In meinen dunklen Träumen
von Cúthalion


1. Kapitel
Vor mir liegt der Winter

1. September 1480, mitten am Nachmittag

Ihr Kopf schwamm. Das Licht vom Fenster des Studierzimmers waberte und flackerte und sie starrte nach draußen, kaum imstande, die Augen aufzuhalten. Jetzt habe ich mich angesteckt, dachte sie vage, nach allem, was ich getan habe, um mich zu schützen... so eine Schande. Sie versuchte, aufzustehen und spürte die polierte Tischplatte kühl und besänftigend unter ihren Händen. Als sie sich umdrehte und die Tür sah - eine eigenartig regelmäßige, dunkle Öffnung in dem wirbelnden Nebel um sie herum - gaben ihre Beine unter ihr nach. Sie verlor sich in der Dunkelheit, noch bevor sie als letztes das dumpfe Geräusch hörte, mit dem ihr Körper auf dem Boden aufschlug.


Abend

„Tantchen Lily...?“

„Schsch... sie kann dich nicht hören.“

Päonie. Das war Päonie. Ihre Nichte... ein schönes, junges Mädchen mit Falcos großen, grauen Augen und seinem raschen Geist, fröhlich und hartnäckig, und hungrig nach Wissen. Falco war vor einem halben Jahr aus Bockland zurück gekehrt, mit seinem gesamten Haushalt, seiner Frau Campanula und seiner Tochter. Binnen zwei Wochen hatte Päonie angefangen, Lilys Bücher zu studieren und ihre Tante mit einer Flut von Fragen zu bestürmen. Wofür ist dieses Kraut gut? Wie kannst du erkennen, ob eine Frau schwanger ist, bevor man irgend etwas sieht? Wie findest du heraus, ob es dem Baby im Bauch gut geht? Wie wird diese Salbe gemacht?

Zuerst war Lily ein klein wenig vorsichtig. Sie wollte ihre Schwägerin nicht vor den Kopf stoßen; Campanula war eine sanfte Seele, aber ihr war angesichts der Art, wie Lily ihr Leben führte, immer ein wenig unbehaglich zumute. Campanulas größte Freude war es, verheiratet zu sein, und ihre tiefste Enttäuschung war die Tatsache, dass sie nur ein Kind hatte... sie hatte immer davon geträumt, ihr Heim mit wenigstens einem halben Dutzend Söhne und Töchter zu bevölkern. Dass Lily es nie auch nur in Betracht gezogen hatte, zu heiraten, ihre eigentümliche Angewohnheit, stundenlang zu lesen anstatt zu brauen, zu backen und zu kochen, und das verstörende Wissen, dass sie sogar elbisch schreiben konnte... all dies erfüllte das Herz von Campanula Stolzfuß mit einer Art unruhiger Achtung, unangenehm nahe an Furcht.

Lily war empfindsam genug, das zu begreifen, und sie tat das Einzige, was ihr in dieser besonderen Situation weise erschien. Sie wartete geduldig auf den richtigen Augenblick, dann lud sie Campanula zu sich in die Küche ein, wo sie gerade frische Bohnen aus dem Garten klein schnitt. Nach ein paar Minuten hielt Campanula es nicht mehr aus, mit müßigen Händen dazusitzen (was Lily ganz klar vorausgesehen hatte), und bat schüchtern um ein Messer. Beide Frauen saßen eine Weile in friedlichem, kameradschaftlichem Schweigen beieinander und füllten die große Schüssel mit sauber klein geschnittenen Bohnen. Endlich war Campanula entspannt genug, die Frage zu stellen, die sie offenbar seit Wochen umtrieb.

„Lily…”

„Hm?”

„Sag mir... wieso hast du eigentlich nie geheiratet?“

„Wieso fragst du mich das?“

„Gestern... auf dem Markt...“ Die emsigen Hände hielten still; Sonnenlicht spiegelte sich in der Klinge von Campanulas Messer und malte einen hellen Fleck an die Decke. „Da war diese Frau, Angelika Pausbacken. Sie hat mir erzählt, du hättest einmal fast einen Bauern aus dieser Gegend geheiratet - Folco Gutleib - und dass er dir nicht gut genug gewesen wäre.“

Campanulas Blick begegnete dem ihren einen kurzen Moment und sie senkte rasch die Augen, aber sie sprach weiter, als die lang eingedämmte Neugier endlich stärker wurde als ihr ängstlicher Respekt.

„Sie hat gemeint, du wärst zu hochnäsig gewesen, um jemanden zu nehmen, der kaum einen vernünftigen Satz sagen konnte, ohne zu stottern.“

„Angelika Pausbacken, sagst du?“ Lily schnaubte. „Sie ist das übelste Klatschweib von Hobbingen, und ihre Mutter Päonie war kein Stück besser, als sie in ihrem Alter war. Sie ist vor vierzig Jahren gestorben, und ich schwöre, dass das gesamte Westviertel einen riesigen Seufzer der Erleichterung von sich gab und geschlossen auf ihrer Beerdingung auftauchte, um den Sarg zu sehen und sicher zu sein, dass sie wirklich tot war. Sie hat mit ihrer Zunge beinahe ebenso so viel Schaden angerichtet wie die Rüpel in den finsteren Zeiten."

Sie schaute Campanula an und seufzte.

„Folco Gutleib war einer der besten Freunde, die ich jemals hatte - eine sanftmütige Seele und eine großartige Unterstützung während der Zeit, als Lotho die Dinge zum Schlechten wendete und später, als dieser böse Scharker kam. Und ja, Folco wollte mich heiraten, und noch einmal ja, ich habe mich geweigert, seine Frau zu werden. Aber nicht weil er mir nicht gut genug gewesen wäre. Ich war nicht gut genug für ihn. Siehst du, er liebte mich, und ich konnte ihm nicht geben, was er sich wünschte. Er ging nach Tukhang, um dort bei seiner Schwester und ihrem Mann zu leben; ich habe gehört, dass er dort ein paar Jahre später geheiratet hat.“

„Hast du jemand anderen geliebt?“

Lily war ein wenig verblüfft und für einen Moment unsicher, was sie sagen sollte. Sie zögerte, dann wählte sie ihre Worte sorgfältig.

„Tatsächlich gab es da... jemanden,“ erwiderte sie endlich. „Aber ehe wir heiraten konnten, wurde er krank, ernstlich krank. Es stellte sich heraus, dass er sich nicht würde erholen können, wenn er nicht in einem weit entfernten Land nach Heilung suchte. Und ich konnte nicht mit ihm gehen.“

„Oh.”

Eine lange Pause.

„Liebst du ihn noch?“ Ihre Schwägerin sprach sehr leise. Wieder begegneten sich ihre Augen, und zum ersten Mal bemerkte Lily Wärme und freundliches Interesse im Blick der anderen Frau anstelle der nervösen Furcht und der unterschwelligen Feindseligkeit, an die sie gewöhnt war.

„Ich werde nie aufhören, ihn zu lieben.“ sagte Lily, ihre Stimme sanft und fest.

Campanulas Finger fingen wieder an, sich zu bewegen; sie stellte keine weiteren Fragen mehr. Die Frauen setzten ihre Arbeit fort, bis sie den Korb geleert und die Schüssel gefüllt hatten, und Campanula erwähnte das Thema Ehe nicht noch einmal. Aber von da an war sie wesentlich entspannter und liebenswürdiger, und sie sah Päonies Fortschritte als zukünftige Hebamme von Hobbingen mit schüchternem Stolz.

*****

Eigenartigerweise war diese Unterhaltung der Auslöser für eine beängstigende Unruhe in Lilys Geist. Sie stellte fest, dass sie anfing, immer schlechter zu schlafen... sie wachte mitten in der Nacht auf und starrte blicklos an die Decke. Verstörende Gedanken drehten sich wie ein Mühlrad in ihrem Kopf. War Frodos Versprechen der närrische Versuch gewesen, ihre Furcht zu vertreiben? Würden sie sich wirklich wiederbegegnen, selbst jenseits der Grenze zur nächsten Welt? Würde sie blind unbekannte Pfade entlang wandern, immer auf der Suche - und niemals imstande, ihn zu finden?

Fort war die tiefe Überzeugung früherer Jahre, dass sie recht daran getan hatte, ihn fort zu schicken, und sie wurde in ein Durcheinander aus Unsicherheit und endlosen Zweifeln gestürzt. Sie blickte voll Staunen und müder Eifersucht auf das Mädchen zurück, das sie damals gewesen war... das Mädchen, das seinen Schmerz mit wilder Entschlossenheit auf sich nahm, mit gestrafftem Rücken und leuchtenden Augen, während sie sich auf den Tag freute, an dem sie ihn wiederfinden würde, an dem er da sein würde, um der langen, quälenden Trennung ein Ende zu machen, die zu ertragen sie eingewilligt hatte.

War es das Alter, das sie den dickköpfigen, kompromisslosen Glauben an ihre Wiedervereinigung verlieren ließ? In den warmen Nächten im Juli und August schlich sie sich aus ihrem Smial mit der gut geübten Lautlosigkeit von jemandem, der daran gewöhnt waren, leise bei den Leuten ein und aus zu gehen, während andere schliefen. Sie wanderte zur Wässer hinunter und setzte sich neben den Baum, wo sie ihn vor all diesen langen Jahren gefunden hatte, nach jener schicksalshaften Nacht, in der seine Hände um ihren Hals lagen. Sie schaute auf den Fluss hinaus, den Blick auf die silbrig plätschernden Wellen gerichtet, und sie spürte, wie die Furcht in ihr hoch kroch... dass er für sie verloren war, dass sie die Chance auf ein Leben mit ihm aufgegeben hatte, als er sie ihr mit beiden Händen anbot... und dass sie ihn nie wiedersehen würde.

Sie hielt ihren Kummer vor Familie und Freunden verborgen; das Einzige, was sie sahen, war ihre langsam wachsende Erschöpfung. Und als die Sommergrippe auf der Schwelle vom August zum September zuschlug, hatte kaum jemand die Zeit, sich den Kopf über Lily Stolzfuß' geistige Verfassung zu zerbrechen - nicht einmal Lily selbst.

Ein Händler aus Bree brachte die Krankheit nach Wasserau; sie reiste mit Blitzgeschwindigkeit über die Brücke nach Hobbingen und innerhalb kurzer Zeit war die Hälfte der Bewohner nicht mehr imstande, das Bett zu verlassen. Andi Hornbläser, der Heiler, kam an seine Grenzen, und Lily tat, was sie konnte, um ihm zu helfen, indem sie sich um einen Gutteil seiner Patienten kümmerte und ihm vollen Zugang zu ihrem großen Vorrat an Kräutern und Heilmitteln verschaffte. Binnen weniger Tage war es vollkommen unwichtig, weshalb sie nicht schlafen konnte; sie hatte ohnehin keine Zeit mehr, sich hinzulegen. Und an jenem Sonntag Nachmittag, als sie hinter ihrem Schreibtisch saß, um sich Notizen für ein weiteres Kräuterrezept gegen das Fieber zu machen, packte die Krankheit sie und warf sie nieder.

*****

Leere Schwärze und eine kalte Brise auf ihrem Gesicht. Sie stand auf den offenen Feldern außerhalb von Hobbingen... sie kannte den starken, herben Geruch von verrottendem Kartoffelkraut und von den Pfützen in der gepflügten Erde, die bereit waren, in den kommenden Oktobernächten zu gefrieren. Sie war allein.

Oder... nein. Dort kam jemand. Jemand ging einen Pfad zu ihrer Rechten entlang, von einem schwachen, bleichen Licht umgeben. Es war eine Frau, und sie hatte etwas vage Vertrautes. Lily kniff die Augen zusammen und spähte durch die Dunkelheit - und dann begriff sie plötzlich, wer es war und schnappte erschrocken nach Luft.

Es war Amaranth - ihre Vorgängerin, die ehemalige Hebamme von Hobbingen, seit mehr als sechzig Jahren tot, aber jetzt deutlich sichtbar. Und sie kam immer näher.

Ihr pflaumenblauer Rock blähte sich um ihre Waden, und der Saum schien zu wabern, als wäre die alte Frau nicht vollständig da, obwohl der Rest von ihr gestochen scharf zu sehen war. Lily sah, dass Amaranth eine penibel ordentlich gebügelte, graue Bluse mit Stehkragen und breiten Manschetten trug; sie erinnerte sich daran, wie sie immer die Knöpfe geöffnet und ihre Ärmel aufgekrempelt hatte, wenn sie einen Raum betrat, wo ein Baby geboren werden sollte. Eine Woge bittersüßer Freude spülte über sie hinweg, gemischt mit einer plötzlichen, stechenden Furcht. Lag sie im Sterben?

„Hallo Kind.“ Selbst die Stimme war ganz genau so, wie sie sie in Erinnerung hatte... ein wenig kurz angebunden und heiser, aber mit einer bodenlosen Quelle von Wärme und Freundlichkeit unter der rauen Oberfläche.

„Amaranth...“ flüsterte Lily, ihre eigene Stimme kaum mehr als ein Hauch. „Was... was tust du hier? Kommst du, um... um mich mitzunehmen?"

„Was denn - nicht doch!“ Ein bellendes Lachen. „Man hat mich geschickt, weil du ein paar Fragen stellst, mein Mädchen... Fragen die du seit Jahren nicht gestellt hast. Sagen wir mal, ich bin hier, um sie zu beantworten.“

„Wer hat dich geschickt?“

Amaranth schnaubte. „Unverbesserlich, wie immer. Das ist die einzige Frage, die ich dir nicht beantworten darf. Wollen wir uns lieber auf die Erklärungen konzentrieren, die ich dir geben kann.“

Nun stand sie direkt vor Lily; ihre scharfen Augen bohrten sich in ihre ehemalige Schülerin, bis besagte Schülerin sich fühlte, als wäre sie wieder ein Zwanziger. Aber als sie sprach, war ihre Stimme sanft.

„Du wolltest wissen, ob du die Gelegenheit für ein glücklicheres Leben versäumt hast, als du Frodo Beutlin ermutigt hast, in die Unsterblichenlande zu gehen. Und hier bin ich, um dir zu zeigen, was passiert wäre, wenn du ihn dazu gebracht hättest, hier zu bleiben.“

Sie hob einen Arm und malte einen großen Kreis in die Luft, und plötzlich wurde die Dunkelheit innerhalb dieses Kreises durch etwas ersetzt, das ein Gemälde zu sein schien. Lily blinzelte gegen die plötzliche Helligkeit und versuchte, die Einzelheiten in sich aufzunehmen, und langsam war sie imstande, zu begreifen, was sie sah.

Es war offensichtlich der hintere Garten von Beutelsend, vergoldet vom Sonnenlicht eines warmen Sommertages. Überall blühten Blumen, und eine Gruppe festlich gekleideter Leute war im Hintergrund versammelt. Aber Lilys Blick hing an dem Paar in der Mitte des Bildes.

Da stand Frodo. Er trug eine Weste aus goldbraunem Brokat, ein weißes Hemd mit reich besticktem Kragen und eine feine, rehbraune Jacke mit dazu passenden Hosen. Sein Gesicht war ruhig und ein wenig müde, aber von Frieden erfüllt und von einer tiefen Freude. Sie trank seinen Anblick in sich hinein und begriff, wie viel sie bereits vergessen hatte; die Art, wie die ebenholzdunklen Locken ihm in die Stirn fielen, die feine, elegante Linie seiner Wangenknochen, der weiche Schwung seiner Lippen, das feste Kinn. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, ehe sie auch nur imstande war, ihre Aufmerksamkeit der Frau neben ihm zuzuwenden.

Hand in Hand mit ihm, in einem wunderschönen Kleid aus blassgelber, bestickter Seide, stand - Lily Stolzfuß. Es war ihr jüngeres Selbst, ohne die vertrauten Falten, die ihr Gesicht nun schon so lange zeichneten, das lange, lockige Haar einmal mehr von einem leuchtenden Kastanienbraun. Jung... sie war so jung.

„Oh süßer Eru," flüsterte sie. „ich... ich habe ihn geheiratet?"

„Aber sicher hast du das," Die alte Hebamme grinste. „Er hat dich doch um deine Hand gebeten, oder nicht? Und wenn er nicht fort gesegelt wäre, dann hätte es sicher eine Hochzeit gegeben.“ Sie machte eine Pause, dann fuhr sie in einem ernsthafteren Ton fort. „Aber so angenehm dieses Fest auch gewesen sein mag, ich bin hier, um dir zu zeigen, was hinterher passiert ist. Komm mit, Mädel.“

Das Gemälde verschwand, und als sich der Schleier der Dunkelheit erneut hob, fand Lily sich im größten Wohnzimmer von Beutelsend wieder.


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