend.

Die Tür öffnete sich, und sie hörte eine Stimme, die sie kannte; sie sprach mit ungeduldiger Autorität:

„Sie hat jetzt genügend Schlaftränke gehabt. Es ist Zeit, dass man ihr gestattet, zu erfahren, was geschehen ist. Sie können ja wohl kaum annehmen, dass sie es vorziehen würde, sich plötzlich in St. Mungo wiederzufinden, ohne zu wissen, ob es dem Jungen gut geht, den sie zu beschützen versucht hat.“

Ein kurzes Schweigen, und sie konnte ein zögerndes Gemurmel hören, bevor die erste Stimme fortfuhr, der Ton weicher und heiser vor Erschöpfung.

„Natürlich werde ich das. Und eine Sache noch, Mr. Potter, zum zweiten Mal: Sie und Ihre Freunde sollten Ihre Anstrengungen darauf konzentrieren, herauszufinden, wie Greyback hierher gekommen ist.“

Greyback.

Ruta rang nach Atem und bewegte ihre gesunde Hand; sie tastete auf der Suche nach der Quelle der wütenden Schmerzen nach ihrer Schulter. Die Erinnerung an diese ölige, grausame Stimme überschwemmte ihre Adern mit Eiswasser.

Das letzte Mal, als wir uns begegnet sind, warst du viel jünger, mein kleines Püppchen, und ich fand dich viel… appetitlicher.“

Sie schoss im Bett hoch. In ihrem Kopf drehte es sich, und ihr Magen versuchte, durch ihre verkrampfte Kehle zu entkommen. Sie brachte ein ersticktes Wimmern heraus, und der Mann an der Tür wirbelte mit einem Rauschen dunkler Gewänder herum und hastete zum Bett hinüber.

„Zum Donnerwetter – hinlegen, Frau!“ schnappte er, und seine Hände waren weit sanfter als seine Stimme, während er sie behutsam wieder in die Kissen zurück manövrierte. „Ich hatte große Schwierigkeiten, die schwereren Ihrer Wunden zu schließen, und jede plötzliche Bewegung könnte sie wieder aufreißen.“

Sie starrte ihn an und zitterte in fassungslosem Entsetzen, als eine andere Erinnerung sie wie ein Schlag traf. Ihr Neffe, der rannte und schrie, und dann die kleine, hilflose Gestalt auf dem Gehsteig, unfähig, mit einem verdrehten Bein zu entkommen. „Ist… ist Teddy in Sicherheit?“

„Ja,“ erwiderte Seeker. „Der Junge wurde nicht verletzt, abgesehen von dem Schock und einem blutigen Knie. Er hat eine gute Nacht gehabt, und heute Morgen ist Mrs. Tonks mit ihm zum Fuchsbau appariert. Sie dachte, ein Tapetenwechsel täte ihm vielleicht ganz gut. Vorher war er einen Augenblick hier, und sehr glücklich, Sie lebendig vorzufinden.“

Oh.“ Es war ein Seufzer nackter Erleichterung. „Danke, Stephen.“

Ihr Blick fand einen Krug auf dem Nachttisch; plötzlich merkte sie, wie trocken ihr Mund war.

„Könnte ich…?“ Er half ihr, sich aufzusetzen, füllte ein Glas und stützte ihre Hand, als sie es an ihre Lippen hielt. Sie schluckte, das kühle Wasser ein Segen in ihrer wunden Kehle… und dann überflutete noch eine weitere Erkenntnis sie wie eine gewaltige Lawine. Ihr Magen zog sich zu einem harten Knoten zusammen.

„Er hat mich gebissen“, stellte sie mit flacher Stimme fest. „Greyback… er hat versucht, Teddy zu erwischen… und er hat mich gebissen.“

Die schwarzen Augen vor ihr flackerten, und für einen kurzen, erschütternden Moment waren sie vollkommen leer. Aber er wandte den Blick nicht ab.

„Ja“, sagte er endlich, die Stimme ruhig und gleichmäßig. „Ja, er hat Sie gebissen.“

„Und er war vollständig verwandelt, nicht wahr?“

„Ja, Ruta. Er war vollständig verwandelt.“

Sie drehte den Kopf zum Fenster und starrte blind auf die geschlossenen Vorhänge. Seine grimmige Offenheit war ein Segen, aber ihre Dankbarkeit ging unter in den Erinnerungen, die ihn ihrem Kopf kreisten, flackernde Bilder aus der Vergangenheit:

Remus als Junge, nicht einmal zwei Monate nach jener schicksalhaften Begegnung in der Nokturngasse, eine schockierend kleine Gestalt in dem großen Bett in St. Mungo. Das bleiche, verzweifelte Gesicht von Onkel Reginald, der stolze, hochgewachsene Mann in einem Sessel zusammen gekauert, mit bebenden Schultern, nicht mehr als ein kurzer Blick, ehe ihre Tante sie entdeckte und rasch davon scheuchte.

Remus, der nach Hogwarts abreiste, ein einsames Kind, schüchtern und seines früheren, sanften Selbstbewusstseins gänzlich beraubt. Sie hatte neben Onkel und Tante gestanden und ihm Lebewohl zugewinkt, und sie bekam ein kleines Winken zur Antwort.

Weihnachten kam er von der Schule nach Hause, glücklich und von seinen neuen Freunden umringt, aber noch immer lächelte er freudig, als er sah, dass sie auf ihn wartete.

Dann das schicksalhafte Jahr 1981. Die Nacht nach James’ und Lilys Tod, während sich die gesamte Zaubererwelt in einem ungläubigen Aufruhr der Freude befand, und wieder Remus, der auf ihrer Türschwelle stand, das Gesicht aschfahl. „Ich habe sie verloren, Ruta, ich habe sie alle verloren…“ Der Geschmack von Wein auf ihrer Zunge, ein Geschmack von Erde und Begierde, Remus’ Anblick verschleiert von einem Nebel aus zuviel Alkohol, Trauer und verzweifelter Entschlossenheit… und sie… und sie hatte…

Und jetzt gab ihr Magen auf und revoltierte. Eine Hand vor den Mund geschlagen, setzte sie sich erneut auf und der Schmerz kehrte zurück und erwachte zu voller, brüllender Macht… aber in diesem Moment hätte es sie kaum weniger kümmern können. Er reagierte mit erstaunlicher Schnelligkeit, beugte sich nach unten und hob eine Schüssel vom Boden auf. Ein Arm legte sich um ihre Schulter und eine Hand hielt ihr die Schüssel unter das Kinn, während sie würgte und ihr Körper von Kopf bis Fuß zitterte. Das Schicksal verhöhnte sie mit wahnwitzigem, schrillem Gelächter, das in ihrem Kopf widerhallte. Sie hatte immer geglaubt, dass der Preis für ihre hoffnungslose Missetat an dem Tag voll und ganz bezahlt worden war, als sie Remus an den Tod verlor. Aber sie hatte sich geirrt… sie hatte sich auf entsetzliche Weise geirrt.

Es dauerte Minuten, ehe es vorüber war, und danach stellte sie fest, dass sie schlaff in seinem stützenden Griff hing; ein bohrender Schmerz lastete in ihrer Brust, als sie nach Atem rang.

Erst langsam spürte sie das warme, feuchte Tuch auf ihrem Gesicht; sein Arm half ihr wieder hinunter in die Kissen, und seine Hand strich ihr sachte die wirren Strähnen aus der Stirn.

Sie wusste nicht, was sie sagen, wie sie sich entschuldigen sollte. Sie hatte keine Ahnung wie sie dem Aufruhr des Schreckens und der bodenlosen Angst Ausdruck verleihen sollte, die in ihrem Inneren wirbelten. Sie wollte nicht einmal mehr denken.

„Erinnern Sie sich, wie ich Ihnen erzählt habe, dass Winky mir den Trank der Lebenden Toten verabreicht hat?“ sagte er ruhig. „Als die Wirkung nachließ, war ich immer noch in diesem allzu noblen Grabmal. Ich lag da und wartete, dass Winky kam und mich lebendig begraben vorfand, aber aus irgendeinem Grund fürchtete ich mich nicht. Es war seltsam… friedlich.“

Ruta schluckte; Tränen stachen hinter ihren geschlossenen Lidern. Sie wagte nicht zu antworten.

„Die Furcht kam danach… Monate später, als ich England bereits verlassen hatte und durch Marokko reiste. Ich schlief in einer alten Karawanserei in der Nähe von Rabat, und plötzlich fand ich mich in diesem Sarkophag wieder… und dieses Mal konnte der Deckel nicht entfernt werden, und ich wusste, Winky würde nicht kommen… und ich spürte, wie Naginis Gift durch meine Adern sickerte und langsam jedes einzelne Körperteil lähmte.“

Sie wandte sich ihm wieder zu und begegnete seinen Augen. Nun waren sie nicht länger leer… sie waren erfüllt von dunkler Erfahrung und der Erinnerung an alten Schmerz… der bessere Teil eines Menschenlebens, verbracht mit Täuschung und in ständiger Gefahr. Plötzlich erinnerte sie sich, dass er ihr erst einen Tag zuvor von diesem geheimnisvollen Teil seines Lebens erzählt hatte, zum allerersten Mal.

„Ich erwachte schreiend, meinen Herzschlag in der Kehle, während Winky hastig einen Muffliato-Zauber anwandte, um die arabischen Muggel davon abzuhalten, meine Kammer zu stürmen, weil sie dachten, jemand würde darin ermordet.“

Sie räusperte sich, „Wieso… wieso sagen Sie…“

„Sie wollen wissen, warum ich Ihnen einen derart schockierenden Einblick in meine persönliche Schwäche gewähre?“ Erstaunlicherweise hörte sie keinen Sarkasmus in seiner Stimme… nur gelassene Leidenschaftslosigkeit. „Das ist sehr einfach. Ich will, dass Sie eines begreifen: Furcht und Panik sind nur natürlich, wenn man die Umstände bedenkt… selbst wenn sie sich erst nachträglich auswirken, wie in meinem Fall. Mut hat immer einen Preis, früher oder später.“ Er seufzte. „Dieser Traum in Rabat war nur der erste in einer langen Reihe von Alpträumen… aber Ihrem persönlichen Schrecken geradewegs ins Gesicht zu sehen, ist der einzige Weg, seiner Herr zu werden.“

Trotz der wachsenden Schmerzen in ihren Wunden und dem dumpfen Druck in ihrem noch immer flauen Magen spürte sie, wie ihre Lippen zuckten. „Versuchen Sie, mich schonend darauf vorzubereiten, dass ich in den nächsten paar Jahren besser eine Schüssel neben dem Bett bereithalten sollte?“

„Ihr Sinn für die grundsätzlichen Notwendigkeiten des Lebens ist bewundernswert,“ erwiderte er mit dem Schatten eines Lächelns, aber dann registrierte er ihr wachsendes Unbehagen. Er beugte sich vor und sie spürte seine Hand um ihr Handgelenk, während er ihren Puls fühlte. „Wie auch immer – ich sollte Ihnen alle weiteren Details ersparen, wenigstens für heute Abend. Was Sie jetzt nötig haben, ist Ruhe, und Besorgnis wird Ihnen die Erholung nicht leichter machen.“

Ruta versuchte behutsam, ihre Lage auf dem Kissen zu verändern und fuhr zusammen. „Merlin, das tut entsetzlich weh.“

„Natürlich tut es das. Dies sind tiefe Wunden, und wir werden noch zwei oder drei Tage warten müssen, bevor wir den Versuch wagen können, mit Ihnen nach St. Mungo zu apparieren, ohne noch mehr Blutverlust zu riskieren. Ich werde das hier entfernen.“ Er zog seinen Zauberstab von irgendwo unter der dunklen Weste hervor, die er trug, und brachte den Inhalt der Schüssel zum Verschwinden. Dann erhob er sich aus dem Sessel und ging zur Tür. „Und ich werde Ihnen etwas bringen, das Ihnen helfen wird, zu schlafen.“ Er schenkte ihr ein schmales Lächeln. „Ich würde meinen Zauberstab benutzen, um Ihre Schmerzen zu lindern, aber in diesem besonderen Fall wirken die meisten Zaubersprüche nicht.“

„Ich weiß.“ Plötzlich spürte Ruta, wie ihr wieder die Tränen kamen, und sie kämpfte sie mit aller Macht nieder. „Das alles scheint sich zu einer Art… einer Art Familientradition zu entwickeln. Komisch, nicht wahr?“

„Nicht für mich.“ Seeker schaute sie an; sein Gesichtsausdruck war undurchdringlich. „Und nicht für Sie.“ Er zögerte, dann kam er sichtlich zu einer Entscheidung. „Ich weiß, was Sie gestern Abend getan haben, Ruta. Um den Jungen zu retten, haben Sie sich buchstäblich den Wölfen zum Fraß vorgeworfen – oder dem Wolf, in diesem Fall.“

Sie starrte ihn an; ihre Augen weiteten sich vor Überraschung. „Sie waren dabei?“

„Ja, das war ich… und glücklicherweise war Mr. Potter ebenfalls dort, gemeinsam mit Mr. Longbottom. Wenn mir irgendjemand vor zehn Jahren gesagt haben würde, dass ich eines Tages Seite an Seite mit zwei dieser übereifrigen Gryffindors gegen ein Monstrum kämpfen würde, ich hätte ernstlich seine Einweisung in den Janus-Thickey-Flügel in St. Mungo empfohlen.“

„Wie haben Sie…“

Er hob eine Hand. „Nein, Ruta… nicht heute Abend. Es gibt ein paar Dinge, von denen Sie erst nach ein paar Stunden Schlaf und einem ordentlichen Frühstück hören sollten. Ich bin gleich wieder da.“ Sein Blick wurde weicher. „Oh – Greyback ist selbstverständlich tot. Vollständig vernichtet.“

„Das… das ist gut,“ flüsterte sie. „Danke, Stephen.“

Er hielt sein Wort und kam mit einem Trank zurück; Ruta erkannte den Nachgeschmack davon aus ihren Alpträumen. Sie leerte ihn ohne Widerspruch und klammerte sich an den Anblick seines Gesichtes, bis sie spürte, wie die Welt rings um sie her verschwamm und in friedlichen, dunklen Schweigen verging.

*****

Als sie das nächste Mal die Augen öffnete, war das Zimmer sonnig und hell. Instinktiv wandte sie sich dem Sessel neben dem Bett zu; es saß ein Mann darin, der offensichtlich tief und fest schlief. Aber es war nicht Stephen Seeker. Es war Harry Potter.

Sie räusperte sich.

„Harry…?”

Er zuckte zusammen und setzte sich auf; es kostete ihn Mühe, seine Augen konzentriert auf sie zu richten.

„Oh… du bist wach!“ Er rieb sich die Stirn. „Tut mir wirklich Leid; ich wollte nicht ausgerechnet hier einschlafen, aber die letzten zwei Tage waren ein bisschen anstrengend.“

Sie versuchte, den dumpfen Nebel in ihrem Geist zu durchdringen; das plötzliche Tageslicht war fast überwältigend, und sie schien jegliches Zeitgefühl verloren zu haben. „Zwei Tage?“

„Greybacks Angriff ist am Samstag passiert,“ erklärte er. „In der Nacht danach hat sich dein… dein Nachbar hier um dich gekümmert, gemeinsam mit Dromeda und Tiberius Tondrake aus Berwick, während ich Kingsley Shacklebolt informiert habe. Er schickte eine andere Heilerin, eine Spezialistin, geradewegs aus St. Mungo. Gestern Morgen – am Sonntag – kamen Ron und Hermine hier an.“

Ruta blinzelte. „Ron und Hermine?“

Er wurde rot. „Sie können beide gut ein Geheimnis für sich behalten, und Neville hat gerade ein Auge auf die Muggel, die Greybacks Knochen mitgenommen haben. Wir können nicht zulassen, dass Rita Kimmkorn Wind von der Sache bekommt – und nicht nur deswegen, weil sie die Geschichte ausschlachten würde, bis man die Wahrheit nicht mehr wiedererkennt.“ Er zögerte. „Wir werden bis morgen warten müssen – oder bis übermorgen – um dich nach St. Mungo zu bringen. Dein Nachbar hat dich gestern den ganzen Tag unter Betäubungsmitteln gehalten, weil er befürchtete, dass die Wunden wieder anfangen würden zu bluten.“

Sie begegnete seinem Blick, plötzlich auf der Hut. „Wo ist er jetzt?“

„Nach Hause gegangen, bevor ich heute Morgen gekommen bin,“ sagte Harry. „Er sah schrecklich müde aus, nachdem er dreißig Stunden oder mehr an deinem Bett verbracht hat.“ Ein rascher Blick aus den Augenwinkeln. „Er hat dieses Zimmer nur dann verlassen, wenn es absolut notwendig war. Ein sehr guter Freund, oder?“

„Es scheint so.“ Trotz ihren Erfahrungen mit Stephens sanfter und ruhiger Hilfe aus erster Hand vom Abend zuvor verspürte sie noch immer eine vage Überraschung. „Ich weiß, dass er die Wunden versorgt hat.“

„Dromeda ist von seinen Fähigkeiten tief beeindruckt.“ Eine kurze Pause. „Aber er hat mir gesagt, dass er dich nicht nach London begleiten wird. Ich hoffe, du bist nicht allzu enttäuscht.“

„Nein, natürlich nicht,“ erwiderte Ruta vorsichtig. „Ich würde auch nicht wollen, dass er sein Refugium länger verlässt als unbedingt nötig, nicht einmal meinetwegen. Er hat sowieso schon mehr getan, als ich von ihm erwarten konnte.“

Harry nickte, und sein Blick zuckte kurz zu der dicken Ausbuchtung von Verbänden unter ihrem Nachthemd hinüber. „Die Heiler in St. Mungo sind schon vorbereitet, dich zu übernehmen, und du wirst dort in guten Händen sein. Und, Ruta…“ Wieder brach er ab. „Du solltest wissen, dass du dir über die Kosten für deine Behandlung keine Sorgen zu machen brauchst. Alles wird vollständig bezahlt.“

Oh. Danke.“ Sie hatte noch nicht einmal angefangen, über diesen besonderen Aspekt ihrer persönlichen Katastrophe nachzudenken… und in diesem Moment war sie unendlich erleichtert darüber, dass es auch nicht nötig werden würde.

„Sobald es dir besser geht, gibt es gewisse… äh… Dinge, die du in Betracht ziehen solltest,“ fuhr er fort. „Wenn deine Ansteckung bestätigt wird…“

„Ich weiß, was du sagen willst.“ Ihr Herz fühlte sich in ihrer Brust an wie ein schwerer Stein. „Ich werde mich als Werwolf registrieren lassen müssen. Keine Sorge… ich bin mit der offiziellen Prozedur vertraut.“

Eine ganze Weile sprach keiner von ihnen. Sie konnte seine Unruhe und sein Mitleid in der stillen, warmen Luft des Zimmers wittern wie eine Art Nebel… mit einem Sinn, der weit über die natürliche Fähigkeit zu sehen, zu hören oder zu riechen hinausging. Es war ein vollkommen neues, verstörend wildes Wissen… und plötzlich begriff sie, dass sie von nun an die wandelnden Phasen des Mondes auf dieselbe Weise spüren würde.

„Ich habe noch ein paar Fragen,“ sagte Harry endlich. „Zu Stephen Seeker.“

Ruta sah ihn an; ihr sank das Herz. Sie hätte es von Anfang an besser wissen müssen; es war närrisch gewesen zu hoffen, dass der Junge – der Mann – der so entschlossen die Ränke des Dunklen Lords offen gelegt hatte, nicht hartnäckig versuchen würde, die Wahrheit über den ungewöhnlichen Freund herauszufinden, den sie vor Entdeckung hatte beschützen wollen.

„Könnte ich einen Schluck Wasser haben? Mein Mund ist schrecklich trocken.“

„Oh… sicher.“ Harry langte nach dem vollen Glas auf dem Nachttisch. Wie Stephen es am Abend zuvor getan hatte, half er ihr, sich aufzusetzen und hielt ihr sorgsam das Glas an die Lippen, während sie trank. Sie konnte die heftige Spannung in dem Arm fühlen, der sie stützte, und versuchte schwach, sich gegen ein Bombardement von bohrenden Fragen zu stählen.

„Was weißt du über ihn?“

Sie seufzte erschöpft. „Das hast du mich schon einmal gefragt, weißt du noch? Und ich sage dir jetzt genau dasselbe, was ich dir damals gesagt habe – er ist ein guter und vertrauenswürdiger Mann.“

Harry half ihr wieder in die Kissen und stand auf. Er war bleich – ein Resultat von zu wenig Schlaf – aber die Schatten, die die letzten paar Tage unter seinen Augen hinterlassen hatten, hatten nichts zu tun mit dem nervösen Tumult, den sie deutlich unter der Oberfläche dieses jungen, vertrauten Gesichts spüren konnte.

„Ich weiß,“ sagte er endlich. „Ich kann nicht leugnen, dass er eine eindeutige Hilfe war… während dieses Kampfes gegen Greyback und die ganze Zeit danach. Und ich sehe, dass er sich scheinbar wirklich Sorgen um dich macht.“

 Eine lange Pause; dann wandte er sich ihr wieder zu, und sie sahen sich an.

 Lilys Augen, dachte Ruta, er hat tatsächlich Lilys Augen geerbt. Sie hatte seine Mutter nur bei wenigen Gelegenheiten getroffen, nachdem sie Remus’ Freund James geheiratet hatte, aber diese Begegnungen hatten sich tief in ihre Erinnerung eingegraben. Der schönen, jungen Frau war es jedes Mal gelungen, Rutas Schild aus frostiger Scheu und Vorsicht auf zu tauen… in ihrer Gegenwart fühlte sie sich wertgeschätzt und wundersamerweise von ihrer üblichen Einsamkeit erlöst. Jetzt sah sie, dass sich dieselbe Freundlichkeit und dasselbe Mitgefühl in den Augen von Lilys Sohn widerspiegelte.

„Was weißt du tatsächlich über ihn?“ fragte Harry wieder. „Hast du… hast du irgendeine Ahnung, wer dieser Mann wirklich ist?“

Zu ihrer Überraschung fühlte Ruta sich kühl und ruhig… und seltsam erleichtert. Zeit für die Wahrheit… was alles in allem ein Segen war.

„Er ist ein Held,“ erwiderte sie leise. „Wenigstens hast du das öffentlich im Tagespropheten erklärt, vor acht Jahren.“

Harry starrte sie an; seine Augen waren sehr dunkel. Dann ließ er sich wieder in den Sessel sinken.

„Du hast es gewusst.“ Es war keine Frage. „Wie lange…“

„Seit dem Tag, als Teddy in seinem Haus die Medaille gestohlen hat,“ entgegnete Ruta sanft. „Es war sein Orden des Merlin. Er hatte einen Täuschungszauber darüber gelegt, aber ich habe es fertig gebracht, ihn mit einem Finite Incantatem zu entfernen.“

Sein Blick war nachdenklich. „Also hast du ihm nicht vertraut?“

„Oh doch,“ gab sie zurück. „Ich habe ihm schon vertraut, bevor ich seine echte Identität kannte, und das hat sich keinen Deut geändert. Aber ich muss zugeben, ich war schmerzhaft neugierig… und um die Wahrheit zu sagen, ich schäme mich immer noch dafür.“

„Wieso?“

Natürlich musste er das fragen. Harry war nie imstande gewesen, für längere Zeit die Finger von einem Rätsel zu lassen.

„Weil ich kein Recht hatte, seine Geheimnisse auszugraben,“ sagte sie. „Er hielt sich immer sehr bedeckt, und es brauchte einige Zeit, bis ich den Eindruck hatte, dass er unsere Begegnungen tatsächlich genoss.“

„Begegnungen?“ .

„Unterhaltungen über den Gartenzaun, am Anfang. Eine Tasse Kaffee oder zwei, eine Woche Schach-Unterricht… ein gemeinsames Abendessen. Am Anfang war er unglaublich vorsichtig.“ Sie lächelte schwach. „Irgendwie muss ich es geschafft haben, seine … seine Verteidigung zu unterlaufen, sozusagen. Aber es war die Mühe wert – ich bin mit einer seltenen Freundschaft belohnt worden.“

Ohne nachzudenken nahm sie seine Hand, und er entzog sie ihr nicht. Sie wusste nicht, ob das ein gutes Zeichen war; sie konnte nur das Beste hoffen, für alle beide.

„Sieh mal, Harry,“ sagte sie. „Ich weiß, deine Erfahrungen mit diesem Mann waren ein Alptraum. Ich weiß, er hat dich jahrelang gehasst, und du hast seine Abneigung hingebungsvoll erwidert. Aber… er hat seine frühere Identität abgelegt. Den größten Teil der letzten acht Jahre hat er im Ausland verbracht, auf der Suche nach einem neuen Ziel für das Leben, das ihm so unerwartet geschenkt worden ist.“

„Wieso ist er nicht fort geblieben?“ Der Ausdruck in seinen Augen war eine eigenartige Mischung aus Unbehagen und widerwilliger Neugierde… und in diesem Moment konnte sie hinter den Zügen des erwachsenen Mannes sehr leicht das Gesicht des zornigen Jungen erkennen.

Deinetwegen,“ antwortete Ruta. „Er wollte sehen, ob du in Sicherheit bist. Er… er wollte sich davon überzeugen, dass du das Leben führst, das du verdienst.“

„Es wäre nicht nötig gewesen, dass er herkommt, um etwas über mich herauszufinden,“ sagte er langsam. „Die Zeitungen haben meine Ernennung zum Auroren im Ministerium gemeldet, meine Hochzeit und die Geburt meines ersten Sohnes. Und wo immer er auch war, Winky hätte ihm doch sicher einen Tagespropheten verschaffen können.“

„Harry, bitte.“ Sie verspürte einen Stich hitziger Ungeduld. „An dem Tag, als ich zu ihm ging, um ihm den Orden zurückzubringen, sagte er mir, du hättest ihn beschämt, als du ihn – wie hat er das ausgedrückt – ,in einen Säulenheiligen verwandelt hast.’ Er weiß nur allzu gut, wie miserabel er mit dir umgesprungen ist.“ Sie schluckte. „Ich sagte ihm, er würde sich irren. Ich sagte ihm, seine Ehrenrettung wäre ein Akt der Ehrlichkeit gewesen… und eine Folge deines unbeirrbaren Sinnes für Gerechtigkeit.“

Sie ließ seine Hand los.

„Zeig mir bitte nicht, dass ich mich geirrt habe,“ sagte sie müde. „Sprich mit ihm, versuch, all das mit ihm zu bereinigen. Vielleicht werdet ihr niemals Freunde sein… aber er hat zumindest eine faire Anhörung verdient. Und jetzt…“

Sie rutschte tiefer in die Kissen und zog eine Grimasse, als eine frische Woge aus Schmerz von ihrer dick verbundenen Schulter bis hinunter in ihr Handgelenk flutete.

„… jetzt möchte ich, dass du gehst. Ich bin sicher, du hast eine schwere Zeit hinter dir, und ich bin unglaublich dankbar für alles, was du getan hast – ihr alle – aber ich bin von einem Werwolf gebissen worden, ich habe keine Ahnung, ob mein Arm jemals wieder vollständig heilen wird, und der Gedanke daran, dass ich den Rest meines Lebens als Raubtier verbringen werde, macht mich krank. Ich wäre jetzt wirklich gern eine Weile allein.“

„Es tut mir Leid,“ murmelte er. „Wenn du irgendetwas brauchst…“

„Wenn ich irgendetwas brauche, dann rufe ich Andromeda,“ erwiderte sie. „Geh nach Hause – du brauchst auch ein bisschen Ruhe. Und grüß Ginny bitte von mir, ja?“

Er nickte, verließ das Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich.

Ruta starrte zur Decke hoch. Sie dachte an Stephen, der hoffentlich seinen versäumten Schlaf nachholte. Sie dachte an Andromeda und an den furchtbaren Schock, den die ganze Situation für sie bedeutet haben musste. Sie sah Greybacks feixendes Gesicht vor ihrem inneren Auge; sie stellte sich vor, wie sie das Büro der Werwolf-Registratur betrat, und den forschen Blick des Beamten, sobald sie ihren Namen erwähnte: "Was denn, noch ein Lupin?"

Das Haus war sehr still, und der Raum mit seinen warmen, femininen Farben schien sie zu umschließen wie eine schützende Hand. Zum ersten Mal fühlte sie, dass sie sich entspannte, und erst jetzt, vollkommen allein und unbeobachtet, gönnte sie sich endlich den zerbrechlichen Trost von Tränen.

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Janus-Thickey-Flügel – befindet sich im vierten Stock des Zaubererkrankenhauses St. Mungo in London. Hier sind unheilbar geistig gestörte Patienten untergebracht, u.a. Nevilles Eltern, Frank und Alice Longbottom, und Gilderoy Lockhart.


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