Wolfsmond
von Cúthalion


Kapitel Sieben
Wolfsmond 

21.00 Uhr

Als Ruta Lupin Stephen Seekers Haus verließ, hatte der Himmel einen Fliederton, gesäumt von dünnen Strähnen aus Pink und Orange. Ein schweres Wolkenband driftete von den steilen Hügeln im Osten herüber und verdeckte den abnehmenden, bleichen Mond. Als sie auf der Türschwelle stand, atmete sie tief ein und wandte sich ihrem Gastgeber zu; die Luft roch nach dem nahenden Regen.

„Ich danke Ihnen,“ sagte sie, „Für die wahre Geschichte, den Wein und das Essen. Es war mir eine echte Freude.“

„Und ein leichtes Vergnügen für mich, Miss Lupin,“ antwortete er; beinahe hätte er sie angelächelt. „Wenn Sie das Bedürfnis nach noch mehr Einzelheiten haben sollten, wäre ich bereit, Sie zu… informieren.“

„Ich würde gern mehr über Tibet hören,“ sagte sie, ein humorvolles Glitzern in den Augen. „Ich frage mich, ob Sie jemals dem Yeti begegnet sind – oder ob er eine bloße Ausgeburt von Gilderoy Lockharts farbiger Einbildungskraft ist.“

„Oh nein,“ sagte er ruhig. „Der Yeti ist echt – nur nicht halb so mörderisch, wie man gemeinhin annimmt. Er ist eine scheue Kreatur, und normalerweise verteidigt er sich nur, wenn man ihn angreift.“

„Was für viele Leute zutrifft, denke ich.“ Sie hielt ihm die Hand hin. „Und übrigens… mein Name ist Ruta.“

Für einen langen Augenblick schwieg er, und Ruta hielt unwillkürlich den Atem an. Sie hatte eine unsichtbare Grenze überschritten, spontan, aber mit voller Absicht… und jetzt war sie nicht völlig sicher, ob er sich nicht einmal mehr vor ihr zurückziehen würde.

„Sehr schön.“ Seine Finger schlossen sich mit einem überraschend kräftigen, warmen Griff um die ihren. „Und mein Name ist Stephen. Gute Nacht… Ruta.“

„Gute Nacht, Stephen.“ Sie wandte sich ab und ging den Weg hinunter und durch das Gartentor, ihre Schritte leichtfüßig und rasch; sie konnte seinen Blick auf sich spüren, bis sie das leise Geräusch der Tür hörte, die sich schloss. Erst dann gestattete sie der tiefen Freude in sich, ihr Gesicht zu wärmen.

*****

21.07 Uhr

Das Lächeln blieb auf ihren Lippen, bis sie um die Ecke zu der kleinen Straße bog, die zu ihrem eigenen Haus führte. Ihr sauberer, kleiner Vorgarten wurde von den fedrigen, hängenden Zweigen einer Weide beschattet, und die Luft war schwer vom Duft der elfenbeinweißen Cymbeline-Rosen, die hinter der Mauer blühten. Sie suchte in der Tasche ihres Gewandes nach den Schlüsseln, als sie plötzlich unter dem schiefergedeckten Vordach, das ihre Tür beschirmte, eine zusammengekauerte Gestalt entdeckte. Donner rumpelte über ihrem Kopf – die dicht gewordenen Wolken verdunkelten jetzt rapide den Himmel, und aus irgendeinem Grund hatte sich die Straßenlaterne noch nicht eingeschaltet. Sie hielt inne und versuchte, den Schatten mit ihren Augen zu durchdringen.

„Hallo…?“

„Ich… ich bin’s.“ Die Stimme war so klein und so elend wie der Junge, der zu ihr hinauf starrte.

Teddy?“ Sie hastete zu ihm hinüber, erfüllt von einer Mischung aus Zorn und Verblüffung. „Was um Himmels Willen tust du denn hier? Gran Dromeda wird völlig außer sich sein, wenn sie herausfindet, dass du verschwunden bist!“

„Ich weiß.“ Nun war der Ton fast noch elender. „Aber… ich hab es nicht ausgehalten. Ich konnte einfach nicht.“

Ruta spürte die ersten, schweren Regentropfen in ihrem Haar und zog den Jungen tiefer in den Schutz des Vordaches; sie setzte sich neben ihm auf die Holzkiste, in der sie ihre Gartenwerkzeuge aufbewahrte. „Was konntest du nicht aushalten?“

„Dass du böse bist auf mich,“ wisperte er. „Du redest nicht mit mir. Du… du redest mit Gran, du redest mit diesem dummen Mr. Seeker… aber nicht mit mir. Und mit Harry redest du über mich! Du hast ihm alles erzählt!“ Jetzt war es eine ausgewachsene Anklage, und trotz ihrer rechtschaffenen Verärgerung hatte sie das Gefühl, dass er nicht völlig Unrecht hatte.

„Das musste ich doch,“ sagte sie sanft. „Er ist dein Pate, und er hatte jedes Recht, von mir eine Erklärung zu verlangen. Aber du solltest zu dieser Zeit am Abend nicht herum stromern,“ fuhr sie streng fort und versuchte, die erzieherischen Zügel wieder in die Hände zu bekommen. „Dein Hausarrest endet erst morgen.“

„Weiß ich.“ Er ließ den Kopf hängen. „Aber ich wollte dich sehen. Seit fast zwei Wochen hast du mir keine Gute-Nacht-Geschichte mehr vorgelesen. Wo… wo bist du denn gewesen, wenn du Gran Dromeda und mich abends nicht besucht hast?“

Ruta zögerte. „Ich habe… ich habe Schach-Unterricht genommen. Mr. Seeker hat angeboten, mir das Spiel beizubringen.“

Sie konnte sehen, dass die Lippen des Jungen zuckten; es sah verdächtig nach heftiger Abneigung aus.

„Ich kann Mr. Seeker nicht leiden,“ sagte er unverblümt. „Seit du ihn getroffen hast, hast du gar keine Zeit mehr für m… für Gran und mich. Die ganze Zeit redest du mit dem, und jetzt gehst du auch noch hin und spielst mit ihm Schach.“ Er holte zittrig Atem. „Und ich musste einen Brief schreiben, um mich zu entschuldigen, für diese… diese blöde Medaille, und Gran hat ihn mich zweimal schreiben lassen, und dabei hab ich beim ersten Mal fast alle Wörter richtig hin gekriegt… und Mr. Seeker hat nicht mal geantwortet!“

Unfähig, sich noch länger zurückzuhalten, zog ihn Ruta an sich. Eine Sekunde lang erstarrte er, dann entspannte sich der kleine Körper und sank mit spürbarer Erleichterung in ihre Berührung hinein. Der Junge gab ein ziemlich wässeriges Schniefen von sich und vergrub sein Gesicht an ihrer Schulter.

„Wenn es keine Antwort gab, dann sicher nicht deswegen, weil es ihn nicht gekümmert hat,“ erwiderte sie sachte. „Vielleicht wusste er einfach nicht, was er sagen sollte… an Entschuldigungen ist er nicht gewöhnt. Und ich bin sicher, sein Ärger über die Medaille ist schon lange vorbei.“

Sie drückte einen raschen Kuss auf das zerzauste Haar.

„Und ich bin auch nicht mehr böse,“ flüsterte sie. „Ich hätte nicht so lange fortbleiben sollen. Es tut mir wirklich Leid.“

Er hob den Kopf und blickte zu ihr auf, seine Augen aufgerissen und hoffnungsvoll.

„Kommst du morgen und liest mir Die Kleine Hexe vor? Gran will mir dasselbe Kapitel nicht öfter als dreimal vorlesen.“

„Höchst verständlich,“ sagte Ruta mit einem Grinsen. „Aber ehe ich irgendwelche Versprechungen mache, sollte ich dich zurück nach Hause schaffen. Vielleicht bringe ich es fertig, dich wieder hinein zu schmuggeln, ehe sie überhaupt mitbekommt, dass du weg warst… oder wir sitzen alle beide in der Patsche.“

Sie beobachtete die schweren Tropfen, die auf den gefliesten Weg plätscherten und zog den Jungen noch einmal an sich.

„Ich sag dir was, Teddy,“ sagte sie. „Der Sturm zieht vorbei, und es ist Zeit, dass ich dich sicher ins Bett bringe. Aber wir sollten warten, bis der Regen aufhört – wie wäre es mit einer ganz kurzen Geschichte, jetzt gleich?“

*****

21.09 Uhr

Neville Longbottom und Harry apparierten in Berwick, gerade als die ersten, zögerlichen Regentropfen sich in einen stetigen Trommelwirbel auf dem Dach verwandelt hatten. Sie betraten das Haus und schüttelten sich wie ein Paar nasser Hunde. Als Ginny ihre tropfenden Mäntel zu Gesicht bekam, schnaubte sie hörbar und entfernte die Pfützen auf dem Holzfußboden mit einem kurzen, resoluten Wedeln ihres Zauberstabes.

Sie machten es sich im vom Kaminfeuer erleuchteten Wohnzimmer bequem; Harry ließ Jamie auf seinem Schoß auf- und ab hüpfen, und Ginny brachte zwei dampfende Becher mit Butterbier. Neville saß in dem Schaukelstuhl und befingerte glücklich ein Buch über seltene Kräuter in der Normandie und der Bretagne, das er an diesem Nachmittag bei Flourish & Blotts gekauft hatte.

„Hast du noch was zum Abendessen übrig?“ rief Harry; er kitzelte seinen Sohn, der ein entzücktes Kichern von sich gab. „Ich hatte heute nichts außer einer Tasse mittelprächtigen Kaffee und ein paar grässlich trockener Muffins, und jetzt könnte ich eine ganze Schafherde verschlingen.“

„Du wirst dich mit Hähnchenbrust und Spinat begnügen müssen, mein Herz“, erwiderte Ginny heiter. „Ruta war heute hier, und wir haben genug Essen gekocht, um Euch beide gründlich abzufüllen.“

„Hähnchenbrust klingt gut, “ sagte Harry und zog heimlich eine Grimasse (er hasste Spinat beinahe so sehr, wie Neville Rosenkohl hasste), „Und wenn du noch ein paar Pommes und Essig dazu servierst, dann hast du einen sehr glücklichen Ehemann. Ist die Muggelzeitung hier irgendwo?“

„Übertreib’s nicht!“ Ginnys lachende Stimme kam aus der Küche. „Du wirst wenigstens einen oder zwei Löffel von Rutas Rahmspinat probieren – nicht einmal Jamie hat ihn ausgespuckt! – und ich bin ziemlich sicher, dass du den Weg zum Briefkasten schaffst, ohne im Flur umzukippen. Die Zeitung muss irgendwo da draußen herumliegen.“

„Ich gehe und hole sie,“ erbot sich Neville, legte das kostbare Buch beiseite und hievte sich aus dem Schaukelstuhl, „obwohl ich nie begreifen werde, wieso du dauernd dieses alberne Zeug lesen musst.“

„Informationen,“ sagte Harry und hob belehrend einen Zeigefinger – leider verdarb er die Wirkung, als er seine Brille aus dem Griff seines Sohnes retten musste. „Ich möchte einfach wissen, was in der Gegend passiert, und nachdem die Zaubererpresse die Muggelnachrichten mehr oder weniger ignoriert, sind die Lokalzeitungen der beste Weg, etwas herauszufinden. Und es ist kein albernes Zeug.“

„Autorennen!“ Neville gab ein unterdrücktes Schnauben von sich. „Was könnte wohl alberner sein als zwei Seiten über eine Handvoll Muggel, die in diesen stinkenden, dröhnenden Maschinen sitzen und im Kreis herum fahren, in irgendeiner hässlichen Stadt mitten in Belgien?“

„Nicht in der Eskdale Gazette,“ entgegnete Harry, der sich noch lebhaft an Nevilles erste, fassungslose Begegnung mit einem Muggel-Sportmagazin erinnerte. „Und ich bezweifle, dass ein Muggel-Rennfahrer es leicht fände, die Grundlagen von Quidditch zu begreifen – ich hatte am Anfang ganz sicher ein paar Schwierigkeiten.“

Ha!“ Das war wieder Ginny, jeder Zoll die gefeierte Jägerin der Holyhead Harpies. Neville lachte und trollte sich in den Hausflur.

Harry setzte sich ein wenig bequemer in seinem Polstersessel zurecht; Jamie war ein warmes, lebendes Gewicht in seinen Armen, das sich gähnend an seine Schulter schmiegte. In wenigen Minuten würde das Baby schlafen, und er konnte es hinüber ins Kinderzimmer tragen. Harry sah zu, wie Ginny in dem kleinen Esszimmer den Tisch deckte, und wieder traf ihn das atemlose Staunen über das, was er besaß, wie ein sanfter Schlag. Ein köstlicher Duft wehte aus der Küche herein, und er entschied, dass sein häuslicher Frieden sicher ein paar Löffel Spinat wert sein würde…

Harry.“

Er drehte sich um; die plötzliche Bewegung sorgte dafür, dass James einen kleinen, protestierenden Laut von sich gab.

Neville stand in der Tür zum Vorraum, die vertrauten, täglichen Ausgaben der Eskdale Gazette und des Tagespropheten in seiner Linken. Die andere Hand umklammerte eine dritte Zeitung, die aus kaum mehr als vier Seiten bestand. Harry sah den Ausdruck auf seinem Gesicht und erhob sich rasch aus seinem Sessel.

“Neville? Was ist los?“

„Hier.“

Harry nahm die dünne Zeitung und sah die Schlagzeile; seine Augen weiteten sich, als er zu lesen begann.

Geheimnisvoller Mörder tötet hilflosen, alten Mann und seinen Hund

Alle Bürger von St. Mary Green und Berwick werden angewiesen, unter allen Umständen in ihren Häusern zu bleiben

Von Ernie Pembroke

Heute Morgen wurde Ezra Donohue (81) ermordet in seinem Cottage in St. Mary Green aufgefunden. Constabler Bernie Smithers hatte bei seiner üblichen Runde festgestellt, dass die Tür zum Cottage in der Oak Lane offen stand. Donohues Hund wurde ebenfalls tot aufgefunden. Beide Opfer waren übel zugerichtet.

Donohue wurde kürzlich verdächtigt, in Verbindung mit einem Massenausbruch von Schafen auf der Farm von Tom Kerrey zu stehen, sagte Kerreys Schwiegermutter, Mrs. Eleanor Carpenter, wohnhaft in der Mill Road. „Der arme, alte Mann meinte, das sei ein Monster aus den Hügeln gewesen,“ sagte sie unserem Reporter heute Nachmittag. „Aber wir haben das nie ernst genommen. Die Fußspuren in der Nähe der Koppel waren riesig, und sein Hund war der Einzige, der groß genug war, dass sie passten. Aber es war schwierig, Ezra zu verstehen; er war gewissermaßen ein Einsiedler, sehr exzentrisch und scheu.“

Scheu oder nicht, mit dem Monster mag er Recht gehabt haben. Constabler Smithers hat das Gefühl, dass – was immer Mann und Hund umgebracht hat – nicht menschlich gewesen sein kann, und die neuesten Berichte aus der Pathologie stimmen damit überein. Der Pathologe in Keswick, Dr. Franklin Beresford, bestätigt, dass die Wunden an den Leichen von großen Klauen und Fängen verursacht wurden. „Rasiermesserscharf,“ warnt er.“ Es handelt sich wohl um eine Art großes Raubtier – vielleicht aus einem Zoo, oder eher noch aus einem privaten Wildgehege entkommen. Wir haben alle autorisierten Tierparks gebeten, ihre Bestände zu überprüfen."

Alle Bürger werden gebeten, so weit wie möglich im Haus zu bleiben und die Fenster verschlossen zu halten. Melden Sie ungewöhnliche Geräusche an die Telefon-Nummer 999, aber versuchen Sie nicht, sich der Bestie zu nähern. Die Behörden tun ihr Möglichstes, es einzufangen, und unsere Zeitung wird Sie auf dem Laufenden halten.

Unter dem Artikel sah Harry eine Schwarzweiß-Aufnahme, die ein ziemlich schäbiges Cottage zeigte. Die Tür war fast aus den Angeln gerissen worden, und obwohl man die Überreste von Ezra Donohue und seinem Hund gnädigerweise entfernt hatte, offenbarten die großen, dunklen Flecken auf der Schwelle und ein paar hässliche, lange Spritzer an der Wand genug über das Drama, dass sich Harry der Magen umdrehte. Überall war Absperrband zu sehen, und ein halbes Dutzend Männer mit Gummihandschuhen untersuchten sorgfältig den Boden.

Er hob den Blick von der Seite und fand seine eigene Bestürzung in Nevilles Gesicht widergespiegelt. Der jüngste Professor für Kräuterkunde schien mit einem Mal ein gutes Dutzend Lebensjahre verloren zu haben; er glich Zoll für Zoll dem verängstigten, kleinen Jungen, der während seiner ersten Zeit in Hogwarts wundersamerweise jede vorstellbare Katastrophe auf sich gezogen hatte.

„Erinnerst du dich daran, was uns Ruta gestern über den alten Mann erzählt hat?“ murmelte er.

Ein Monster in den Hügeln. Harry spürte, wie ihm ein Schauder den Rücken hinunter lief, und er verstärkte seinen Griff um Baby James, in einer unbewusst beschützenden Geste.

*****

21.19 Uhr

Der größte Teil des Regens war in einem kurzen, heftigen Schauer gekommen und wieder gegangen, und die wenigen, verspäteten Tropfen fühlten sich auf der Haut warm an, also wollte Ruta nicht länger warten. Ein rascher Trockenzauber würde die restliche Feuchtigkeit beseitigen, sobald Teddy wieder Zuhause war.

„Ich könnte Grans Spalier hoch klettern“, erbot er sich eifrig, während sie die Mill Road entlang auf die Abbiegung zu, die zu Andromedas Cottage führte.

„Du wirst nichts dergleichen tun,“ sagte Ruta mit Festigkeit. „Das Letzte, was wir jetzt noch brauchen, ist, dass du dir den Hals brichst, während du dich wieder hinein schleichst, nachdem du dich ohne Erlaubnis hinaus geschlichen hast.“

„Was glaubst du wohl, wie ich raus gekommen bin?“ gab Teddy zurück und zeigte ihr ein keckes Grinsen. Ruta schüttelte den Kopf.

„Du bist unverbesserlich.“

Es war sehr still; abgesehen von ihren gemeinsamen Schritten gab es kaum ein Geräusch. Wie schon früher an diesem Abend fand sie es ein wenig eigenartig, dass sich niemand auf der Straße aufhielt; schließlich war es noch immer Sommer, die Ferien waren noch nicht vorüber und sie hätte wenigstens ein paar Nachbarn erwartet, die von einem Besuch zurückkehrten, oder Kinder – außer ihrem Neffen – die von einem sorglosen Ausflug nach Hause kamen.

Sobald sie Teddy wieder in die Obhut seiner ahnungslosen Großmutter abgeliefert hatte, würde sie sich die Zeit nehmen, sich in Frieden hinzusetzen und über den Tag nachzudenken. Sie konnte noch immer die ruhige, heisere Stimme hören, wie sie ihr von fremden, weit entfernten Orten erzählte, von ungesehene Landschaften und den Geheimnissen seltener Heiltränke, die nie zuvor gebraut worden waren.

Ihr unbeirrte Glaube an mein Verantwortungsgefühl ist ziemlich rührend, Miss Lupin.

Wieder spürte sie, wie sich ihr Gesicht in einem heimlichen Lächeln entspannte, und ihre Füße fanden den Weg zu Andromedas Haus fast von allein, während sie gedankenverloren dahin schlenderte.

Es war der Geruch, der sie aus ihrer Träumerei aufschreckte… ein Übelkeit erregender Gestank nach ranzigem Schweiß und Schmutz, und nach noch etwas anderem, das dafür sorgte, dass die feinen Härchen in ihrem Nacken sich alarmiert aufstellten.

Blut. Etwas – jemand – stank nach Blut.

Sie blieb abrupt stehen, Teddys Hand in einem harten Klammergriff.

„Tante Ruta?“ Er versuchte sich zu befreien. „Tante Ruta, was ist denn los?“

Schsch…“

Die Straße wurde nur schwach von einer einzelnen Lampe in der Entfernung erhellt. Aber nun waren ihre Sinne durch die plötzliche Vorahnung einer Bedrohung geschärft; sie registrierten die Schritte einer weiteren Person auf dem Bürgersteig, und dann traf sie der Gestank erneut wie eine Wolke und ließ sie nach Luft schnappen.

Sie reagierte, wie man es sie vor all den Jahren in der Schule gelehrt hatte, und dankenswerterweise arbeiteten ihre Instinkte noch immer zuverlässig. Eine Drehung ihres Handgelenkes, und der Zauberstab aus Weide glitt aus ihrem Ärmel und in ihre Finger.

Lumos!“

Jetzt konnte sie deutlich sehen. Im nächsten Moment trat eine dunkle, hoch gewachsene Gestalt aus den Schatten kaum zehn Meter voraus. Es war ein Mann, mit grauem, ungepflegten Haar und struppigen Koteletten. Der weite, lange Mantel, den er trug, war mit großen, dunklen Flecken beschmiert… und mit entsetzlicher Klarheit begriff sie, wo der Blutgestank herkam, denn sie kannte diesen Mann, diese Ausgeburt von Bosheit und Finsternis, und ihre gesamte Willenskraft war vonnöten, den Zauberstab nicht aus Fingern fallen zu lassen, die plötzlich kalt waren und taub.

„Was für ein Vergnügen!“ Die gesenkte, kratzige Stimme war erfüllt von grausamer Fröhlichkeit. „Das letzte Mal, als wir uns begegnet sind, warst du viel jünger, mein kleines Püppchen, und ich fand dich viel… appetitlicher. Aber ich will mich nicht beklagen – dein süßer Cousin war eine echte Köstlichkeit. Und schau, was für einen saftigen Bissen du mir heute mitgebracht hast!“

Teddy. Bitte, nicht Teddy.

Ohne nachzudenken, stieß sie den Jungen hinter sich und hielt ihn mit einem Arm in der schützenden Deckung ihres fülligen Gewandes. Die andere Hand zielte mit dem Zauberstab auf die Kreatur vor sich. Die Wolken über ihren Köpfen trieben auseinander, und das Licht des abnehmenden Mondes erleuchtete die Straße und wurde von den Pfützen im unebenen Asphalt widergespiegelt.

Er kann sich nicht verwandeln, dachte Ruta, von plötzlicher Hoffnung erfüllt. Dem Himmel sei Dank, er kann sich nicht in einen Wolf verwandeln. Sie sah die winzige Chance, die sich ihr bot und nutzte sie.

Stupor!“

*****

21.21 Uhr

„Was für ein…“ Harrys und Nevilles Augen begegneten sich erneut. „Ein Werwolf kann es doch sicher nicht sein, oder?“

„Das ist kaum möglich,“ sagte Neville und schaute zu dem Kalender hinüber, der an der Wand hing „Nicht die richtige Zeit im Monat.“

„Hmmmm…“ Automatisch begann Harry, Jamie über den Kopf zu streicheln. Die Empfindung des kleinen Schädels und des flaumigen Haarschopfs unter seiner Hand versäumte normalerweise nie, ihn zu beruhigen… aber dieses Mal wollte die schlichte Geste ihren uralten, wundersamen Zauber nicht wirken.

„Aber wenn es kein Werwolf ist, was kann es dann sonst sein? Ein Tiger, der aus einem Zirkus entlaufen ist?“

Neville starrte ihn verblüfft an. „Ein Zirkus?“

„Eine Truppe von Jongleuren und Akrobaten, die ihre Kunststücke in einem Zelt vorführen,“ erklärte Harry. „Sie reisen von Stadt zu Stadt, und sie haben oft wilde Tiere, sogar Löwen und Polarbären… oder Kamele.“

Neville räusperte sich. „Harry, das weiß ich,“ sagte er. „Gran hat mich zweimal in den Zirkus mitgenommen, als ich ein Kind war.“

Oh.“ Harry kam sich ein wenig dämlich vor. „Natürlich.“

„Aber wenn ein Löwe oder ein Tiger aus einem Zirkus entwischt wäre, dann würden die Muggel es doch wissen, oder nicht? So viele Tiere haben die meisten Zirkusse gar nicht,“ fuhr Neville fort, eine tiefe, senkrechte Falte zwischen den Augenbrauen. „Dieser Kerl von der Zeitung schreibt, dass es, eine Art großes Raubtier’ gewesen sein muss. Und obwohl ich annehme, dass dieser Muggel-Pathogol… Pathologe weiß, wovon er spricht, war er sich trotzdem nicht ganz sicher, was für eine Sorte Tier genau den alten Mann umgebracht hat.“

„Also gut,“ sagte Harry. „Aber was für eine Sorte Tier war es dann? Ist es möglicherweise ein Wolf, der aus irgendeinem Privatgehege geflüchtet ist?“

„Vielleicht.“ Neville trat zum Fenster hinüber und schaute hinaus. Während sie miteinander sprachen, hatte der Regen aufgehört, und die dicken Wolken segelten rasch an der geschrumpften Silberscheibe am Himmel vorüber. „Aber normale Wölfe sind extrem scheu, wenn sie auf Menschen stoßen. Ich denke nicht, dass einer davon so leicht einen alten Mann in seinem Haus angreifen würde. Er würde Schafe töten und fressen, um seinen Hunger zu stillen. Und der Artikel sagt bloß etwas über eine ,Massenflucht von Schafen’. Offenbar wurde nicht ein einziges davon getötet.“

„Statt dessen war es Ezra Donohue, der starb,“ sagte Harry langsam; seine Auroreninstinkte begannen sich zu regen. „Und Ezra Donohue war derjenige, der über ein ,Monster in den Hügeln’ geredet hat. Er hatte die Bestie schon einmal gesehen…“

Neville starrte ihn an.

„Was meinst du damit?“ sagte er scharf. „Dass der arme alte Kauz getötet wurde, weil er irgendwas bemerkt hatte – oder irgendjemanden – und weil er anfing, den Leuten davon zu erzählen?“

Harry erwiderte seinen Blick, ein ungutes Gefühl im Magen. „Wieso nicht? Natürlich…“ Er stand aus seinem Sessel auf und fing an, um Raum hin- und her zugehen, das schläfrige Kind in den Armen. „… natürlich würde uns das zu der Werwolf-Theorie zurückbringen.“

„Für einen Werwolfangriff ist es nicht die richtige Zeit im Monat,“ erinnerte Neville ihn geduldig.

„Nicht die Zeit für einen normalen Werwolf, jedenfalls“ antwortete Harry, dessen Geist wie besessen arbeitete. „Es gibt einen Werwolf, den ich kenne, dem wäre es völlig egal, ob der Mond voll ist oder nicht, so lange er hinter jemandem her ist. In menschlicher Gestalt ist er genauso eine Bestie wie dann, wenn er sich verwandelt.“

Neville holte tief Luft.

„Greyback,“ sagte er leise. „Du sprichst von Fenrir Greyback.“ Harry sah, dass er krampfhaft schluckte. „Aber Harry… glaub mir, das ist unmöglich.“

„Kannst du mir beweisen, dass er tot ist?“ gab Harry zurück. „Ich weiß, du und Ron, Ihr habt ihn während der Zweiten Schlacht besiegt, aber… kannst du mir schwören, dass er wirklich gestorben ist? Hat irgendjemand vor acht Jahren seinen Kadaver gefunden?“

„N… nein.“ Nevilles Ton war beinahe wütend.

„Er könnte noch am Leben sein,“ sagte Harry. „und er hätte keinerlei Skrupel, jemanden zu quälen oder zu ermorden. Und wenn er es fertig gebracht hat, sich während der letzten paar Jahre versteckt zu halten, und wenn er jetzt beschlossen hat, her zu kommen…“

„Aber wieso?“ Neville schüttelte den Kopf. „Harry, weswegen?“

Plötzlich machte die ganze Sache Sinn. Es war der schiere Wahnwitz, aber Sinn machte es trotzdem.

„Ginny?!“

Der Name seiner Frau kam weit schärfer heraus, als er es beabsichtigt hatte; Jamie fuhr in seinem Griff zusammen und fing an zu weinen. Ginny erschien auf der Türschwelle, die Augenbrauen hochgezogen.

„Tut mir Leid, Liebes,“ sagte Harry und hielt ihr seinen Sohn entgegen. „Es scheint, als hätten wir hier einen Notfall. Würdest du Jamie nehmen… und das hier lesen?“

Er reichte ihr erst den Jungen und dann die dünne Ausgabe der Eskdale Gazette. Sie setzte sich das Kind fest auf die Hüfte und fing an, den Artikel zu überfliegen. Nach einem kurzen, angespannten Moment hob sie den Kopf; sie war sichtlich erblasst.

„Ein wildes Tier?“ flüsterte sie. „Und es hat diesen armen, alten Mann getötet?“

„Ja,“ sagte Harry grimmig. „Aber es war kein normales Tier. Ich bin ziemlich sicher, dass es sich um Fenrir Greyback handelt.“

Er ignorierte das schockierte Aufkeuchen seiner Frau und Nevilles Versuch, ihn einmal mehr zu unterbrechen, und fuhr in leisem, drängenden Ton fort: „Ich weiß, das klingt verrückt, aber ich habe nicht die Zeit, jetzt alles zu erklären. Ich möchte, dass du Jamie nimmst, Liebste, und sofort zum Fuchsbau gehst. Ich glaube nicht, dass er hinter mir oder meiner Familie her ist, aber… ich werde kein Risiko eingehen, wenn ich es nicht muss.“

Ginny starrte ihn an und er wartete, zitternd vor Nervosität. Plötzlich bildeten ihre Lippen eine schmale, entschlossene Linie. „Und ich auch nicht,“ sagte sie, trat vor und gab ihm einen kurzen, intensiven Kuss; er konnte den warmen Körper des schläfrigen Kindes zwischen ihnen fühlen. „Ich gehe und packe eine kleine Tasche, aber bevor ich das mache, würdest du mir sagen, hinter wem Greyback her ist, wenn wir nicht sein Ziel sind?“

„Teddy,“ erwiderte er. „Hinter Teddy ist er her… und vielleicht auch hinter Ruta. Teddys Großvater hat ihn schwer beleidigt, und er nahm Rache, indem er Teddys Vater biss. Remus war nur der erste Lupin, über den er diesen Fluch gebracht hat, und jetzt ist er zurückgekommen, um seine Arbeit zu beenden und die gesamte Familie zu vernichten.“

„Dann solltest du nicht versuchen, es allein mit ihm aufzunehmen,“ sagte Ginny, ihr Gesicht hart von eingefrorenem Zorn. „Nimm Neville mit – er hat ihn schon einmal fast erledigt, und er verdient die Chance, die Welt von diesem Stück Dreck zu befreien.“ Sie wirbelte herum und verließ das Zimmer; Harry konnte ihre schnellen Schritte auf der Treppe hören.

Er wandte sich an Neville. „Ich hoffe, ich bilde mir das Ganze bloß ein, aber wenn nicht…“

Neville nickte. „Bloß nichts riskieren. Gehen wir.“

*****

21.24 Uhr

Ein roter Lichtstrahl traf Greybacks Hals; er taumelte, aber er fiel nicht, und damit zerschmetterte er Rutas Hoffnungen, dass sie vielleicht stark genug sein würde, ihn allein zu Fall zu bringen. Mit sinkendem Herzen begriff sie, dass ihre Möglichkeiten, sich und das Kind zu schützen, limitiert waren, Sie war in Verteidigung gegen die Dunklen Künste nie eine übermäßig begeisterte Schülerin gewesen, und sich aus der Schusslinie zu halten, hatte sie aller Chancen beraubt, die Kampferfahrung zu gewinnen, die sie jetzt verzweifelt nötig hatte.

Denk an die Legenden.

Remus’ Stimme, so laut und deutlich, als ob er neben ihr stünde. Sie blinzelte, und ein Schauer rann ihr das Rückgrat hinunter. Und plötzlich war ihr Geist vom warmen, grüngoldenen Licht eines Sommernachmittags erfüllt, der mehr als fünfzehn Jahre zurücklag… und von der Erinnerung an ihren Cousin, der ihr erzählte, wie Menschen in lang vergangenen Zeiten Werwölfe bekämpft hatten… vom Mond und von dem Metall, das so eng mit ihm verbunden war.

Sollte ich mich jemals in deiner Gegenwart verwandeln, dann musst du mich auf diese Weise bekämpfen.

Sie konnte nur hoffen, dass er Recht hatte. Zu ihrer Überraschung kräuselten sich ihre Lippen zu einem kleinen, ironischen Lächeln. Immerhin war er ein Experte gewesen.

Wieder hob sie ihren Zauberstab; diesmal zeichnete sie ein Rechteck in die regenfeuchte Luft.

Murus Argentum!”

Zuerst schien der Zauberspruch keine Wirkung zu haben. Dann erschien ganz plötzlich ein Ziegelstein aus dem Nichts, ein genaues Spiegelbild des Umrisses, den sie mit ihrem Stab beschrieben hatte. Ein zweiter Ziegelstein erschien, dann ein dritter und vierter und noch mehr; sie bildeten eine halb durchscheinende, silbrig schimmernde Mauer, hoch genug, Greybacks verdutztes Gesicht zu verbergen, eine Mauer, die sich rings um ihn schloss wie ein Turm ohne jegliche Tür.

Ruta stieß ihren angehaltenen Atem aus und spürte, wie sich Teddys eiskalte Finger um ihre Hand schlossen. Als der Junge sprach, zitterte seine Stimme beinahe genauso heftig wie ihre Knie.

„Was… was war das?“

Sie schluckte. „Die alten Geschichten sagen, dass man Werwölfe nur mit Silber besiegen oder töten kann. Ich bin ganz sicher nicht imstande, ihn zu töten, und ich weiß nicht, wie lange der Zauber wirkt, ehe er nachlässt. Wir müssen weg von hier, schnell.“

Sie hatten nur ein paar hastige Schritte gemacht, als sie die Stimme hinter sich hörte und erstarrte. Teddy stolperte und klammerte sich an ihren Ärmel.

„Sehr amüsant.“ Es war fast ein Schnurren. „Ich muss allerdings zugeben, dass es eine hübsche Idee war. Hat dein schmackhafter, kleiner Cousin dir diesen Trick beigebracht? Sehr originell, wirklich.“

Sie drehte sich um, die Augen vor Schreck geweitet. Die Mauer hatte sich in Luft aufgelöst; Fenrir Greyback stand kaum fünfzehn Fuß von ihr entfernt und streckte sich träge, ein triumphierendes Grinsen auf dem Gesicht.

„Überrascht?“ Er lachte, ein hässliches, knurrendes Geräusch. „Hast du wirklich gedacht, ich hätte inzwischen nicht gelernt, wie man überlebt? Ich weiß verdammt gut, dass der Dunkle Lord nicht mehr in mir gesehen hat als ein bloßes Werkzeug – ein Bluthund, dessen man sich bedient… und dass seine kostbaren Todesser mich niemals wirklich ernst genommen haben.“

Sein Ton war erstaunlich bitter, aber während er fortfuhr, klang er immer selbstzufriedener.

„Und sieh dir an, wo sie jetzt sind – der Dunkle Lord, besiegt von einem dummen Jungen, die meisten seiner hirnlosen Diener tot oder drauf und dran, in ihren dreckigen Zellen in Askaban zu verrotten. Sie sind erledigt, und ich bin es nicht. Ich bin immer noch da.“

Wieder lachte er.

„Ich habe Verbündete gefunden, die sich nicht einmal der Dunkle Lord je erträumt hat. Ich habe Macht gefunden, weit über alle Vorstellungen hinaus. Jetzt kann mir Silber nicht mehr schaden, und der Mond regiert nicht länger über mein Leben. Jetzt bin ich es, der den Mond beherrscht.“

Greyback kam langsam näher und leckte sich die Lippen.

„Und ich werde mir den Nachwuchs deines Cousins zum Welpen nehmen,“ murmelte er; seine Augen glitzerten. „Ich werde ihn die Süße von menschlichem Blut lehren, und das Entzücken an zerrissenem Fleisch. Aber zuerst nehme ich dich, mein Püppchen. Es wird Zeit… ich habe mehr als dreißig Jahre darauf gewartet, dich zu nehmen.“

Sie starrte ihn an, gebannt wie ein Kaninchen vor der Schlange. Ihr Mund war trocken… und plötzlich war da ein schriller Schrei, scharf und wütend wie ein Peitschenschlag.

„Du wirst meiner Tante nicht wehtun!“

Teddy?

Der Junge stand vor ihr, hoch aufgerichtet und bolzengerade. Sie hatte keine Ahnung, wie um Himmels Willen er vorhatte, sie zu verteidigen, nicht einmal, wann genau er eigentlich ihre Finger losgelassen hatte, aber inmitten ihrer eisigen Panik und Hoffnungslosigkeit wärmte seine unvermutete Ritterlichkeit ihr das Herz. Bevor sie auch nur den Versuch machen konnte, ihn zurückzuziehen, streckte er die rechte Hand aus und deutete mit einer Geste der Anklage und Verdammnis auf Greyback.

„Du wirst meiner Tante nicht wehtun!“ wiederholte er, und plötzlich erschien eine Stichflamme auf Greybacks Hals; sie versengte den fleckigen Mantel und kletterte zu den Koteletten und Augenbrauen der Kreatur hinauf, die sie bedrohte. Greyback fuhr mit einem entsetzten Aufjaulen zurück, und endlich löste sich Ruta aus ihrer hilflosen Erstarrung. Sie schwang den Zauberstab.

Incendio!“

Eine Barrikade aus Feuer sprang zwischen ihnen hoch und überspülte den Gehsteig und die Häuser zur Rechten und zur Linken mit flammendem Gold und Karmesin. Wieder schrie Teddy; frische Funkenschauer tanzten auf Greybacks struppigem Haar und er bäumte sich auf. Sein Jaulen verwandelte sich in tierisches Geheul.

Ruta wirbelte herum. „Teddy, lauf!“

Teddy tat sein Bestes, ihr zu gehorchen. Er schoss davon und platschte durch die Pfützen in die Richtung von Dromedas Haus. Aber dann, machte er den fatalen Fehler, für eine Sekunde zurückzuschauen, und seine nackten Zehen in den Ledersandalen stießen gegen die Bordsteinkante. Ruta hörte ihn aufschreien, als er das Gleichgewicht verlor und der Länge nach hin stürzte. Er rollte sich auf den Rücken; sein rechtes Bein war in einem schmerzhaften, merkwürdigen Winkel gekrümmt. Nur Sekunden später war sie neben ihm. Es blieb keine Zeit mehr, das Bein zu untersuchen, und es war auch nicht nötig… sie wussten beide, dass er nicht mehr würde flüchten können.

Crucio!“

Der Fluch traf sie von hinten und setzte jeden Nerven und Muskel mit rasenden Schmerzen in Brand. Ruta fühlte, wie ihr Körper neben Teddy auf dem Gehsteig aufschlug; ihre Glieder zuckten unkontrolliert, während sie ihre Qual in den feuchten Asphalt hinein schrie. Weit entfernt spürte sie, wie ihr der Zauberstab aus dem Fingern glitt.

*****

21.30 Uhr

Stephen Seeker saß in seiner Studierstube und versuchte, sich auf den Brief zu konzentrieren, den er gerade schrieb. Er konnte Winky in der Küche hören, wo sie Teller und Besteck sauber machte. Er legte den Federkiel hin und erhob sich aus seinem Stuhl; der kurze Regenschauer war vergangen, und er verspürte das überwältigende Bedürfnis nach frischer Luft.

Er ging zur Tür hinaus und trat plötzlich auf etwas, das auf dem Boden lag. Als er sich bückte, fand er eine der Muggelzeitungen, die er regelmäßig erhielt, aber nur selten las. Sie war allerdings ungewöhnlich dünn… möglicherweise irgendeine Art farbenfroher Werbung, für die er sich noch weniger interessierte als für Muggel-Tratsch. Er wollte den dünnen Papierstapel gerade in den Vorraum werfen, als ihm endlich die Schlagzeile auffiel.

Seekers Augen überflogen die Buchstaben, nahmen die Botschaft des Textes in sich auf und weiteten sich in plötzlichem Begreifen, als er die Bedeutung verstand und zu den selben Schlüssen gelangte wie Harry Potter… und aus noch mehr Gründen, denn er kannte den Mörder in diesem Fall, kannte ihn nur zu gut, und Remus Lupins Geschichte kannte er auch.

Ruta war eine Lupin, genauso wie Teddy.

Er langte nach seinem Mantel und war zur Tür hinaus, bevor der vorsichtigere Teil seines Gehirns die Chance bekam, wieder die Kontrolle zu übernehmen; er hastete den regennassen Weg hinunter und hinaus auf die Straße. In dem Augenblick, als er den Garten verließ, hörte er ein Geräusch aus der Entfernung… jemand sprach in lautem, befehlenden Ton, deutlich genug, das es an sein Ohr drang, und dann war da das schmerzhafte Kreischen einer anderen Stimme… einer Stimme, die nicht ganz und gar menschlich war.

Er gestattete sich nicht den Luxus von Skrupeln oder Achtsamkeit. Er fing an zu rennen und kanalisierte seine Stärke einzig und allein darauf, schnell zu sein; das Geräusch seiner Schritte hallte von den Häusern rings um ihn wider, wo die Muggel sich zweifellos den ganzen Tag versteckt gehalten hatten, zum Schutz vor einer Gefahr, deren Ausmaß sie auch nicht annähernd begriffen.

Er erreichte die Biegung der Straße und entdeckte aus dem Augenwinkel ein seltsames, flackerndes Aufblitzen von Helligkeit zu seiner Rechten. Sie musste einen Incendio-Zauber verwendet haben. Kluger Einfall, aber viel Zeit würde es ihr nicht erkaufen. In einem plötzlichen Aufleuchten der Erinnerung sah er Ruta Lupin früher an diesem Abend in seinem Haus sitzen, ihr Gewand ein sanfter Farbfleck im dunkelnden Wohnzimmer; er sah den Schimmer der kleinen , edelsteinbesetzten Blüten an ihren Ohrläppchen, als sie den Kopf wandte, um auf eine Frage zu beantworten… und er hörte ihre Stimme, warm und ruhig, die ohne Misstrauen oder Furcht mit ihm sprach.

Mit einer blitzartigen Bewegung zog Stephen Seeker seinen Zauberstab; in diesem Moment verschwendete er keinen Gedanken an seine lang vorbereitete, falsche Identität. Er breitete die Arme aus wie die Schwingen eines riesigen Raben, der sich in die Luft erhebt, und er spürte, wie der Boden unter seinen Füßen schwand.

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21.32 Uhr

Ruta rang schluchzend nach Atem, stützte sich auf und wandte sich dem Wahnwitz hinter sich zu, steif und unbeholfen wie eine alte Frau.

Greyback sprach den zweiten Fluch, den sie erwartete, nicht aus. Er öffnete weit die Arme, und sein Mantel riss entlang der Schultersäume auf und fiel von seinem Körper ab, rasch gefolgt von den Überresten seiner Hose und seines Hemdes. Haare sprossen aus seiner bleichen Haut, ein Fell, das rasch seine Brust, seine Leiste und seine Beine überwucherte. Er fiel auf die Knie, und sein Gesicht wölbte sich auf obszöne Weise vor, während es eine lange Schnauze mit rasiermesserscharfen Zähnen bildete. Er sprang mit Leichtigkeit über die letzten, flackernden Flammen, vierbeinig, die Augen, leuchtend gelbes Gift in der mondhellen Nacht; ein heiseres Knurren drang tief aus seiner Brust.

Sie wusste, dass sie verloren war. Ihr Feind war zu schnell und zu stark, und es gab keine Chance, rechtzeitig ihren verlorenen Zauberstab wiederzufinden, zu flüchten oder auf irgendeine, mögliche Hilfe zu warten. Er bewegte sich mit langsamer, boshafter Anmut auf sie zu; offenbar genoss er seinen ungefährdeten Sieg bereits im Voraus. Sie sah ihn an, ihr Geist erstaunlich kalt und klar, erfüllt von dem einzigen, bewussten Gedanken: Nicht Teddy. Besser ich als Teddy.

Sie sah, wie sich der lange Körper vor ihr anspannte und vorbereitete für den tödlichen Satz; sie nahm alle Stärke zusammen, die sie aufbringen konnte und warf sich nach vorne. Der rasche Strom der Zeit gerann zu der zähen Beschaffenheit gefrierenden Wassers. Ruta schoss durch eine dicke Mauer aus eisigem Schweigen; mit schwacher Verblüffung und von sehr weit weg registrierte sie den barbarischen Laut, der aus ihrer Kehle kam… und dann krachte sie in ihren Angreifer hinein, verkrallte ihre Finger in Fell und Haut und spürte ein Wolke aus heißem, fauligen Atem auf ihrem Gesicht.

Die Welt kehrte zu ihrer normalen Geschwindigkeit zurück, ein kreischender Mahlstrom aus Lärm, Furcht und Qual. Sie fielen zu Boden, aneinander geklammert in der grimmigen Travestie einer Umarmung von Liebenden. Ein betäubendes Geheul erfüllte Rutas Ohren, und mit einer schnellen, gewaltsamen Bewegung rollte er sie herum und war über ihr, vor sie auch nur die geringste Chance hatte, sich zu rühren. Sein Gewicht presste ihren Körper gegen den Boden und trieb ihr die Luft aus den Lungen. Er zielte auf ihre Schulter und zerriss Fleisch und Gebein; der Schmerz war entsetzlich, und sie spürte, wie ihr Griff erschlaffte. Dann bohrten sich die scharfen Zähne tief in ihren rechten Arm. Sie hatte keinen Atem mehr übrig, um zu schreien. Aus der Entfernung hörte sie den schwindenden Klang einer menschlichen Stimme; sie rief Worte, die sie nicht länger verstehen konnte. Die Welt wurde dunkel, und mit erschöpfter Dankbarkeit kreiselte sie hinab in ein schwarzes Vergessen.

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Neville bezieht sich auf das Formel Eins-Rennen in Spa. Und ich bin ganz seiner Meinung.

Murus Argentum bedeutet „Mauer aus Silber"


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