In meinen dunklen Träumen
von Cúthalion


2. Kapitel
Nur in meinen Träumen

Er stand vor dem Kamin, nur mit den Samthosen bekleidet, die er während der Hochzeit getragen hatte, und das rote und goldene Licht der Flammen leckte an seiner glatten Haut und hüllte ihn in ein Gewand aus Feuer.

Er war so wunderschön... und so nahe.

Lily hielt sich im Schatten; die körperlose Gegenwart von Amaranth schwebte neben ihr wie ein kühler, grauer Nebel. Für einen schwindeleeregenden Moment verfluchte sie die Tatsache, dass sie dazu verdammt war, nur Beobachterin dieses intimen Augenblicks zu sein, unfähig teilzunehmen, unfähig, mit der Frau zu verschmelzen, die sie einst gewesen war. Ihre Hände schmerzten, so sehr verlangte es sie, ihn zu spüren, die Schultern, das Gesicht, die Brust des Hobbits zu liebkosen, den sie verloren hatte. Sie sah zu, wie ihr jüngeres Selbst zu ihm hinüber ging, so unendlich glücklich, so herzzerbrechend willig--- und sie ballte die Fäuste, während ihr Körper in hilfloser, wütender Eifersucht zitterte.

„Willkommen in deinem neuen Heim, Frau Beutlin,“ flüsterte er, die Stimme erfüllt von sanftem Jubel. „Mögen deine Tage alle Zeit hell sein, und deine Nächte gesegnet.“

„Zum ersten Mal in meinem ganze Leben freue ich mich auf die Nächte,“ erwiderte die neue Frau des Herrn von Beutelsend; sie stand jetzt vor ihm und löste die Kordel, die ihr Nachthemd an seinem Platz hielt. Seide glitt mit einem leisen Flüstern abwärts und bildete einen schimmernden Teich zu ihren Füßen. „Auf jede Nacht, von jetzt an...“

„Eine große Aufgabe für mich,“ sagte er. Sein Lächeln wurde breiter, während er sie an sich zog und fest an sich drückte. „Ich hoffe, ich werde immer imstande sein, sie mit Freude zu erfüllen.“

Sie küssten einander, und dabei zuzusehen war eine qualvolle Mischung aus Verzückung und bitterem Neid... oh, noch einmal dort sein zu können und es noch einmal zu fühlen, nur dieses eine Mal noch... Seine Hände auf ihren Körper, wie sie ihre Schultern, ihren Hals und die sanfte Rundung ihrer Brüste streichelten, das unvergessliche Geräusch, als er an ihrer Haut nach Luft schnappte, während der süße Rausch der Begierde sie beide davontrug, und sein Anblick, überwältigend schön, wie er sich zurückhielt, noch immer zurückhielt, trotz allem so stark, so fordernd... Erinnerungen, nie ganz verdrängt, die jetzt schmerzhaft zum Leben erwachten... der Duft nach Kräutern und Pfeifentabak, und weiche, unfassbar weiche Haut unter ihren Händen... und feurige Härte, in glatten Samt gehüllt...

„Herrin, bitte...“ flüsterte sie und schloss die Augen.

*****

Finsternis hüllte sie ein und trug sie davon, und die berauschenden Düfte wurden ersetzt durch das bittere Aroma von feuchter Herbsterde und welkem Laub. Sie befand sich wieder auf dem abgeernteten Feld, und Amaranth stand neben ihr; der Blick in ihren Augen war geduldig und betrübt.

Lily schluckte; sie war kaum imstande, ihrer Stimme zu trauen.

„Wieso zeigt du mir all das?“ sagte sie grob. „Um mich wissen zu lassen, was ich weggeworfen habe, als ich ihn gehen ließ? Oder ist diese Quälerei ein Teil der Lektion, von der du willst, dass ich sie lerne?“

„Niemand will dich quälen, Kind.“ Amaranth seufzte; ihre durchschimmernde Gestalt zerfloss unruhig in der kalten Brise, die die trockenen Blätter tanzen ließ. „Aber das ist nur der Anfang.“

Und während sie das sagte, schwand die Finsternis erneut.

*****

Laute Stimmen, Gelächter und ein überwältigendes Durcheinander von Gerüchen... Bratwürstchen und Kartoffeln mit Speck, lebendiges Vieh, Bier, frisches Obst... der scharfe Duft nach Zwiebeln.. und viele Leute.

Lily blinzelte, und vor ihren Augen entfaltete sich ein Mittsommermarkt in seiner ganzen bäuerlichen Großartigkeit. Kauf und Verkauf war offensichtlich in vollem Gange, und sie bahnte sich lautlos und unbemerkt ihren Weg durch die Menge. Sie kam an Ständen mit Körben voll frischer Johannisbeeren und Juniäpfel vorbei und fand einen anderen, wo Silberschmuck auf einem flachen, mit dunklem Samt bespannten Tisch ausgestellt wurde. Sie stand eine Weile davor und schaute auf ein zartes Armband mit weißen Edelsteinen hinunter. Es war dem ganz ähnlich, das sie einst bewundert hatte, als sie zehn Jahre alt war und auf dem Markt verloren ging, weil sie die Augen nicht von dem glitzernden Metall abwenden konnte.

Sie wandte sich ab und sah den nächsten Stand auf der anderen Seite des breiten Weges. Dort wurden Kissenhüllen verkauft, bestickte Tischtücher und lange Rollen mit gehäkelter Spitze. Er glich sehr dem Stand, in dem jahrelang ihre Mutter saß und das verkaufte, was sie und Lily an langen Tagen und Abenden angefertigt hatten. Sie trat näher heran und sah drei Frauen, die dort standen; eine von ihnen befingerte den Stoff eines schönen, großen Taschentuches, das mit winzigen Rosenknospen dekoriert war. Sie erkannte die Frauen; Petunia Pausbacken, ihre Tochter Angelika - viel jünger, als Lily sie in Erinnerung hatte, ein hübsches Mädchen mit einer Fülle rotgoldener Locken und grünen Augen. Die dritte war eine ihr unbekannte, alte Gevatterin mit scharfen Gesichtszügen und einem stechenden Blick.

„... war zu ihrer Zeit eine großartige Stickerin,“ hörte sie die Stimme von Petunia. „genau wie ihre Tochter, bevor sie den Beruf wechselte und sich plötzlich entschloss, die Hebamme von Hobbingen zu werden.“

Lily runzelte die Stirn; offenbar redeten die drei über sie.

„Ich hoffe bloß, sie war verheiratet,“ sagte die alte Gevatterin in leicht schockiertem Tonfall. „Hebamme ist nun wirklich kein anständiger Beruf für eine Jungfer.“

„Oh nein, war sie nicht," gab Petunia zurück, „und sie blieb auch ohne Mann, obwohl Folco Gutleib - ein feiner, hart arbeitender Bauer aus der Gegend - sie genommen hätte, ohne nur einen Augenblick zu zögern. Ich nehme an, sie hat auf etwas... Lohnenderes gewartet. Oder sollte ich sagen auf jemanden?“

„Ach komm schon, Mama...“ warf Angelika ein, „du kannst Lily doch keinen Vorwurf machen, dass sie ihn nicht heiraten wollte. Kein Mädchen, das sie noch alle beisammen hat, würde Folco Stotterkopf heiraten!"

Gutes Aussehen wird entschieden überschätzt, dachte Lily grimmig und kämpfte gegen den Drang, Angelika eins auf die runde Wange zu geben; die dumme, kleine Plaudertasche hätte es sowieso nicht gespürt.

„Auf wen hat sie denn nun gewartet?“ fragte die Gevatterin.

„Du kannst das nicht wissen, Tantchen Hyanzinthe,“ Petunia ließ das Taschentuch auf die Standauslage zurück fallen und richtete sich auf eine längere Geschichte ein. „Weißt du, damals, 1418, entschied Frodo Beutlin von Beutelsend sich plötzlich, sein Heim an Lobelia Sackheim-Beutlin aus Hartbuddel zu verkaufen. Er erzählte allen, dass er nach Bockland zurück ziehen würde, aber statt dessen ging er auf eine lange Reise, weiß der Himmel wohin. Er kam im November 1419 nach Hobbingen zurück, gerade rechtzeitig, um das Elend zu sehen, das sein Verschwinden angerichtet hatte.“ Sie schnaubte. „Sein Gärtner - Samweis Gamdschie - war mit ihm fort gewesen. Jetzt heiratete er Rosie Kattun, die Tochter von Tolman Kattun, und zog nach Beutelsend, um sich um seinen Herrn zu kümmern. Herr Frodo schrieb irgend so ein Buch, wie es scheint. Nicht, dass ich - oder überhaupt irgendwer - es je gesehen hat!“

Als ob du jemals weise genug gewesen wärst, die Geschichte zu schätzen! Lily ballte die Fäuste, halb und halb bereit, sich von Petunias saftigem Klatsch abzuwenden.

„Und jetzt wird die Geschichte immer interessanter,“ fuhr Petunia fort, die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern gedämpft. „Im Frühling 1421, nachdem die erste Tochter von Rosie und Sam geboren worden war, zog Lily plötzlich nach Beutelsend. Sam Gamdschie hat uns erzählt, dass sie käme, um für Rosie zu sorgen, die sich nicht so vom Kindbett erholte, wie sie sollte, aber wenn ihr mich fragt, war das nicht der wahre Grund.“

Nun steckten die drei Frauen vor ihr die Köpfe dicht zusammen. Lily lauschte, ohne sich zu rühren, das Herz ein schmerzender Knoten in ihrer Brust.

„Wollt ihr wissen, was ich glaube? Ich glaube, dass Lily in ernsten Schwierigkeiten steckte: ihre Mutter war mitsamt ihren Brüdern fort gezogen und ihr Vater war gestorben und hatte sie völlig unversorgt zurück gelassen. Herr Beutlin war wohlhabend genug, und geschwächt obendrein, von seinen albernen Abenteuern und von merkwürdigen Krankheiten, die er aus diesen weit entfernten Ländern mitgebracht hatte. Also machte sie sich unentbehrlich, indem sie sich um Rosie kümmerte, um das Baby und endlich auch um diesen bedauernswerten, ahnungslosen Hobbit. Sie hat ihm gründlich den Kopf verdreht - hat sich wahrscheinlich sogar in sein Bett geschlichen - und 1422 hat er sie dann tatsächlich geheiratet. Aber,“ und Petunia kicherte selbstzufrieden, „ich nehme an, das bereut sie inzwischen.“

„Wieso das?“ fragte Tante Hyazinthe fasziniert.

„Sechs Jahre Ehe, und immer noch kein Baby," sagte Petunia mit boshaftem Vergnügen, „Wenn sie sich einen Liebhaber erträumt hat, dann wurde sie sicherlich bitter enttäuscht. Aber vielleicht hat sie ja überhaupt nicht nach jemandem für eine Balgerei zwischen den Laken gesucht. Vielleicht wartet sie ganz einfach, bis ihn seine Leiden endlich ins Grab gebracht, damit sie die Gelegenheit hat, sich schadlos zu halten und ein reiches Erbe zu genießen.“

„Petunia Pausbacken!“

Eine Stimme, eisig und scharf wie ein plötzlicher Peitschenschlag.

Weder die drei Tratschbasen noch Lily hatten bemerkt, dass noch jemand anderes das bedenkliche Gespräch schon eine ganze Weile mit angehört hatte. Jetzt sah Lily, dass Rosie Gamdschie neben ihnen stand, in einem leichten, blauen Sommerkleid und ganz offensichtlich hochschwanger. Ihre Augen flammten und ihr hübsches Gesicht war weiß vor Zorn, aber ihre Stimme blieb ruhig - was ihren Auftritt noch viel niederschmetternder machte.

„Jemand sollte dir den Mund mit Kernseife auswaschen, du böse, alte Ziege!“ sagte Rosie und Petunia erbleichte, für den Moment um Worte verlegen. „Wie kannst du es wagen, die Ehre meines Herrn und seiner Frau zu beschmutzen? Die Tatsache, dass dein Ehemann in den Armen von jemand anderem ein bisschen Wärme gesucht hat - höchst verständlicherweise übrigens - bedeutet nicht, dass andere nicht fähig sind, sich zu lieben.“

Jetzt wurde Petunia knallrot. „Du...“ stotterte sie, „du... du darfst nicht...“

Rosie lachte.

„Keine Lust, deine eigene Medizin zu schlucken, meine Gute?“ fragte sie in einem kalten, spöttischen Tonfall. „Nun... ich nehme an, wir sollten nicht von dir verlangen, dass du deine Äpfel weiter an uns in Beutelsend verkaufst... wir können dir kaum zumuten, eine angebliche Erbschleicherin zu beliefern. Und es ist eine Schande, dass Folco Gutleib schon vor ein paar Jahren nach Tukhang gezogen ist; deine Tochter wird Mühe haben, sich für den ,Stotterkopf`zu entschuldigen.“

„Ich werd mich nie entschuldigen, nie im Leben!“ schnappte Angelika. „Und ich bin nie zu jemandem ins Bett gekrochen, so wie Lily!“

Rosie war ihr einen eigenartigen Blick zu; es war eine Mischung aus Mitleid und tiefer Verachtung.

„Nein, bist du nicht," sagte sie. „Das ist ja auch nicht nötig, solange du dich von Zeit zu Zeit mit dem jungen Bosco Braunlock in den Heuschober meines Vaters schleichen kannst, nicht wahr? Du solltest besser aufpassen, oder du wirst Lilys Hilfe eher brauchen als erwartet. Ihre Nachfolgerin ist nicht übel, aber Lily ist immer noch die beste Hebamme, die wir je hatten.“

Und nachdem sie diesen letzten Pfeil abgeschossen hatte, drehte sie sich mit wirbelnden Röcken um und ging davon; sie ließ eine sprachlose Petunia, eine entgeisterte Tante Hyazinthe und eine totenblasse, vor Schreck wie versteinerte Angelika hinter sich zurück.

Lily fühlte sich zwischen Triumph und Zorn hin und her gerissen. Aber bevor sie entscheiden konnte, ob sie Lachtränen oder Tränen des Kummers vergießen sollte, fiel Dunkelheit auf ihre lebhafte Vision und schnitt die Geräusche und Gerüche des Marktes ab, gemeinsam mit dem hellen Sommertag.

*****

„Wütend, Kind?“

Sie standen auf den nächtlichen Feldern, und Amaranth schwebte direkt neben ihr.

„Nicht wirklich,“ entgegnete Lily, noch immer ein wenig schwindelig vom plötzlichen Wechsel der Szenerie. „Und kein bisschen überrascht. Ich kenne Petunias giftiges Mundwerk... sie war für den meisten saftigen Klatsch verantwortlich, der dafür gesorgt hat, dass Folco 1420 fort ging.“

Sie holte tief Luft und drehte sich um, damit sie die alte Hebamme ansehen konnte.

„Wann hat dieses interessante... Gespräch stattgefunden?“

„An Mittsommer 1428," erwiderte Amaranth. „Frodo hat dich - oder die Lily, die du gewesen wärst, wenn du eine andere Entscheidung getroffen hättest - an Mittsommer 1422 geheiratet, und abgesehen von ihren närrischen, gemeinen Verleumdungen lag Petunia nicht vollkommen daneben: es wurde kein Kind geboren.“

„Und... seine Krankheiten?“ fragte Lily behutsam.

„Es gab sie," sagte ihre Freundin schlicht. „Die hat sie sich auch nicht ausgedacht. Jedes Jahr im März und im Oktober hatte er böse Träume, begleitet von Fieberkrämpfen und Zusammenbrüchen, und sie wurden immer übler, während die Zeit verging. Es gab auch ein paar hässliche Gerüchte über gewisse... Ausbrüche."

„Ausbrüche?“ Lilys Stimme war sehr leise.

„Wutausbrüche," sagte Amaranth langsam und begegnete endlich wieder ihrem Blick. „Es hieß, dass er manchmal krampfhaft nach etwas suchte, das er verloren hatte - eine Art Schatz oder Schmuckstück - und dass er den Smial danach durchwühlte, dass er Geschirr zerbrach und Vorhänge zerriss und die anderen Bewohner von Beutelsend beschuldigte, sie hätten es gestohlen.“

„Süße Herrin.“ Lily schluckte. „Und... jetzt? Wie geht es ihm in dem Jahr von diesem besonderen Mittsommermarkt?“

„Er ist sehr krank.“ sagte Amaranth. „Er ist sehr krank, Kind, und ihm bleibt nicht viel Zeit. Glaub mir - ich wünschte, ich müsste dir das nicht zeigen.“

Lily öffnete den Mund, um zu protestieren, aber der Nebel stieg bereits und trug sie einmal mehr mit sich davon.

*****

Die sanften, wogenden Hügel waren in eine dicke Schneedecke gehüllt. Lily stand im Garten von Beutelsend vor der grünen Tür. Die Vorhänge vor dem Fenster auf der rechten Seite waren fest geschlossen, aber ein schwacher, gelber Schimmer hinter dem roten Stoff sagte ihr, dass sich jemand drinnen aufhielt, ebenso wie die gleichmäßigen Fußspuren, die zur Schwelle führten. Es war eiskalt, aber sie spürte den Biss des Frostes nur als eine vage, weit entfernte Irritation, und ihr Atem rief keine weiße Wolke rings um ihr Gesicht hervor. Amaranth war neben ihr, und als ihre Augen sich trafen, sah Lily tiefe Zuneigung und Mitgefühl.

„Du musst nicht hineingehen, Kind.“ sagte die alte Hebamme.

„Wieso hast du mich dann hergebracht?“ Lilys Stimme war müde.

Amaranth antwortete nicht. Ihre robuste Gestalt - wenn auch nicht mehr als eine Vision - bildete einen erstaunlich dunklen, scharfen Kontrast gegen das blendende Weiß des in Schnee versunkenen Gartens.

„Kommst du mit mir?“

„Nein.“ Amaranth schüttelte den Kopf; ein plötzlicher Windstoß packte ihren Rock, ließ ihre gesamte Erscheinung gemeinsam mit dem Stoff flattern und zerstörte einmal mehr die zerbrechliche Wirklichkeit. „Nein. Nicht dieses Mal.“

Lily holte tief Luft und wandte sich zum Weg um. Als sie sich der Tür näherte, schwang sie leicht nach hinten auf und ließ sie ein.

Die Eingangshalle war dunkel und das Studierzimmer ebenfalls, aber hinter der Tür zum größeren Wohnzimmer brannten Kerzen. Als sie auf die Schwelle trat, konnte sie Rosie sehen, die in einem Armsessel dicht am Feuer saß, ein schlafendes Baby in den Armen. Sam stand vor dem Fenster, den Kopf und die Schultern in erschöpfter Anspannung gebeugt.

„Sam.“ Rosies Ton war voller Liebe und so schwer von Kummer, dass Lilys Herz sich zusammenkrampfte. „Wie viel mehr Abschiede brauchst du noch, mein Herz?“

Ein langes Schweigen. Endlich sprach er, wandte sich zu seiner Frau um und offenbarte ein bleiches Gesicht mit Augen, die dunkel waren von untröstlicher Qual.

„Das hier ist einer zuviel.“ Seine Stimme war rau. „Und trotzdem - ich kann's einfach nicht ertragen, jetzt von ihm weg zu bleiben. Ich bin ihm bis zu diesem Berg gefolgt, und ich hab ihn wieder zurück gebracht, und jetzt - es war alles umsonst.“

„Das war es nicht.“ gab Rosie mit schlichter Endgültigkeit zurück. „Er hatte ein paar gute und glückliche Jahre, dank dir und mir vielleicht, und ganz sicher dank Lily. Er wäre sehr traurig, wenn er wüsste, dass du die Dinge so siehst, wie du es tust. Du bist ,Samweis der Tapfere`, oder nicht?“

„Nein, Liebes, nein.“ Er trat hinter ihren Sessel und beugte sich hinunter, bis sein Kinn auf ihrem Kopf ruhte. „Er geht fort, Rosie... er geht fort von uns! Und diesmal kann ich ihm nicht hinterher... ich kann überhaupt nichts tun!“

„Eines gibt es, was du tun kannst, mein Sam,“ sagte Rosie, und als sie den Kopf wandte und nach seiner Hand fasste, konnte Lily Tränen in ihren Augen schimmern sehen, die das Licht des Feuers einfingen wie seltene Edelsteine. Aber sie brachte ein Lächeln zustande. „Du kannst ihn gehen lassen.“

Lily rang mühsam nach Luft, aber keiner von beiden nahm Notiz von ihr. Sie wusste, wohin sie jetzt gehen musste, und obwohl ihr einziger Impuls der war, zu flüchten und sich von dem abzuschirmen, was als nächstes kam, spürte sie, wie ihre Beine sich bewegten und sie den vertrauten Weg zum Schlafzimmer des Herrn entlang trugen. Sie würde dem, was ein seltsames, grausames Schicksal ihr zeigen wollte, nicht ausweichen können, und sie gab nach. Ihr Herz schlug ihr schwer wie eine Trommel in der Brust und setzte den dunklen Rhythmus zu den letzten Schritten eines verurteilten Gefangenen auf dem Weg zur Hinrichtung.

Sie ging den Korridor hinunter und als sie die Tür erreicht hatte, schwang sie lautlos zurück und offenbarte die Dunkelheit geschlossener Vorhänge und das weiche, gelb flackernde Licht von Kerzen in einem Silberleuchter; sie brannten ruhig auf einem Tisch in der Mitte des Raumes. Das Bett war kaum mehr als der weiße Schimmer von Kissen und Laken. Sie trat ein und suchte instinktiv nach ihrem jüngeren Selbst, aber sie konnte die Herrin von Beutelsend nicht gleich finden.

„Ich bin lange genug in der Dunkelheit gewesen, meine Geliebte.“ Eine müde Stimme vom Bett her. „Ich würde gern den Himmel sehen.“

Plötzlich hörte Lily das zischende Geräusch eines Vorhanges, der zurückgezogen wurde, und sie entdeckte den schwarzen Umriss einer Frau gegen das Fenster. Das blaugraue Licht des frühen Winterabends strömte in den Raum, und jetzt konnte sie auch die Gestalt auf dem Bett sehen.

Ein Körper, zu geschwächter Magerkeit geschrumpft, der Umriss unter mehreren Stoff- und Polsterschichten kaum sichtbar. Schlanke Hände, fast durchscheinend gegen das dunkle Muster einer reich bestickten Decke; an einer von ihnen fehlte ein Finger. Eine zerbrechliche Brust unter einem weißen Nachthemd, ein Gesicht von elfenbeinerner Blässe, die Nase scharf hervorstechend gegen eingefallene Wangen und bleiche Lippen, die von altem Schmerz erzählten, seit Jahren unterdrückt und ertragen. Und die Augen...

Noch immer seine Augen, aber tief eingesunken, die leuchtende Farbe verblasst, das unvergessliche Licht zu den letzten, flackernden Überresten eines fast erloschenen Feuers verglüht... dies war ein Geist, der beinahe zu Asche verbrannt war.

„Brauchst du etwas gegen die Schmerzen?“

Ihre eigene Stimme, liebende Selbstbeherrschung und zärtliche Fürsorge, die einen tiefen, untröstlichen Kummer verbargen. Verzweiflung strahlte in kalten, bitteren Wellen von der stillen Gestalt neben dem Fenster aus.

Ein winziges Geräusch vom Bett; verblüffenderweise war es ein Glucksen.

„Meine liebste Indil, du hast mir in den letzten Nächten genügend Mohnsirup gegeben, um Tolman Kattuns gesamte Schafherde eine Woche lang in Tiefschlaf zu versetzen. Ich würde jetzt gerne meinen klaren Verstand behalten. Ich nehme an, ich habe nicht mehr viel Zeit.“

„Bitte nicht...“

„Lily.“ Vielleicht war der Körper auf dem Bett kaum mehr als ein Schatten von dem, was er einst gewesen war, aber die stille Autorität in seiner Stimme hatte sich keineswegs vermindert. „Komm her.“

Lily Stolzfuß sah zu, wie Lily Beutlin durch den Raum ging. Die Herrin setzte sich neben den Herrn und nahm seine Hand.

„Lily...“ Er streckte die freie Hand aus und berührte ihr Gesicht. „Eines der Dinge, die ich von Anfang an am meisten an dir bewundert habe, ist deine völlige Ehrlichkeit. Du hast mir immer die Wahrheit gesagt, selbst wenn sie schmerzhaft war, selbst wenn du wusstest, dass es einfacher sein würde, dir den Ärger zu ersparen und dir statt dessen eine süße, beruhigende Lüge auszudenken. Andere haben versucht, Dinge vor mir zu verbergen... du hast das nie getan.“

Sie sah, wie die schlanken, bleichen Finger sich in einem plötzlichern, harten Griff um die Hand ihres jüngeren Selbst schlossen.

„Sag mir, meine Indil... wie lange noch?“

Sie sah, wie der Körper der Frau erstarrte; sie hielt den Kopf in erschöpfter Verweigerung gesenkt.

„Wie lange?“ Es war ein angestrengtes Flüstern. „Liebste, ich habe meinem besten Freund in Mittelerde und seiner wunderbaren Frau Lebewohl gesagt, und es ist mir gelungen, obwohl ich weiß, dass er jetzt außerhalb dieses Zimmers leidet und es nicht wagt, meiner letzten Anweisung zu widersprechen. Ich habe meine Vettern weggeschickt, die jetzt ohne den Schatten eines Zweifels im Efeubusch auf die Neuigkeiten warten, die sie am meisten fürchten, und ich habe es sogar geschafft, sie fortgehen zu sehen. Bitte sag mir, wie viel - oder wie wenig - Zeit ich habe, um das Gesicht der Frau, die ich liebe, zu betrachten, bevor ich mich verabschieden muss.“

„Willst du, dass ich sie zurückrufe?" Ihre Stimme war nicht lauter als seine, und nicht weniger angestrengt.

„Würden sie sich beeilen müssen?“

Ein tiefer Seufzer. „Möchtest du sie hier haben?“

„Nein.“ Dies wurde in einem unendlich sanften Ton gesprochen. „Ich habe sie mit Absicht weg geschickt. Ich habe ihnen Lebewohl gesagt. Ich habe sogar Briefe an König Aragorn und seine Königin geschrieben. Alles ist getan... und ihr Verlust und ihr Schmerz sind nicht das Letzte, was ich sehen will. Nenn mich selbstsüchtig, wenn du möchtest.“

„Du bist in deinem ganzen Leben noch nicht selbstsüchtig gewesen.“ erwiderte sie, und Lily konnte die Tränen hören, gegen die sie verzweifelt ankämpfte. „Niemals.“

„Du hast das meinetwegen durchgemacht, meine Geliebte," flüsterte er reuevoll, „Und dabei gab es einmal eine Nacht, in der ich dir versprochen habe, dein Leben mit Freude zu erfüllen.“

„Das hast du getan.“ Jetzt weinte sie. „Diese letzten sieben Jahre waren mehr Freude und Glück, als irgend eine Frau sich wünschen könnte.“

„Und du bist alles gewesen, was ich mir jemals erträumt habe, als ich darüber nachdachte, mir eine Frau zu nehmen. Komm, leg dich neben mich, meine Indil.“

Sie streckte sich gehorsam auf dem Bett aus. Lily konnte im schwachen, verblassenden Licht des Abends ihre Köpfe dicht beieinander sehen, die Profile wie zarte Kameen, einander zugewandt in tiefster, hoffnungsloser Hingabe.

„Wie lange noch?“ wiederholte er geduldig.

„Dies könnte... dies könnte unsere letzte gemeinsame Nacht sein.“ Es war kaum mehr als ein Lufthauch.

Er küsste sie, und sie sah, wie die vierfingrige Hand sich hob und sachte die Wange seiner Frau streichelte.

„Dann lass uns die Zeit nutzen.“ Lily konnte sein Lächeln nicht sehen, aber sie konnte es in seiner Stimme hören. „Würde es dir etwas ausmachen, mir ein Lied zu singen?“

„Kein... kein bisschen. Möchtest du ein besonderes hören?“

„Erinnerst du dich, wie du eines Nachts für mich gesungen hast, bevor ich auf die Fahrt ging? Ich hatte einen schlechten Traum, und du warst da, um mich zu trösten.“

„Ja. Das war die Nacht, in der du mir zum ersten Mal von dem Tag erzählt hast, als deine Eltern starben.“

„Erinnerst du dich noch an die Strophen?“

„Natürlich tue ich das.“ Die Frau auf dem Bett schmiegte sich dichter an ihn; ihr Kopf lag auf der Schulter ihres Liebsten. Dann hob sie die Stimme... jetzt gab es keine Tränen mehr, und Qual und Schmerz waren verbannt und ließen nur eine Zärtlichkeit und Wärme wie dunkler Samt zurück, erschaffen mit dem einzigen Ziel, dem erschöpften Wesen neben sich endlich Ruhe und Frieden zu schenken.

Der Winterhimmel gibt uns Freud,
So hell dem Auge, blau und weit
Der Sonnenaufgang, strahlend rein
Bringt Wärme in den Frost hinein.

Sie umarmten einander, Stirn an Stirn, Herz an Herz, und mit einer sanften, langsamen Bewegung zog die Frau die oberste Decke über sie beide.

Und wenn die Sonne schlafen geht
In ihrem feurig roten Bett
Dann hält der Mond die sanfte Wacht
Und führt uns freundlich durch die Nacht.*

Draußen war das restliche Licht geschwunden. Es begann wieder zu schneien, in großen, lautlosen Flocken, und der Raum wurde dunkel.


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