... und schwinden nicht dahin (Not fade away)
von Jael, übersetzt von Cúthalion



8. Kapitel
Wenn alles erzählt wäre

In diesem Kapitel werden Fragen beantwortet, und wir begegnen einem alten Freund.

Als sie erwachte, wurde die Kabine von Tageslicht erhellt, das durch die winzigen Fenster kam. Sie spürte, dass das Flugzeug sank und begriff, dass sie von dem Geräusch des einrastenden Fahrwerkes aufgewacht sein musste. Ihre rechte Wange ruhte an dem rauen Tweed von Glenns Jackett, und sie hatte ihn im Schlaf vollgesabbert. Eine glänzende Schneckenspur von ihrem Speichel zog sich an seinem Revers hinunter. Na großartig.

Sie fühlte seinen Arm um ihre Schulter. Hatte er sie auf dem ganzen Weg von Chicago festgehalten? Er musste es getan haben, denn er trug noch immer kein Hemd unter seinem Jackett. Sie konnte seine bloße Haut riechen, ein sauberer, erdiger Duft, der so angenehm war, dass sie beinahe zögerte, den Kopf zu heben. Sie war nicht länger entsetzt; ihre wilde Angst von der Nacht zuvor war einer seltsamen Passivität gewichen.

Das Flugzeug setzte sanft auf. Hal schien ein guter Pilot zu sein, aber natürlich war das nur zu erwarten, nachdem er ein Alien war. Als die Maschine ausrollte und zum Stehen kam, setzte sie sich auf. Glenn sah sie wachsam an. Sie bemerkte, dass er seine Ohren wieder verdeckt hatte. Sie langte hinauf und schob die dunklen Strähnen mit dem Zeigefinger beiseite. „Du musst sie nicht verstecken. Ich flippe nicht mehr aus.“

Sie folgte ihm zur Tür hinaus, die Gangway hinunter und auf den Asphalt. Die Landebahn schien sich in der Mitte von Nirgendwo zu befinden. Nach Westen gab es eine Mauer aus Bäumen. Nach Osten, jenseits von Rand der Landebahn, erstreckten sich Sümpfe, und sie konnte in der Entfernung einen einzelnen, schneebemützten Berg sehen.

„Wo bin ich?“ hauchte sie.

„Sie sind östlich der Sonne und westlich des Mondes, junge Dame. Dieser Fleck erscheint auf keiner Karte. Straßen laufen darum herum, und Flugzeuge und sogar Satelliten fliegen darüber hin, ohne ihn zu sehen. Jeder, der ohne unsere Erlaubnis hineingewandert kommt, wird feststellen, dass er sich umdreht und wieder zurückmarschiert, ohne es auch nur zu merken.“

Sie wandte sich der freundlichen Stimme zu und lächelte. Gott sei Dank – ein ganz normaler Mensch. Er war ein Mann in seinen späten, mittleren Jahren mit einem braunen Jackett. Alles andere an ihm war ebenfalls braun, von seinem ergrauenden Haar bis zu seinen Augen, in denen sich ein goldgeflecktes Zwinkern verbarg. Ihn nur anzuschauen hatte etwas mit Vertrauen zu tun, obwohl sie keine Ahnung hatte, wie das sein konnte, wenn man die Umstände bedachte.

„Mach es ihr leicht, Wendell,“ sagte Glenn. „Mariposa hat in den letzten zwölf Stunden eine Menge durchgemacht. Mariposa, das hier ist Wendell Brown, Sicherheitschef über alle Rivers-Besitztümer.“

„Also soll ich bei ihr Wendell sein, hm?“ Er zwinkerte ihr zu. „Ich nehme an, der Name tut es genauso gut wie jeder andere, den man mir gegeben hat; die meisten bezeichnen mich als den Freund von Vögeln und Getier, oder einfach als Narren, wie einer meiner Brüder mich genannt hat. Sicherheitschef ist auch eine gute Art, mich zu beschreiben, nehme ich an. Ich bin derjenige, der einen Gürtel um diesen Ort errichtet und den Rest der Welt draußen hält. Haben Sie keine Angst, Mariposa. Erklärungen folgen auf dem Fuß, sobald wir uns alle eingerichtet haben. Es ist niemals gut, Ihre Art zu lange im Dunkeln zu lassen.“

„Aber was ist das hier für ein Ort?“ Dieser Berg fing an, seltsam vertraut auszusehen.

„Es ist das Herz des Elbentums auf Erden, jetzt, da der Goldene Wald nicht mehr ist,“ sagte Hal und ging an ihnen vorbei. „Eryn Lasgalen, der Wald der Grünen Blätter.“

„Mein Wort dafür ist ,Zuhause’“ sagte Leif, der die Gangwayleiter hinunterkam. Posey hatte noch nie erlebt, dass er so glücklich und friedevoll aussah.

Nach Leif kam Aaron, flankiert von seiner Frau und von Linda. Er trug ein großes Gazepflaster auf der Stirn und ging langsam und scheinbar unter gewissen Schmerzen, aber er bewegte sich aus eigener Kraft, und als er an Posey vorüberkam, hielt er inne, um ihr dankbar zuzunicken.

„Und er,“ sagte Glenn und neigte den Kopf, „ ist Aran Thranduil Oropherion, unser letzter und größter König. All dies existiert noch immer durch seine Willensstärke, ebenso wie der Rest von uns.“

Das kann nicht wirklich sein, sagte sie sich selbst. Sie musste sich bei diesem Unfall den Kopf aufgeschlagen haben, zusammen mit Aaron, und dies war die letzte Halluzination eines sterbenden Gehirns. Oder sie lag in einem Krankenhausbett im Koma, mit Schläuchen, die in sie hineinführten und aus ihr herauskamen, und die Dinge konnten sich jeden Moment zu Schwarz verdunkeln, wenn die Ärzte entschieden, ihr den Stecker herauszuziehen. Sie mochte den Traum genauso gut genießen, so lange er dauerte.

Ein paar merkwürdig gekleidete Leute kamen zwischen den schneebedeckten Bäumen hervor und führten eine Reihe Pferde mit sich. „Ich hoffe, du fürchtest dich nicht vor Pferden,“ sagte Glenn.

„Ich bin viel geritten, als ich aufgewachsen bin, obwohl es ein paar Jahre her ist. Kein Problem.“

„Gut. Sie sind das hauptsächliche Transportmittel her, obwohl ich annehme, wir könnten dich auf im Boot hineinbringen. Arans Gesetz – keine moderne Technologie im Heimatland, abgesehen von den Satellitenverbindungen im Schatzgewölbe. Aber nur ein paar wenigen von uns ist der Zugang gestattet. Aran ist nicht ganz und gar beschränkt.“

„Ich lasse mich nicht auf einer Bahre in mein eigenes Reich tragen!“

Sie drehten sich um und sahen, dass Rivers mit Linda stritt. „Aber Aran, deine Verletzung! Du kannst keinen Sturz riskieren.“

„Ich war schon schlimmer verletzt, und von meinem eigenen Pferd werde ich nicht fallen. Das ist mein letztes Wort, Heilerin oder nicht.“

„Ai! Er ist halsstarrig, “ murmelte Glenn. “Vergib mir, Mariposa, ich muss gehen und mich um ihn kümmern. Du wirst schon gut mit Wendell zurechtkommen.

Er eilte davon und es gab eine gedämpfte Diskussion, die Rivers offensichtlich gewann, denn ein großer Fuchs wurde zu ihm gebracht.

„Du wirst den Bügel benutzen, um aufzusteigen, und das ist eine Anweisung,“ sagte Linda fest.

„Wenn ich denn muss,“ erwiderte er, als erwiese er ihr einen großen Gefallen. Aber als er versuchte, den Fuß zum Steigbügel zu heben, wurde seine Schwäche offensichtlich, und er wankte. Leif und Glenn hasteten beide an seine Seite. Glenn erreichte ihn zuerst, bückte sich und half ihm mit einem sanften Schubs auf das Pferd.

Dieser Mann, dieser Alien – wie hatte Hal ihn genannt, einen Elf? – was immer er auch war, er war voller Stolz und von einer wilden Unabhängigkeit, und die anderen schienen entschlossen zu sein, ihn darin zu unterstützen.

Sie und Wendell gingen zu ihren eigenen Pferden. Es gab kein Gebiss, wie Posey auffiel; die Zügel waren an einem einfachen Kopfgeschirr mit Nasenband befestigt; der Sattel war kaum mehr als eine Ledermatte mit Steigbügeln und ziemlich bequem, sobald sie einmal aufgestiegen war. Leif setzte mit einem eindrucksvoll athletischen Grätschsprung auf seinen Grauen, und der gesamte Zug bewegte sich in den Wald. Zu ihrer Erleichterung schien ihr Pferd gut trainiert zu sein und reagierte auf einfache Befehle und eine Verlagerung ihres Gewichtes.

Der Ritt durch die schneebedeckten Wälder in sanftem Schritttempo dauerte mehr als eine Stunde. Einmal sah sie, wie Rivers sein Pferd in den Trab drängte, vor Schmerzen das Gesicht verzog und rasch das Tempo wieder verlangsamte. Sie waren einen Fluss entlang geritten, und endlich erreichten sie eine Stelle, wo ein Wäldchen aus kahlen Birken wie eine Reihe Soldaten zum Ufer hinabmarschierte. Eine Steinbrücke überspannte den Fluss und führte zu massiven Toren in der Seite eines steilen Hügels.

Posey fing leise an zu lachen, denn sie erkannte diesen Ort wieder. „Oh Leif, was hast du dir denn dabei gedacht?“ flüsterte sie. Sie lächelte immer noch, als Aaron vorsichtig von seinem Pferd abstieg und zu den Toren hinüberging.

„Lasto beth aran – edhro!“* sagte er und breitete weit die Arme aus. Die Tore öffneten sich.

Sie folgten ihm alle hinein, und die sich windenden, höhlenartigen Tunnel, von brennenden Fackeln erhellt, sahen fast genauso aus, wie Posey sie, basierend auf Leifs Anweisungen, gezeichnet hatte. Zwei groß gewachsene Männer, einer silberhaarig und einer dunkel, standen wartend da, um sie zu begrüßen, und als Aaron vorüberging, verneigten sie sich.

Leif blieb zurück und nickte grüßend. „Hey, Sid. Wie geht’s, Morrie?“

„Nicht schlecht, Grünblatt, und selbst? Du bleibst dieses Mal am Besten eine Woche länger hier, während wir die einstweiligen Verfügungen vorbereiten und sicherstellen, dass Aran bei seiner Rückkehr nicht verhaftet wird. Sid hat vor, gleich als Erstes nach dem Julfest zurückzufliegen und sich darum zu kümmern.“

Posey schüttelte den Kopf. Ein Paar von langhaarigen, spitzohrigen Konzernanwälten in Samtgewändern. Es sah mehr und mehr danach aus, als befände sie sich wirklich in einer Koma-Halluzination. Sie wandte sich an Wendell Brown. „Ich würde gern wissen, was hier vor sich geht, und ich würde es gern jetzt wissen.“

„Ich denke, du musst dich erst eingewöhnen, Mariposa,“ sagte Linda. „Das war alles zuviel für dich, und zu früh.“

„Verdammt richtig.“ sagte Posey. “Was der Grund ist, weshalb ich jetzt sofort ein paar Antworten haben will.“

„Ich bin ihrer Meinung, Linda,“ sagte Leif und kam zurück, um an dem Gespräch teilzunehmen, während Aaron und die anderen weitergingen. Posey merkte, dass Glenn besorgt zu ihnen zurückschaute, aber er folgte seinem Boss.

Leif schaute auf sie hinunter und lächelte sanft. „Vor vielen Zeitaltern sah ich in die Augen eines kleinen Jungen, der Fragen hatte. Er war verwirrt und ein bisschen verängstigt, denke ich. Ich konnte ihm damals keinerlei Antworten geben; mir waren die Hände gebunden. Jetzt stelle ich fest, dass ich wieder in die Augen meines Freundes sehe, und ich werde nicht denselben Fehler machen.“ Leifs Augen waren voller Güte, und Posey dachte, dass sie den Hauch einer alten Trauer sah. Er straffte sich und sah seinem Vater dabei sehr ähnlich. „Erklär es ihr jetzt, Wendell. Oder ich mache es selbst.“

Linda und Wendell nickten beide, während Leif sich umdrehte und ging. „So spricht Legolas!“ sagte Wendell mit einem schrägen Grinsen.

Linda seufzte. „Er ist soviel… kraftvoller, seit er angefangen hat, die Autoritäten in Frage zu stellen.“

Posey unterdrückte einen eigenen Seufzer, während sie zuschaute, wie er davonging. Aaron hatte immer etwas Königliches an sich gehabt, aber das war das erste Mal, dass sie erlebte, dass Leif… sie fischte in ihrem Geist nach der richtigen Beschreibung und entschied sich… dass Leif aussah wie ein Prinz.

„Nimm Mariposa mit in die Bücherei,“ sagte Linda. „Ich muss nach Aran sehen, aber ich komme zu euch, sobald ich kann.“

„Meinetwegen musst du dich nicht beeilen,“ sagte Posey und lächelte Wendell an. Wem konnte es in seiner onkelhaften Gegenwart anders als gut gehen?

„Wir hatten schon Ohnmachtsanfälle während dieser Art von Gesprächen,“ sagte Linda betont. „Es ist gut, wenn ein Heiler anwesend ist.“

„Ach Quatsch! Ich bin in meinem ganzen Leben noch nicht ohnmächtig geworden.“

„Letzte Nacht im Flugzeug warst du verdammt nahe dran.“ Sie wandte sich an Wendell. „Du fängst schon an, ich bin gleich wieder zurück.“

Wendell führte sie ein lange Treppe hinauf und mehrere Flure hinunter. Mehr als einmal blieb Posey zurück, gebannt von einem Detail an einem geschnitzten Geländer oder einem bestickten Wandteppich. Wenn sie nur von all dem hier gewusst hätte, als sie den Hintergrund für Leifs Videospiel zeichnete! In der Bibliothek flackerte ein gewaltiges Kaminfeuer und vertrieb die Kälte des Wintertages. Wachsstöcke brannten in hohen, in Stein gehauenen Kandelabern, und ein geschliffener Kristall, der in die Decke eingesetzt worden war, verbreitete Licht um sich her. Der Raum war vom heimeligen Geruch alter Bücher erfüllt.

„Das hier ist Leifs Büro,“ sagte Wendell, während er sie in einem Alkoven abseits des Hauptzimmers führte und sie auf ein niedriges Sofa dirigierte, „aber ich glaube nicht, dass es ihm etwas ausmacht, wenn wir es benutzen.“

Er selbst nahm sich einen Hocker, den er sich von einem Zeichentisch heranzog. „Das hier ist niemals einfach, egal wie oft ich es tue. Wo soll ich anfangen?“

„Ich werde Ihnen helfen. Wer zur Hölle sind diese Leute, und was zur Hölle sind sie?“

„Es sind Elben.“

„Elfen? Ach wirklich? Offenbar nicht die von der niedlichen Sorte, die in hohlen Bäumen Kekse backen und Spielzeug für den Weihnachtsmann machen. Obwohl…. jetzt, wo ich darüber nachdenke, scheinbar machen sie doch Spielzeug.“

„Nein, da ist nichts Niedliches oder Amüsantes an ihnen. Dies sind die Elben, die die Grundlage der Legenden von den Feen und den Sidhe bilden. Sie sind die Erstgeborenen, Die Eldar. Das Volk der Sterne.“

„Oh… Außerirdische. Das dachte ich mir.”

„Nein. Also gut, ja, in gewisser Weise. Ihre Ersten Väter kamen von außen, aber sie sind ein natürlicher Teil dieser Erde. Sie sind viel enger daran gebunden als Ihr, die Zweitgeborenen.“

Auf welche Weise sind sie enger daran gebunden?“

„„Auf die Weise, dass sie nicht altern oder sterben.“

„Ich verstehe. Also das erklärt, warum alle so jung aussehen, Ich wette, sie sind ein paar hundert Jahre alt.” sagte sie heiter.

Wendell lächelte kaum. „Versuchen Sie’s mit tausend.“

Sie fing an, sich nach der versteckten Kamera umzusehen. Alles begann, einen Sinn zu ergeben. Der wundervolle Job, den sie ohne jede Qualifikation bekommen hatte, die unglaublich gut aussehenden Leute, die seltsamen Ereignisse. Sie musste das qualitative Produktionslevel dieser Show bewundern – das war wohl kaum irgend so ein kleiner Kabelkanal, sondern zwangsläufig ein landesweiter Sender.

„Tatsächlich habe ich den Überblick darüber verloren, wie viel Tausende von Jahren sie alt sind, und natürlich ist es für jeden von ihnen anders. Ihre Welt hat eine viel ältere Geschichte, als es an Ihren Schulen gelehrt wird, Mrs. Walker.“

„Was Sie nicht sagen,“ erwiderte sie liebenswürdig. Sie hatte immer diesem Matt-Burschen in der ursprünglichen Joe Schmo-Show* bewundert – Zielscheibe eines ausgeklügelten, realitätsnahen Scherzes zu sein und sich durch die ganze Nummer hindurch wie ein vollkommener Gentleman zu benehmen. Wenn man ihr hier solch einen Streich spielen wollte, dann würde sie es bis zum letzten Tropfen auskosten. „Wie passt König… Thrandwill da hinein?“

„Er passt hinein, weil er einer der dickköpfigsten und willensstärksten Elben ist, die je durch Mittelerde gewandelt sind,“ sagte Linda; sie kam in den Alkoven und setzte sich neben Posey auf das Sofa. „Und einer der schlimmsten Patienten, die ein Heiler jemals zu ertragen hatte.“ Sie seufzte erschöpft. „Obwohl… ich bin nie Féanor begegnet.“

„Ich bin Féanor begegnet, und…“ Wendell zuckte die Achseln. „Ich denke, Thranduil kommt ihm gleich. Und sein Sohn tut es auch.“

Er holte tief Atem. „Ich gebe Ihnen die Kurzversion. Vor langer Zeit gab es einen Krieg. Die Einsätze waren hoch; es war ein Krieg zwischen Gut und Böse. Grünblatt hat darin gekämpft und die gute Seite gewann, aber zu einem Preis für alle, die an diesem Kampf teilgenommen hatten. Die Zeit der Eldar näherte sich ihrem Ende, und alle wurden heimgerufen. Die, die zurückblieben, würden irgendwann dahinschwinden und vergessen werden. Dies war das Urteil der Valar.“

„Grünblatt hatte das Meer gesehen und war von dem Ruf ergriffen worden – der Sehnsucht nach der See. Als der letzte seiner menschlichen Gefährten gestorben war – abgesehen von einem – da nahm er diesen letzten Freund und segelte nach Westen in die Unsterblichenlande. Thranduil blieb zurück, hin- und hergerissen zwischen der Liebe zu seinem Sohn und dem Volk, das zu führen er versprochen hatte. Niemand von ihnen hatte jemals den Wunsch gehabt, seine Heimat für die Länder des Westens zu verlassen.“

Posey war froh, dass das hier bloß ein Streich war. Sonst würde die Geschichte langsam anfangen, sich allzu traurig anzuhören. „Dann sind diese ,Unsterblichenlande’ der Elbenhimmel? Das klingt für mich nicht nach einem Happy End.“ Unwillkürlich dachte sie an ein Buch von Mark Twain, das ihrem Vater gehört hatte, Briefe von der Erde, in dem Twain angemerkt hatte, dass der Himmel so, wie man ihn beschrieb, dem entsprach, was sich die meisten Leute unter tödlicher Langeweile vorstellten.

Wendell seufzte. „Ja. Es war ein lebendiger Tod, vor allem für einen, der so an Herausforderungen gewöhnt ist wie unser Legolas. Aber dann geschah etwas. Grünblatt tat etwas, das noch nie da gewesen war… nur ein einziges Mal zuvor. Er entschloss sich, Aman aufzugeben. Er hat mir nur wenige Einzelheiten erzählt, aber er bestand darauf – in einer Weise, wie nur Leif es tun kann – dass man ihm gestatten müsse, zu gehen… entweder um nach Osten in die Lande seiner Geburt zurückzukehren oder, wenn das fehlschlug, in den Westen, um mit seinen menschlichen Freunden das Schicksal des Todes zu teilen. Ich weiß soviel, dass er seinen Fall vor die Valar brachte, und unter ihnen allen waren es Aulë und meine liebe Yavanna, die seinen Antrag zuerst unterstützten. Und danach Vaire, denn er war die ganze Zeit ihr Diener gewesen, ohne zu klagen. Und am Ende die Herrin Varda höchstselbst.“

„Sie öffneten den Geraden Weg für ihn und ließen ihn gehen, um nach Osten zu segeln, zusammen mit einer Gruppe anderer, die seines Sinnes waren, aber es geschah zu einem Preis. Keiner von ihnen durfte zurückkehren, und sie mussten das Schicksal jener Eldar teilen, die in der sterblichen Welt blieben. Dahinzuschwinden und zunichte zu werden. Er kam nach Hause, Mariposa, und dachte, er würde auf die einzige Weise sterben, wie ein Elb es vermag. Er kam nach Hause, um am Ende bei seinem Vater zu sein.“

Sie spürte, wie ihr die Augen feucht wurden. Wenn die dachten, dass das komisch werden würde… das war es nicht. „Also, wer sind diese ,Valor’?“

„Ahhh…“ Wendell seufzte. “Jetzt kommen wir zu dem Teil, der schwer zu glauben ist. Die Valar sind die Götter selbst. Oder – wie Sie es vielleicht verstehen würden – sie sind Erzengel.“

Sie gab ein Schnauben von sich (selbst wenn sie das, sobald diese Show ausgestrahlt wurde, jede Menge Dollars bei den Werbeverträgen kosten würde). „Ich glaube nicht an Engel. Ich glaube nicht einmal an Gott.”

„Das müssen Sie auch nicht. Was ist, das IST, wie auch immer Sie es erklären wollen. Ich war da, als die Musik gemacht wurde, und nicht einmal ich kann sie ganz und gar erklären oder verstehen. Was ich verstehe, ist, dass wir alle Geschöpfe aus Energie sind, in Fleisch gekleidet.“

„Sie waren da? Dann nehme ich an, dass Sie auch so eine Art Engel sind?“

„Um den Tatsachen die Ehre zu geben – ja, das bin ich.“

„Oh bitte! Ich versuche ja, ein gutes Mädchen zu sein und mitzuspielen, aber Sie können einfach nicht erwarten, dass ich das glaube!“

Wendell seufzte. „Linda, halt ihre Hand.“ Er lächelte sie an, holte tief Atem – und der freundliche, braune Mann in den mittleren Jahren verschwand, als der Schleier sich hob. Sie sah Licht und Schönheit und etwas, das jung war und doch unvorstellbar alt.

„Aufhören… bitte hören Sie auf!” wimmerte sie.

„Mariposa, stecken Sie Ihren Kopf zwischen die Knie,“ hörte sie Linda sagen, und sie gehorchte auf der Stelle, bis das Dröhnen in ihrem Kopf aufhörte. „Ich wünschte, du würdest das nicht tun, Aiwendil,“ fuhr Linda in scharfem Ton fort. „Damit bringst du sogar mich aus der Fassung.“

Posey hob vorsichtig den Kopf und sah, dass der vertraute, braunhaarige Mann zurückgekehrt war. Also gut, er war ein Engel, und das hier war nie im Leben eine Show mit versteckter Kamera. Das Koma-Szenario war an die Spitze der Liste zurückgekehrt. „Also… was geschah dann? Wieso sind sie nicht alle… dahingeschwunden?“

„Die meisten Elben haben es getan, woanders. Die Legenden erzählen von den Kobolden und den Pookah-Geistern*. Bei manchen wurde es sogar gefährlich, wenn die Zweitgeborenen mit ihnen Umgang hatten. Aber nicht Thranduils Volk. Zuerst hatte er nur vor, seinen Wald zu erhalten und sein Volk darin, aber mit der Zeit wurde ihm klar, dass das nicht ausreichen würde. Die Welt hatte es nötig, wieder aufgebaut und geheilt zu werden, und die Menschen brauchten Lehre und Hege. Grünblatt hatte das begriffen, als er die Wälder von Ithilien heilte, während sein sterblicher Freund Aragorn noch am Leben war. Nun begann Thranduil, dasselbe zu tun. Und als ich ihm darin beistand, begann ich zu verstehen, warum meine liebe Yavanna darauf bestanden hatte, dass ich zusammen mit den Weiseren meines Ordens aus dem Westen gesandt werden sollte.“

„Es gibt noch immer die, die glauben, dass Radagast der Braune sich abgewandt und in seinem Auftrag versagt hat, als er sein Herz an die Vögel und die Tiere der Sterblichenlande verlor. Aber sie brauchten einen Beschützer, und dieses Bedürfnis wächst mit jedem Zeitalter, das vergeht. Die Elben brauchen jetzt ebenfalls einen Beschützer, während Thranduil seine Aufgabe in Angriff nimmt, den allmählichen Niedergang zu bekämpfen.“

„Niedergang?“ Linda lachte. “Schau dich um, Wendell! Es gibt jetzt mehr von uns als am Ende des Dritten Zeitalters. Ich glaube, dass der starrsinnige Elb tatsächlich siegt.“

„Wenigstens, so lange er kämpft und es in dieser Welt Arbeit zu tun gibt… so lange schwindet ihr nicht dahin.“ sagte Wendell. „Und das ist Sieg genug.“

„Und wie passe ich in all das hinein?“ fragte Posey.

„Über die Jahre hinweg hat es Verbindungen zwischen Elben und Menschen gegeben, und es gab Nachkommen. Diese Kinder sind nicht unsterblich, aber sie tragen ein wenig vom Funken der Eldar in ihrer Natur. Diese Kinder haben wieder eigene Kinder und so weiter. Und manchmal, selbst nach vielen Generationen, trägt der alte Stamm wahre Frucht. Wann immer wir so jemanden finden, hegen wir ihn oder sie, wenn wir es können, damit ihre Gaben nicht für die Welt verloren sind.“

„Und ich bin so jemand? Ist das der Grund, weshalb ihr meine DNA genommen habt?“

Linda nickte. „Nicht, dass es einen Unterschied gemacht hat – du hattest Begabungen, die ohne unser Einschreiten und unsere Hilfe verschwendet gewesen wären. Für dich – wenn du so weiter gemacht hättest wie bisher – wäre es die sterbliche Entsprechung des Dahinschwindens gewesen. Dein Mann hatte dir deinen Geist geraubt, und du hattest Heilung nötig.“

„Also das war es. Du wolltest mich heilen.“ Ihr sank das Herz. Linda war eine Heilerin, und bei dem, was Posey für Freundschaft hielt, hatte sie nur ihre Arbeit gemacht.

„Und du brauchst noch immer Heilung, wenn du dich selbst so gering schätzt. Die Freundschaft war echt, Mariposa. Sie ist echt, von uns allen. Du hast so viel zu geben, und einiges davon hast du bereits bewiesen. Glenn sagt mir, du wärst ein ziemlicher Anblick gewesen, als du über diese Schneelandschaft dahingeflogen bist. Du warst der Stolz deiner Vorfahren.”

Posey grinste. “Es hätte meinen Eltern einen Kick gegeben, mich zu sehen, wie ich den Tag rette, in dem ich meine nackten Brüste blitzen lasse, das ist mal sicher.”

„Ich wünschte, ich hätte deine Eltern kennen lernen können,“ sagte Linda. „Sie klingen, als wären sie ebenfalls zwei der Unseren gewesen. Aber ich meinte etwas weiter entfernte Vorfahren.“

„Ja,“ fügte Wendell hinzu. “Sie kommen aus einer ganz besonderen Linie. Sie und ich, wir sind gewissermaßen entfernte Verwandte.“

„Es ist schön, die Technologie zu besitzen, um es zu bestätigen,“ sagte Linda. „Aber mit Sicherheit sagen konnten wir es immer schon. Grünblatt wollte dich in jedem Fall einstellen, weil deine Zeichnung zeigte, dass du unsere Art Geist besitzt, und er hatte sich in dein Blatt verliebt, aber er hat mir erzählt, dass er in der Minute Bescheid wusste, als er dich traf und feststellte, dass er in die Augen seines alten Freundes starrte. Er hat dies viele Male vorher gesehen, aber es ist für ihn immer eine bittersüße Angelegenheit.“

„Viele Male?“

„Ja, viele Male. Die Welt ist voll von den Nachkommen von Aragorn und Arwen, und viel von dem, was gut ist, kommt von ihnen. Du bist eine von vielen, aber es ist immer gut für uns, einen von euch zu finden.“

„Also… und was geschieht jetzt mit mir?“ fragte sie.

„Hauptsächlich das, was Sie geschehen lassen wollen,“ antwortete Wendell. „Sie werden Ihr Leben leben, und hoffentlich werden Sie mit unserer Hilfe dafür sorgen, dass es eine Bedeutung hat. Die Jahre werden freundlicher zu Ihnen sein als zu den meisten, aber am Ende werden Sie altern, und Sie werden sterben und die Kreise dieser Erde verlassen. Das ist der Lauf der Dinge, meine Liebe.“

„Und ihr werdet immer noch hier sein.”

„Solange wir einen Grund zum Leben haben; solange wir auf Thranduil hören und nicht der Traurigkeit und Trägheit erliegen, so lange werden wir nicht dahinschwinden,“ sagte Linda. „Und wir werden hier sein, um dem Ende entgegen zu sehen, was immer das auch sein wird.“

Mariposa sah sie an. „Leben ohne Ende und die Hoffnung, sich auszuruhen, oder zu sterben und zunichte zu werden – ich weiß nicht, welche Aussicht mich mehr erschreckt.“

„Ich weiß,“ sagte Linda, und die Traurigkeit in ihren Augen sorgte dafür, dass Posey es endlich glaubte.

___________________________________________________________________

*”Lasto beth aran – edhro!“ – „Hört den König – öffnet euch!“

*Joe Schmo-Show – wurde im Jahr 2003 als Parodie auf Reality-Shows vom amerikanischen Kabel-Network Spike TV ausgestrahlt. Einem Mann namens Matt Kennedy Gould wurde vorgegaukelt, er sei ein Kandidat unter mehreren für eine Gameshow; die anderen Teilnehmer und der Moderator waren aber samt und sonders Schauspieler mit einem festen Drehbuch (die Ähnlichkeit mit Peter Weirs Film The Truman-Show war vermutlich durchaus beabsichtigt).

*Pookah-Geister – sprechende Geisterwesen aus der irischen Mythologie, die sich bei unliebsamem Verhalten die Menschen auf den Rücken luden und in wildem Ritt mit ihnen durch die Nacht hetzten.


Top          Nächstes Kapitel          Stories          Home