DIE UNWIRKLICHE STADT 

Was der Donner sprach (What the Thunder said)
von Altariel, übersetzt von Andrea Sternberg
(Überarbeitung der Übersetzung durch Cúthalion)

Viel Schönheit habe ich gefunden
In den heiseren Schwüren, die unseren Mut bewahrten
Vernahm Musik in der Schweigsamkeit der Pflicht
Fand Frieden, wo Granatenstürme rotes Blut ausspien

(„Apologia Pro Poemate Meo“ von Wilfred Owen)


3. Kapitel

Nicht lange, nachdem wir dem Feind die Festungen am Damm überlassen hatten, spürte ich, wie mein Bewusstsein endlich begann, ganz und gar in Stücke zu fallen. Aus dem, was um mich herum geschah, konnte ich nur schließen, dass ich tatsächlich zuletzt die wache Welt verlassen und vollständig in das Land meiner Alpträume hinübergewandert war. Alles um mich herum schien auf den Kopf gestellt zu sein. Denn obwohl wir hart und unermüdlich kämpften, konnten wir nicht mehr tun, als zurückzufallen und zu sterben. Und am Ende, das wusste ich, würde es keinen Sieg geben, der eines Liedes würdig gewesen wäre; alles, worauf wir hoffen konnten, war eine Niederlage, die nicht ganz und gar vernichtend war.

Die Welt um mich her verlor ihren Sinn; alles was schön war, versank im Schrecken.. Ich sah Männer, deren Sanftmut ich kannte, wie sie die Körper und Knochen ihrer Feinde zerstückelten, und sie lachten dabei. Dies schien mir der wahre Triumph des Feindes zu sein: uns, verzweifelt, wie wir waren, in das Abbild seiner Grausamkeit und Gnadenlosigkeit zu verwandeln. Oder vielleicht war auch alles, was Wert hatte, vernichtet. Ich sah, wie Mut und Tapferkeit nur mit Zerstörung belohnt wurden... einen jungen Mann, nicht älter als zwanzig Jahre, der zurückrannte und dabei immer wieder anhielt und kämpfte. Und die ganze Zeit schleppte er seinen Freund mit sich, der von einem Pfeil getroffen worden war, als der Rückzug begann. Ich hätte die Knie vor ihnen gebeugt und sie in der großen Halle des Weißen Turms selbst geehrt, aber kaum eine Meile vor der Stadt wurden beide niedergehauen.

Wieder und wieder meinte ich in den Gesichtern derer, die ich erschlug, den ersten Mann wiederzuerkennen, den ich je getötet hatte. Ich war siebzehn Jahre alt gewesen und in der Nähe von Poros stationiert, als wir bei Nacht von Haradrim angegriffen wurden. Ich hatte nur einen Augenblick in seine fremdartigen Züge geblickt, bevor ich mich umdrehte und mich gegen einen anderen verteidigte, aber ich habe oft über ihn nachgedacht, und darüber, wer bei der Nachricht von seinem Tod getrauert hatte, so wie ich nun um Boromir trauerte. Und diese Gesichter, alte und neue, flackerten in der Dunkelheit rot und schwarz an mir vorbei. Sie wurden erleuchtet vom Glühen der Fackeln, die unsere Feinde trugen, und von den Flammen, die die Heimstätten auf dem Pelennor zu schwarzer Asche verbrannten.

Ich sehnte mich nach dem Anblick von reinem weißen Licht und nach einem Schluck sauberen, klaren Wassers. Doch am schlimmsten war der Lärm, Stunde um Stunde, und nirgendwo ein wenig Stille. Ich konnte aus diesem ohrenbetäubenden Durcheinander keinen Sinn heraushören. Es war, als ob es der Lärm von Morgoth selbst wäre, der den Samen des Missklanges in die Musik der Schöpfung säte. Mitunter hörte ich die Stimme von jemandem, den ich kannte, qualvoll aufschreien, während noch einer meiner Freunde fiel; und ich vernahm das triumphierende Gebrüll und die Rufe der Südländer in ihrer harschen und schnarrenden Sprache. Von Zeit zu Zeit kam auch meine eigene Stimme zu mir zurück, die darum kämpfte, in der wilden Flucht gehört zu werden. Sie wurde immer heiserer, je weiter der Tag fortschritt, und sie brüllte Kommandos und Ermutigungen, so gut es eben ging. Aber alles wurde überschattet vom Flügelschlag der grauenhaften Schwingen über uns, und übertönt von diesen plötzlichen Schreien, schrill und schneidend wie ein Messer. Und wie die Stunden verstrichen, war es dies, was mir am wirklichsten erschien, während alles andere nur noch gedämpft an mein Ohr drang.

Es kam ein Punkt, an dem meine Stimme versagte, denn ich hatte schließlich begriffen, dass wir trotz all unserer Bemühungen die Stadt nicht mehr erreichen konnten, obwohl wir ihr schon so nahe waren. Es hatte daher keinen Sinn mehr, zu sprechen; alles was mir blieb, war der brutale Akt, zu töten... bis zu dem Moment, da ich selbst getötet wurde. Und dann, eine halbe Meile und ein ganzes Zeitalter von der Stadt entfernt, hörte ich, wie sich etwas anderes über den Schlachtenlärm erhob.

Eine Stimme sang, leise und verloren zuerst; und dann wurde die Melodie von all denen aus den Außenkompanien aufgegriffen, die noch den Willen dazu aufbrachten. Und während ich kämpfte, merkte ich, daß auch ich zu singen vermochte, durch meine Tränen hindurch. Dann wurde das Lied von den Männern aufgenommen, die von den Mauern zusahen, so, als könnten sie uns auf dem Klang ihrer starken Stimmen sicher nach Hause tragen. Die Worte waren einfach, aber sie sprachen von unserer Liebe für Gondor, vom Mut und von der Beharrlichkeit unseres Volkes und von der Festigkeit, mit der wir den Feind zurückwiesen.

Vom Westen her erstrahlt ein Stern
In dunkler Zeit, in schwarzer Nacht
Und ist die Hoffnung uns auch fern,
Gondor hält doch die Wacht.

In Berg und Tälern leuchtet er,
Der Glanz von Gondor, hell und schön.
Noch ungebeugt ist unser Heer
Und Gondor wird besteh’n.

Trotz Dunkelheit bleibt eins gewiss,
wir werden ihn nicht wanken seh'n,
den Heldenmut von Westernis,
und Gondor bleibt besteh’n.

Wir schau’n dem Feind ins Angesicht,
sind siegreich selbst in finst’rer Nacht
Noch scheint vom Westen her das Licht
Und Gondor hält die Wacht.

Erst viele Wochen später, als ich mit Freunden friedlich zusammensaß und schließlich imstande war, über diesen Tag zu sprechen, erfuhr ich, dass die Stimme, die das Lied begann, meine eigene gewesen war. Ich habe nicht die mindeste Erinnerung daran.

Als das Lied endete, ertönte am Rande meines Bewusstseins etwas wie der silberne Klang einer Trompete, und ich glaube, dass sich ein Ruf erhob: „Amroth für Gondor! Amroth zu Faramir!“ Aber in Wahrheit hörte ich nichts mehr, denn noch bevor wir den letzten Vers erreicht hatten, traf mich wieder der Blitzstrahl, und ich hieß ihn willkommen, denn er bedeutete das Ende. Alles wurde still, abgesehen von einem dünnen Flüstern, das mir versprach, was ich mir am sehnlichsten wünschte: Schweigen.

Son returned

Bild: „Herr, Euer Sohn ist zurückgekehrt..." von Anke Katrin Eißmann

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