DIE UNWIRKLICHE STADT 

Die Feuerpredigt (The Fire Sermon)
von Altariel, Prolog und 1. Kapitel übersetzt von Andrea Sternberg
(Überarbeitung der Übersetzung, Übersetzung von Kapitel 2, 3 und Epilog durch Cúthalion)

Houses of healing

Bild: „Die Häuser der Heilung" von Anke Katrin Eißmann

2. Kapitel

„Herrin des Schweigens,
still und gequält,
zerissen und doch heil...“

(T.S. Eliot, „Aschermittwoch“)

Das meiste, was ich von Liebe weiß, habe ich aus Büchern gelernt. Nun bin ich nicht so unschuldig, zu erwarten, dass das Leben diese Geschichten wiederspiegelt, denn in den Geschichten finden Kinder ihre verlorenen Eltern wieder, Schlachten gegen die Finsternis enden mit großartigen Siegen und Krieger kommen von ihren Fahrten als Erretter ihrer Heimat zurück. Aber trotz allem hatte ich erwartet, dass ich den Augenblick deutlich spüren würde, wenn ich mich endlich verliebte – wie einen Pfeil oder einen Blitzschlag.

Das erste Mal, als ich die Herrin Éowyn traf, bewegte mich die Tiefe ihres Kummers sehr, und ich dachte, sie sei das schönste Geschöpf, das ich je gesehen hatte. Als ich ihr am folgenden Morgen erneut begegnete, stand sie im Garten und leuchtete in der Sonne, und in ihrer Gegenwart fühlte ich den Schmerz, den ihre Abwesenheit für mich bedeuten würde – und da wusste ich, dass ich sie liebte. Bis zum Ende dieses Tages war mir völlig klar geworden, dass mein Leben ohne sie leer sein würde. Und mir war eines ebenso klar... sie liebte jemand anderen.

Immerzu schaute sie in Richtung Osten, als ob es ihr durch schiere Willensanstrengung irgendwie gelingen könnte, das Heer und seinen Hauptmann zu sehen. Und ich sah, wie ihr Gesicht erbleichte und ihre Augen trübe würden, und ich versuchte, ihre Gedanken zu zerstreuen, die offenbar dafür verantwortlich waren, dass sie so großen Kummer litt.

„Erzählt mir von Eurer Heimat, Éowyn.“

Sie schreckte hoch und schaute zu mir auf, als hätte sie vergessen, das ich da war. Ich nahm ihren Arm und führte sie sanft weg von den Mauern, zu einem Sitzplatz auf der entfernten Seite des Gartens. Ich glaube, es war ein Zeichen für ihre Schwäche, dass sie dies zuließ.

„Meine Heimat...“ murmelte sie. „Wo soll ich anfangen?“

Sie sprach - unbeholfen zuerst - von Edoras und der Goldenen Halle; Farbe stieg ihr ins Gesicht, als sie mir von ihrem Bruder erzählte und von ihrer gemeinsamen Kindheit, und für eine Weile wirkte sie fast lebhaft... ein Hauch der Frau, die sie sein mochte, wenn es ihr nur gelänge, über ihr Unglück hinauszusehen. Sie sprach von Théoden, zuerst mit Wärme, dann mit wachsendem Kummer, als sie sich seine späteren Jahre ins Gedächtnis rief. Scheinbar konnte sie ihre Gedanken nicht von ihrem Elend abwenden. Sie hörte auf zu reden und ihr Gesicht wurde wieder traurig.

„Könntet Ihr,“ sagte ich zögernd, „ Euch nicht häufiger an ihn erinnern, wie er war, bevor der Schatten ihn befiel... und nachdem er verging? Vielleicht würdet Ihr dann weniger trauern.“

Sie antwortete nicht gleich und saß einen Moment schweigend, während sie ihre nächsten Worte sorgfältig bedachte. Dann sagte sie sanft: „Es erscheint mir seltsam, Herr, einen solchen Rat von Euch zu hören.“

„Wie das?“

Sie legte ihre Hand auf meine und sah mich geradeheraus an. „Weil ich weiß, mein Freund, dass Euer eigener Geist erfüllt ist von der Erinnerung an eine bittere Trennung - von einem Vater, der Euch zu spät geliebt hat.“

Einen Moment lang konnte ich nicht antworten; ich saß da und schaute auf ihre Hand hinab, die auf meiner ruhte. Endlich fragte ich: „Wer hat Euch das erzählt?“

„Merry.“ sagte sie einfach, und, als sie meine Verblüffung bemerkte: „Ihr habt es ja auch für gut befunden, ihn über mich auszufragen.“

Ich senkte den Kopf, um mein Lächeln zu verbergen bei dem Gedanken an den Halbling, der Erzählungen zwischen uns hin- und hertrug. Dann sah ich zu ihr auf. Ihr Gesicht war ernst, ihre Augen aber sanft.

„Ihr habt mich ertappt, Herrin.“ gab ich zu. „Werdet Ihr mir vergeben, wenn ich verspreche, niemals wieder Heimlichkeiten zu begehen?“

„Und wenn Ihr es doch tut, werde ich es herausfinden, ich muss nur Merry fragen!“ lachte sie. „Ich vermute ohnehin, Herr,“ fügte sie hinzu, „dass Euch das nötige Talent fehlt, andere mit Erfolg zu täuschen.“

„Das ist keine Schwäche, deren ich mich schäme.“

„Das solltet Ihr wirklich nicht, mein Freund.“ sagte sie und nahm meinen Arm. „Und von allen gemeinen Dingen auf Erden, die ich verachte, hege ich einen besonderen Abscheu für die, deren Zunge schlüpfrig ist von Täuschung.“

Und wir gingen zu den Mauern und schauten hinaus, und wandten uns eine Weile ab von unseren Kümmernissen; statt dessen sprachen wir über unsere Freunde, die Halblinge, und wir staunten darüber, welche Art von Land wohl ein solches Volk hervorbringen mochte – mit einem so leichten Geist und einem dennoch so starkem Willen.

***

Am vierten Tag, nachdem sie zuerst gekommen war, um mich zu sehen – der dritte, seitdem ich sie liebte – war sie am traurigsten, und auch ich war das Ausschauhalten und Warten von Herzen leid, ebenso wie meine Unfähigkeit, ihr irgendeine echte Freude zu vermitteln. Wie in sanftem Spott über unsere Stimmung schien die Sonne und der Himmel war strahlend hell. Wir saßen im Schatten eines alten Baumes, Seite an Seite und dennoch voneinander getrennt. Mit einem Seufzer legte ich das Buch beiseite, das aufgeschlagen, aber ungelesen in meinem Schoß gelegen hatte.

„Dies ist unerträglich.“ sagte sie mit brüchiger Stimme, und sie senkte den Kopf und verbarg ihr Gesicht vor meinem Blick hinter einem Schleier aus goldenem Haar. Ich streckte die Hand aus, um ihn beiseite zu streifen und sie wieder sehen zu können, und sie wich zurück.

Ich ließ meine Hand fallen, als hielte ich einen Stein in der Faust, dann wandte ich mich ab und lag auf der Seite, die Wange in das stachelige Gras gedrückt. Unerträglich.

Nach wenigen Augenblicken spürte ich, dass sie sich ebenfalls bewegte, und sie berührte meine Hand. „Mein Herr...“ sagte sie.

„Ich würde mir wünschen...“ begann ich im selben Moment.

Wir hielten beide inne. Sobald ich sicher war, dass ich ihr ruhig ins Gesicht sehen konnte, setzte ich mich wieder auf. Ich schob den Vorhang ihrer Haare fort; diesmal ließ sie es zu, und ich blickte in ihre bleiches, makelloses Gesicht.

„Was würdet Ihr wünschen?“ sagte sie.

Ich nahm ihre Hand und lächelte sie an. „Euch in Frieden und Glück zu sehen,“ sagte ich, „wie auch immer ihr beides finden mögt.“

Sie ließ den Kopf wieder sinken, und ich sah mit Bestürzung, dass sie weinte. „Herr,“ sagte sie, „ich bin geizig Euch gegenüber, und Ihr vergeltet es nur mit Freundlichkeit.“

„Das ist nicht mehr, als Euch zusteht, Éowyn, und Ihr seid nicht geizig. Ihr seid furchtlos und aller Ehren wert, und ihr seid wunderschön.“

Sie schüttelte mit Festigkeit den Kopf. „Herr, Ihr befindet Euch in einem großen Irrtum, was mich angeht.“ Dann sah sie mir geradewegs ins Gesicht. „Mein Freund, ich möchte Euch – vor allen Menschen, die ich liebe – nicht die Qual erleiden sehen, ein Abbild zu begehren, das mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat.“ Sie gab meine Hand frei. „Alles ist finster; es gibt keinen Weg vor uns.“

Ich legte mich wieder ins Gras, streckte die Beine aus und sah nach oben. „Kommt und seht, Éowyn.“ sagte ich endlich. „Der Himmel ist so klar. Es gibt keine Wolken.“

Und sie legte sich neben mir nieder, und einen Augenblick später lehnte sie ihren Kopf an meine Schulter – mit Vorsicht, denn sie wusste, dass ich dort verwundet worden war. Ich ließ meinen Kopf auf ihrem ruhen und sehr bald waren wir beide in der weichen Märzsonne eingeschlafen.

***

Der nächste Morgen war kalt und der Himmel grau, aber immer noch zogen wir es vor, nicht im Haus eingesperrt zu bleiben, und wir wanderten über die Mauern. Und obwohl mir das Herz schwerer wurde, während der Morgen voranschritt und ich eine kalte Furcht spürte, die mich durchschauerte... es brauchte nur einen Blick auf sie, in Mitternachtsblau gehüllt und mit Sternen bekränzt, und die Dunkelheit schien weniger schrecklich zu sein.

Und da war ein Moment, als alles still war, die Erde erbebte unter einer großen Macht; mein Verstand sagte mir, dass wir verloren waren, aber mein Herz hob sich, als wir so nahe beieinander standen und auf den Streich des Schicksals warteten.

Dann erstrahlte die Sonne wieder und ihr Licht fing sich in den Schwingen eines mächtigen Adlers, der aus dem Osten heranflog und die Botschaft vom Sieg brachte, und vom Kommen des Königs. Alle Glocken der Stadt läuteten, und das Volk auf den Straßen sang, und ich weinte um Minas Tirith und um Gondors willen, die beide verloren gewesen zu sein schienen und die durch Feuer und Schatten gegangen waren, um die Erinnerumg an Númenor in ein neues Zeitalter zu retten.

Neben mir klammerte sich Éowyn fest an meine Hand, und auch sie schien zu weinen, und die Hoffnung stieg in mir auf, dass der Schatten sich auch von ihr gehoben hatte.

Alles, was ich je gelesen habe, dachte ich, nicht wenig verwirrt, sagt mir, dass dies der Moment wäre, wo Ihr, Éowyn mir in die Arme fallen und mir sagen solltet, dass Ihr mich liebt.

Aber der Moment ging vorüber. Sie seufzte und zog sich zurück; sie ließ meine Hand los und ihre Hand ruhte nur noch auf meinem Arm.

Ach, dass ich eine Dame liebe, die die Sitten ebenso sehr missachtet, wie sie lieblich anzuschauen ist.

Wir beobachteten eine Weile voller Freude die Leute unter uns, die aus ihren Häusern auf die Straßen strömten, dann sprach ich. „Morgen“ sagte ich, „muss ich dieses Haus verlassen und mein Amt in der Stadt übernehmen.“

Sie seufzte. „Also dann ist der Abschied nahe, mein Freund.“

„Das hoffe ich nicht, Éowyn.“

„Ich fürchte, dass es sein muss.“ murmelte sie. „Alles verändert sich, nur ich bleibe dieselbe.“

„Und doch brauchte es nicht so zu sein. Gegen alle Hoffnung ist der Schatten dahingegangen...“

„Nicht für mich, Herr.“

Ihre Worte versetzten mir einen Stich. „ich würde das ändern, wenn ihr es mir erlaubt.“

„Ich weiß, dass Ihr das würdet. Aber ich fürchte, das ist etwas, das nur ich selbst vollbringen kann, und ich glaube nicht, dass ich die Kraft dazu habe.“

Wieder nahm sie meine Hand und drückte sie, dann wandte sie sich ab und ging ins Haus zurück. Und als sie mich verließ, schien sie schwächer geworden zu sein... als sei sie nicht mehr als nur noch ein Abbild ihres wirklichen Selbst.

Eowyn and Faramir

Bild: „Éowyn und Faramir auf den Mauern von Minas Tirith“ von Anke Katrin Eißmann


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