... und schwinden nicht dahin (Not fade away)
von Jael, übersetzt von Cúthalion



9. Kapitel
Die Trauer in ihrem sich wandelnden Gesicht

In diesem Kapitel macht unsere Heldin eine Tour durch die Sanitäranlagen von Düsterwald und begegnet einer menschlichen Ehefrau

Linda führte sie durch die Korridore und zeigte ihr ihr Zimmer. „Bei diesem Besuch bist du gleich neben meiner Schlafkammer,“ erklärte sie. „Es ist das Beste, mich in der Nähe zu haben, bis du dich an diesem Ort zurechtfindest.“

Das Zimmer hatte ein großes Bett mit Vorhängen, einen hohen Schrank und einen Waschständer mit Krug und Schüssel. Posey sah sich nach der Tür in Richtung Toilette um.

„Du hast das hier,“ sagte Linda und langte unter das Bett. „Ein Nachttopf, wenn du den Weg den Gang hinunter auf den Abtritt vermeiden möchtest.“

„Und wo ist der?“

„Komm, ich zeig’s dir. Es gibt Abtritte und Waschräume auf jedem Stockwerk.“

„Mehrstöckige Plumpsklos?” sagte Posey. „Dann hoffe ich wirklich, wir befinden uns ganz oben.”

Linda lachte ihr glöckchengleiches Lachen. „Glenn hat damals in Dritten Zeitalter denselben Witz gemacht, als Thranduil zum ersten Mal seinen Plan für die Höhlen vorgelegt hat.“

„Dann müssen große Geister wohl ähnlich denken,“ murmelte Posey.

„Mach dir keine Sorgen – sie liegen von Stockwerk zu Stockwerk versetzt. Da sind wir,“ sagte sie, als sie das Ende des Flures erreicht hatten. „Das hier ist das Tengwar-Symbol für Männer, das andere hier ist für Frauen. Mit der Zeit wirst du es lernen, aber im Moment ist alles, was du dir merken musst, rechts und links.“

Die Abtritte befanden sich in einem Innenraum, jeder einzelne für etwas Privatsphäre voneinander abgetrennt, und abgedeckt durch einen hölzernen Deckel und einen Sitz.

„Ein Wort an die Weisen,“ sagte Linda. „Lass nichts da hinunterfallen, was du nicht verlieren möchtest, und halt die Deckel geschlossen. Von hier aus landet der Abfall in einer sanft geneigten Kammer im untersten Stock, wo die Schwerkraft ihn langsam nach draußen trägt. Bis zum Ende hat er sich durch seine eigene Wärme zersetzt, aber dieser Prozess dauert Jahre.“

„Ganz und gar nicht übel.“ sagte Mariposa.

„Die Kammer ist bis zur Spitze des Berges hinauf gut belüftet. Es ist das Zweitbeste nach einer Toilette mit Spülung. Und die Wasserabflüsse sind in dem äußeren Raum, zum Waschen, oder um deinen Krug für den Waschständer zu füllen. Dreh die Röhren einfach in jede Richtung, damit das Wasser läuft.“

„Wie bringt ihr es fertig, in einer Höhle fließendes Wasser zu haben?“

„Durch den Grund des Berges strömt ein Fluss. Wir nutzen Windmühlen, um das Wasser in Zisternen an der Spitze zu pumpen, und die Schwerkraft besorgt den Rest.“ Linda lächelte mit mehr als nur einem Hauch Selbstzufriedenheit. „Es gab eine Zeit, da wurde unser Reich als rückständig betrachtet. Ich habe einmal einen Noldorin-Botschafter aus Imladris belauscht, der unsere Höhle spöttisch als Billigversion von Menegroth bezeichnet hat, aber wir hatten schon fließendes Wasser und anständige Toiletten, als Elronds Leute ihr Wasser noch aus Brunnen heraufholten und Gruben benutzten, die sie in die Erde gegraben hatten.“

„Wie ist es mit Baden?“

„Die Kocher werden morgens und abends angeheizt, damit du dir heißes Wasser zum Waschen holen kannst. Es ist möglich, in deinem Zimmer ein Bad zu nehmen, wenn du um eine Wanne bittest, aber es ist viel einfacher, die Badebecken in den Kellern zu benutzen. Frag mich einfach, und ich bringe dich hinunter.“

„Vielleicht später. Ich wasch mich einfach schnell und leg mich ein Weilchen hin. Das alles war… ein bisschen viel auf einmal zum Verdauen.“

„Natürlich, Mariposa. Ruh dich aus. Und ich werde ein Wörtchen mit Hal darüber reden, dass er mit seiner Pistole auf dich gezielt hat.” Sie seufzte. „Einmal ein Krieger, immer ein Krieger, aber er macht mir manchmal meinen Job ziemlich schwer.“

Einmal wieder zurück in ihrem Zimmer, fiel Posey erschöpft auf das Bett. Nur ein kurzes Nickerchen, sagte sie sich selbst. Sie schloss die Augen.

*****

Als sie aufwachte, glühte der Kristall in der Decke immer noch und auch die Kerzen in den Wandleuchtern brannten, aber sie stellte fest, dass man auf dem Bett neben ihr frische Kleidung zurechtgelegt hatte. Der Krug in ihrem Waschständer war gefüllt worden, und sie streifte ihre zerrissenen Jeans und die zerfetzte Bluse ab und wusch sich, bevor sie die neuen Kleidungsstücke anzog.

Die Kleidung bestanden aus Schlupfhosen, einer locker geschnittenen Tunika und einem geschlitzten Hemd. Keine Unterwäsche. Was sie darüber nachdenken ließ, ob hier alle ohne auskamen, und als ihr das Bild von Leif und Glenn (beide vollkommen „wäschefrei“) in den Sinn kam, beschloss sie, dass es wahrscheinlich das Beste war, den Gedanken gänzlich aus ihrem Kopf zu verbannen.

Ein gewisses Gefühl in der Blase ließ sie überlegen, wie lange sie wohl geschlafen hatte, und sich machte sich auf den Weg zum Abtritt. Draußen auf dem Gang begegnete sie Leif, der in dieselbe Richtung wanderte und einen Nachttopf vor sich hertrug. Er grinste und zuckte verlegen die Achseln. „So ist das Leben in der ,Residenz’. Guten Morgen, Mariposa. Du hast lange geschlafen.”

Morgen? Das erklärte den Drang zum Pinkeln, und wie hungrig sie war.

„Linda und Wendell, sie haben dich gestern irgendwie anders genannt. Laygolass…?“

„Das ist mein Name,“ sagte er. „Legolas oder Grünblatt, zu deinen Diensten – wenigstens werde ich dir zu Diensten sein, sobald ich den Pisspott losgeworden bin.“ fügte er mit einem Zwinkern hinzu.

Leif/ Grünblatt – sehr witzig*, dachte sie. Er brachte es noch immer fertig, absolut schneidig auszusehen, selbst wenn er mit dem eigenen Nachttopf in der Hand draußen vor der Abtritttür stand, sagte sie sich mit einem Seufzer. Zu ihrer Überraschung fing er an, vor sich hin zu glucksen. „Was? Das ist ja beinahe, als könntest du meine Gedanken lesen!“

„Je älter wir werden, desto mehr können wir die Gedanken von Sterblichen erspüren,“ sagte er. „Ich versuche, mich aus dem Köpfen anderer Leute herauszuhalten, aber manchmal sind sie so klar und deutlich, als wären sie dir auf die Stirn geschrieben. Ich fühle mich sehr geschmeichelt.“

Sie wurde auf der Stelle knallrot, entschuldigte sich und versuchte krampfhaft, an eine Ziegelmauer zu denken, ehe ihr etwa der Ausdruck „wäschefrei“ durch den Kopf schoss. Zu spät – als sich die schwere Holztür des Abtritts für Frauen hinter ihr schloss, hörte sie schnaubendes Gelächter.

*****

„Was machen die da?“ fragte Posey, während einige Elben einen schweren Schlitten mit einem sechs Fuß hohen, immergrünen Baum an ihnen vorbeizogen. Die hölzernen Kufen schrammten über den Steinfußboden der Eingangshalle.

„Heute ist die Wintersonnenwende,“ sagte Linda. „Wir feiern sie mit einem alten Brauch.“

Glenn kam aus der Richtung der großen, steinernen Tore und bürstete sich geschäftig Schnee von der Schulter. „Ein Schneeball,“ sagte er, eine Antwort auf Lindas unausgesprochene Frage.“

„Grünblatt?“

Er schüttelte den Kopf. „Hal. Aber ich habe mich tapfer geschlagen. Meister Haldir ist draußen auf der Brücke und schüttelt sich zwei Fäuste voll Schnee aus der Rückseite seiner Tunika.“ Glenn schien ziemlich erfreut über sich selbst zu sein.

Linda verdrehte die Augen. „Männer. Ein bisschen Schnee und ihr verwandelt euch in Elbenkinder. Hat Grünblatt einen guten Baum ausgesucht?”

„Natürlich. Ich begreife allerdings nicht, wie du es geschafft hast, Aran hier drin festzuhalten.”

„Das war das Werk von Felice,“ sagte Linda. Sie hat eine unfehlbare Methode, Aran an seinen Raum zu fesseln, und während er nicht gesund genug ist, durch die Wälder zu streifen, geht es ihm doch gut genug für diese Aktivität.“

Glenn grinste. „Ich wünschte, die Frau Heilerin würde mir so ein angenehmes Heilmittel verschreiben! Guten Morgen, Mariposa,“ sagte er, während die drei dem Schlitten in den Thronsaal folgten. „Ich hoffe, du hast an deinem Aufenthalt hier Freude.“

Posey nickte. Sie war mehr an der Fichte interessiert, die von dem Schlitten geholt und in eine Wanne gesetzt wurde. Sie bemerkte einen in Tuch gewickelten Wurzelballen. „Ist das ein Weihnachtsbaum?“

„Nicht so ganz“, sagte Linda. „Das ist ein Avarin-Brauch, der im Grünwald seit dem frühen Zweiten Zeitalter gefeiert wird. Obwohl ich vermute, dass irgendetwas durchgesickert ist und zur Grundlage wurde für den deutschen Tannenbaum. Wir behalten ihn bis zum ersten Tag von Narvain im Thronsaal – das Julfest – und dann pflanzen wir ihn wieder zurück in den Wald.“

Während Linda sprach, strömten andere Elben in die Thronhalle hinein. Die letzten waren Felice und Aaron, gefolgt von Grünblatt, der eine geschnitzte Holzschatulle trug. Die Wangen von Felice glühten rosig, wie Posey bemerkte, und Aaron sah sehr entspannt aus. Die Schatulle wurde geöffnet und ihr Inhalt an den Baum gehängt – Ringe, Broschen, Armbänder und Halsketten, deren Edelsteine im Widerschein der Fackeln hell funkelten. Das Letzte, was herauskam, war ein kleines Halsband aus Silber und Perlen, das Aaron mit einem liebevollen Lächeln durch die Finger gleiten ließ, bevor er es an die Spitze des Baumes hängte.

Ganz am Ende langte Felice nach oben und nahm ihrem Mann die Krone aus Holunderbeeren aus dem blonden Haar. Sie hängte ihn an die obersten Zweige und sagte: „Ich kröne dich zum König Hofnarr!“ Es gab verstreuten Applaus, und Aaron lachte tief und herzlich.

„Für die Tage zwischen der Wintersonnenwende und Jul,“ erklärte Glenn, „ist dieser Baum unser König, und Aran hat wohlverdiente Ruhe vom Unbill der Herrschaft.“

„Was passiert, wenn sich zwischen jetzt und Jul irgendetwas Wichtiges ereignet?“ fragte Posey halb im Scherz.

Glenn zog eine schräge Grimasse. „In dem Fall stelle ich mir vor, dass der Baum Aran zu Rate ziehen müsste. Und jetzt – lass uns feiern!“

Jemand spielte mit einer Harfe auf, und Weinkrüge begannen zu kreisen. Mariposa bemerkte, dass Aaron auf eine kleine Gruppe Elben zuhielt, unter denen sich der dunkelhaarige Anwalt befand, der sie bei ihrer Ankunft begrüßt hatte. An seiner Seite saß eine weißhaarige Frau, die aussah, als wäre sie in den Achtzigern. Sie hatte bereits ein Glas Wein in der Hand und hob es zu einem Trinkspruch, als Aaron sich zu ihnen gesellte.

„Ein weiteres Jahr, Aran!“

„Ein weiteres Jahr, Tovah,“ erwiderte er und prostete ihr mit seinem eigenen Glas zu. „Le Chaim!“*

„Wer ist diese Frau?“ flüsterte Posey. „Ich dachte, Ihr Elben werdet nicht alt!“

„Magorions Frau – du kennst ihn als Morrie – ist eine Sterbliche. Jetzt, da sie das Stadium erreicht haben, in dem sich Erklärungen als schwierig erweisen würden, verbringen Morrie und Tovah die meiste Zeit hier im Osten, im Heimatland. Es ist immer heikel, wenn ein Ehepartner fälschlicherweise für ein Elternteil oder einen der Großeltern gehalten wird.“ Glenn seufzte. „Die nächsten Jahre werden für Magorion schwer sein. Das ist immer so, wenn ein sterblicher Ehepartner sein Ende erreicht. Die meisten von uns haben nicht den Mut, es zu versuchen. Grünblatt hat es zweimal getan, und ich weiß, es war schmerzhaft für ihn – so schmerzhaft, dass er es scheinbar aufgegeben hat.“

„Du meinst, Grünblatts beide Frauen waren…?“

„Sterbliche Frauen, ja. Er hatte schon immer eine Schwäche für sterbliche Frauen.“

Mariposa nickte. Also das war es, was Linda mit „nicht sein Typ“ gemeint hatte. „Was ist mit ihnen passiert?“

Glenn seufzte wieder. „Sie sind gestorben. So ist das mit den Sterblichen.”

„Und es gab keine Kinder?” fragte Posey, die sich an Felices rätselhafte Worte erinnerte.

Glenn schüttelte den Kopf. „Elbenfrauen scheinen sterblichen Männern ziemlich bereitwillig Kinder zu gebären, aber bei elbischen Männern… ist es nicht ganz so einfach. Es ist selten, dass eine Ehe wie diese Kinder hervorbringt. Das ist der Grund, was die Sache für Magorion so wertvoll gemacht hat. Er und Tovah haben eine Tochter. Du hättest sie hier getroffen, nur dass sie dieses Jahr nicht nach Osten gekommen ist. Ihre Schwiegertochter hat gerade ihr erstes Kind bekommen, und sie bleibt zu Hause, um sich um die beiden zu kümmern.“

Posey schaute zu der Gruppe hinüber, wo Aaron mit Magorion und seiner Frau lachte. Der dunkelhaarige Elb war so jugendlich und gutaussehend wie der Rest; er sah aus, als wäre er so alt wie Aaron. Ein Urgroßvater! Und doch betrachtete er seine ältere Frau mit einem Blick liebender Verehrung. Und warum auch nicht? Für ihn musste sie unglaublich jung sein. „War sie schön?“ fragte sie leise.

„Sie ist schön, Mariposa. Vor allem für ihn. Ihr Sterblichen seid so vital, so flüchtig, und wir Elben finden das bezaubernd, weil das etwas ist, was wir nicht selbst in uns tragen.“

Mariposa sah sich in der steinernen Halle um. Alles war so wundervoll und doch so fremdartig. Die hohen Säulen, aus lebendigem Stein gehauen. Die brennenden Fackeln, der Baum mit seinem Schmuck und diese Leute selbst, alle jung und unbeschreiblich reizvoll. Leif und Gary – sie fragte sich, wie wohl Garys richtiger Name war – standen da und unterhielten sich so zwanglos, als wären sie zu Hause in der Harfe, nur dass sie anstatt ihrer Khaki-Hosen und Buttondown-Hemden Tuniken aus leuchtenden Stoffen trugen, während ihr Haar im Fackelschein glänzte. Linda war zu ihnen herüber gewandert und stand an Leifs Seite. Genau wie zu Hause sah sie ihn niemals direkt an, noch tat er es, während sie mit Gary lachte. Und plötzlich wurde Posey alles zuviel.

„Ich glaube, ich muss mir mal die Nase pudern,“ sagte sie lahm.

„Deine Nase sieht aber gut aus,“ sagte Glenn.

„Ich muss auf den Abtritt,“ sagte sie betont. Meine Güte, diese Elben nahmen die meiste Zeit alles so wörtlich.

„Ich bring dich---“ begann Glenn.

„Nein! Ich finde den Weg selbst. Bitte!” Sie nickte kurz und rannte förmlich aus der Halle. Draußen im Korridor lehnte sie sich an die raue Steinwand und schloss die Augen. Sie musste nicht pinkeln; es war eine Entschuldigung gewesen, allein zu sein. Als sie Stimmen hörte, duckte sie sich in den nächsten Türrahmen hinein.

Die Kammer, in der sie sich wiederfand, schien eine Art Ausstellungsraum eines Museums zu sein. Die Wände waren mit Tapisserien behängt, die fremdartige und uralte Szenen darstellten. Es gab auch Waffen – ein Bogen und ein Köcher, ein Langschwert mit Symbolen auf der Klinge und zwei schlanke Messer mit Griffen, die aussahen, als wären sie aus Elfenbein; all das war entweder auf Ständern ausgestellt oder hing an der Wand. Die hintere Mauer der Kammer war mit einer Wandmalerei bedeckt, die ungefähr fünfzehn Fuß von Rand zu Rand überspannen musste. Mariposa trat langsam näher, ein weiches Lächeln des Wiedererkennens auf den Lippen.

Es war eine Szene im Mondlicht, und sie zeigte eine große Wiese mit niedrigen Hügeln und drei schlanken, weißen Türmen im Hintergrund. Sie kannte das Bild gut, denn sie hatte es im Malbuch ihrer Kindheit gesehen und an der Wand in Leifs Büro daheim in Chicago, aber nichts hätte sie auf die Schönheit des Originals vorbereiten können. Die Pferde und Reiter waren fast lebensgroß, und voll reicher Details. Viele der Gesichter in der Reitergruppe waren ihr vertraut. Hal saß auf einem schwarzen Pferd in der dritten Reihe und viele der Leute, mit denen sie zuhause in Chicago zusammenarbeitete, befanden sich in den Rängen. An der Spitze des Zuges, auf einem grauen Pferd, war Leif, und neben ihm ritt Felice.

„Kein Vater hatte je einen besseren Sohn.“

Mariposa fuhr zusammen und wirbelte herum; sie stellte fest, dass Aaron hinter ihr stand.

„Mein Junge ist zu mir heimgekommen, und er hat sie mitgebracht. Er musste selbst den Göttern trotzen, um das zu tun.“ Aaron lächelte sie traurig an. „Mariposa, haben Sie jemals einen Moment gehabt, als alles in Verzweiflung verloren zu sein schien, und dann haben die Dinge urplötzlich ihre Richtung geändert?“

Sie lächelte zurück. „Ich denke, ich habe einen solchen Moment gehabt, ja.“

„Ich werde nie diesen Tag vor langer Zeit vergessen, als die Vögel anfingen, von einer Gruppe Elben zu flüstern, die über die Ebenen des Anduin nach Osten ritt. Genau an diesem Morgen hatte ich mir eingebildet, dass ich das Licht der Kerzenflamme durch meine eigene Hand hindurch sehen konnte, und ich hatte gefürchtet, das wäre das erste Zeichen für mein Ende. Stattdessen war es ein neuer Anfang.“

„Imladris war schon seit vielen Jahren verlassen, und Lothlórien stand leer. Selbst in den Anfurten waren nur noch wenige von Círdans Leuten zurückgeblieben und warteten auf die letzten Nachzügler aus Endor. Die Elben aus Ithilien waren allmählich in den Grünwald zurückgekehrt, sobald die Herrscher von Gondor die alten Freundschaften einmal vergessen hatten. Wer konnte es also sein? Ich bin ihnen entgegen geritten und ihnen begegnet, direkt hinter dem Tor zum Wald.“ Aaron hielt inne und schüttelte den Kopf. „Ich traute meinen Augen nicht. Und als ich endlich glaubte, dass es die Wahrheit war, da wusste ich nicht, wen von beiden ich zuerst umarmen sollte.“Die Namen und die Orte waren ihr völlig fremd, genau wie die Geschichte, aber das menschliche Drama war allumfassend. „Lassen Sie mich raten – Sie umarmten Ihre Frau.“

Aaron gab ein Lachen von sich, das diesmal von Herzen kam. „Da haben Sie Recht! Mein Vater – gesegnet sei die Erinnerung an ihn – hat keine Narren aufgezogen. Aber es hat nicht lange gedauert, bis ich meinen Sohn in die Arme nahm. Sich von ihm zu trennen war fast so schlimm gewesen, wie sie zu verlieren.“

Aaron schwieg einen Moment; eine bedeutungsvolle Pause. „Erzählen Sie meiner Frau bloß nie, dass ich das gesagt habe, aber ich bin froh, dass aus den Ehen meines Sohnes keine Kinder hervorgegangen sind. Es war für ihn ein Anlass zu großer Traurigkeit, ganz sicher, aber seine Kinder wären sterblich gewesen, und er hätte zusehen müssen, wie sie alt wurden und dahinschieden, genau wie er es bei seinen Frauen sah. Mein Sohn hat in seiner Lebenszeit viele Freunde geliebt und verloren, und er hat den Verlust mutig ertragen, aber ich denke, ein Kind an den Tod zu verlieren, hätte selbst seine Stärke überfordert. Ich werde nicht riskieren, dass er durch eine solche Trauer dahinschwindet.“

Posey hatte keine Ahnung, was sie darauf antworten sollte.

„Und zu denken, dass ich einem Zwerg für all das zu danken habe“, fuhr Aaron fort. „Wenn Sie mir das gesagt hätten, ich würde es kaum geglaubt haben. Zwerge waren immer meine Feinde, bis mein Sohn mit einem von ihnen Freundschaft schloss und machte, dass ich mein Misstrauen beiseite schob. Grünblatt hat mir sehr wenig über seine Zeit in Aman erzählt, aber er hat mir gesagt, dass sein Freund Gimli nahe bei den Schmiedeessen von Aulë begraben liegt, und dass seine letzten Worte waren: ,Ich hab dich geliebt, Jungchen, aber untersteh dich, dieses Schiff zu verbrennen!’“

„Zwerge? Meinen Sie Kleine Leute?“

Aaron lachte, „Sie mögen kurzgewachsen sein, aber es ist nichts ,Kleines’ an ihnen. Sie bleiben jetzt in ihrem Berg; es fällt ihnen schwerer, den Übergang in die moderne Welt zu finden als meinen Leuten, aber ich hätte es ohne Durins Volk nicht geschafft. Meine besten Juwelen kommen aus Erebor, und viele meiner Spielzeug-Designs ebenfalls. Sie haben den Berg auf Ihrem Weg hier hinein gesehen. Ich werde Sie eines Tages hindurchführen – entweder bei diesem Besuch oder beim nächsten.“

Mariposa zuckte die Achseln. „Es tut mir Leid. Das ist alles so viel auf einmal. Die Namen, die Geschichte, die Orte. Ich weiß nicht einmal, wie ich Sie nennen soll. Aaron? Mr. Rivers? Eure Majestät?”

Er warf den Kopf zurück und lachte. „Wenn es nach mir geht, dürfen Sie mich ruhig Randy nennen. Das ist schließlich meine Urlaubswoche. Aber ,Aaron’ passt ebenso gut wie irgendetwas anderes. ,Aran’ heißt in unserer alten Sprache ,König’. Das ist meine Vorstellung von einem Witz. Ich liebe Wortspiele.“ sagte er mit einem Zwinkern.

Sie lachte höflich. „Es ist schwer, ein Wortspiel zu verstehen, wenn man die zweite Sprache nicht spricht.“

„Geben Sie sich ein Jahr, Mariposa, und Sie werden Sindarin wie Ihre Muttersprache beherrschen; vielleicht lesen Sie auch ein bisschen Tengwar. Lassen Sie zu, dass wir Sie lehren. Das ist es, wofür wir hier sind.“

„Dieses Wandbild,“ sagte sie. „Der Stil kommt mir sehr bekannt vor, aber ich kann die Signierung nicht lesen. Ist das dieses Tengwar, von dem Sie reden?“

Er nickte. „Der Stil sollte Ihnen auch bekannt vorkommen. Das Bild wurde von Ihrem Vorgesetzten gemalt, Gary – Glavras, der zweite Elbenherr von Ithilien. Wenn Sie mich gefragt hätten, als er nur ein junger Bogenschütze war, da hätte ich nie vorausgesehen, dass unser Glavras eine Begabung für die Malerei hat, und noch weniger für die Anführerschaft. Aber mein Sohn sah etwas in ihm und nahm ihn als seinen stellvertretenden Befehlshaber mit nach Ithilien. Glavras herrschte dreihundert Jahre über die Kolonie, nachdem Grünblatt… gesegelt war.“ Mariposa entging nicht, dass sich Aarons Gesicht noch immer umwölkte und dass seine Stimme brach, als er die Worte aussprach. „Auch er leistete eine hervorragende Arbeit, ebenso wie Legolas und er hervorragende Arbeit leisteten, als sie den Landschaftsdienst ins Leben gerufen haben. Ich bin stolz auf die beiden.“

„Ich muss Ihnen eine Frage stellen. Mit diesem wunderschönen Wald, zu dem Sie nach Hause kommen können… wieso leben Sie da ausgerechnet in Chicago?“

Aaron zuckte die Achseln. „Wir mussten irgendwann aus den Wäldern kommen und in der Welt der Menschen leben oder dahinschwinden. Wir haben viele der vorausgegangenen Zeitalter in der Alten Welt verbracht – in Europa – aber als das Reisen leichter wurde, wurden wir nach Westen zu den Amerikanischen Inseln gerufen. Zum Teil war der Grund das Grenzland. Die Himmel waren in der Neuen Welt weit offen, und das ist anziehend für jemanden wie mich, der ein Vermögen machen und es gut einsetzen will. Aber der andere Grund…

„Als die Valar den Geraden Weg öffneten und meinen Sohn heimkommen ließen, spielten sie ihm einen grausamen Streich. Sie unterließen es, ihm die Sehnsucht nach der See zu nehmen. Ich nehme an, das ist die Strafe, die sie an jemandem exekutieren, der ihnen trotzt. Er sagt mir, es sei wie eine juckende Stelle, an der er sich nicht kratzen kann, und obwohl er meint, er hätte sich daran gewöhnt und würde es als fairen Tausch für seine Freiheit betrachten, glaube ich ihm nicht ganz. Amerika ist das Nächste zu den Unsterblichenlanden, wohin er körperlich gelangen kann… die Lande, wohin er gerufen wird, wohin er aber niemals zurückkehren kann. Wir Elben haben unsere Existenz an den Wassern eines Binnensees begonnen, Cuivenen, und wir haben den Kreis an den Wassern von Michi-gami geschlossen. So lange wir hierher zurückkommen können, um von Zeit zu Zeit unsere geistigen Batterien aufzuladen, bin ich zufrieden.“

„Eine weitere Frage. Diese jungen Frauen, von denen Duncan mir erzählt hat, sie wären verschwunden, während sie für Sie gearbeitet haben… wo sind sie?“

Aaron zog eine Grimasse. „Oh, natürlich hat er Ihnen das erzählt! Eine dieser jungen Frauen ist eine brillante Geschäftsfrau, und sie ist der neue Kopf unseres Büros von Whitestone Shipping in Singapur geworden. Duncan würde das wissen, wenn er bloß dazu imstande wäre, am helllichten Tag mit beiden Händen und einer brennenden Fackel sein Hinterteil zu finden. Und die andere ist mit Magorions Enkelsohn verheiratet und befindet sich gegenwärtig in ihrem Heim am Genfer See, wo sie sich von der Geburt ihres ersten Kindes erholt.“ Er hielt inne und lächelte sie an. „Du kannst mir vertrauen, Mariposa. Du kannst uns allen vertrauen.“

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*leider funktioniert das wunderschöne Wortspiel mit Leif und Leaf (beides bedeutet Blatt und wird im Englischen auch noch gleich ausgesprochen) im Deutschen kein bisschen. Und da bei einer wörtlichen Übersetzung der Originalgeschichte aus Leaf im Deutschen eben nur Blatt geworden wäre, habe ich Grünblatt (die vollständige Übertragung des Namen Legolas ins Deutsche) daraus gemacht, weil es einfach eleganter klingt.

*Le Chaim – jüdischer Trinkspruch, übersetzt: „Auf das Leben!“

Anmerkung der Autorin:

Das kleine Halsband aus Silber und Perlen, das Thranduil als Letztes an den Sonnenwend-Baum hängt, wurde ihm von Bilbo Beutlin überreicht, am Ende von Der Hobbit


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