In meinen dunklen Träumen
von Cúthalion


4. Kapitel
Ein Weg, dem ich folgen kann

Eine Woche später saß Lily Stolzfuß in einem bequemen Sessel vor ihrem Smial. Er war ein überraschend milder Tag Ende September, und Calendula (die ihre Schwägerin schamlos verwöhnte) hatte sie in die weichsten Decken gehüllt, die sie finden konnte. Lily genoss die sanfte Brise und das blasse Licht der Morgensonne; die Astern und Chrysanthemen standen in voller Blüte und ihr reicher, erdiger Herbstduft füllte ihr die Nase.

Eine Woche nach ihrem Aufwachen hatten sie Frodos Geburtstag gefeiert, als man ihr endlich gestattete, wieder aufzustehen. In den letzten zwei Jahren hatte sich Lily freundlich geweigert, zu diesem Fest zu kommen, aber dieses Mal teilte sie das Essen, die Erinnerungen und Lieder bis spät in die Nacht mit den anderen, und sie legte sich in dem Raum schlafen, der früher den jungen Frodo Beutlin als Gästezimmer beherbergt hatte. Kein Traum störte ihren Schlaf, und sie war seither mit ruhigen, erholsamen Nächten gesegnet.

Plötzlich hörte sie das Gartentor quietschen, und als sie aufblickte, war es Sam, der ein säuberliches Bündel ungeöffneter Briefe in den Händen hielt.

„Die sind gekommen, als du krank warst," sagte er, zog einen hölzernen Pflanzhocker zu sich herüber und setzte sich mit einem erleichterten Seufzer hin. Er war immer so gesund gewesen, wie man es sich nur wünschen konnte, aber jetzt fing das Alter allmählich an, seinen Tribut einzufordern, und manchmal spürte er, wie die selbe Gicht in seine Gliedmaßen kroch, die auch Ohm Gamdschie jahrelang geplagt hatte.

Lily nahm die Umschläge und sah sie rasch durch. Zwei Bestelllisten von Händlern in Bree, die sie regelmäßig mit Eukalyptusblättern und Kampfer aus den weit entfernten Ländern im Süden belieferten, ein Brief von Estella Brandybock, mit grünem Wachs und dem Siegel vom Brandyschloss gezeichnet (einem stilisierten Hügel mit vielen Fenstern), und noch ein weitere, dieses Mal mit Elanor Schönkinds Namen als Absender.

Lily öffnete den Brief und fing an zu lesen. Sam saß geduldig neben ihr und wartete auf einen Kommentar darüber, was seine Tochter wohl schrieb. Endlich hob sie den Kopf und sah ihn an, ein glückliches Lächeln in den Augen.

„Elanor hat einen Smial für mich!“ erklärte sie ihm. „Sie sagt, dass er am westlichen Ende von Untertürmen liegt und auf die Hügel blickt. Sie hat mir vor fast einem Jahr versprochen, etwas zu finden, und sie hat genau den richtigen Augenblick erwischt.“

Sam runzelte die Stirn.

„Das versteh ich nicht,“ sagte er langsam. „Ich weiß, dass du drüber nachgedacht hast, umzusiedeln, aber doch nicht so bald! Ist... ist es denn so schwierig, deine Familie um dich zu haben?“

„Nein, natürlich nicht," erwiderte Lily. „ich liebe Falco und Päonie sehr, und seit Calendula ihre lästige Furcht vor mir verloren hat, ist sie die angenehmste Gesellschaft, die man sich nur wünschen kann. Aber ich werde nicht jünger, Samweis Gamdschie. Und ich will die Dinge ändern, so lange ich es noch kann... und so lange ich den Mut dazu habe.“

Sie sah seinen Gesichtsausdruck und nahm seine Hand.

„Sam, du weißt doch, warum ich das tun muss," sagte sie sanft, aber fest. „Du hast das Versprechen - die Hoffnung - dass du ihn vielleicht wiedersiehst, während du noch lebst. Aber es gibt kein Schiff, das mich über das Meer bringen wird. Alles, was ich tun kann, ist, mir mein Zuhause an der Küste von Mittelerde zu bauen und an ihn zu denken, wo es kein Land mehr zwischen uns gibt, nur noch den Ozean. Ich hätte das schon früher gemacht, aber ich wollte die Mütter und Kinder hier nicht im Stich lassen, und ich wollte nicht von dir und deiner Familie fort. Aber jetzt...“ Sie hielt inne. „Jetzt gibt es eine neue, junge Hebamme in diesem Smial, und eine neue Stolzfuß-Generation. Es ist Zeit, dass ich gehe.“

„Rosie und die Jungs und Mädchen werden dich vermissen,“ flüsterte er, „genau wie ich.“

„Du kannst mich besuchen,“ erwiderte sie heiter, „wenn du kommst, um deine Tochter und deine Enkel in Untertürmen zu sehen. Meine Tür steht dir immer offen.“

Sie lehnte sich aus dem Sessel und umarmte ihn. Für einen langen Augenblick lehnte sie den Kopf an die vertraute, robuste Schulter und atmete seinen sauberen Geruch nach Erde, Pflanzen und Pfeifenkraut ein.

„Ich werde dich auch vermissen.“ sagte sie leise, wandte den Kopf und küsste ihn auf die Wange.

*****

Das Julfest 1480 ging vorbei und der Frühling war nahe, ehe zwei große Karren die Möbel und Besitztümer, die Lily Stolzfuß mitzunehmen wünschte, von Hobbingen fort brachten. Lily blieb ein paar weitere Tage bei Falco, Calendula und Päonie, und zwei Generationen von Müttern nutzten die Gelegenheit, mit der gründlichen Unterstützung von Rosie Gamdschie ein riesiges Abschiedsfest vorzubereiten. Am Tag nach dem Fest reiste Lily endlich ab, beschenkt mit einem neuen Elfenbeinständer und zwei brandneuen Federn und drei Federhaltern, um ihn zu füllen. Sie war ebenfalls Besitzerin eines neuen Kissens, gefüllt mit Gänsedaunen, und einer riesigen, wunderschönen Flickendecke, aus Stoffstücken genäht, die von jeder Frau stammten, der Lily während der letzten dreißig Jahre im Kindbett beigestanden hatte.

Sie erreichte Untertürmen eine Woche später in den Abendstunden. Elanor Schönkind hieß sie mit Wärme willkommen und gab ihr ein Gästezimmer; Lilys Möbel und Bücher waren bereits nach den Anweisungen aufgestellt und eingeräumt worden, die sie vor ein paar Monaten geschickt hatte, als sie einen Grundriss des Smials erhielt, der ihr neues Zuhause sein sollte. Aber jetzt war es zu spät für Entdeckungen; Lily sank dankbar auf eine weiche Matratze nieder, froh darüber, dass sie endlich angekommen war.

Der nächste Morgen dämmerte mit einem klaren, durchscheinenden Himmel. Als Lily mit Elanor aufbrach, war die Sonne aufgegangen und vergoldete die grünen, wogenden Hügel. Sie nahmen eine kleine, zweisitzige Kutsche und fuhren durch die Ansiedlung, bis sie den westlichen Rand erreicht hatten. Ein kleiner Garten und eine offene Tür am Ende eines kiesbestreuten Pfades warteten auf sie. Lily stieg aus der Kutsche, ging durch den Garten und betrat den Smial.

Die Schönkinds hatten offensichtlich alles getan, um ihr das neue Heim so angenehm wie möglich zu machen. Ihre Möbel waren ganz genau so angeordnet worden, wie sie es wollte; ein paar neue, unbekannte Teppiche gaben dem gefliesten Boden Wärme und Farbe, und liebevolle Hände hatten überall dort Wildblumen zu Sträußen arrangiert, wo sich eine Vase aufstellen ließ. Auf dem Küchentisch warteten eine Flasche Wein und ein Laib Brot auf einem Tablett, und aus den Kellern von Schönkindheim hatten genug Vorräte den Weg in den kleinen Smial gefunden, um die Regale der Speisekammer zu füllen.

Der letzte Raum, den Elanor der neuen Einwohnerin von Untertürmen zeigte, war das Studierzimmer. Sie öffnete die Tür und trat beiseite; Lily machte einen Schritt über die Schwelle und stand still, die Augen geweitet, einen Ausdruck der Verwunderung auf ihrem Gesicht.

Ihre Bücher waren in einem hohen Regal aufgereiht, und die Karte des Auenlandes hing an der Wand, Der Schreibtisch hatte den Umzug sehr gut überstanden und war offenbar frisch und gründlich poliert worden. Lily sah, dass ihr neuer Elfenbeinständer aufgestellt worden war, und der vertraute, alte Teppich mit dem Muster aus Efeublättern lag unter dem Tisch.

Aber die überraschendste und großartigste Sache war das Fenster. Nicht rund und klein, wie es in Hobbit-Smials üblich war, sondern beinahe doppelt so groß. Es blickte hinaus auf grüne, aufsteigende Hügel, und direkt vor sich konnte sie drei riesige Türme sehen, blendend weiß und so eindeutig von elbischer Machart, dass ihr der Atem stockte.

„Oh Elanor...“ flüsterte sie.

„Das sind die Turmberge," sagte Elanor ruhig, und Lily fühlte, wie die Hand der jüngeren Frau von hinten ihre Schulter berührte. „Die Türme, die du siehst, wurden von Gil-Galad für Elendil von Númenor erbaut... der Vorfahr von König Aragorn.“ Ein leises Lachen in ihrem Ohr. „Du wolltest ein großes Fenster - ist das da groß genug?“

„Es ist unglaublich,“ staunte Lily. „Ich werde dir nie genug danken können für das, was du hier getan hast.“

„Sei glücklich," sagte Elanor schlicht, „und fühl dich daheim. Und besuch uns, so oft du möchtest. Wenn du dir heute nichts zu Mittag kochen möchtest, komm einfach nach Schönkindheim herüber.“

„Nicht heute.“ entgegnete Lily. Sie setzte sich hinter den Schreibtisch und blickte nach draußen. Der Ausblick war atemberaubend und sie trank den Anblick in sich hinein... sie bemerkte kaum, wie Elanor den Raum verließ.

Ich werde Lavendel pflanzen, dachte sie, und ich bin sicher, diese niedrige Rosmarinhecke wird innerhalb weniger Jahre ihre volle Höhe erreichen. Und ich werde die Hügel erforschen. Ich frage mich, ob es wohl möglich ist, auf einen dieser Türme zu steigen... und werde ich das Meer sehen, wenn ich oben ankomme?

Sie lächelte.

Mein Liebster, weißt du, dass ich jetzt an der Küste lebe? Ich bin keine Elbenprinzessin... ich bin eine alte Hobbitfrau mit müden Beinen und schmerzenden Knien, und mein Haar ist grau geworden... aber mein Herz ist jung und getreu, und wenn du den Ozean von diesem entfernten Land her überquerst, um mich zu finden, dann bin ich genau hier.

Dies ist ein wunderschöner Ort, um auf dich zu warten.


FIN

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If I could be where you are
(Text: Roma Ryan, Music: Enya)

Where are you this moment?
only in my dreams.
You're missing, but you're always
a heartbeat from me.
I'm lost now without you,
I don't know where you are.
I keep watching, I keep hoping,
but time keeps us apart

Is there a way I can find you,
is there a sign I should know,
is there a road I could follow
to bring you back home?

Winter lies before me
now you're so far away.
In the darkness of my dreaming
the light of you will stay

If I could be close beside you
If I could be where you are
If I could reach out and touch you
and bring you back home
Is there a way I can find you
Is there a sign I should know
Is there a road I could follow
to bring you back home to me

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Deutsche Übersetzung:

Wo bist du in diesem Augenblick?
Nur in meinen Träumen.
Du fehlst mir, aber du bist immer
einen Herzschlag nur von mir entfernt.
Nun bin ich ohne dich ganz verloren,
Ich weiß nicht, wo du bist,
Ich warte weiter, ich hoffe weiter,
aber die Zeit hält uns getrennt.

Gibt es einen Weg, dich zu finden,
ein Zeichen, das ich kennen sollte?
Gibt es einen Weg, dem ich folgen kann,
um dich heim zu bringen, zu mir?

Vor mir liegt der Winter,
nun, da du so weit fort bist,
in meinen dunklen Träumen
bleibt dein Licht.

Wenn ich nah bei dir sein könnte,
wenn ich sein könnte, wo du bist,
wenn ich die Hand ausstrecken und dich berühren könnte,
wenn ich dich nach Hause holen könnte,
Gibt es einen Weg, dich zu finden,
ein Zeichen, das ich kennen sollte?
Gibt es einen Weg, dem ich folgen kann,
um dich heim zu bringen, zu mir?


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