In meinen dunklen Träumen
von Cúthalion


3. Kapitel
Einen Herzschlag nur von mir entfernt

Sie wurde in ihren fiebergeschüttelten Körper hineingeschleudert wie ein Holzscheit ins Feuer. Da waren Stimmen, das weit entfernte Summen von Silben, die sich langsam in Worte verwandelten.

...„Meister Gamdschie?“

„Ja, Päonie?“

„Wird es ihr wieder gut gehen? Andi Hornbläser sagt, wenn wir heute Abend das Fieber nicht herunter bringen, dann könnte sie vielleicht...“

„Schsch, Lämmchen, reg dich nicht auf. Das hier ist eine der stärksten Frauen, die ich je getroffen habe, sag ich dir. Ab mit dir in die Küche, Kind, und hilf deiner Mama mit dem Apfelgelee. Ich wette, Tantchen Lily wird mehr als glücklich sein, es auf einem Butterbrötchen zu probieren, sobald sie aufwacht.“

Das leise Geräusch einer Tür, die sich schloss, und das Knarren des Stuhles neben dem Bett. Eine schwielige Hand, die sich um ihre schlafen, heißen Finger schloss.

„Lily.“ Eine ängstliche Stimme dicht an ihrem Ohr. „Lily... Mädel... kannst du mich hören? Komm zurück, Liebchen, ich bitte dich.“ Eine lange Pause. „Komm zurück, bitte. Wenn ich ihn eines Tages wirklich wiedersehe, dann will ich ihm nicht sagen müssen, dass wir dich auf diese Weise verloren haben. Komm zurück, Lily.“

*****

Sie kreiselte in den Nebel zurück, hinein in Finsternis und Leere - und plötzlich war da feuchte Erde unter ihren Füßen. Sie war in ihr mit der Krankheit ringendes Selbst hinein- und wieder hinausgetragen wurden, blind, taub und atemlos vor Schmerz. In diesem Moment war es ihr völlig gleichgültig, wo sie sich befand. Aber Amaranth war auch da, und von einer Sekunde zur anderen vertrieb eine brennende Woge von Zorn den verzweifelten Schock und die Erschöpfung. Lily wandte sich zu der alten Hebamme um , ihr Gesicht weiß und ihre Augen in Flammen.

„Genug," zischte sie. „Es reicht. Wenn es das ist, was jedes sterbliche Wesen zu ertragen hat, bevor es den Weg über die letzte Grenze nimmt, dann würde ich dich bitten, diese Quälerei zu beenden und mich sofort sterben zu lassen.“

„Du wirst nicht sterben, Lily... deine Zeit ist noch nicht gekommen.“ gab Amaranth zurück; ihr Blick war undurchdringlich. „Du hast dich gefragt, was wohl passiert wäre, wenn du ihn vor fast sechzig Jahren dazu gebracht hättest, zu bleiben. Alles, was ich tue, ist, diese Frage zu beantworten.“

„Na, danke schön.“ spie Lily. „Jetzt mach diesem Spiel ein Ende, bitte sehr, und bring mich zurück. Ich habe mehr Antworten bekommen, als ich jemals sehen und hören wollte.“

„Es ist nur noch eine Sache übrig.“ sagte Amaranth mit einer ruhigen, geduldigen Stimme. „Und du musst nirgendwo hingehen, um sie zu sehen. Du bist schon da.“

„Wo...“

Die Dunkelheit wurde beiseite gezogen, und Lily stellte fest, dass sie mit dem Rücken zu einem weißen Lattenzaun stand.

*****

Sie blinzelte und versuchte, sich zu orientieren. Langsam nahmen regelmäßg behauene Steine Form an, und sie sah vertraute Namen und Daten: ROSAMUNDE SPACHTLER, März 1322 - Mai 1425... FOSCO SÜSSGRAS, Juni 1389 - Januar 1460...

Dies war der Friedhof von Hobbingen, und sie wandte sich instinktiv in die Richtung, wo das Grab ihres Vaters zu finden war. Und während sie das tat, schien sich die Nacktheit der Erde plötzlich in eine neue Wirklichkeit und Jahrezeit hinein zu ändern... eisige Pfützen zerschmolzen zu dunklen Moosflecken, kahle Zweige bekleideten sich mit Blättern von sommerlichem Grün. Die sauberen Reihen der Gräber waren jetzt mit fröhlicher Blütenfülle geschmückt, und die süß duftende Luft trug nicht einmal eine entfernte Erinnerung an den Frost mit sich.

Amaranth war nirgendwo zu sehen; aber Schritte näherten sich und als Lily nach links hinüber schaute, sah sie, dass jemand das Tor öffnete.

Es war Sam. Er trug einen Weidenkorb mit Chrysanthemen-Setzlingen und einer kleinen Pflanzschaufel. Sie wusste, dass er sie nicht sehen konnte, also folgte sie ihm, als er zum westlichen Ende des Friedhofes hinüberging. Da war ein neues Grab; offenbar war dort jemand vor nicht allzu langer Zeit beerdigt worden, denn der Grabhügel war mit verwelkten Sträußen und einem halben Dutzend Kränzen bedeckt. Sam kniete sich auf den Pfad und fing an, die vertrockneten Überreste vergangener Trauer abzuräumen. Als der Hügel frei lag, grub er Löcher in die Grasnarbe und formte langsam ein Oval aus Chrysamthemenbüschen um die Erhebung herum. Sie wusste nicht, wie lange es dauerte, und es kümmerte sie auch nicht; sie beobachtete seine fähigen Hände, wie sie die Arbeit taten, an die er seit einem Lebensalter gewöhnt war, und allein der Anblick war auf eigenartige Weise tröstlich. Er legte die Schaufel in den Korb zurück und stand langsam auf; er rieb sich die Handflächen an den Hosen sauber.

Jetzt stand sie neben ihm und konnte sein Gesicht sehen... es war müde und traurig, und da waren ein paar Falten, die sie nicht kannte, obwohl seine Züge ihr mehr als vertraut waren. Sie hatte sie gekannt, seit sie ein kleines Mädchen war; sie hatte die Linien gesehen, die Humor und Gutmütigkeit in seine Haut eingraviert hatten... und die Zeichen von Sorge und Furcht, die sie vorfand, als er von der Fahrt zurückkehrte und sein geliebtes Land missbraucht und in Ruinen sah und nicht wusste, ob sich sein Herr jemals von einer Wunde erholen würde, die er nicht heilen konnte. Aber die Zeit war in der Tat ein sanfter Heiler gewesen für seinen Kummer. Alter Schmerz hatte den Platz in seinem Herzen gefunden, der ihm zustand, gut ausgewogen gegen die Erinnerung an Liebe und Freude. Die tiefe Zufriedenheit langer, erfüllter Jahre hatte sein Gesicht zu dem Bild von einem geformt, der im Frieden mit der Welt war, und mit sich selbst.

Aber das war es nicht, was sie jetzt sah... da waren die Linien von lange hoffnungslos ertragenen Schmerzen, tief gefurchte Spuren von Unruhe und Angst, und es war keine Heilung in Sicht, wenigstens nicht allzu bald. Selbst in seinen dunkelsten Zeiten hatte sie ihn nie so verzweifelt erlebt. War es das, was Frodos Tod ihm in der verfluchten, geänderten Version ihrer Vergangenheit zugefügt hatte?

Er murmelte einen Namen, aber zu ihrer Überraschung war es nicht der seines Herrn.

„Lily...“ Er beugte die Schultern wie unter einer schweren Bürde; seine Hände öffneten und schlossen sich krampfhaft. „Warum hast du an diesem Tag nicht mit mir geredet? Wenn du bloß irgendwas gesagt hättest... bloß einmal... und jetzt werden wir nie wissen... nicht sicher... ob wir dich hätten retten können.“

Mit einer brüsken Bewegung wandte er sich ab, nahm den Korb und ging den Pfad hinunter. Das Tor zum Friedhof schlug zu und sie blieb allein mit dem Grab und dem Stein auf dem kleinen Hügel zurück... grauer Granit und ein Name. Nein. Zwei Namen.

Im nächsten Moment sank sie auf die Knie, kalt vor Schreck; sie starrte auf die Worte und Zahlen, die dort eingemeißelt waren.

FRODO BEUTLIN
“Bronwe Athan Harthad”
1368 – 1428

LILY BEUTLIN
“Indil”
1384 - 1429


„Nein...“ flüsterte sie. Ihr gesamter Körper zitterte heftig. „Nein. Was habe ich... was hat sie getan? Wie ist das möglich?“

„Es ist möglich.“ Jetzt stand Amaranth hinter ihr; ein schwacher, vertrauter Duft nach Rosmarin und Kamille sprach von ihrer Gegenwart, obwohl sie keine körperliche Wirklichkeit besaß. „Und nur allzu wahr.“

Lily schluckte; sie würgte an heißen, ungläubigen Tränen.

„Erklär mir das.“ Sie erkannte ihre eigene Stimme kaum wieder. „Ich... ich begreife das nicht.“

Amaranth gab einen kleinen Seufzer von sich.

„Frodo Beutlin starb im Winter 1428, kurz vor dem Julfest,“ sagte sie. „und er wurde bitter von Freunden und Familie betrauert. Zuerst blieb seine Witwe in Beutelsend, und Sam und Rosie kümmerten sich gut um sie. Innerhalb von zwei Monaten nahm Lily ihre früheren Pflichten als Hebamme allerdings wieder auf, und ganz Hobbingen war der Bewunderung voll über ihre Stärke und ihre ,vernünftige' Art, mit Dingen umzugehen, die sich nicht ändern ließen. Sie zog sogar in ihren alten Smial zurück und überließ ihr berühmtes Heim auf dem Hügel der wachsenden Gamdschie-Familie.“

Eine lange Pause.

„An Mittsommer 1429 kam sie nicht zum Fest unter dem Mallorn-Baum, aber niemand war allzu überrascht... schließlich war sie noch in Trauer. Aber Rosie hatte sie am nächsten Morgen zum Frühstück eingeladen, und als sie bis zum Elf-Uhr-Imbiss nicht auftauchte, ging Sam Gamdschie hin, um festzustellen, was passiert war. Er fand Lily Beutlin, die auf ihrem Bett lag, in einer weißen Bluse, einem dunkelblauen Rock und einem blauen Mieder, mit Veilchen bestickt. Sie war tot.“

Lily rang scharf nach Atem; ihre Hand flog hinauf zu ihrem Mund.

„Süße Herrin..." flüsterte sie, „das habe ich getragen, als er zum allerersten Mal mit mir getanzt hat.“ Tränen, die sie nicht zurückhalten konnte, strömten ihr über die Wangen. „Warum...? Und wie...?“

„Warum?“ Amaranth lächelte. Es war ein Lächeln voll dunkler Ironie, gemischt mir tiefem Mitgefühl. „Musst du das wirklich fragen? Du - also gut, Lily Beutlin - hatte das Gefühl, dass sie den, den sie mehr liebte als ihr eigenes Leben, zu einem langsamen, schrecklichen Tod verdammt hatte... einfach, in dem sie sich einverstanden erklärte, seine Frau zu werden. Er beklagte sich nie, aber nach seinem Tod sprach ihr Herz immer lauter von Selbstsucht und unbedachtem Mord... dass sie der Grund gewesen war, dass er seine Gelegenheit, Heilung und Frieden zu finden, verspielt hatte. Du - sie - dachte, dass das ein viel zu hoher Preis wäre für sieben kurze Jahre eines zerbrechlichem Glücks.“

Lily kniete in qualvollem Schweigen; sie hielt sich selbst trostsuchend umarmt und ihr Körper wiegte sich unbewusst vor und zurück.

„Und wie...“ fuhr Amaranth fort, „nun, das fragt sich Sam seither auch ständig, genau wie seine Frau. Rosie hatte der Witwe ihres Herrn geholfen, ihre Kräutervorräte aufzufüllen, bevor sie wieder anfing, als Hebamme zu arbeiten, und sie war viel zu klug, um nicht etwas... Unnatürliches zu vermuten. Sie überprüfte die Flaschen mit Mohnsirup und jedes einzelne Kraut, das man hätte nutzen können, um sich das Leben zu nehmen, wenn man zuviel davon schluckte. Aber kein Kraut fehlte, und Lily Beutlin hatte sehr genaue Listen der Heilmittel geführt, die sie auf Vorrat hielt. Das Einzige, was sie finden konnten, war ein leeres Glas auf dem Nachttisch und eine fast volle Flasche mit roten Wein in der Küche. Die Witwe des Herrn hatte offensichtlich nicht genug getrunken, um sich Schaden zuzufügen.“

Lily spürte eine sachte Berührung auf der Schulter, wie eine lindernde Brise; sie musste nicht aufschauen, um zu wissen, dass Amaranth vor ihr stand.

„Rosie hat nie das kleine Fläschchen mit Fingerhut-Essenz gefunden; ihre Freundin hatte den ganzen Inhalt in das Glas mit Wein geträufelt. Dann zerbrach sie das Fläschchen in einem Tuch und zerstieß die Scherben zu feinem Staub. Sie ging hinaus in den Garten, grub ein Loch in das Blumenbeet neben der Tür und versteckte den Staub dort. Dann ging sie in den Smial zurück, trank den Wein und legte sich auf ihr Bett, um nie wieder aufzuwachen.“

Eine weitere Pause.

„Und so wird Rosie niemals ganz sicher wissen, was wirklich passiert ist... genau wie Sam. Frodos Witwe konnte wahrscheinlich die Folgen ihrer verzweifelten Tat nicht sehen, aber sie hat den beiden Zweifel, Furcht und Trauer für lange Jahre aufgebürdet.“

Lily starrte noch immer den Stein an; die Gedanken wirbelten in ihrem Kopf. Sie wollte etwas sagen... den Kummer beklagen, den die geänderte Richtung ihres Lebens ausgelöst hatte, ihrer alten Freundin danken für die bittere, schmerzhafte Heilkunst, die sie benutzt hatte, um sie von Zweifeln zu erlösen und von der fruchtlosen Sehnsucht nach etwas, dass nie für sie bestimmt gewesen war... aber ihr fehlten die Worte. Sie war todmüde, und als sie den Kopf hob, um Amaranth anzusehen, schienen die Gestalt und das Gesicht der lange dahin geschiedenen Hebamme zu wabern und sich in dem langsam steigenden Nebel aufzulösen, der begann, alles einzuhüllen, Stein, Hügel und Friedhof. Es ist, als säße man auf einer Wolke, dachte sie schläfrig, oder auf einem riesigen Kissen... so kühl und dick und...

*****

... weich, das Kissen war weich, und sanfte Hände zogen die Flickendecke, die ihren Körper bedeckte, sorgsam höher.

„Das Fieber ist weg.“ sagte jemand in sehr befriedigtem Tonfall. „Es war gut, dass du ihr all den Weidenrindentee gegeben hast.“

„Die Umschläge haben auch geholfen," Päonies Stimme, erfüllt von neuem Selbstvertrauen. „Und Mama hat genug Apfelgelee und Birnenmarmelade gemacht, um ein Heer zu füttern. Wenn sie wieder aufwacht, kann Tantchen Lily in ihrem Lieblingsobst baden.“

Lilys Lider fühlten sich an, als wären sie mit Steinen beschwert. Wellen des Schlafes spülten über sie hinweg, und die Stimmen verklangen, als sie sich dem heilenden Schlummer überließ.

*****

Als sie ins Bewusstsein zurücktrieb, war das Gewicht auf ihren Lidern verschwunden und sie öffnete die Augen. Der Raum war erfüllt vom goldenen Licht des Sonnenunterganges, und Lily starrte zur Decke hinauf und staunte still über das neue Gefühl des Lebens, das durch ihre Adern kreiste. Sie konnte ihr Herz hören, den stetigen, leisen Rhythmus einer Trommel, jeder Schlag ein sanfter Puls in ihrem Fleisch. Sie konnte den warmen, rauschenden Strom des Blutes in ihrem Körper spüren, in ihren Fingerspitzen und Zehen. Sie konnte ihren Atem hören, eine leise Brise, die in ihre Lungen hinein- und wieder hinaus seufzte.

Sie wandte den Kopf und sah, dass sie nicht allein war. In einem Schaukelstuhl neben dem Bett saß Rosie, die Augen geschlossen; sie war offensichtlich fest eingeschlafen. Es war nicht die Rosie, die sie in ihrem seltsamen Traum gesehen hatte, die Rosie, die versuchte, ihrem trauernden Ehemann in seinem bitteren Verlust beizustehen. Die Rosie in ihrem Traum war jung gewesen, ihr Gesicht faltenlos, ihr honigbraunes Haar unberührt von jedem Frost. Jetzt, zurückgekehrt aus der eigenartigen Welt ihrer Visionen, war es, als sähe sie Rosie zum allerersten Mal. Mutter und Großmutter, geliebter Mittelpunkt ihres Haushaltes, vertrauenswürdige Frau und Gefährtin. Sie war nicht mehr so schlank und geschmeidig wie in früheren Jahren - ihr Körper hatte dreizehn erfolgreichen Schwangerschaften einen gewissen Tribut gezollt - aber jetzt strahlte sie eine stille, freudige Würde aus. Ihr faltiges Gesicht sprach von vielen Jahren voller Gelächter und Tränen, und es hatte die frische, lebhafte Farbe eines Sommerapfels. Und ihr Haar, nach wie vor voll und glänzend, vermehrte ihre natürlich Schönheit nur noch... es war jetzt weiß, eine Krone aus Silber, und wenn Rosie in der richtigen Stimmung war, schmückte sie es noch immer mit Blumen und tanzte den Springelring so ausgelassen wie nur irgendein junges Mädchen.

Lily streckte die Hand aus - oder wenigstens versuchte sie das, denn ihre Finger waren erstaunlich schlaff und schwach, und ihre Hand sank sofort auf die Decke zurück. Sie gab ein gedämpftes Geräusch der Bestürzung von sich.

„Lily? Lily, Liebes...“

Rosies Gesicht erschien in ihrem Blickfeld, glühend vor Freude.

„Lily, du bist wach! Ich bin so froh!“

Ihre Hände wurden mit festem, warmen Griff umschlossen, und zu ihrer Überraschung beugte Rosie den Kopf und küsste ihre Finger. Dann ließ sie sich in den Schaukelstuhl zurücksinken und suchte in ihrer Schürzentasche nach einem Taschentuch. Sie putzte sich geräuschvoll die Nase, fing Lilys Blick ein und gab ein ziemlich wässeriges Kichern von sich.

„Entschuldige, Liebe... aber das waren die schlimmsten zwei Wochen meines Lebens, seit Ham und Jung Frodo sich vor vier Jahren die Halsbräune* eingefangen haben und ich dachte, ich würde sie beide verlieren. Päonie hat die Schwelle deines Zimmers bewacht wie der Drache von Herrn Bilbo, und Andi Hornbläser kam fast jeden Tag. Nach der ersten Woche musste Sam eine öffentliche Erklärung abgeben, damit die Mütter von Hobbingen und Wasserau damit aufhörten, deinen Smial mit gekochten Essen, Kuchen und Hühnchen für Brühe zu überschwemmen.“ Sie hielt inne und schluckte. „Schau mich bloß an - da sitz ich und schwafel wie eine alte Oma. Ich hatte Angst, weißt du - so schreckliche Angst. Oh Lily...“

Sie räusperte sich, wischte sich die Augen und sprang auf die Füße, offenbar wieder ihr altes, energisches Selbst.

„Willst du was zu trinken? Zu essen? Ich kann dir holen, was immer du möchtest, Liebes.“

„Nicht jetzt," flüsterte Lily. „Aber ich hätte vielleicht gern eine Tasse Tee, ein bisschen später.“

„Natürlich!“ Rosie gab dem Kissen einen herzhaften Puff und steckte die Flickendecke sorgsam um sie fest. „Ich lass dich jetzt allein, und nach dem Abendessen bring ich dir Apfelblütentee.“

„Klingt wundervoll.“ Lily schloss die Augen und spürte den sanften Druck von Lippen auf ihrer Wange. „Dankeschön, Rosie.“

Die Tür schloss sich, und Lily war allein. Zwei Wochen, dachte sie, süße Herrin - zwei Wochen? Sie versuchte sich aufzusetzen, aber ihr Körper hatte scheinbar nicht die Absicht, zu gehorchen. Und nun kam die Erinnerung an die Träume zu ihr zurück, eine überwältigende Flut von Bildern, die sie nach Luft ringen und sich in die Laken festkrallen ließ, als fürchte sie zu fallen. Die Hochzeitsnacht. Der atemberaubende Anblck von ihm, wie er vor dem Kamin stand und ihr die Arme öffnete. „Mögen deine Tage alle Zeit hell sein, und deine Nächte gesegnet.“ ... Die Frauen auf dem Markt, in giftigem Klatsch vereint und Rosie, die sich mit blitzenden Augen zu ihrer Verteidigung erhob... Die letzte Nacht und die zerbrechliche, ausgemergelte Gestalt auf dem Bett. „Bitte sag mir, wie viel - oder wie wenig - Zeit ich habe, um das Gesicht der Frau zu betrachten, die ich liebe, bevor ich mich verabschieden muss.“ Die Szene auf dem Friedhof, der Stein mit den beiden Namen, die verzweifelt traurige Geschichte einer Witwe, die nicht mehr die Herzensstärke aufbrachte, ohne den, den sie am meisten liebte, weiter zu leben.

Lily spürte, wie die Tränen über ihre Schläfen hinunter liefen und das Kissen unter ihrem Kopf durchnässten. Sie wusste nicht, wieso sie eigentlich weinte... aus Schmerz, Verlust, oder aus anhaltendem Entsetzen über das, was sie gesehen hatte. Es spielte keine Rolle. Sie hörte sich selbst schluchzen, laut und unkontrolliert wie ein erschöpftes Kind, und langsam, sehr langsam machte der würgende Kummer einer Erleichterung Platz, die so tief und unerschöpflich war, dass sie ihren geschwächten Körper erzittern ließ. Sie war unendlich dankbar dafür, dass keiner ihrer hingebungsvollen Helfer den Drang verspürte, an ihre Seite zu eilen. Dies war etwas, was sie sich allein von der Seele schaffen musste.

Er war in Sicherheit.

Er würde sicherlich sterben, und wahrscheinlich bald - selbst in jenem Segensreich, über das er gesprochen hatte. Aber sein Tod würde nicht das Ergebnis der Nachwirkungen einer grausamen, lang verlorenen Bürde sein. Er würde dahinscheiden, von Schuld und Selbsthass erlöst, und in Frieden. In diesem Moment wusste sie das mit vollkommener, segensreicher Sicherheit. Sie hatte die richtige Entscheidung getroffen, und es war den Preis wert.

Er war in Sicherheit.

Als Rosie eine halbe Stunde später mit einem dampfenden Becher wiederkam, saß Lily aufrecht in ihrem Bett, ein strahlendes Lächeln auf dem müden, gezeichneten Gesicht. Sie trank den halben Becher in einem Zug leer und holte tief Atem.

„Also... jetzt würde ich gerne etwas essen. Würde es dir was ausmachen, mir ein bisschen Brühe zu holen, und eine Scheibe Brot mit Calendulas Apfelgelee?“

Rosie war zur Tür hinaus, noch ehe sie den Satz zu Ende gebracht hatte, und Lily konnte ihre Stimme in der Küche hören wie eine freudige Fanfare. „Sie hat Hunger! Sie hat Hunger!“

Sie lehnte sich in den Kissenstapel zurück und schloss die Augen.

Sie war wundersamerweise am Leben. Und er war in Sicherheit.


*Halsbräune ist ein alter Ausdruck für Diphtherie.


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