Der Preis der Freiheit (The Price of Freedom)
von Erin Lasgalen, übersetzt von Cúthalion


Zusammenfassung Kapitel 3 „Das Nest der Jäger“:

Éowyn, Gimli und Legolas werden in das Nest der Jäger verschleppt. Morsul, der finstere Diener der Monsterkönigin, ist persönlich mehr als interessiert an Éowyn; er will sie zu seiner Gefährtin machen, zwingt sie, sein Blut zu trinken und trinkt das ihre. Der Effekt ist verblüffend: Morsul, ergebener Diener der Vampirkönigin seit mehr als zwei Zeitaltern, erinnert sich an seine Vergangenheit als Ritter von Elu Thingol, Lúthiens Vater... Éowyns Blut wirkt durch den Zauber Mithrandirs wie ein Heilmittel. Als die blutsaugenden Bestien Legolas und Gimli quälen und Gimli (der ebenfalls gebissen wurde) dazu zwingen wollen, seinen Durst an seinem Freund zu stillen, zieht Gimli es vor, sich durch die Höhlenwand in das Sonnenlicht zu stürzen, das ihn in seinem veränderten Zustand töten kann. Legolas und Éowyn werden vor die Königin geschleppt, die sich als Thuringwethil entpuppt, eine Bestie, die in Fledermausgestalt schon Sauron im ersten Zeitalter gedient hat. Sie beißt Legolas und trinkt sein Blut; Éowyn gelingt es in ihrer Verzweiflung, Morsul davon zu überzeugen, dass er ihr helfen muss, den Freund zu befreien. Morsul wird bei dem Versuch tödlich verwundet, und in einem letzten Gespräch gibt der sterbende Ritter von Doriath ihr den Rat, Legolas ihr Blut trinken zu lassen, um ihn so zu erlösen, wie sie ihn erlöst hat. Es gelingt; als der Prinz von Düsterwald an Éowyn seinen Durst stillt, gewinnt er sein Gedächtnis zurück und die beiden beschließen, den Versuch zu unternehmen, aus dem Nest zu fliehen und es bei der Flucht zu zerstören.

4. Kapitel:
Sonne, Feuer und Schatten

Sie erwachte bei Sonnenaufgang, träge und mit verschwollenen Augen. Sie regte sich gegen den warmen Körper, der um sie geschlungen war und drückte ihr Gesicht gegen die glatte Haut seiner Brust; sie wollte, dass das Brennen hinter ihren Augen nachließ. Sie lagen auf der Seite, Angesicht in Angesicht, in einem warmen Durcheinander aus Gliedmaßen; ihr Kopf ruhte auf seinem Arm.

„Legolas,“ sagte sie schwach, „es dämmert.“ Sie schüttelte ihn sanft und zuckte zusammen. Die Verletzungen in ihrer Schulter hatten sich versteift. Sie berührte die zwei doppelten Bissmale und spürte die Hitze der Entzündungen in den Wunden. Ihr Kopf war leer und fiebrig, und jeder einzelne Muskel fühlte sich an, als wäre er mit einer Keule malträtiert worden.

Er gab einen unterdrückten, gequälten Laut von sich und senkte den Kopf; er zog ihre Hand sachte von der Wunde fort. „Ich habe dir wehgetan,“ flüsterte er in ihr Haar. „Es tut mir Leid.“

Er legte seinen Mund auf die Wunden, als dachte er, ein Kuss würde es besser machen. Sie wusste wenig von den Elben, aber sie war sich sicher, dass er eine solche Macht nicht besaß. Der warme Druck seiner Lippen auf ihrer Haut zog die Entzündung nicht heraus und vertrieb auch nicht ihre körperliche Zerschlagenheit und den Blutverlust, den sie in den letzten zwei Tagen davongetragen hatte, aber er tat viel dazu, sie von ihrem Unwohlsein abzulenken.

Sie erschauerte, als er seinen Mund an der Linie ihres Schlüsselbeines entlang bewegte. Er hatte die Arme um sie geschlungen und zog ihren Körper dichter an sich, und sie klammerte sich an ihm fest. Seine warme Hand war unter ihrer Tunika; sie glitt ihr Rückgrat hinauf und wieder hinunter. Er rollte sie beide ein wenig herum , so dass sie halb über ihm lag, dann befreite er seine andere Hand, um sie zu berühren. Er legte beide Hände um ihre Mitte und lachte ihr leise ins Ohr, als er eine kitzlige Stelle genau über ihrem Nabel fand. Sie schaute in einem Nebel atemloser Hitze auf ihn hinunter; Gedanken und Verstand waren geflohen wie die Zugvögel im Herbst, als er mit einem Finger über die flache Ebene ihres Bauches fuhr, sein Gesicht ein glühendes Bild des Mutwillens. Ganz am Rande nahm sie wahr, dass sie jetzt rittlings über ihm saß wie eine lüsterne Dirne.

Irgend etwas stimmte hier nicht, irgend etwas Wichtiges, das sie vergessen hatte. Sie runzelte die Stirn und versuchte mit aller Macht, nachzudenken. Sie nahm seine Hände in die ihren und hielt sie von der aufwärts wandernden Forschungsreise über ihren Körper ab, ehe sie die Fähigkeit verlor, etwas aufzubringen, das auch nur an einen klaren Gedanken erinnerte.

Seine Augen waren geweitet und erfüllt von der kummervollem Bitte um Vergebung. „Du bist zornig auf mich.“ Das normale Grau hatte sich in Sorge und Bedauern zu tiefem Indigo verdunkelt.

„Nein!“ sagte sie. Sie biss die Zähne zusammen; ihr Kopf schwamm, während sie versuchte, sich daran zu erinnern, was sie vergessen hatte. „Da war irgend etwas, was wir bei Tagesanbruch tun mussten. Ich weiß nicht mehr, was es war!“

Seine Augen trübten sich und er schaute besorgt drein. „Ja,“ sagte er langsam. „Ich – ich habe es auch vergessen. Aber es war wichtig, glaube ich.“ Er ließ eine Hand in einer nachdenklichen, fast abwesenden Liebkosung über ihren Brustkorb gleiten.

Während er das tat, streiften seine Finger seitlich an ihrer Brust entlang und sie fuhr zusammen. Sie hielt seinen Blick fest und ihr Atem beschleunigte sich als er - zögernd und mit auserlesener Zartheit – ihre Brust mit der Hand umschloss. Hitze explodierte tief in ihr und fegte all ihre Sorgen über vergessene, ungetane Pflichten beiseite. Sie lehnte sich hinunter und küsste ihn heftig; sie wiegte ihre Hüften in einem langen, gleitenden Rhythmus gegen die seinen und genoss, wie er sich unter ihr wölbte und nach Luft schnappte. Er sprach zu ihr in seiner eigenen Zunge; die Worte kamen in einem rauen, atemlosen Flüstern heraus.

Sie lächelte gegen seinen Mund, zog sich die Tunika über den Kopf und warf sie mit einer raschen Bewegung beiseite. Sie stützte eine Hand auf den Boden neben ihm und zog mit der anderen an den Bändern ihrer Hose. Und während sie das noch tat, spürte sie ein scharfes Stechen an der Handfläche. Sie fuhr zusammen und hielt die Hand hoch. Sie hatte sich an einem scharfen Knochensplitter geschnitten---

Knochensplitter---

Sie lagen auf einem Berg zerschmetterter Knochen!

Oh Götter von Himmel und Erde!

Die kalte Klarheit der Erinnerung war wie ein Eimer Eiswasser, der ihr das Rückgrat hinunter gegossen wurde. Was, wie sie schamerfüllt überlegte, anscheinend genau das war, was sie beide im Augenblick nötig hatten. Sie begegnete seinem Blick und irgendwie teilte sich ihm ihr plötzlicher Stimmungswechsel mit. Er erstarrte unter ihr und, sein Gesicht in unvermittelter Verwirrung verzogen. Dann flogen seine Augen weit auf.

„Éowyn!“ keuchte er. „Was – was haben wir---?“ Seine Stimme erstarb und sein Gesicht lief plötzlich bis zu den hellen Haarwurzeln rot an. „Nein, antworte nicht. Ich weiß, was wir getan haben. Oder was wir gerade tun wollten. Eru! Ich hatte die Gefahr vergessen und beinahe meinen eigenen Namen! Was – was geschieht mit uns?“ Seine Stimme war leise und ein wenig verängstigt.

Mit einer blitzhaften, plötzlichen Einsicht begriff sie, dass dies – die Beschmutzung mit dem Bösen, dieses langsame Abwärtskreiseln in die Finsternis - ihn mehr entsetzte als eine Armee von Morgulbestien. Er hatte keine Furcht vor einem Tod in der Schlacht, wie auch immer er ihn treffen mochte, aber dieser innerliche Angriff auf seine Seele, diese Seuche, die ihn im Kern traf... das war für ihn der Stoff für Alpträume. Was das anging, waren sie einander sehr ähnlich.

Sie schob ihren Körper mit soviel angeknackster Würde von ihm herunter, wie sie sie unter solchen Umständen zustande brachte und zog hastig ihre Tunika an. Sie wandte sich von ihm ab und hörte das kiesartige Knirschen von Knochenstücken, als er sich vorsichtig aufsetzte. Sie schlang die Arme in entsetzter Demütigung um sich selbst, als wäre sie noch halb nackt.

„Es ist ein Teil der Verwandlung, denke ich,“ sagte sie ruhig und versuchte, ihre Stimme gleichmäßig zu halten; sie versuchte, so zu tun, als wäre nichts geschehen. „Bei all den anderen Jägern hat Simiashas Blut ihre Leiber verändert, aber es hat auch---“ Sie suchte nach den rechten Worten und hört ihre Stimme brechen wie die einer alten Frau, „--- die Erinnerung an ihr Dasein als lebende Geschöpfe verschwimmen lassen. Und auf dieser leeren Schiefertafel erschuf sie sie nach ihrem eigenen Bild neu und flößte ihnen ihr eigenes Übel ein.“

Oh Götter, was musste er von ihr denken! Es war nicht nur die schamhafte Erinnerung daran, dass sie auf irgend eine Weise körperliches Vergnügen daraus gezogen hatte, als er sie in der letzten Nacht biss. Als ein Elb, dessen Körper sich niemals ohne das Zutun der Liebe für das Verlangen erwärmte, musste er sich angeekelt fühlen, sogar missbraucht von dem, was sie --- was sie beinahe---

Sie spürte, dass er sie genau beobachtete. Endlich brachte sie den Mut auf, sich umzudrehen. Sein Gesicht war ohne jeden Ausdruck Er schluckte langsam. „Also --- also, auch ohne Simiashas Einfluss werden unsere Erinnerungen an das, was und wer wir waren, immer noch weiter verblassen?“

Sie nickte. Ihre Hände bebten, also ballte sie sie zu Fäusten. Selbst wenn sie dies überlebte, er würde sicher nie wieder imstande sein, ihren Anblick zu ertragen. Seine Freundschaft – eine der wichtigsten Freundschaften in ihrem ganzen Leben – war für sie verloren. „Auch ohne ihren Einfluss werden wir wie wilde Tiere. Oder in meinem Fall wie – wie ein Tier in Hitze.“ Sie wandte ihr Gesicht ab, weil sie das scharfe, helle Aufblitzen des Schmerzes nicht sehen wollte, das bei ihren harschen Worten in seinen Augen aufflackerte. „Es tut mir Leid! Ich wusste, du würdest nie – ich – ich weiß, du musst entsetzt sein---“

„Wenn ich mich richtig erinnere,“ sagte er leise und sorgfältig, „hast du nichts angefangen. Ich bin es, der dich um Vergebung bitten sollte.“ Er schien unentschieden auf der Stelle zu schwanken, wo er saß, als wollte er sich nähern, fürchtete aber ihre Reaktion, wenn er es tat. „Sag nicht ,Tier’, Éowyn. Sag lieber wie ein Kind, das erst ein oder zwei Jahre laufen kann. So hat es sich wenigstens für mich angefühlt. Da war kein Gedanke. Keine Sorge, keine Angst vor den Folgen. Ich sah, dass du warm und weich warst, und so schön wie nur irgend ein Elbenmädchen, das je geboren wurde. Ich spürte, dass du mir teuer bist, so teuer wie die zwei Brüder meines Herzens. Und so nahm ich dich in die Arme. Meine süße Freundin, wir sind befleckt mit dem Übel, aber in der Erinnerung an diesen Akt kann ich nichts als Licht und Freude finden!“

Sie krümmte sich zusammen, eine Hand auf ihrem Magen; ihr war schlecht vor Erleichterung und --- und allem! Sie dachte sehnsüchtig an die träumerische, fast trunkene Euphorie, die sie vor ein, zwei Stunden empfunden hatte, als sie nach dem Blutverlust, der ihn von Simiashas Sklaverei erlöste, in seinen Armen lag. Sie verspürte ein unheilvolles Druckgefühl in der Brust, als sei etwas in ihr kurz davor, zu reißen. Sie kam sich vor wie ein weit über sein Fassungsvermögen gefüllter Wasserschlauch. Sie dachte, sie würde bersten. Legolas kam näher; er kniete jetzt reglos vor ihr, angespannt in qualvoller Unentschlossenheit. Endlich streckte er die Hand nach ihr aus und liebkoste zögernd ihre Haare und ihr Gesicht. Das bloße Streifen seiner Fingerspitzen schien den größten Teil ihres Elends zu überwinden.

„Ich habe vorhin mein Gedächtnis und meine Hemmungen verloren, aber sonst bin ich noch immer ich selbst gewesen. Ich habe in der letzten Nacht Dinge zu dir gesagt, die ich nicht ungesagt machen kann.“ erklärte er sanft. Sie hob den Kopf, um seinen meergrauen Augen zu begegnen und sah, dass sie von unvergossenen Tränen glänzten. „Aber nachdem ich sie einmal gesagt habe, kann ich in meinem Herzen kein Bedauern darüber finden.“

Sie konnte nicht über das nachdenken, was seine Worte bedeuteten. Nicht jetzt. Sie wandte ihren Geist davon ab und schüttelte den Kopf. Es war zuviel. Sie legte leicht ihre Hand auf seinen Mund, ehe er noch mehr sagen konnte. „Sprich nicht weiter!“ Sie flehte beinahe. „Zu viele Dinge liegen in mir im Streit. Wenn du nur noch eines hinzufügst, dann könnte es mich zerreißen!“

„Das verstehe ich nur zu gut,“ sagte er leise. „Ich weiß, wir sind beide an der Grenze dessen, was wir ertragen können. Aber wir müssen stark sein. Wir werden heute das Tageslicht sehen, Éowyn! Ich schwöre es!“ Er drehte das Gesicht in die Hand hinein, die auf seiner Wange ruhte und küsste fast ehrenbietig ihre Handfläche. „Über diese Dinge werden wir später reden, mit der Sonne auf unseren Gesichtern.“

„Ja,“ stimmte sie zu und erwiderte schwach sein Lächeln.

Sie setzte sich aufrecht hin. Es war zu früh, um zu zerbrechen. Sie würde später reichlich Gelegenheit dafür haben. Sie tastete auf dem Boden nach der Feuerflasche, die sie in der Hand des toten Mädchens gefunden hatte, und hielt sie hoch. „Wir müssen noch mehr von denen finden. Es sind Blechflaschen mit einem flüssigen Extrakt aus Fallahs Brandpulver. Bei der Schlacht am Südpass hat sie niemand benutzt, weil wir keine Zeit hatten, sie anzuzünden. Aber Fallah hat sie in jener Nacht an viele Frauen der Wache verteilt. Bei – bei den anderen Leichen der Frauen, die in jeder Nacht verschleppt wurden, könnten noch ein paar mehr von diesen Flaschen sein.“

Sie arbeiteten sich durch die frischen Toten; es war eine grauenhafte Schatzsuche. Sie fanden ein halbes Dutzend weiterer Flaschen bei den Leichen der Wachen. Sie hätten vielleicht noch mehr gefunden, aber nach einer Stunde konnte Éowyn nicht mehr weitersuchen. Sie hatte zu viele verwesende Körper mit vertrauten Gesichtern umgedreht; sie hatte sie alle in den Tod geführt.

Legolas nahm ihre Hand und hielt sie einfach fest. Er bot ihr kein Wort des Trostes, während sie auf das Gesicht von Ibasha aus dem Wachhaus des Gespannten Bogens hinabstarrte. Suni hatte ihr gesagt, das Mädchen wäre in zwei Monaten achtzehn geworden.

„Diese sechs Flaschen werden genug sein müssen,“ sagte er zu ihr. „Wir werden ihr und den anderen hier sehr bald ein passendes Begräbnis geben.“

Sie wandte ihr Gesicht aufwärts und legte den Kopf in den Nacken, um den scheinbar endlosen Schacht über ihnen sehen zu können. Neben ihr legte Legolas die Hand gegen die Wand der Grube und riss einen Fetzen brauner Flechten ab. Er berührte den unebenen, pockennarbigen Stein darunter. „Wir werden aus dieser Grube herausklettern müssen,“ meinte er. „Wir dürfen keinerlei Feuer anzünden, ehe wir nicht oben angekommen sind.“ Er drückte die Flechten in der Faust zusammen. Sie waren so trocken wie Sägegras. „Wenn das hier die Wände bis ganz oben bedeckt, dann holt uns das Feuer ein, ehe wir heraus steigen können.“

Sie fand einen Vorratsbeutel, der neben einem der Toten aus Gondor lag und lud vorsichtig die Flaschen hinein; sie schnallte sich die Tasche auf den Rücken. Neben ihr sprach Legolas mit einem anderen Soldaten aus Minas Tirith und murmelte auf Elbisch eine leise Bitte um Vergebung, während er dem Mann die Stiefel und die Tunika auszog und sie hastig anlegte. Wenn es ihnen gelang, aus dem Nest zu entkommen, dann musste er Kleidung und Schuhe haben... falls die Sonne ihnen nicht den Garaus machte, sobald sie aus diesen Höhlen heraus gelangten.

Sie raffte soviel trockenen Stoff von den älteren Leichen zusammen, wie sie sie in den Beutel stopfen konnte, und fügte nach einem Augenblick des Nachdenkens einen Oberschenkelknochen hinzu, der einmal zu einem großen Ork gehört haben musste.

Er lächelte grimmig neben ihr. „Lass uns dies zu Ende bringen, Éowyn!“

Sie begannen zu klettern, Hand über Hand, Fußtritt für Fußtritt, in einem langsamen, peinigenden Aufstieg. Wenn sie gedacht hatte, dass ihr Körper schmerzte, als sie aufwachte, dann war das nichts gegen die reißende Qual in jedem Gelenk und jedem Muskel, die mit jedem verkrampften Meter, den sie bewältigten, stetig wuchs.

Die Zeit verstrich, und sie musste darum kämpfen, den Glauben an ihr Vorankommen nicht zu verlieren, während die Grube sich bis in die Unendlichkeit erstreckte. Wie weit sie auch kletterten, das obere Ende war niemals zu sehen. Über ihnen befand sich nur ein leeres, schwarzes Meer, so dunkel wie die Himmel von Arda, bevor die Sterne mit dem Firmament verwoben wurden.

Nach einem endlosen, stillen Weg aufwärts veränderten sich die Wände der Grube zu schierer, makelloser Glätte. Sie hielt kurz inne und legte den Kopf in den Nacken. So weit sie sehen konnte, war die Felswand über ihnen so abgeschliffen wie ein Flusskiesel. Sie schloss für einen Moment die Augen und stählte ihr Herz gegen das, was sie jetzt tun würde. Sie hielt eine zerschrammte, schmutzige Hand hoch und zeigte Legolas die Lösung, die sie für ihre Lage zu bieten hatte. Sie besaß keine Stimme, es laut auszusprechen. Sie konzentrierte sich und fand Muskeln und Gewebe, die vor drei Tagen noch nicht existiert hatten. Ein Dutzend Fuß von ihr entfernt beobachtete Legolas mit halb entsetzter Faszination, wie ihre Hand allmählich ihre Form wechselte, ein wenig größer wurde – und um ein Vielfaches stärker. Mit einem trockenen Schluchzen des Schreckens fuhr sie ihre Nägel aus wie eine Katze, die ihre Krallen entblößt. Dann schlug sie ihre Klauen in den Stein und fand einen Halt, wo zuvor keiner gewesen war. nach einem Augenblick der Stille hörte sie, das er dasselbe tat. Sie schaute nicht hin. Sie wollte nicht sehen, wie die sanften, warmen Hände, die ihren Körper noch vor einer Stunde liebkost hatten, sich in die klauenbewehrten Tatzen einer Bestie verwandelten.

Sie bewegten sich in Totenstille aufwärts, Hand über Hand, wie zwei große Katzen am Stamm einer riesigen, schwarzen Eiche.

„Éowyn!“ sagte er plötzlich.

Sie hielt inne und sah, dass er aufgehört hatte, sich zu bewegen. Er spähte nach oben. Sein schönes Gesicht war angespannt, aber es erhellte sich vor Erleichterung. „Ich kann das obere Ende sehen!“ rief er. „Sie haben die Mündung der Grube mit den Toten zugedeckt, wie sie es taten, als wir zuerst ihre Jagdgründe betreten haben.“

„Wir werden hindurch stoßen müssen, genau wie sie,“ sagte sie und versuchte die Vorstellung zu verdrängen, was das bedeutete.

„Da ist noch etwas,“ murmelte er; seine Stimme war schwer von stiller Furcht. „Kannst du – kannst du sie spüren? Ich weiß nicht, wie ich diese Wahrnehmung beschreiben soll, aber ich spüre sie. Sie sind überall um uns herum!“

Sie warf ihre erweiterten Sinne aus und schluckte, kalt vor Angst. Sie waren überall, Dutzende, Hunderte von ihnen. Aber wo?! Sie konnte nichts sehen. Einen Moment später war das Rätsel gelöst, als Legolas seinen Kopf durch einen netzartigen Schleier getrockneter Flechten schob. Er riss den Schleier beiseite und offenbarte eine mannsgroße Nische im Felsen, vielleicht drei Fuß hoch und ebenso tief. Das hängende Moos verbarg die einzelnen Grüfte, die die Jäger aus den Wänden der Grube herausgerissen hatten. Das tote Ding, das Legolas freigelegt hatte, regte sich gereizt im Schlaf, wachte aber nicht auf. Morsul hatte ihr den Hinweis gegeben, dass nur die stärksten und ältesten Mitglieder von Simiashas Armee sich während der Stunden des Tageslichts umherbewegen konnten. Éowyn betete, dass von diesen alle erschlagen worden waren, als die Jägerin in einem Anfall von Raserei ihren Hofstaat vernichtet hatte.

Sie wichen den Öffnungen so gut aus, wie es ging und kletterten durch die kreisförmig angelegten, kleinen Katakomben mit Gräbern ihrem Ziel entgegen. Das einzige Geräusch war ihr mühsamer Atem und das prasselnde Krachen von brechendem Granit bei jeder neuen Vertiefung für die Hände, die sie in die Wand schlugen. Stück für Stück kam das Dach aus zerschmettertem Aas näher.

Ein paar Meter unterhalb der obersten Stelle hielten sie inne. Eine lederne Plane war über die Mündung der Grube gezogen worden, eine weitere Schutzschicht vor der Sonne und Eindringlingen aus dem Tageslicht. Éowyn musste Galle hinunterschlucken, als ihr verspätet klar wurde, dass das Leder der Plane weder von Wild noch von Vieh stammte.

„Wir werden unseren --- unseren Weg hindurch graben müssen.“ stöhnte sie leise.

„Meleth-nin, du---“ sagte er sanft. Er runzelte in schrecklicher Anspannung die Stirn, versuchte aber dennoch, sie anzulächeln. „Mellon-nin,“ begann er wieder und veränderte das elbische Wort ganz leicht, „Bleib stark! Wir sind beinahe draußen!“

Sie spannte das Kinn an und fing an zu klettern. Sie fand den Sims, wo die Plane auf den Boden der Vorratskammer der Jäger traf. Sie zog sich aufwärts und schwang ein Bein über den Rand. Dann brach sie mit einem gedämpften Stöhnen des Schreckens durch das Leichentuch aus menschlicher Haut und fing an, sich ihren Weg durch den Hügel aus zerschmetterten Kadavern über ihnen frei zu graben. Sie hielt den Atem an; sie wollte weder Luft holen noch schlucken, während sie sich aufwärts krallte, hinaus aus der Gruft, in der Simiashas sie begraben hatte. Nach einer Ewigkeit, die nicht länger gedauert haben konnte als fünf Minuten, stieß ihre Hand ins Leere. Und mit diesem einen Hauch von Freiheit verlor sie die Nerven. Sie krabbelte wild durch die letzten paar Fuß aus verwesenden Toten und erreichte die Geisterkammer, nach Luft ringend wie ein erstickender Bergmann. Sie riss ihr Bein frei, das letzte Stück von ihr, das noch gefangen war; aus weiter Entfernung hörte sie die tierhaften Geräusche gebrochener Panik, die aus ihrer eigenen Kehle kamen.

Sie rollte von dem Hügel menschlicher Überreste herunter und kam auf der Seite zu liegen. Sie atmete mühsam und verschloss ihren Geist gegen das, was sie gerade getan hatte, um nicht in einen Schreikrampf zu verfallen. Sie lag da, ohne sich zu bewegen, und spürte, wie Fleisch und Knochen ihrer Hände wieder in ihren Normalzustand zurückkehrten. Die Welt unmittelbar um sie her fing an, sich auf eine traumhafte, fremdartige Weise vor ihr zurückzuziehen. Sie fragte sich träge, wie vielen Übergriffen ihr Geist und ihr Herz wohl noch widerstehen konnten, ehe sie in einen bodenlosen Abgrund des Wahnsinns hinabtaumelte. Sie fragte sich, ob Wahnsinn wohl eine willkommen Erlösung sein würde, wenn er endlich kam. Sie lag da und lauschte dem Klang ihres eigenen Herzschlages; sie hatte das Gefühl, als ob alles, was ihr Kummer gemacht hatte, sich immer weiter in die Unwirklichkeit entfernte.

Jemand hob ihren schlaffen, teilnahmslosen Körper mit auserlesener Sanftheit hoch. Eine warme Hand strich ihr das Haar aus den Augen und wischte ihr eine namenlose, schwarze, klebrige Substanz aus dem Gesicht. Er sprach zu ihr in seiner eigenen Zunge und murmelte leise, lispelnde Satzfetzen, die sie nicht verstand. Aber seine Stimme war tröstlich und seine Arme um sie ein Balsam für ihre verwundete Seele. Und langsam begann die Stimme, sie aufwärts zu ziehen, hinaus aus den Wassern von Schock und Betäubung, zurück zu ihren Sinnen.

„Ich trage dich fort von hier,“ sagte er ihr endlich in der Allgemeinen Sprache.

„Nein,“ krächzte sie. Ihre verschwommenen Gedanken schnappten zurück und wurden scharf. Sie strampelte schwach mit den Beinen, denn er hatte sie bereits hochgehoben und suchte sich seinen Weg durch die Höhle auf den Tunnel zu, der aufwärts in die Tempelkammer führte. „Nein!“ sagte sie mit kräftigerer Stimme. „Lass mich herunter! Wir müssen die Grube zerstören!“

Er blieb stehen und setzte sie vorsichtig ab. Ihre zitternden Beine schienen aus Gelee gemacht zu sein. Sie stützte sich auf seine unerschütterliche Stärke und verfluchte ihre eigene, zimperliche Schwäche. Während sie in dem Beutel herumwühlte, den sie noch immer auf dem Rücken trug, sank er auf die Knie und zog sie mit sich. Das war besser. Auch wenn sie es nicht fertig brachte, allein zu stehen, knien konnte sie jedenfalls. Sie zog die kostbaren Flaschen mit zitternden Händen heraus, eine nach der anderen. Nach einem Augenblick des Nachdenkens stellte sie zwei davon zur Seite. Für Simiasha.

„Wir müssen die Mündung der Grube nicht aufdecken,“ sagte sie heiser. „Wenn wir den Leichenhügel in Brand setzen, dann bricht die Lederplane ein und trägt das Feuer zu ihnen hinunter.“

„Ja.“ flüsterte er.

Sie packte die Feuersteine und versuchte, einen Funken zu schlagen, während Legolas das trockene Tuch, das sie mitgebracht hatte, um den Oberschenkelknochen wickelte, der zu groß war, als dass er von einem Menschen stammen konnte; er brachte eine grobe Fackel zustande. Nach einer Ewigkeit misslungener Versuche setzten ihre bebenden Hände einen Funken in das staubtrockene Gewebe. Sie fachten ihn mit ihrem Atem an und hegten die kleine Flamme, bis sie den uralten Stoff erfasste und fröhlich zu brennen anfing.

Legolas hielt die Feuerflasche zwischen ihnen; sein Blick flammte wie das goldene Feuerlicht der Fackel, die sich in seinen Augen spiegelte. „Setz sie alle in Brand, Éowyn!“ hauchte er.

Sie entfachte die Zündschnur von Fallahs kleiner Blechflasche mit der Brandpulver-Essenz, und Legolas warf sie mit aller Kraft in das Zentrum des Totenberges. Er zielte perfekt. Die Flasche traf die Spitze des Hügels, der die Grube schützte und löste einen strahlenden Funkenschauer aus. Die kleine Explosionen verteilte das flüssige Feuer in der Kammer und ---

Es war, als hätte er die Fackel in einen trockenen Heuschober geworfen. Alles fing Feuer und flammte auf.

„Noch eine!“ sagte Legolas mit grimmigem Entzücken.

Sie legte Feuer an die Zündschnur einer weiteren Flasche und er schleuderte sie in das Zentrum des Brandes. Die Erschütterung war ohrenbetäubend. Die Höhlendecke über ihnen bebte. Die Schicht, die die Grube bedeckte, war ein wenig eingefallen. Sie sank mit einer langsamen Bewegung nach innen; es sah aus wie ein nachgebender Trichter.

Unter ihnen im schwarzen Bauch der Höhle regten sich die Jäger und knurrten im Schlaf vor Angst. Sie konnten das Feuer über ihren Gräbern wittern. Sie konnten die schreckliche Gefahr spüren, aber sie waren zu hilflos, um sich zu bewegen oder zu handeln. Simiasha hatte in ihrem verschwenderischen, vermessenen Akt des Zornes die einzigen ihrer Kinder vernichtet, die sich hätten erheben könne, um die Tausenden zu verteidigen, die in der Tiefe schlummerten.

Die Plane blähte sich, gab nach und der Berg darüber brach in sich zusammen und fiel in die Grube hinunter; er trug das Feuer zu den Jägern. Éowyn lauschte in mitleidloser Befriedigung auf ihre Schreie, als die trockene Moosschicht über ihren Nestern jeden von ihnen in seinem eigenen, kleinen Grab in Brand setzte.

„Sie brennen!“ Éowyn kreischte beinahe, gefangen irgendwo zwischen Hysterie und Freude. „Legolas, sie brennen!“

„Und das werden wir auch, wenn wir uns nicht bewegen!“ sagte er drängend.

Das Feuer war schon fast über ihnen; es fegte alles beiseite auf seinem reinigenden Weg. „Zurück in den Tunnel zum Tempel!“ rief Legolas. Er zerrte an ihrer Hand, während sie die übrigen Feuerflaschen einsammelte. Er riss sie geradezu auf die Füße und zog sie scharf nach hinten, gerade als der vorderste Rand der Flammen an ihrem Hosenbein leckte. „Rasch!“

Sie rannten zum Tunnelausgang. Oder besser, er rannte, die Hand um ihr Handgelenk, und zog sie hinter sich her. Sie stellte fest, dass ihre Beine jetzt wieder ziemlich gut funktionierten. Es war erstaunlich, in welchem Maße die Aussicht, lebendig geröstet zu werden, die Stärke eines Menschen wiederherstellen konnte. Sie stolperten die steile Steigung des Tunnels hinauf und das Feuer hielt mit ihnen Schritt. Fast zu spät wurde ihr klar, wieso. Eine der Feuerflaschen leckte und zog im Laufen eine flüssige Flammenspur hinter ihnen her.

„Runter!“ schrie sie. Sie warf die beschädigte Flasche hinter sich.

Die Flasche explodierte und riss sie alle beide von den Füßen; sie hatten keine Zeit mehr gehabt, sich zu ducken. Éowyn hob hustend den Kopf und sah voller Entsetzen, dass das Feuer jetzt vor ihnen und hinter ihnen war. Legolas kam wieder auf die Beine, seine Hand noch immer in einem tödlichen Griff um ihr Gelenk geschlossen. Ohne ein Wort hob er sie von den Füßen, während sie benommen ihren Kopf berührte; ihre Hand war blutig. Legolas warf sie sich über eine Schulter wie einen Mehlsack und sprang vorwärts; er durchbrach den Ring der Flammen vor ihnen, der ihnen den Fluchtweg versperrte. Sie würgte jetzt an dem Rauch und erstickte fast am übermächtigen Brand ungezählter Leichen. Ihre Augen tränten und sie konnte nichts sehen. Er trug sie durch das Feuer, unbeirrt und ohne zu schwanken, seine Stimme eine heisere Melodie, während er leise betete.

Sie presste die Augen fest zusammen, als sie plötzlich von einer sengenden Welt aus Licht geblendet wurde. Sie hatten aufgehört, sich zu bewegen. Sie lag auf der Seite und er schlug schnell und verzweifelt auf ihr linkes Bein ein. Ihre Hosen mussten in Brand stehen, dachte sie mit vager Besorgnis. Nach einem Augenblick oder zwei hörte er auf, die Flamme auszuschlagen und brach neben ihr zusammen. Er rang in riesigen, mühevollen Zügen nach Luft. Er musste das Feuer wohl gelöscht haben, dachte sie höchst vernünftig. Sie war sich sicher, dass sie nicht brannte.

Stück für Stück kam sie wieder zu sich und tauchte einmal mehr aus der friedlichen Mattigkeit des leichten Schockzustandes auf. Sie waren in der Tempelkammer. Benommen setzte sie sich auf. Ein dünner Blutfaden aus ihrer Kopfwunde stach ihr in den rauchgeröteten Augen. Sie wischte ihn abwesend weg.

Legolas lag auf dem Rücken. Sein Atem hatte sich zu einem gleichmäßigen Rhythmus verlangsamt. Sein Gesicht war bedeckt mit Schmutz und Ruß, aber er lächelte schwach zu ihr auf.

„Das war ganz schön knapp.“ sagte er.

Ihre Mundwinkel drohten, sich aufwärts zu kräuseln. „Nur ein bisschen,“ stimmte sie zu.

Sie sah sich um und versuchte, sich zurechtzufinden. Aus der Mündung des Tunnels quoll ein stetiger Strom von schwarzem Rauch. „Simiasha war nicht in der Grube.“ sagte sie grimmig.

„Nein.“ bestätigte er. Er setzte sich auf, dann erhob er sich mit schmerzerfüllter Entschlossenheit. Sie kam ebenfalls langsam auf die Beine. Er schien die Kammer zu erforschen und nach etwas zu suchen. Langsam verlor sein Gesicht alle Farbe. „Sie ist in der Nähe,“ zischte er. „Kannst du sie spüren?“

„Nein,“ erwiderte sie. Sie umklammerte die Feuersteine mit einer Hand und drückte die drei übrig gebliebenen Feuerflaschen wie zerbrechliche Kinder an ihre Brust. „Ich spüre überhaupt nichts.“

„Vielleicht kann ich sie spüren, weil sie mir ihr eigenes Blut aufgezwungen hat.“ Ein sichtbarer Schauder zitterte durch seinen Körper. Seine Augen wurden blicklos. Er hob langsam die Hand und zeigte auf das Podest mit dem Thron am hinteren Ende des Tempels. „Dort liegt sie,“ Seine Hand bebte. Seine Stimme war leise und voller Furcht, wie die eines verängstigten Kindes. „Wir müssen ihr ein Ende machen, Éowyn. Das hier ist wichtiger als wir beide. Sie – sie hat mir gesagt, was für Pläne sie mit Aragorn und Gondor hat... mit der ganzen Welt. Sie hat nicht den Wunsch, Estel zu töten. Sie will ihn für sich, auf die selbe Weise, wie sie mich will. Mit ihm als ihrer Kreatur wird sie Mittelerde mit ihrer Art überziehen. Denen, die sie nach Westen geschickt hat, hat sie die Erlaubnis gegeben, ihre Zahl mit den Jungen und Starken aus den Dörfern, die sie überwältigen, zu mehren. Sie haben sich bereits im Westen der Emyn Muil und tief in Vorderharad ausgebreitet. Wenn Aragorn wirklich auf dem Weg nach Rhunballa ist, dann sollen sie ihn auf ihren Befehl hin passieren lassen; aber sie sollen den Weg hinter ihm schließen und ihm damit den Rückweg nach Gondor abschneiden.“

„Dann lass uns die Welt von ihr befreien,“ sagte Éowyn hart.

Sie näherten sich so vorsichtig, als wanderten sie quer über ein Feld voller Vipern. Der Thron war leer, obwohl das Podest noch immer mit den Überresten des Hofstaates übersät war.

Als sie nur noch weniger als zwanzig Fuß von dem Podest entfernt waren, gab Legolas neben ihr ein leises, entsetztes Geräusch von sich. „Ich kann sie in meinem Geist hören, Éowyn!“ zischte er. „Sie flüstert mir sogar durch den Schild deines Blutes etwas zu, sogar, während sie schläft. Ich – ich könnte dir gefährlich werden, wenn wir uns näher heranwagen.“

„Übt sie Druck auf deinen Willen aus, wie sie es getan hat, als sie dich zu trinken zwang?“ fragte Éowyn leise.

„Nein,“ sagte er. „Aber ich fürchte, sie könnte...“ Er tat einen langsamen, unsicheren Atemzug und seine Hand suchte nach der ihren. Er zitterte wie ein Blatt im Wind. Sie hielt seine Hand ganz fest. „Sie hat sich in meine Seele gedrängt und alles, was ich bin, mit ihrer Fäulnis vergiftet. Ich – ein zweites Mal werde ich das nicht überleben!“

Sie bewegten sich vorwärts, Hand in Hand, bis sie direkt vor dem Podest standen. Nichts regte sich. Nichts bewegte sich. Éowyn konnte nirgendwo ein denkendes Geschöpf spüren außer ihr und Legolas.

Kommt, meine starken, klugen Kinder. Lasst uns reden.

Éowyn gab einen keuchenden, kleinen Schrei von sich und hörte Legolas neben sich vor Entsetzen aufstöhnen. Die Stimme war in ihrem Geist, so klar wie in ihr Ohr geflüsterte Worte.

Ein tiefes Rumpeln von Stein gegen Stein erschütterte das Podest. Sie stolperten unbeholfen rückwärts und fielen in ihrer Angst hin, als die riesige Plattform sich in zwei Hälften teilte und auseinander glitt. Ein Windstoß eisiger, ranziger Luft kam aus der Krypta heraufgeweht, die darunter lag. Das kreisförmige Maul des finsteren Gemachs der Königin war ein gähnender, schwarzer Abgrund der Nacht.

Éowyn riss ihre Hand von der von Legolas los und kniete sich hin; sie fummelte ungeschickt mit den Feuersteinen herum. Als eine der kostbaren Flaschen ihr aus der Hand fiel und laut über den Stein klapperte, unterdrückte sie einen gedämpften Schrei der Frustration. Sie stellte die drei Flaschen in einer sauberen, kleinen Reihe vor sich auf.

Hast du mir nichts zu sagen, Mädchen? meinte Simiasha missbilligend. Sie klang um alles in der Welt wie Éowyns Mutter, die sie nach irgend einem kindischen Trotzanfall ausschalt. Und was ist mit dir, mein Legolas? Gedämpftes, leises Gelächter, jene Art dunkles Glucksen, das eine befriedigte, gesättigte Frau benutzte, wenn sie mit ihrem Liebhaber sprach.

Legolas schluckte ein Schluchzen hinunter. Éowyn konnte nicht sagen, ob er absichtlich neben ihr kniete, oder ob seine Beine schlicht und einfach nachgaben. „Ich bin nicht dein!“ krächzte er. „Du wirst bald sterben, du bösartiges, schmutziges Ding!“

Nicht mein? Ein bebendes Geräusch süßer, spöttischer Belustigung. Oh, aber das bist du, mein Schöner! Ihr alle beide! Ihr habt euch als stärker erwiesen als all meine Brut zusammen genommen. Überlasst euch ganz mir, mein goldener Sohn und meine Tochter, und ihr sollt meine Generäle sein, meine geflügelten Todesboten, während wir über Mittelerde hinwegfegen!

Während sie sprach, ging Éowyns Hand beim Schlag von Feuerstein gegen Feuerstein fehl. Sie gab einen giftigen, undamenhaften Fluch von sich. Legolas nahm ihr einen der kostbaren Steine aus der Hand und legte ihn auf den Boden; er platzierte die Zündschnur der Flasche genau darüber.

„Schlag richtig zu, Éowyn!“ flüsterte er.

Und dann schrie er. Sie schrieen beide, als ein zermalmender Berg der Macht mit dem vollen Gewicht von Simiashas unermesslicher Bosheit und ihrem Hass auf alles, was unter der Sonne wandelte und atmete, auf ihren Geist einstürmte. Trotz all ihrer Zeitalter in der Dunkelheit hatte die Jägerin ihre Existenz als eine der Ainur begonnen. Und obwohl sie die Barrikade von Gandalfs schützendem Zauber nicht durchbrechen konnte, war sie mehr als fähig, ihrer beider Geist zu Brei zu zermalmen.

Närrische Kinder, kicherte die zuckersüße Stimme.

Éowyn lag auf der Seite, die Hände über die Ohren gepresst, als wollte sie ihr Gehirn daran hindern, auszulaufen. Es schien, als würde das Haus ihrer Seele durch brutale Gewalt innerlich über ihr einstürzen, als ob gekrümmte Klauen an ihr zerrten und blutende Stücke ihres innersten Selbst fortrissen, während sie sich auf ihre Mitte zu gruben. Neben ihr waren Legolas Schreie verstummt; er lag auf dem Gesicht und keuchte vor Schmerz. Simiasha sprach zu ihm, ihre Stimme freundlich und überredend.

Lass mich wieder ein, mein Geliebter, sagte die Jägerin sanft. Öffne mir dein süßes Selbst und ich werde das sterbliche, kleine Ding am Leben lassen. Oder besser, ich lasse sie sich verwandeln und ihr dürft mir beide dienen, Seite an Seite. Sie leidet solche Schmerzen! Sie leidet Schmerzen, seit dein Auge zum ersten Mal auf ihr geruht hat; sie wird durch einen Missbrauch gequält, der tiefer ging als ein bloßer, körperlicher Angriff. Hast du gesehen, wie sie in der Grube vor deiner Berührung zurückschreckte, wie sie die Arme um sich schlang und vor deinem und ihrem Verlangen zurückfuhr wie ein verängstigtes Rehkitz? Sie ist über alle Heilung hinaus versehrt. Aber ich könnte sie heilen, Legolas. Ich könnte die Erinnerung an die kühlen Hände des Zauberlehrlings auf ihrem Körper fortnehmen, als er seinen Geist in sie hineinstieß. Du hattest einen Vorgeschmack davon, wie furchtbar das gewesen sein muss, als ich dich letzte Nacht zerbrochen habe. Ich kann sie heilen, mein Schoßtier.

„Lügnerin!“ Legolas schluchzte halb. „Du bist eine Lügnerin!“

Ich kann sie unsterblich machen, bot Simiasha liebevoll an. Ist es nicht tragisch und ungerecht, dass ihr goldenes Haar in weniger als zwanzig Jahren zu Grau verblassen muss? Wenn du sie so begehrst, wie du es tust, dann muss sie dein Herz durchbohrt haben wie der Schuss eines Pfeilers. Kannst du es wirklich ertragen, jemanden, der dir so teuer ist, in den nächsten fünfzig, sechzig Jahren verwelken und zu Staub zerfallen zu sehen, während du hilflos zuschaust?

„Alles was du sagst, ist verdrehte Halbwahrheit und Galle!“ spie Legolas, seine schöne Stimme gebrochen vor Schmerz. „Du bietest Sklaverei und Verdammnis und nennst es ein Geschenk! Stirb und sei verflucht zum Nichts außerhalb der Schöpfung, das auf die übelsten Seelen wartet!“

Er nahm den oberen Feuerstein aus Éowyns verkrampfter Hand und schlug ihn auf sein Gegenstück. Éowyn hörte ihre eigene Stimme aufkreischen, als der Druck in ihrem Kopf sich verstärkte. Blut schoss ihr aus der Nase, als etwas tief in ihrem Schädel nachgab. Sie wand sich vor Qual und schrie, bis ihr die Stimme brach und in ihrer Kehle erstarb.

Legolas schlug ein zweites Mal zu und ein gesegneter, roter Funke flammte in Éowyns verschwimmender Sicht auf. Er schrie auf und fiel nach vorne auf die rauchende Zündschnur, als Simiasha ihm die volle Macht ihres Geistes zuwandte.

Ich werde dir das Gehirn zerquetschen, wenn du es wagst, die Hand gegen mich zu erheben, Sohn von Thranduil! krächzte sie bösartig und ließ alle Vorspiegelungen von Überredung und Schmeichelei fahren. Ich werde euch nicht mehr als den Verstand von Säuglingen lassen, wenn ihr---

„Stirb!“ keuchte er schwach. „Stirb und sei endlich still!“ Es gelang ihm, die Feuerflasche wegzurollen und Éowyn sah, dass die glosende Zündschnur endlich Feuer gefangen hatte. Irgendwie bewegte sie den rechten Arm und versetzte der Flasche mit den Fingern einen Schubs. Sie rollte stetig brennend vorwärts und fiel mit einem klappernden, metallischen Klirren in die Krypta hinunter.

Nein! NEIN! Das könnt ihr nicht tun! Ihr---

Die Explosion war das befriedigendste Geräusch, dass Éowyn je gekannt hatte. Es ließ den Stein unter ihnen erzittern und Staub und kleine Kieselsteine von der Höhendecke auf sie herabregnen. Das Rumpeln setzte sich fort und nahm an Stärke zu, gemeinsam mit dem schrillen, geistigen Klagegeschrei voller Wut und Schmerz, das aus der Krypta kam. Nein! Nein! Nein! Das könnt Ihr nicht! Ich bin ewig! Ich bin die größte Macht, die noch auf Erden wandelt! Ich kann nicht sterben, Ihr Narren! Neeeeeeeein!

„Brenn, du monströses Miststück!“ Éowyns Stimme war pfeifend und mühsam. Sie stützte sich auf einen Ellbogen und rollte die letzten beiden Feuerflaschen in das Maul von Simiashas Gruft. Die Explosionen ließen Rauchwolken aus dem Loch aufsteigen. Das Rumpeln hielt unvermindert an. Der Berg bebte bis hinunter zu seinen Grundfesten tief in der Erde.

Ihr werdet mit mir sterben, erbärmliche Kinder! heulte das Monster in der Tiefe. Éowyn konnte sie vor ihrem geistigen Auge sehen, in Flammen eingehüllt, die Fassade der Schönheit weg gebrannt, während sie sich in ihrem lodernden Grab wand. Selbst wenn ihr entkommt, werdet ihr niemals frei von mir sein! Ihr seid befleckt und im Blut für alle Ewigkeit an meine Finsternis gebunden! Und unglaublicherweise begann sie zu lachen, ein hohes, wahnwitziges Gackern. Selbst wenn ich sterbe, werde ich in euch weiterleben, meine Lieblinge! Ihr werdet euch noch immer verwandeln – und verflucht sein!

Ein Felsbrocken von der Größe eines Kutschengauls krachte zehn Fuß von der Stelle, wo sie lagen, zu Boden. Simiasha würde den Berg rings um sie her und unter ihnen einreißen!

„Legolas!“ keuchte Éowyn. Sie richtete sich mühsam auf die Knie auf und fiel dabei fast über ihn. Er war nur halb bei Bewusstsein und atmete mühsam. Sie schob ihren Kopf unter seine Schulter und brachte ihm auf die Beine. Er half ihr, so gut er es vermochte. Es endete damit, dass sie sich schwer gegeneinander lehnten; keiner von beiden konnte aus eigener Kraft stehen.

„Hinaus!“ sagte er schwach.

„Ja...“ murmelte sie. Sie führte ihn in Schlangenlinien quer durch die Kammer auf einen der brennenden Schäfte aus Sonnenlicht zu, die die Düsternis des Tempels durchdrangen. Rings um sie herum regnete der Tod von der einstürzenden Decke. Wundersamerweise wurden sie nicht einmal von einem Kiesel getroffen, während sie auf die Freiheit zuwankten, einen qualvollen Schritt nach dem anderen. Sie erreichten den Riss in der Außenwand und Éowyn stand da und starrte in dumpfem Staunen, während der Riss brach und eine türgroße Öffnung in der steinernen Seitenwand des Berges schuf. Dahinter lag ein blendender, sengender Tag.

„Die Valar werden einen Weg finden,“ seufzte Legolas.

Gemeinsam sprangen sie in das strahlende Tageslicht hinein.

*****

Sie fielen in blindem, brennenden Entsetzen kopfüber die ganze Bergseite hinunter. Sie krachten auf den roten, staubigen Boden, zerkratzt und zerschlagen nach dem Sturz über eine halbe Meile, sonst aber unverletzt.

Éowyn bedeckte ihren Kopf mit den Armen und kreischte. Ihre Haut brannte über und über. Ihr Blut kochte ihr in den Venen. Sie hielt sich eine Hand vor das Gesicht und sah mit Entsetzen, dass Dampf von ihrem Fleisch aufstieg. Simiasha hatte die Wahrheit gesagt. Tot oder lebendig, sie hatte sie beide mit ihrem Blut verdammt, und jetzt tötete die Sonne sie so sicher, als wären sie vollständig verwandelt. Ganz schwach hörte sie die Stimme von Legolas, der zu ihr sprach. Sie spürte ein Gewicht, das sie niederdrückte und bedeckte. Etwas Schweres lag über sie gebreitet und hielt die volle Kraft der Sonne ab. Sie schloss die Augen, verschränkte ihre Finger mit denen von Legolas und wartete darauf, zu sterben.

Sie starben nicht. Sie gingen nicht in Flammen auf. Sie lagen am Fuße des einstürzenden Berges in einer unaufhörlichen, blasenwerfenden Tortur endloser Schmerzen. Sie schrie, obwohl sie ihre Stimme verloren hatte. Sie schrie, bis sie wusste, dass ihre Kehle aufgerissen war und blutete. Und noch immer war es nicht vorbei. Wie lange sie es dauerte, fand sie nie heraus.

Aber irgendwann ließ das weiße Strahlen des Tages nach. Die Schatten waren länger geworden, aber die Sonne war noch nicht hinter den westlichen Gipfeln verschwunden. Lange Zeit lag sie betäubt da, in einer langsam abebbenden Flut der Pein.

Sie rollte sich herum und schob Legolas reglosen Körper sanft von sich herunter; sie starrte hinauf in den rußigen Himmel. Der Berg fiel langsam und sehr säuberlich in sich zusammen. Noch immer stieß er an einem Dutzend Stellen Rauch aus. Das Feuer würde über hundert Meilen in jede Richtung hinweg sichtbar sein. Und mehr noch, der gemächliche Zusammenbruch des Berges schleuderte Sand und Stein hunderte Fuß hoch in die Luft und verwandelte den Mittag in wolkiges Zwielicht.

Wieder hielt sie ihre Hand hoch und schauderte vor Entsetzen. Sie war geschwollen und mit Blasen übersät. Ihre Haut war eine Masse aus tiefrotem Fleisch und rauchenden Verbrennungen. Sie musste eigentlich im Sterben liegen, aber noch während sie zusah, heilten die Verbrennungen bereits von allein. Ihr werdet niemals von mir frei sein, hatte Simiasha sie verhöhnt. Éowyn schaute auf Legolas hinunter und schüttelte in müder Verweigerung den Kopf. Sie war zu betäubt für Kummer.

Er war verbrannt. Jedes freie Stück Haut war geschwärzt, als hätte man ihn auf einem Bratspieß verkohlen lassen. Er hatte über ihr gelegen und sie von der größten Wucht der Sonnenstrahlen abgeschirmt. Und die ganze Zeit, während sie ihre Qual herausschrie, bis ihr die Kehle blutete, hatte er nie auch nur einen Laut von sich gegeben. Er heilte langsam, genau wie sie, aber er war viel schwerer verletzt.

Sie mussten eine Zuflucht finden. Sie mussten vom Fuß dieses Berges fliehen, bevor sein letzter Todeskampf sie unter einem Steinschlag begrub. Sie beugte sich hinunter und küsste Legolas’ aufgesprungene, blasenbedeckte Lippen. Du hast mich aus dem Feuer getragen und mich jedes Mal festgehalten, wenn ich gestolpert bin, dachte sie. Ich werde dich von diesem brennenden Grab forttragen.

Sie hob ihn unbeholfen hoch und schwang sich sein starres, totes Gewicht über die Schulter. Sie hielt sich nicht damit auf, darüber nachzudenken, dass sie nicht imstande hätte sein sollen, das so leicht zu tun. Sie wollte nicht wissen oder verstehen, warum sie noch immer eine solch unmenschliche Stärke besaß. Sie starrte geradeaus und fing an, nach Westen zu gehen, weg von den Klippen. Sie wanderte vorwärts und setzte einen Fuß vor den anderen; sie dachte nicht nach und erinnerte sich an nichts. Sie dachte nicht darüber nach, dass Leben und Heilung scheinbar erst dann in sie zurückflutete, als die Sonne von Asche und Staub vernebelt worden war. Sie dachte nicht über den Schmerz nach, den sie jetzt empfand oder grübelte darüber, wieso ihre riesige Kraft sich so rasch erneuerte. Sie stellte nicht in Frage, dass sie spürte, wie ihr Körper die Heilung ihrer Wunden mit jedem Grad, den die Sonne sich gen Westen neigte, ein wenig rascher fortschreiten ließ. Sie rief sich nicht den Fluch ins Gedächtnis, den die sterbende Jägerin ihnen entgegen geschleudert hatte – das Versprechen, das sie und Legolas niemals von ihrer Befleckung rein werden würden, selbst wenn sie sie erschlugen.

Als die Anstrengung, über irgend eines von diesen Dingen nicht nachzudenken, zu groß wurde, beschleunigte sie ihren Schritt. Und als das nicht ausreichte, um ihren Geist leer zu fegen, fing sie an zu rennen.

Der rötliche Sand und das Gestrüpp der Staublande verschwamm unter ihren Füßen. Sie rannte wie ein Wildpferd, das auf den Ebenen des Nordens durchging. Sie trug ihren Gefährten mit sich, als wäre er gewichtslos. Sie rannte, bis sich die Sohlen ihrer Stiefel abschälten, bis jeder Atemzug ihre Brust wie Feuer verbrannte. Sie rannte, bis die trockene Erde dem Grün Platz machte und der Duft nach Wasser die Lüft erfüllte wie ein Hauch der Errettung. Sie brach zusammen, blind, verbrannt und blutend, und fiel rückwärts in Felder aus glitzerndem Blau.

*****

Sie erwachte und war nass; sie spürte, dass ihre Haut von köstlich kühlem Wasser bedeckt war. Ein leichter, warmer Wind zupfte an ihrem feuchten Haar. Sie streckte sich und genoss die schiere, wundersame Abwesenheit von Schmerzen.

Sie lag am kiesbestreuten Rand eines Flusses, und die kühle Strömung rieselte über ihren Körper. Ihr Kopf lag gerade eben außerhalb des Wassers, mit der festen Grasnarbe der Uferböschung als Kissen. Ihr wurde klar, dass sie sehr viel Glück gehabt hatte, als sie beim Zusammenbrechen nach hinten fiel. Wäre sie vorwärts gefallen, wäre sie ertrunken.

Sie lag da und lauschte auf die Geräusche der Nacht um sich herum... sie hörte zu und spürte den Pulsschlag wimmelnden Lebens aus jeder Richtung. Sie untersuchte ihre Hände und ihr Gesicht nach Verbrennungen. Es gab keine. Sie fühlte sich war und heil und ---

Legolas.

Sie versuchte sich aufzusetzen und brach wieder zusammen; sie ruderte unbeholfen und unter Wasserplatschen mit den Armen. Eine warme Hand strich ihr über die Stirn, glitt durch ihr nasses Haar und brachte sie wieder zur Ruhe. Er hatte hinter ihr auf der Uferböschung gesessen. Jetzt hob er sie sanft hoch und setzte sie so aufrecht hin, dass ihr Rücken an seiner Brust lehnte.

„Ich denke, du bist jetzt sauber genug,“ murmelte er in ihr Haar. „Du warst mit Blut, Erde und unaussprechlichem Schmutz bedeckt. Ich habe dich an der Nase gehalten und dich ein paar Mal untergetunkt, dann habe ich dich ein Weilchen zum Einweichen ins Wasser gelegt.“

„Ich danke dir dafür,“ seufzte sie und erschlaffte gegen ihn.

„Es war keine Mühe,“ sagte er. „Wie haben beide sehr übel gerochen.“

Eine Weile sprach sie nicht und genoss das Gefühl des Wassers, das zwischen ihren Zehen hindurchströmte. Sie hatte die Sohlen ihrer Stiefel durchgelaufen, und die kräftigen Lederoberteile waren bald danach zu Fetzen zerfallen und hatten sie barfuß zurückgelassen.

„Meine Füße waren blutig und zerrissen,“ sagte sie endlich langsam. „Unser Fleisch war von der Sonne schwarz versengt. Wir waren beide übersät von Wunden und Schrammen. Jetzt sind wir geheilt.“Sie gab einen klagenden, trauervollen Laut völligen Besiegtseins von sich. „Wir verwandeln uns immer noch. Wir sind noch immer befleckt. Entweder hat sie die Wahrheit gesprochen, als sie sagte, wir würden auch nach ihrem Tod nicht frei sein – oder sie lebt noch.“

„Oder,“ sagte er leise, „es wird dauern, bis das Gift ihres Blutes aus unserem Körper schwindet. Wie das Gift von einem Spinnenbiss wird sich seine Wirkung mit der Zeit auflösen. So bald nach dem Entkommen aus dem Nest können wir nichts wissen.“

„Und entkommen sind wir,“ sagte sie zustimmend und fing wieder an, sich zu entspannen. „Komme, was mag, wir sind frei. Wir sind frei von diesem Ort.“

Für eine sehr lange Zeit sagte keiner von beiden etwas. Die Sommerbrise war warm, und das Wasser, das über ihre bloßen Füße rauschte, war himmlisch. Sie saßen unter den Armen einer riesigen Weide, die sich über ihnen ausbreitete; sie filterte das strahlende, silberne Gesicht des Mondes und das glitzernde Feld der Sterne. Legolas lehnte sich gegen den Weidenstamm. Das stetige Heben und Senken seiner Brust gegen ihre Rücken fing an, sie in träumerischen Halbschlaf einzulullen.

Ein leichtes Zittern ging durch seinen Körper und schreckte sie auf. Dann noch eines. Sie drehte sich nach hinten und sah, dass er still weinte. Sie bat ihn nicht, aufzuhören. Süßer Eru, wie sie sich wünschte, mit ihm zu weinen! Sie legte sie Arme um seine Brust und zog seinen Kopf auf ihre Schulter, wo sich sein Schmerz in stillen, bebenden Schluchzern offenbarte.

„Wenn er uns von dort sehen kann, wo er jetzt ist,“ flüsterte er, „dann jubelt er und ehrt dich als den Helden des Zeitalters, dafür, dass du das Nest vernichtet hast.“

„Nein,“ sagte er, leise unter Tränen lachend. „Er beschimpft mich als weinerlichen, elbischen Narren. Er würde nicht wollen, dass ich so um ihn trauere. Aber das werde ich... für alle Zeit. Ich bin das einzige Kind meiner Eltern, aber Gimli war, vom Blut abgesehen, in allen Dingen mein Bruder. Ich habe ihn mehr geliebt als mein eigenes Leben. Ich wusste, eines Tages würde ich ihn verlieren, aber – aber nicht so bald!“

Sie hatte keine Worte, um Trost für einen solchen Verlust zu bieten, also sagte sie nichts. Sie hielt ihn nur fest, während der Kummer, den er bis jetzt herunterschluckt hatte, aus ihm herausströmte. Als die Dämmerung näher kam, war er erschöpft und wurde ruhiger.

„Du hast mich gerettet“, sagte er leise, am Rand des Schlummers schwankend. „So stark... ich habe Ehrfurcht vor dir.“

„Ich fühle mich nicht stark,“ murmelte sie schläfrig. „Und gerettet habe ich dich auch nicht. Obwohl... vielleicht haben wir uns gegenseitig gerettet.“

„Die Erinnerung daran, wie sie sich in meine Seele gedrängt hat---“ Er brach ab; sein Körper bebte in ihren Armen. „Es hätte mich umgebracht, Éowyn. So sicher, wie wenn sie meinen Körper für ihr Vergnügen missbraucht hätte. Aber als ich dein Blut nahm, schien es, als hättest du mir ein Stück deiner Seele gegeben. Ich konnte spüren, wie du mein gesamtes Selbst durchdringst, jung und hell und furchtlos, voll von menschlicher Widerstandskraft und Stärke, der mein Volk gleichzukommen niemals erhoffen kann. Ich kann dich noch immer spüren. Es ist, als seist du ein Teil von mir. Du hast mir deine Kraft gegeben und... und nun...“ Mitten im Wort schlief er ein.

Und so schlummerten sie zusammen am Flussufer, unter dem Schatten der Weide zusammengerollt, als die Sonne aufging. Sie erwachte einmal, fast blind im gelben Starren der Sonne; sie hatte einen Moment des Jubels und der vollkommenen Freude. Die Speere, die die Sonne durch die dicken Zweige der Weide warf, taten ihr in den Augen weh, aber sie verbrannten sie nicht.

Am Vorabend ihrer zweiten Nacht in Freiheit erwachte sie zum Klang von Legolas’ Stimme; sie erhob sich in der Entfernung zu einem Lied von leiser, herzzerbrechender Trauer. Sie lag warm und trocken auf einer Schlafmatte aus Gänsedaunen ausgestreckt, vor einem flackernden Feuer im steinernen Kamin einer kleinen Sabadi-Hütte. Die Reisfelder im Osten von Rhunballa in der Gegend der Tiefen Brunnen waren mit Dutzenden von solchen Hütten übersät.

Sie war in eine dünne Wolldecke gehüllt. Vor ihr auf dem Boden warteten ein leichtes Seidenhemd und Hosen aus Schafwolle. Sie stand unbeholfen auf, schälte sich aus ihren zerfetzten Kleidern und zog sich langsam an, während sie auf die schönen Melodiebögen von Legolas’ Lied lauschte. Es war eine Totenklage, sie wusste es, obwohl sie die elbischen Worte nicht verstand. Sie spürte, wie es in ihren Augen stach.

Es war ein Lied für Gimli.

Sie öffnete die hölzernen Schiebetüren der Küche und ging durch die Eingangskammer zur Vordertür. Sie trat in das neblige Zwielicht hinaus und suchte sich ihren Weg durch einen grünen Wald aus mannshohem Wasserfarn und hinein in ein Bambusdickicht. Der Wald war ein schattenbetupftes Wunderland aus Farbe und Tönen, und er wimmelte vor Leben. Die Nacht war lebendig von tausenden von Tieren, alle vibrierend, alle wunderschön. Die Sterne summten eine geisterhafte Begleitung zu Legolas’ Lied, aber sie verblassten, verglichen mit dem leuchtenden Geschöpf, das am Ufer des Wassers sang.

Er war in ein weiches Leinenhemd und Hosen gekleidet, die er in dem verlassenen Bauernhaus gefunden haben musste. Er stand so gerade wie ein Pfeil, die Augen geschlossen, den Kopf zurückgeworfen. In dem schwindenden Licht schimmerte er wie eine Lampe, strahlend und dem Tod geweiht, wie ein phantastischer, Fleisch gewordener Traum. Sie stand da und beobachtete ihn, gefangen und atemlos vor Staunen, als er seine Trauer in die Nachtluft hinauswarf und etwas unbeschreiblich Schönes daraus machte. Er spürte ihre Gegenwart und öffnete die Augen; er begegnete ihrem Blick mit den glühenden Bernsteinpupillen einer Katze.

Ihr Herz fror ein und kam in ihrer Brust zum Stehen, und sie schrie. In Verweigerung. In Kummer. In betrogenem Zorn darüber, dass sie, nachdem sie so hart gekämpft hatten, als Belohnung diese Verdammnis empfangen sollten.

„Éowyn?“ Er sprach leise. Die strahlende Schönheit der Trauer auf seinem Gesicht wurde durch Verwirrung und schreckliche Sorge ersetzt.

Sie wirbelte herum und floh.

Sie brach durch das Bambusdickicht, schneller als ein Hirsch, und rannte auf das kleine Haus zu. Irgendwo dort drinnen würde eine Waffe sein, wenn es auch nur ein Küchenmesser war. Irgendwo würde sie irgendetwas finden, das sie benutzen konnte, um sein Leben und ihr eigenes zu beenden. Bevor sie sich verwandelten. Bevor die unglücklichen Leute, die hier gelebt hatten, zurückkamen. Bevor sie und Legolas kalt und ohne Atem erwachten, zu einem Dasein in unendlicher Nacht.

Er stürzte sich von hinten auf sie und sie krachten auf den weichen Farnteppich des Waldbodens. „Éowyn!“ rief er und versuchte, sie umzudrehen, damit sie ihn ansah, aber sie schwang wild die Fäuste gegen ihn. Als sie nicht aufhören wollte, in blinder Panik nach ihm zu schlagen, pflanzte er beide Knie auf ihre Unterarme. „Was ist denn los? Was ist geschehen?“

Er war noch immer er selbst. Seine Haut leuchtete im Mondlicht wie bleicher Marmor. Seine Augen, die besorgt und voller Furcht auf sie nieder starrten, hatten den goldenen Ton eines Raubtieres. Aber sein Geist war noch immer ---

„Deine Augen!“ rief sie und rang nach Luft. Sie fiel heftig atmend auf den Rücken und versuchte, die Panik zu unterdrücken, die sie immer noch innerlich zerriss, taub für alle Vernunft.

„Ja,“ sagte er ruhig. „Deine waren genauso, als du letzte Nacht aufgewacht bist. Jetzt haben sie sich wieder verändert, weil du dich fürchtest. Es hat mit der Stimmung zu tun, glaube ich. Jedes extreme Gefühl löst den Wechsel zu Gold aus. Es ist sehr eigenartig.“

„Eigenartig?“ wiederholte sie mit erstickter Stimme. Sie begann schwach zu lachen; ihr Kopf war leicht und leer. „Ich komme mir plötzlich sehr närrisch vor.“

Er zog sich zurück und stieg von ihren fast tauben Armen herunter. Sie setzte sich langsam auf und er betrachtete sie ganz genau von da aus, wo er neben ihr kniete; immer noch war die Sorge tief in sein schönes Gesicht eingegraben.

„Deine Angst ist wohlbegründet und nicht im mindesten närrisch,“ sagte er zu ihr.

„Legolas, sieh mich an,“ sagte sie leise. „Wie wirke ich auf dich? Würde irgend jemand, der uns je gekannt hat, uns jetzt anschauen und ein Paar von Bestien erblicken?“ Ihre Hand flog gegen ihren Mund, als hätte sie Angst, ein Schrei könnte herauskommen.

„Schsch!“ Er kam dichter heran und legte ihr eine Hand auf die Wange. Seine Augen bohrten sich mit einer allsehenden Intensität in die ihren, die in ihr den Wunsch weckte, sich abzuwenden. Er schaute --- sie wusste, er schaute mit seinem Elbenblick in sie hinein. „Du hast goldene Augen,“ sagte er langsam, „Deine Haut glüht wie flüssiges Mithril im Fackelschein. Ich glaube, du bist jetzt wahrscheinlich so stark wie zwanzig Männer gleichzeitig. Aber dein Geist ist unbefleckt! Ich kann es sehen, Meleth-nin! Deine Seele strahlt vor meinem inneren Auge noch immer so hell, dass ihre reine, heftige Schönheit mich fast blendet!“

„Genau wie deine!“ sagte sie; ihre Stimme brach. „Aber – aber Legolas, ich könnte wahnsinnig werden, während ich darauf warte zu wissen, ob wir uns noch immer verwandeln! Wenn wir das tun, müssen wir unserem Leben ein Ende setzen---“

„Nein!“ Er sprach so scharf, dass sie zusammenfuhr. „Nein, Éowyn, nein,“ sagte er noch einmal, diesmal leiser. „Versprich mir, dass du dir nicht das eine Leben nimmst, das Eru dir gegeben hat! Nicht ... nicht, ehe wir beide darin übereinstimmen, dass es keine Hoffnung gibt.“

„Aber---“ begann sie. „Aber wenn wir---“

„Bitte,“ bat er leise. „Bitte. Ich kann die ständige Furcht nicht ertragen, dass ich mich umdrehen und dich finden könnte, von eigener Hand getötet. Ich kann es nicht ertragen.“

Sie sackte besiegt zusammen; sie wusste, der Streit war verloren. Sie hatte keine Kraft, gegen den Schmerz in seinem Gesicht und seiner Stimme anzukämpfen. Er beugte sich vor, bis seine Stirn die ihre berührte.

„Bitte, Meleth-nin,“ flehte er. Er würde erst erleichtert sein, wenn er ihren Eid darauf hatte.

„Nicht, ehe wir beide darin übereinstimmen,“ seufzte sie; all ihr Widerstand verging mit dem schwachen Hauch seines Atems auf ihren Lippen. „Ich schwöre es.“

Die Anspannung wich langsam aus seinem Körper. Er zog sich nicht zurück, noch gab er sie frei. Stattdessen strich er sanft mit einer Hand durch ihr Haar und bog ihren Kopf zurück. Sie starrte in die leuchtenden Bernsteintiefen seiner Augen.

„Ich könnte es nicht ertragen, dich zu verlieren, wie ich Gimli verloren habe,“ sagte er still. „Mithrandir sagte mir einmal, als ich noch sehr jung war, dass die tiefsten, innigsten Freundschaften des Lebens einem das Herz wie ein Blitzschlag vom Himmel durchbohren – plötzlich und ohne Vorwarnung. Das ist, was geschah, als ich Aragorn begegnete. Und obwohl wir uns nicht sofort verstanden, war es auch bei Gimli so. Und so ist es bei dir.“

„Und alle sind wir sterblich,“ sagte sie traurig.

Er lächelte nur. „Ihr seid, wie Eru euch geschaffen hat, Ich erinnere mich, dass mein Vater über meine Liebe zu Estel und Gimli betrübt war, weil er wusste, ich würde sie sterben sehen, wenn die Zeit sich erfüllt. Das ist der Grund, warum die Eldar so für sich bleiben – um unsere Herzen gegen den Schmerz zu schützen, Sterbliche zu lieben.“ Er legte die freie Hand auf ihre andere Wange, so dass er ihr Gesicht mit beiden Händen umschloss. „Aber wenn ich für meinen Teil die Wahl habe zwischen dem Schmerz, der kommen muss und der Möglichkeit, keinen von Euch je geliebt zu haben, dann wähle ich die Liebe. Immer.“

Er küsste sie, so leicht wie ein Hauch warmer Sommerluft auf ihrem Mund.

Vielleicht hatte er es als ein Siegel liebender Freundschaft gemeint. Vielleicht wollte er in diesem Moment Trost und Zuneigung ausdrücken, und nicht mehr. Aber als seine Lippen die ihren berührten, schien die Nacht rings um sie her innezuhalten und einzuatmen, scheinbar starr vor Staunen über den blitzartigen Strom, der zwischen ihnen in einem einzigen Atemzug hin- und herging. Sie sank ihm in die Arme und ließ zu, dass er sie umschlang; er küsste sie wieder und wieder auf den Mund, auf die Augenlider, auf ihre Stirn und ihre Wangen.

Er zog sich zurück und betrachtete ihr erhitztes Gesicht. „Ich hätte erst fragen sollen,“ sagte er kritisch. „Éowyn, darf ich dich noch einmal küssen?“

Als Antwort küsste sie ihn auf den Mund. Das war alles an Erlaubnis, was er brauchte. Er zog sie an sich und sie schwebten gemeinsam in einer gewichtslosen, brennenden Wolke ansteigender Hitze. Endlich unterbrach er den Kuss, wenn auch nur kurz. Sein Atem wehte schwer und unruhig gegen ihre Lippen.

„Wir sollten --- wir sollten---“ Er schüttelte fast unmerklich den Kopf. „ich kann nicht darüber nachdenken, was wir tun sollten. Ich kann fast überhaupt nicht denken.“

Darüber lachte sie leise und mit schwankender Stimme, und sie strich mit den Fingern durch die helle Seide seines Haares.

„Weisere Köpfe als ich würden mir zu Geduld raten.“ Seine Stimme war ein weicher Hauch aus heißem Atem. „Aber wenn wir noch immer – noch immer krank sind, dann möchte ich nicht zu Mandos gehen, ohne dass ich dich gehalten habe, ohne dass ich---“ Sie hielt seine Worte mit einem weiteren Kuss auf, und keiner von ihnen sprach mehr von Zurückhaltung.

Nach diesem Moment konnte sie sich nie eine deutliche Abfolge der Ereignisse in dieser Nacht ins Gedächtnis rufen. Der einzige klare Gedanke, der ihr wieder und wieder durch den Sinn ging, war: Dies war wirklich. Es war wirklich und kein Traum. Es war Legolas.

Sie erinnerte sich, dass sich seine bloße Haut unter ihren Händen wie lebendige Seide anfühlte, über harte Muskeln gezogen... obwohl sie nie sagen konnte, wann er seine Kleidung ablegte, und wann ihre eigene. Das sanfte Gleiten von Fleisch auf Fleisch, seinem und ihrem, war ein wortloses, gedankenloses Aufflammen der Empfindungen, während sie sich auf dem grünen Waldboden in den Armen lagen.

Sie erinnerte sich vage daran, dass sie schwach protestierte, als er sich auf den Rücken legte und sie auf sich hob; es erschien ihr furchtbar seltsam, dass sie in dieser Sache führen sollte. Er lachte nur leise und sagte ihr, dass hier der Blinde den Blinden führte. Er legte die Hände um ihre Mitte und zog sie hinunter in einen Kuss hinein; er murmelte in ihr Haar, er sei nur ein selbstsüchtiger Schuft, der die Hände frei haben wollte, um sie besser berühren zu können. Und er berührte sie gründlich... er erforschte sie zur Gänze, jede Rundung und Vertiefung, jeden Zoll ihres Leibes. Er lächelte in süßem Vergnügen, als sie gemeinsam herausfanden, welche Reaktion er ihr entlocken konnte, wenn er hier Druck ausübte und dort liebkoste. Und als auch die letzte noch verbliebene Spur von Scheu sich in einer sengenden Welle des Begehrens auflöste, tat sie das selbe mit ihm. Sie klammerten sich aneinander, und es war, als ob ihre Körper einander aus eigenem Willen entgegenstrebten, in einem Tanz, der so alt war wie die Zeit, bereit, zu einem vollkommenen Ganzen zu verschmelzen.

Das ist wirklich, dachte sie wieder; sie schaute auf ihn hinunter, ohne auch nur einen Rest von Furcht oder düsteren Erinnerungen. Legolas’ Augen waren überfließende Teiche aus Licht. Sein Gesicht war offen und wunderschön, erfüllt von unverstelltem Staunen und süßem Verlangen nach ihr und ihr allein. Sein ganzes Herz war in diesem Blick, mit absolutem Vertrauen ihr zu Füßen gelegt.

Sie hielt seinen Blick fest; sie regten sich gleichzeitig, durchbrachen die Barriere in ihrem Körper mit einer einzigen, raschen Bewegung und fanden gemeinsam den Weg über die Schwelle ihrer beider Unschuld hinaus. Bei dem reißenden Schmerz, der gleichzeitig süß und quälend war, gab sie einen leisen, scharfen Laut von sich.

Er fror ein, reglos wie eine Statue. Seine Augen waren vor Besorgnis geweitet, sein Herz hämmerte gegen das ihre. „Ich habe dir weh getan.“

„Es ist ein Schmerz, der ertragen werden muss,“ sagte sie mit einem gesenkten, schaudernden Flüstern, „Es ist nur dieses eine Mal.“

Sie wiegte sich gegen ihn, eine kleine, versuchsweise Dehnung ihrer Hüften. Er schnappte nach Luft und stöhnte leise. Sie lächelte auf ihn hinunter. Wieder bewegte sie sich, sie beobachtete sein Gesicht, seine Augen... wie er jedes Mal, wenn sie sich über ihm hob und senkte, erbebte, als befände er sich im Griff eines steigenden Fiebers. Der Schmerz, die tiefe, treibende, innerliche Empfindung, bis zu ihrem inneren Kern durchdrungen zu sein, verschwand niemals ganz. Aber sie kam Hand in Hand mit einem Gefühl warmer Vollständigkeit, und die Flamme ihres Begehrens, nur kurz vom Schmerz eingedämmt, entfachte sich neu und erwachte in ihr brüllend zum Leben.

Danach ging ihr alles verloren, was auch nur entfernt an einen klaren Gedanken erinnerte. Sie bewegten sich gemeinsam in einem sanften, aufreizenden Rhythmus, und es schien, als würde sich sein Herzschlag dem ihren anpassen. Jeder Atemzug trieb sie ein wenig näher auf einen schwindeleeregenden Höhepunkt zu. Er sprach zu ihr, seine Stimme leise und gebrochen, seine Wangen tränenfeucht; er sagte ihren Namen wieder und wieder, wie ein Gebet. Etwas sammelte sich in ihrer Brust, in ihrem Magen, ihren Gliedern, ihrem Herzen. Etwas baute sich auf hinter ihren Augen, ein Vulkan unter Hochdruck, bereit, den schützenden Mantel des Schildes zu zerbrechen, den sie um den tiefsten, verletzlichsten Teil ihres inneren Selbst errichtet hatte. Das Gleiche hatte sie in der Grube empfunden, als sie gefürchtet hatte, sich unverzeihliche Freiheiten mit ihm herausgenommen zu haben, während sie sich im Nebel von Simiashas betäubendem Gift befanden. Es war dieser berstende Eindruck von zu vielen Bedürfnissen, denen zu lange die Befreiung verweigert worden war.

„Ich liebe dich, Meleth-nin,“ sagte Legolas leise; seine schöne Stimme war von Gefühlen erstickt. „Ich liebe dich, Éowyn.“

Ein Schluchzen fing sich in ihrer Kehle und ihr gesamtes Ich – Körper, Geist und Seele – schrie vor Freude auf beim Klang dieser Worte. Sie brach auseinander... jede Mauer und Barrikade zerfiel unter der Flutwelle des Vergnügens, die durch und über sie hinweg schwemmte und auf ihrem Kamm alles mit sich fortriss. Sie hörte, wie er ihren Namen ausrief, jeden Muskel in seinem Leib starr, den Rücken gewölbt wie ein gespannter Bogen, während er ihr folgte.

Als sie wieder klar genug bei Verstand war, um überhaupt irgend etwas zu wissen, stellte sie fest, dass er sie hinunter in seine Arme gezogen hatte. Er küsste sie einmal mehr, ein weiches, warmes Streifen über ihre Lippen. „Ich liebe dich, Éowyn,“ sagte er wieder.

Und Éowyn fing an zu weinen.

Sie wollte ihm sagen, dass sie nicht wegen dem weinte, was sie gerade getan hatten. Sie wollte ihm sagen, dass er ihr gerade das süßeste, kostbarste Geschenk ihres ganzen Lebens gemacht hatte. Aber nachdem die Schleusen einmal aufgebrochen waren, konnte sie nichts anderes tun, als unkontrolliert zu schluchzen. Sie weinte um ihren eigenen Schmerz und um die verkrüppelnden Narben von dem, was Gríma ihr angetan hatte. Sie weinte um vier Jahre dumpfer, aufgestauter Qual. Sie vergoss endlich ihre Tränen um Théodred, um Théoden, um all die Freunde, die sie im Norden erschlagen gesehen hatte. Sie weinte endlich um die Soldatinnen, die sie am Südpass verloren hatte, um Indassa, um Gimli. Sie weinte vor Freude, dass sie all denen, die sie geliebt und verloren hatte, endlich den rechten Tribut zollen konnte. Sie weinte Tränen der Freude und des Staunens darüber, dass ein menschliches Wesen ihr gesagt hatte, dass sie geliebt wurde, und dass sie in seinen Armen Freude empfinden konnte, ohne zurückzuschrecken. Und sie lachte unter Tränen, als ihr einfiel, dass er überhaupt kein menschliches Wesen war.

Sie wollte ihm all das sagen, was er ihr bedeutete. Sie wollte seine Liebesworte erwidern. Aber sie konnte nicht sprechen. Sie konnte nur weinen. Er schien das zu verstehen, und zu wissen, was sie brauchte, ohne das sie es ihm sagte. Also versuchte er nicht, sie zu beruhigen oder den Strom ihrer Tränen aufzuhalten. Er hielt sie nur fest, während sie sich in den Schlaf weinte.

*****

Am Vorabend der dritten Nacht erwachte sie erschöpft und mit leerem Kopf; sie fühlte sich, als hätte sie einen Strom von Gift ausgespieen. Sie rollte sich an dem warmen Körper zusammen, der um den ihren geschlungen lag, und er schreckte mit einem Schrei auf.

„Legolas!“ Sie hielt ihn fest, als er mit einem gequälten Klagelaut von ihr zurückweichen wollte. „Es ist alles gut! Wir sind in Sicherheit!“

Er erschlaffte gegen sie und vergrub sich in ihrer Umarmung. Sein Herz hämmerte wie der eines Kaninchens in der Falle, aber sein Atem wurde ruhiger, während er sich langsam entspannte.

„Ich habe etwas Schreckliches geträumt,“ murmelte er. „Ich träumte, ich hätte – ich hätte etwas Schreckliches getan, aber ich kann mich nicht daran erinnern, was es war!“

„So ist es manchmal mit Träumen“, sagte sie sanft. Ihre Kehle fühlte sich rau an von stundenlangem Weinen, aber sie verspürte eine Art von rein gewaschenem Frieden, wie sie ihn seit Jahren nicht gekannt hatte. „Es ist kein großes Wunder, dass du einen Alptraum gehabt hast.“

„Ich habe keine Alpträume,“ sagte er; sein schönes Gesicht war von einem vagen Entsetzen überschattet. „Ich – Elben haben lichte Träume, Éowyn. Wir lenken unsere Träume, sie lenken nicht uns. Und wir verlieren nicht vollständig das Bewusstsein, wenn wir schlafen, Selbst im Schlaf der Heilung sind wir der Welt rings um uns her gewahr. Ich war bewusstlos, mit geschlossenen Augen und leerem Geist. Es war, als würde ich aus einer betäubten Starre erwachen!“

„Sterbliche schlafen immer auf diese Weise,“ sagte sie.

„Es kam ganz plötzlich über mich,“ sagte er mit einer leisen, verängstigten Stimme. „Bei Anbruch der Dämmerung.“

Ein Kälteschauer durchzitterte sie, obwohl sie nicht sagen konnte, warum. „Wir haben wieder den Tag verschlafen,“ sagte sie nach einem Moment. „Das ist ein schlechtes Zeichen.“

„Ja,“ meinte er zustimmend. „Aber für – für was?“

Sie suchte unbeholfen nach dem Faden einer schrecklichen Erinnerung, aber er entzog sich ihrem Griff. „Ich weiß es nicht.“

Er runzelte heftig die Stirn. „Wir sind - wir sind unseren Feinden entkommen. Aber wer waren sie? Gimli wurde erschlagen, daran erinnere ich mich. Wir – da war etwas, was wir tun mussten. Jemand, den wir warnen mussten – vor irgend etwas.“

Er wurde immer unruhiger, deshalb küsste sie ihn. Wie sie es erwartet hatte, lenkte das den sorgenvollen Pfad seiner Gedanken in eine andere Richtung. Er legte sie auf ihr grünes Bett, und für eine lange Weile sprachen sie nicht mehr.

Später erhoben sie sich und badeten im Fluss. Sie fanden in der Hütte eine kleine Vorratskammer mit Trockenfrüchten und Zuckerwerk. Jetzt sprachen sie nicht mehr von halb bewussten Alpträumen oder vergessenem Schrecken. Sie taten in dieser Nacht wenig außer jeden Zoll der Haut des anderen zu erforschen und sich einzuprägen.

Als die Sterne gegen Morgen zu verblassen begannen, lagen sie zusammen vor dem Feuer, das sie im kleinen Kamin des Bauernhauses angezündet hatten. Seltsamerweise befanden sich alle Schlafmatten der Familie in diesem Zimmer in der Mitte des Hauses. Sie lagen feucht und ineinander verschlungen nebeneinander; sie trockneten vom letzten Schwimmen im Fluss, die Augen fielen ihnen zu und die Glieder wurden ihnen schwer.

Die Dämmerung war nahe.

„Du lächelst,“ sagte er; er studierte ihr Gesicht, als wollte er es sich für alle Zeit einprägen. „Selbst im Halbschlaf lächelst du. Das ist wunderschön.“ Es schien ihm sehr zu gefallen. Er zupfte an der Wolldecke, die er über sie gezogen hatte und stopfte sie ein wenig besser um sie fest. Es war seltsam, dass sie in der Sommerhitze so sehr frieren sollten. Sie hatte sich vollkommen warm gefühlt, bis der Himmel sich gegen Morgen zu erhellen begann. Er strich mit einer Hand ihren Arm hinunter und wieder hinauf zu ihrer bloßen Schulter. „Ich glaube, jeder Zoll von dir ist mit goldenem, daunenweichen Haar bedeckt. Er ist so zart wie der Pelz eines neugeborenen Kaninchens.“

Sie kämpfte darum, wach zu bleiben, aber sie brachte ein gefährliches Starren zustande und kniff die Augen zusammen. „Ich habe keinen Pelz.“

„Leugnen macht es nicht ungeschehen,“ sagte er weise.

Sie fand einen letzten Ausbruch der Stärke in sich, machte einen Satz und rollte ihn auf den Rücken. Er starrte in geheuchelter Unschuld zu ihr hoch; sie küsste ihn und lachte leise. „Ich bin glücklich,“ sagte sie.

„Das ist gut.“ sagte er sanft.

„Ich fühle mich schuldig,“ sagte sie ihm ernüchtert. Sie strich ihm mit einer Hand über das Gesicht. „Gimli sollte hier bei uns sein.“

Er lächelte, obwohl seine Augen ein wenig zu hell glänzten, als wären sie mit einem schwachen Tränenschimmer überzogen. „Wenn er jetzt in diesem Augenblick bei uns wäre, dann würde er schreiend in die Nacht flüchten. Zwerge sind sehr wortkarg, was Herzensangelegenheiten und körperliche Liebe angeht. Gimli hat---“ Seine Stimme stockte bei dem Wort. „Gimli hatte eine schrecklich niedrige Schamschwelle bei solchen Dingen. Vor einem Jahr habe ich ihm zum Mittsommerfest in Eryn Lasgalen eingeladen. Einer der Höhepunkte dieser Nacht ist immer der Tanz der Erneuerung; er ist nur für verheiratete Paare gedacht. Es ist ein sehr---“ Legolas grinste. „--- eindeutiger Tanz.“

Éowyn stellte sich Gimlis Gesicht vor und begann zu glucksen.

„Er hat das gesamte Ritual mit so viel Anstand abgesessen, wie er ihn aufbringen konnte, aber am Ende war sein Gesicht so rot wie ein reifer Apfel. Mein Vater hatte ihm einen Ehrenplatz neben sich an der Hohen Tafel angeboten – hauptsächlich, glaube ich, aus dem perversen Wunsch heraus zu sehen, ob Gimli das Spektakel zur Gänze mit ansehen konnte, ohne zu explodieren.“

„Hat dein Vater---“ Sie hielt inne, als ihr klar wurde, dass es vielleicht eine aufdringliche Frage war.

„Du kannst mich fragen, was immer du willst, Meleth-nin,“ sagte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen.

„Hat er Gimli so gereizt, weil er ein Zwerg ist – oder weil er jeden Sterblichen missbilligt, der so sehr dein Herz gefangen nimmt?“

Legolas schwieg. Eine kleine Falte grub sich in seine Stirn. „Meine Mutter wurde erschlagen, als ich zwölf Jahre alt war,“ sagte er nach einem langen Augenblick. „Das ist nach menschlichen Maßstäben näher an fünf, denn wir wachsen langsamer als deine Rasse. Ich habe dir gesagt, als wir uns das erste Mal begegnet sind, dass ich sah, wie sich die Frauen meines Volkes in die Schwerter der Feinde gestürzt haben, um ihre Kinder zu schützen. Sie --- dieses Kind war ich.“ Wie viele Jahre seit diesem schrecklichen Tag verstrichen waren, konnte sie sich nicht vorstellen. Aber die stille Trauer lag noch immer so rau auf seinem Gesicht, als wäre die Wunde ganz frisch. „Mein Großvater und mein Onkel waren zwanzig Jahre, ehe ich geboren wurde, in Dagorlad gestorben. Ich war das einzige Kind meines Vaters und alles, was ihm von seiner Familie blieb. Und wegen dieser Dinge hat er mich immer mit allen Mitteln beschützt.“

„Und wenn wir alle fort sind,“ sagte sie leise, „dann wird er es sein, der dir zuschauen muss, wie du für immer trauerst.“

Er lächelte mit schwerlidrigen Augen. „Gimli ist uns voraus gegangen. Ich werde die Erinnerung an ihn und meine Liebe zu ihm immergrün in meinem Herzen bewahren. Mit Aragorn und Arwen und meinen lieben Freunden aus dem Auenland wird es genauso sein.“ Und er seufzte, tief und zufrieden, als hätte eine schwere Bürde der Furcht, die auf seinem Geist lastete, sich gehoben. „Dich aber werde ich nicht verlieren.“

„Ich werde altern und sterben, Legolas,“ sagte sie sanft zu ihm. „Nichts kann daran etwas ändern.“

Er schüttelte den Kopf. „Sterbliche bewegen sich durch ihr Leben in einem Bogen der Zeit, der aufsteigt, während sie zu ihrer vollen Stärke heranwachsen, der für zwanzig Jahre den Gipfel erreicht und dann sanft in Richtung Alter und Tod abzusteigen beginnt. Wenn ich dein Volk betrachte, dann kann ich sehen, wie sie sich in diesem Bogen fortbewegen. Irgendwie bist du nicht länger in Bewegung. Wie ein Elb bist du im Strom der Zeit verwurzelt und sein Wasser strömt um dich herum. Es ist nicht möglich, und doch ist es so.“

Sie lag in seinen Armen, in seine Wärme und die Hitze des kleinen Steinkamins gehüllt; sie spürte, wie ihr das Blut in den Adern zu Eiswasser wurde. „Es ist kein Wunder,“ sagte sie schwach. „Es ist unnatürlich.“ Ihr Glieder fühlten sich an wie Blei. Der Schlaf zog sie in seine dunkle Umarmung hinunter, während die Dämmerung noch näher kam. Sie kämpfte dagegen an, aber es war, als wäre sie ein ertrinkender Schwimmer mit einem Anker als Gewicht an den Füßen.

Er beobachtete, wie Furcht und Begreifen über ihre Gesichtszüge spielten, und plötzlich erstarrte er, als hätte man ihn mit einem unsichtbaren Pfeil durch das Herz geschossen. „Éowyn! Oh Eru, wir verwandeln uns immer noch!“ Seine Stimme war ein verängstigter, körperloser Hauch. Mit jeder Sekunde, die verging, wurde er schwächer; er kämpfte jetzt mit aller Macht darum, wach zu bleiben. „Wir dürfen nicht wieder vergessen! Wir dürfen nicht---“ Er seufzte, als die Kraft seinen Körper verließ und er das Bewusstsein verlor. Éowyn sank rasch; sie war nur einen Augenblick hinter ihm, aber sie durchlebte in dieser letzten Minute des Wachseins eine Ewigkeit von Kummer und Entsetzen, als die Erinnerung sie überspülte, und mit ihr das sichere Wissen ihrer eigenen Verdammnis.

Süßes, spöttisches Gelächter, schwach und weit entfernt, klang in ihrem Kopf wider, und sie stöhnte vor Schrecken. Habt ihr wirklich gedacht, ihr hättet eine der Ainur so leicht erschlagen, meine Schoßtierchen? Ich habe all meine Kinder heimgerufen, um deinen Elessar zu begrüßen, wenn er kommt. Olórins kleiner Zauber wird dich nur so lange beschützen, wie du noch atmest. Wenn du kalt und tot bist, dann werde ich euch beiden euren Verrat heimzahlen. Ich werde euch für alle Zeit quälen, mein Mädchen!

Simiasha lebte! Sie lebte noch! Éowyn schrie auf in Trotz und Wut, trotz aller Hoffnungslosigkeit. Irgendwie, auf irgend eine Weise, würde sie dies hier beenden, ehe ihr Herz stillstand und ihr Blut kalt und in finsterem Hunger durch ihre Adern kreiste. Sie durften nicht wieder vergessen! Sie durften nicht vergessen!

Und doch vergaßen sie.

Sie verbrachten die nächsten paar Nächte so ziemlich auf die selbe Weise wie die letzte. Sie badeten und aßen und machten sich daran, jede Möglichkeit zu erlernen, wie Mann und Frau einander Vergnügen bereiten konnten. Sie trieben durch diese Abende in einem Zustand reinen Glücks, frei von Sorge, von Kummer oder jeglichen düsteren Erinnerungen.

Am Vorabend ihrer siebenten Nacht in der kleinen Hütte stellten sie fest, dass sie die kleine Vorratskammer leer geräumt hatten. Sie gingen auf der Suche nach Nahrung ins Freie; sie fanden nur eine Handvoll roter Beeren im Wald und einen kleinen Weinberg voller unreifer Herbsttrauben. In jener Nacht sorgten sie sich nicht darum, aber in der Nacht darauf erwachten sie mit einem Hunger, der in ihre Mägen biss wie ein reißender Wolf.

Sie erlegten vier junge, braune Feldhasen und fielen darüber her. Sie hielten sich nicht damit auf, ihren Fang zu kochen. Das Fleisch war rot und saftig, und süßer als Konfekt. Sie legten sich bei Anbruch der Dämmerung nieder, und fühlten sich voll und befriedigt. Aber bis zum Sonnenuntergang war ihr Hunger zurückgekehrt und hatte sich verzehnfacht.

In jeder Nacht, die darauf folgte, jagten sie zusammen. Sie suchten sich Abend für Abend größere Beute, denn ihr Hunger fuhr fort zu wachsen. Ihr Bedürfnis nach Nahrung hatte aufgehört, etwas zu sein, worum man sich nach dem Lieben und Baden sorgen konnte. Der Hunger setzte ihnen zu und trieb sie an – und wenn sie zu lange zögerten oder wenn es ihnen nicht gelang, genügend Beute zu finden, um ihn zu stillen, dann quälte er sie mit schweren Krämpfen.

In der zehnten Nacht trafen sie auf ein großes Beutetier, das am Flussufer trank. Sie hetzten es eine Weile durch das Bambusdickicht und die umliegenden, überfluteten Reisfelder; sie machten ihre Verfolgung zu einem Spiel, bis das Tier vor Entsetzen quiekte. Sie jagten ihr Opfer weit von ihrer Hütte fort, über die Felder und in das Zypressenwäldchen, das dahinter lag. Sie kletterten in die Bäume und sprangen von Ast zu Ast, so dass ihre Beute zwar die Stimmen über sich hören, sie aber nicht sehen konnte, während sie um ihr Leben rannte. Aus irgend einem Grund erschien Éowyn das Entsetzen ihres Opfers schrecklich komisch, und sie ließ es ein- zweimal außer Sicht, nur um es aufkreischen zu hören, wenn sie sich wieder von einem Ast herab in sein Blickfeld schwang. Endlich verstärkte der Hunger seinen Griff ein wenig mehr, und sie bewegte sich auf die Beute zu, die Krallen zum Töten entblößt.

Legolas machte einen Satz und holte sie aus der Luft, noch während sie sprang. Er hielt sie nieder; seine ganze Gestalt bebte von der Anstrengung, die er aufbringen musste, um den Impuls des Angriffs zu unterdrücken, den Drang zu zerreißen und über das Ding herzufallen, das sie gerade zur Strecke gebracht hatten. Er hielt sie zurück, während sie sinnlos gegen ihn ankämpfte und sich in der Umschlingung eines stechenden Hungers wand, während ihr Opfer jaulend vor Schrecken in die Nacht hinein floh. Erst als es wirklich verschwunden war, gab Legolas sie frei. Er sank auf die Knie und vergrub das Gesicht in den Händen.

Sie kniete sich neben ihn und machte den angestrengten Versuch zu sprechen. In den letzten zwei Tagen hatte es Zeiten gegeben, da waren sie beide der Worte und der Sprache nicht mehr mächtig gewesen. Sie legte die Arme um ihn, während er von stillem Schluchzen geschüttelt wurde.

„Was...?“ brachte sie heraus. „Was... schlecht?“

„Es war ein Mensch, Meleth-nin!“ flüsterte er. „Es war ein Mensch, den wir beinahe getötet und gefressen hätten!“

Sie legten den Weg zu der Hütte in schockiertem Schweigen zurück. Bei Tagesanbruch gingen sie ausgehungert schlafen und wachten in der Abenddämmerung wieder auf, zusammengekrümmt vor Entbehrung. Sie fanden eine kleine Herde leichtfüßiges Rotwild und rissen sie nieder; sie tranken den roten Springbrunnen ihres Lebensblutes und schenkten, als sie damit fertig waren, dem ausgesaugten Fleisch keine Beachtung mehr. Sie hielten sich mit diesem Festschmaus zu lange auf, und es blieb fast keine Zeit mehr für ein letztes, reinigendes Schwimmen im Fluss, bevor das Gewicht der sich nähernden Sonne auf ihnen zu lasten begann. Sie lagen vor dem Feuer, schürten die Flammen hoch gegen die bedrängende Kälte, die immer in ihre Glieder kroch, wenn die Dämmerung herannahte und paarten sich heftig in einem brennenden Nebel unstillbaren Begehrens. Es war, als sei ihr unablässig wachsender, alles verzehrenden Hunger in jeden Teil ihres Seins übergeflossen, so dass kein Bedürfnis des Leibes vollständig befriedigt werden konnte.

Als es dämmerte, fielen sie mitten im Liebesakt in Schlummer; sie sanken mit einem atemlosen Seufzer des Vergnügens hinab in die Bewusstlosigkeit. Mit letzter Kraft hauchte er einen der wenigen Sätze, die für sie noch Sinn machte. „Ich liebe dich...“ Er brach über ihr zusammen, von ihren Armen und Beinen umschlungen, die große Wolldecke um sie gewickelt. Sie lächelte in wortloser, gedankenloser Freude und schlief ein.

Ein klingelndes Klappern wie zerbrochenes Glas drang in das tiefe Tal ihres Schlummers. Ein strahlendes Flackern von Licht, wie eine Fackel, die in der finstersten aller mondlosen Nächte angezündet wurde, schreckte sie auf in einen schmerzerfüllter, halb betäubten Zustand des Wachseins. Sie wimmerte in sprachlosem Elend und vergrub ihr Gesicht in der Wolldecke, bis das blendende, brennende Licht verging. Sie öffnete die Augen einen Spalt und löste sich genügend von ihrem Geliebten, um nach der Lichtquelle zu suchen. Zehn Fuß von dort, wo sie vor der noch warmen Glut des Kaminfeuers lagen, fand sie eine winzige Scherbe aus Kristallglas, die noch immer wie ein loderndes Scheit glühte. Éowyn betrachtete sie und blinzelte gegen die Helligkeit, die sie abgab. Nach einem Augenblick oder zwei erstarb sie und ließ sie einmal mehr in kühler, beruhigender Dunkelheit, die nur von den Glutresten im Kamin erleuchtet wurde. Sie begann in das traumlose Reich des Schlafes zurückzutreiben.

Eine schiebende Bewegung ganz in der Nähe und das plötzliche Flackern eines anderen Lichtes brachte sie mit einem gereizten, kleinen Knurren wieder zu Bewusstsein. Sie forschte mit ihrem Jägersinn jenseits der Begrenzung des Kaminzimmers... und lächelte langsam, selbst in der halben Lähmung durch das Tageslicht. Diese Beutetiere waren groß, es waren viele und sie waren ganz nahe. Als sie den Geruch ihres Schweißes witterte - ein entferntes Aroma von Blut - erwachte der Hunger in ihr brüllend zum Leben. Irgend ein närrisches Grüppchen Herdentiere näherten sich auf der Suche nach Nahrung ihrer Hütte, während der Herr und die Herrin schliefen. Sie lauschte; ihr Magen knurrte in Vorfreude, als jemand an dem Riegel der Außentür des Kaminzimmers herumhantierte. Dutzende über Dutzende von ihnen umkreisten die Hütte, aber vier oder fünf versammelten sich direkt vor der Tür des Vorraumes. Die Herdengeschöpfe schienen erregt zu sein, als würden sie darüber streiten, ob es weise sei, ihren Bau zu betreten.

Kluge Tiere, dachte sie.

Sie lauschte genauer und konzentrierte die volle Kraft ihres Geistes auf das, was im Nebenzimmer vor sich ging. Und langsam begann, was dort gesprochen wurde, für sie Sinn zu machen.

„--- dann gibt es keinen Grund für einen Aufschub!“ sagte eine junge, männliche Stimme heftig. „Du hast gesagt, wenn die Scherbe, die wir hinein geworfen haben, sie nicht in Brand gesetzt hat, dann sind sie noch nicht jenseits aller Rettung!“

„Mein Freund,“ Die Baritonstimme eines älteren Mannes, eine Mischung aus Kieselstein und Samt, sprach sanft, aber fest. „Ich sage, die Hoffnung ist nicht verloren. Aber das bedeutet nicht, dass sie so sind, wie sie waren. Du hast Legolas in der Schlacht gesehen, und du weißt besser als ich, wie überaus tödlich und geschickt deine Schwester in der Kriegskunst ist. Sie sind noch am Leben und können so vielleicht von der Befleckung ihrer Körper und Seelen geheilt werden. Aber sie sind zwei der gefährlichsten Wesen, die ich jemals gekannt habe, und in diesem Augenblick sind sie wie wilde Tiere. Wenn du dort ohne jede Vorsicht einbrichst, dann werden sie dich sehr schnell töten!“

Ein schwerer Seufzer und eine kleine Stille folgten.

„Du hast den Zustand gesehen, in dem ich war, als deine Reiter mich in den Staubländern gefunden haben, junger Pferdeherr,“ Ein weiterer Mann, mit einer tiefen, vollen Stimme wie warmer Sabadi-Branntwein. „Aragorn hat mich wieder zu mir gebracht. Er weiß, was getan werden muss, und du musst ihm in dieser Sache vertrauen.“

„Ja,“ sagte der junge Mann in stiller Qual. „Ihr wart in einem schrecklichen Zustand, Herr Zwerg. Er hat Euch geheilt.“ Er schien aus diesem Gedanken Hoffnung zu schöpfen. „Er wird sie heilen.“

„Junge Frau?“ Dieser Aragorn mit der Samtstimme rief jemanden, in einem freundlichen, stillen Befehlston. „Habt Ihr das kochende Wasser bereit?“

„Ich habe es hier, oh König,“ sagte die Stimme der jungen Frau. „Und werden die Blätter so darüber zerbröckelt?“

„Gut gemacht, Frau Fallah,“ murmelte Aragorn. „Bleibt in der Nähe, wenn Ihr möchtet. Ich werde die Tür aufstoßen. Fallah und ich werden die vier Schüsseln in das Zimmer tragen und sie im Kreis rings um unsere Freunde aufstellen. Éomer, Gimli ---“ Eine grimmige Pause. „--- benutzt die Fackeln, um sie abzuwehren, wenn sie angreifen sollten. Éomer, ich warne dich noch einmal: Nimm deinen Verstand zusammen, wenn du sie siehst. Deine Schwester wird nicht zögern, dich umzubringen, wenn du in deiner Wachsamkeit nachlässt.“

„Ich verstehe, Herr,“ war die leise, abgerissene Antwort.

Die Tür zum Vorraum flog auf. Éowyn lag so still wie eine Schlange im hohen Gras und wartete geduldig, während der Raum sich mit sengendem Fackellicht erhellte, und noch schlimmer, mit dem gefilterten Sonnelicht von draußen. Die Eindringlinge hatten ihre Vordertür weit offen stehen lassen, dachte sie wütend. Das Geräusch von Stiefelabsätzen drang in das Kaminzimmer. Sie lag so still wie der Tod.

„Oh gnädige Herrin!“ keuchte Éomer mit einem rauen, unterdrückten Schluchzen. „Sie sind --- dies ist überhaupt nicht wie bei Gimli! Sie sind so weiß wie gebleichte Knochen!“

„Éomer!“ sagte Aragorn scharf. „Nicht die Fackel senken!“

Fußtritte rings um sie herum. Der Raum füllte sich mit dem Geruch von siedenden Kräutern, von Blumen und von etwas, dass die Essenz der Natur und von jedem grünen, wachsenden Ding zu sein schien. Es roch nach erneuertem Leben, es duftete wie Stärke und Gesundheit nach einer langem, schmerzhaften Siechtum. Sie kannte diesen Duft. Sie hatte ihn schon einmal zuvor eingeatmet, als sie auf der Schwelle des Todes stand.

„Schwester!“ sagte der, den sie Éomer nannten, sanft. „Éowyn, wach auf!“

Sie wusste, er war nahe. Beinahe nahe genug, aber noch nicht ganz. Sie hob langsam den Kopf, scheinbar mit großer Anstrengung, obwohl das Kräutergebräu in Wahrheit ihr Blut erwärmt und ihre erfrorenen Glieder zu vollständiger Wachheit getaut hatte. Aber es war nicht gut, wenn diese dort das wussten. Noch nicht. Und ganz gewiss nicht, ehe ihr Geliebter erwachte, um dieses große Geschenk an Beute mit ihr zu teilen.

Sie öffnete ihre goldenen Augen und blinzelte in das flammende Licht der Fackel, die er hielt. Sie musste ihn nur noch ein wenig näher zu sich her ziehen. Sie begegnete den Augen dieses jungen Mannes, der weniger als zehn Fuß von dort entfernt kniete, wo sie und ihr Geliebter lagen. Er war rötlich und schön, wie ein großer junger Löwe mit lohfarbenen Haaren, und plötzlich verspürte sie einen kalten Schauer entfernten Wiedererkennens. Die ganze Zeit über füllten sich ihre Nüstern mit dem süßen, heilenden Hauch von Aragorns dampfender Medizin. Ihr Geist war so klar wie eine Glocke. Ihr Körper fühlte sich stark und gut an. Um so besser. Sie würde rasch zuschlagen können.

„Sie ist schon erwacht!“ sagte Éomer freudig. „Éowyn! Erkennst du mich nicht?“

Sie runzelte die Stirn, plötzlich verwirrt. Sie stützte sich auf die Ellenbogen und beobachtete, wie er näher kam; Hunger hielt sich mit Unsicherheit die Waage. Seine Augen weiteten sich, als sie sich langsam auf alle Viere erhob und die Decke von ihrer mondblassen, nackten Haut herunterrutschte. Er machte sich bereit, ihr die Hand entgegenzustrecken, sein gut aussehendes Gesicht voller Pein, seine Fackel gesenkt und halb vergessen.

Eine Welle von reißender Gier durchfuhr sie und sie grollte tief in der Kehle, wie eine Bergkatze, die ihr Junges vor einer Gefahr warnt. Sie konnte ihn so leicht anspringen. Er war so nahe, dass sie ihn schmecken konnte! Aber – aber – sie kannte dieses Gesicht, diese blauen Augen! Sie kannte ihn! Wieder gab sie ein gequältes, verwirrtes Knurren von sich, gepeinigt von der Begier, ihren Hunger zu stillen.

Eine blitzartige Bewegung fing ihren Blick ein. Eine kleine, fassbrüstige Kreatur schoss nach vorne und drängte den gelbhaarigen, jungen Mann mit einem wütenden Fluch zurück. Und hinter ihm stieß jemand die Tür weit auf und ließ einen breiten Strahl aus Sonnenlicht ein. Als er ihre bloße Haut berührte, schrie Éowyn auf, und Éomer schrie mit ihr.

„Ihr Narr, sie hat mich erkannt!“ schrie er. „Lasst mich los! Lasst mich---“

„Noch ein paar Zentimeter weiter, und sie hätte dir die Kehle herausgerissen!“ sagte Gimli grob.

Éowyn krümmte sich mit dem Gesicht nach unten auf dem mattenbelegten Boden zusammen; sie stöhnte vor Qual und hielt die Hände über dem Kopf, um sich vor dem flammenden Schmerz der Sonne zu schützen. Und dann erhob sich ihr Geliebter, endlich von ihren Schreien geweckt. Er warf einen Deckenzipfel über sie, um sie vor der Sonne abzuschirmen, knurrte die Eindringlinge zornig an und bleckte seine scharfen Zähne.

„Legolas---“ sagte Gimli mit stillem Entsetzen.

Legolas kauerte schützend über ihr; er grollte wie ein in die Enge getriebener Wolf, bereit zum Sprung, wenn sie noch näher kamen.

„Zurück.“ sagte Aragorn behutsam. „Ihr alle. Haltet die Fackeln vor euch. Wir haben die vier Athelas-Töpfe um ihr Bett aufgestellt. Sie werden ihre Arbeit tun... jetzt schließen wir die Tür und warten.“

Legolas schien zu begreifen, dass die Bedrohung für den Augenblick vorüber war, aber er ließ in seiner Wachsamkeit nicht nach, ehe die vier Eindringlinge die Schiebetüren vor dem verhassten Tageslicht verschlossen hatten und sich bis in die entfernteste Ecke des Raumes zurückzogen, um dort ihre Wache zu beginnen. Erst dann zog Legolas die Decke beiseite und drehte sie sanft auf den Rücken, damit sie ihn ansehen konnte.

„Schsch...“ sagte er sanft zu ihr. „Sicher. Jetzt... sicher, Meleth-nin.“ Er beugte sich hinunter und küsste sie, tief und süß. Sie seufzte, zog ihn in ihre Arme und schlang ihre Glieder um ihn.

Ganz am Rande nahm sie das Geräusch eines kleinen Handgemenges wahr. „Nein! Nein!“ sagte Éomer wütend. „Er ist mein Freund, und ich weiß um seine Schuldlosigkeit in dieser Sache. Ich weiß es. Aber du kannst nicht erwarten, dass ich müßig im selben Zimmer herumsitze, während der Elb meine Schwester bespringt!“

„Sie schlafen nicht miteinander, Herr,“ sagte die Frau, die Fallah hieß, mit einer kühlen, vernünftigen Stimme. „Sie schlafen ein.“

Legolas rollte sich in ihren Armen neben ihr zusammen, und wieder schlummerten sie eine Weile. ---

Sie kam wieder zu Bewusstsein, als sie hochgehoben und in weiches, wollenes Tuch gehüllt wurde.

„Im Interesse des allgemeinen Anstandes,“ sagte Aragorn gerade, „werden sich Éomer und Frau Fallah um Éowyn kümmern. Du und ich, wir sorgen für Legolas.“

„Schon recht, Junge.“ war die gegrummelte Antwort.

Jemand hob ihr die Arme über den Kopf. Ein weiches Stück Kleidung aus Baumwolle wurde ihr übergezogen, während sanfte Hände ihre Arme durch die Ärmel eines leichten Sommerkleides steckten.

Kleid?

Sie hatte seit vier Jahren kein Kleid mehr getragen. Sie besaß nur eines und es war inzwischen schrecklich fadenscheinig. Es würde nett sein, wieder ein hübsches Kleid zu haben, aber in der letzten Zeit hatte sie wirklich keine Zeit für solche Dinge gehabt, wie sie träge dachte.

„Schwester?“ drängte Éomers Stimme sachte. „Éowyn, öffne die Augen.“

Sie fragte sich, ob sie wohl krank gewesen war. Éomer weckte sie niemals so sanft, egal, worum es ging. In der Regel war sie schlichtweg froh, dass er der Gewohnheit seiner Knabenzeit entwachsen war, auf ihrem Bett herum zu springen und dabei „Aufwachen! Aufwachen!“ zu brüllen. Sie öffnete die Augen und sah das tränenüberströmte Gesicht ihres Bruders vor sich. Er hielt sie in den Armen und wiegte sie wie ein Kind.

„Éomer?“ sagte sie heiser.

Er begann gleichzeitig zu lachen und zu weinen und drückte sie so fest an seine Brust, dass sie nicht atmen konnte.

„Mein Herr,“ sagte eine erfreute Frauenstimme trocken, „Ihr drückt ihr die Luft ab.“

Der Schraubstock um ihre Rippen verschwand auf der Stelle und sie fand sich Auge in Auge mit einem Geist wieder. „Fallah,“ flüsterte Éowyn. „Du---“ Sie runzelte die Stirn und versuchte, sich zu erinnern. „Du warst verletzt.“

Fallah berührte den Verband, der ihren Kopf vom Haaransatz aufwärts bedeckte. „Diese Erschütterung hätte mich umbringen sollen. Elessar ist ein fähiger Heiler.“

„Lass ihn, Gimli,“ sagte Aragorn fest. „Es ist besser, nur einen von beiden auf einmal zu wecken.“

„Gimli,“ sagte sie leise. Das Gesicht des Zwergen kam in Sicht und sie lächelte schwach. Sie wünschte, sie hätte die Kraft, ihn zu umarmen. „Du lebst... glücklich...“

Gimli nahm ihre Hand in die seine und küsste sie. „Und ich bin genauso glücklich, zu sehen, dass du lebst und atmest, Mädel.“

Der König des Westens kniete vor ihr und nahm ihre andere Hand in seine schwieligen Finger. Er legte die Handfläche auf ihre Stirn. „Eure Körpertemperatur ist wieder normal, meine Herrin. --- Woran erinnert Ihr euch?“ fragte er dann mit unendlicher Sanftheit.

„Ich...“ Sie starrte ihn in plötzlichem, kalten Entsetzen an. „Wir wurden gefangen genommen – sie – sie—“

In dem Zeitraum zwischen einem Herzschlag und dem nächsten brach alles über sie herein. Sie fing an zu zittern; ihre Augen füllten sich mit zu vielen Tränen über zu viele Schrecken und Schmerzen, als dass sie sich aufzählen ließen. Sie wandte den Kopf ab und vergrub ihr Gesicht an der breiten Brust ihres Bruders. Sie begann zu schluchzen, gedämpft, elend und heiser. Sie wollte sich vor der Erinnerung daran verstecken, was sie gesehen und erlitten hatten. Vor allem anderen wollte sie die Erinnerung an jenen armen Mann loswerden, der wie ein kleines Kind geweint hatte, als sie ihn jagten, während das helle, grausame Gelächter ihrer Stimmen von den nebligen Reisfeldern widerhallte. Aragorn drehte sie wieder um, so dass sie gezwungen war, ihn anzusehen; er gestattete ihr nicht, sich vor ihrer Scham zu verbergen.

„Wir – da war ein Mensch,“ gestand sie unter Qualen. „Wir – wir haben versucht---“ Sie brach ab und schluchzte gebrochen; sie versuchte, ihre verstümmelten Erinnerungen an die letzten drei oder vier Tage zu entwirren. „Haben – haben wir...?“

„Ihr habt ihn nicht getötet,“ sagte Aragorn ernst. „Er sagte uns, ihr hättet euch im letzten Moment zurückgehalten.“ Er umfasste ihr Kinn mit seiner großen Hand, als sie sich zu einem Knoten des Elends und der Selbstverachtung zusammenkrümmen wollte. „Ihr und Legolas, ihr seid für nichts von dem, was ihr getan habt, verantwortlich, meine Herrin. Ihr seit aus dieser Monsterhöhle entkommen, und wenn ich mich nicht sehr irre, dann hab ihr sie in Brand gesteckt, bevor ihr gegangen seid. Gesegnete Herrin, Éowyn! Ihr beide habt den gesamten Berg über ihnen eingerissen! Ich wäre sehr überrascht, wenn es auch nur einer der schwächeren Bestien gelungen ist, das zu überleben. Ihr habt viel, worauf Ihr stolz sein dürft!“

„Die Königin lebt,“ sagte Éowyn. Ihre Stimme klang rau und schwach. „Ich habe in meinem Geist gehört, wie sie uns verspottete. Ihr seid es, den sie will. Sie nahm uns – sie lockte Gimli und Legolas durch Haradoun hierher – um Euch herzubringen. Ihre Kinder sind von hier bis zu den Emyn Muil verstreut, aber jetzt hat sie sie heim gerufen. Aragorn! Sie kommen, um Euch zu holen! Simiasha – wir haben sie schrecklich verbrannt, aber sie hat uns gesagt, dass sie einst eine der Ainur war. Sie will Euch!“

Aragorns Gesicht war hart, angespannt und zornig. „Ich bin nicht leicht zu töten.“ sagte er ruhig.

„Sie will Euch nicht töten,“ sagte Éowyn. „Sie will Euch verwandeln. Sie will Euch zu ihrem Hauptmann machen, während sie ganz Mittelerde mit ihrer Art überzieht. Sie --- sie ---“ Es war zu anstrengend, weiter zu sprechen. Éowyn sank nach hinten in Éomers Arme, keuchend vor Erschöpfung. Aber Aragorns Gesicht hatte einen eigenartigen Ausdruck, den sie plötzlich als Furcht erkannte – Furcht in einem Mann, der nicht gewohnt war, sich zu fürchten. Wie Legolas und sie selbst hatte er keine Angst vor dem Tod... die Drohung, schreiend in diese Finsternis hinein gezerrt zu werden, ließ ihm das Blut gefrieren. Und es war keine mögliche Gefahr, die er auch nur in Betracht gezogen hatte, als er sich aufmachte, seine Freunde zu retten.

„Könnt Ihr uns heilen?“ fragte sie mit schwankender Stimme; sie hasste es, wie schwach sie klang, wie krank und verängstigt. „Sie sagte uns, es gebe keine Hoffung, so lange sie lebt. Sie – sie haben uns gezwungen zu trinken! Sie – sie---“ Wieder brach sie zusammen. In irgend einem hinteren Winkel ihres Gehirnes fühlte sie sich wie eine Närrin, aber sie vollkommen unfähig, die Tränen zurück zu halten. Es war, als hätte sie jetzt, da sie die Fähigkeit, Tränen zu vergießen, zurück gewonnen hatte, keine Möglichkeit mehr, den Impuls zum Weinen zu unterdrücken. Éomer küsste sie auf die Stirn und Gimli drückte sanft ihre andere Hand.

„Ich kann euch nicht heilen, während sie lebt.“ sagte Aragorn behutsam. „Nicht vollkommen. Aber ich kann die Verwandlung bis zu einem gewissen Punkt umkehren, und ich kann die Spur ihres Fortschreitens unbegrenzt aufhalten. Die Behandlung ist schmerzhaft.“

„Ich habe keine Angst vor Schmerzen.“ sagte sie ruhig.

„Das habt Ihr mir vor langer Zeit schon einmal gesagt,“ meinte der König mit einem schwachen Lächeln. „Und seitdem habt Ihr einen Mut bewiesen, der groß genug ist, die tapfersten Helden der Geschichte zu beschämen.“ Er stellte einen Tonbecher vor sie hin und goss ihn mit dem Athelas-Gebräu voll. Er hielt ihr den Becher hin und sie nahm ihn mit unsicherem Griff. Ihre Augen begegneten sich und sie nickte. „Trinkt, Éowyn. Trinkt und wandelt wieder im Licht der Sonne.“

Sie hielt sich an seinem eisengrauen Blick fest, als wäre er ihre einzige Rettungsleine der Erlösung, setzte den Becher an die Lippen und goss den Inhalt mit drei großen Schlucken hinunter. Er schenkte ihr rasch nach. Sie trank, so schnell sie konnte und hatte eine schreckliche Ahnung von dem, was ihr bevorstand.

Es ähnelte nichts, das sie hätte voraussehen oder sich vorstellen können. Der Schmerz schlug ganz plötzlich zu. Er schoss ihr durch jedes Nervenende und nahm ihr ein paar Sekunden lang den Atem. Dann schrie sie. Sie brüllte vor Qual und wand sich in einer Pein, die kein Ende nahm. Sie fühlte sich, als wäre sie wieder am Fuße der Klippen, bei lebendigem Leibe brennend... nur, dass sich das Feuer diesmal auch in ihr befand. Es ging so weit darüber hinaus, wie sie nach ihrer Flucht aus dem Nest von der Sonne versengt worden war, dass ihr die frühere Erfahrung im Vergleich dazu fast angenehm erschien. Sie stand es durch und schrie, bis sie dachte, sie würde wahnsinnig werden. Sie betete um eine Ohnmacht, sie betete um irgend etwas, das ihr Erleichterung schenkte.

Ganz langsam ließ der Schmerz genügend nach, dass sie wieder denken und ihre Umgebung wahrnehmen konnte. Ganz in der Nähe war ein Handgemenge im Gange. Sie hörte Legolas Stimme, die sich im Zorn erhob, und den angestrengten Atem von Aragorn und Gimli, während sie versuchten, ihn zurückzuhalten.

„Ihr werdet ihr nicht weh tun!“ rief Legolas. „Ihr werdet ihr nicht noch einmal weh tun!“

Sie wollte zu ihm gehen und ihn festhalten, aber die rasiermesserscharfen Krallen des Schmerzen gruben sich erneut in ihren Körper, als eine neue Welle sie traf, ebenso furchtbar wie die letzte, und sie schreiend vor Qual zurückließ. Aber trotzdem brachte sie es irgendwie fertig, eine Hand in seine Richtung auszustrecken, obwohl sie sich nicht sicher war, ob sie Trost suchte oder ihn anbot. Éomer nahm die Hand und umschloss sie mit seiner eigenen, als wollte er ihr nicht gestatten, sich in das Gerangel einzumischen, das ein paar Fuß weit entfernt vor sich ging.

„Berührt sie nicht!“ schrie Legolas. „Berührt---“ Das Geräusch eines Schlages, kurz und scharf, und Legolas’ Atem seufzte aus seiner Brust. Durch den trüben Nebel der Pein, der wieder begonnen hatte, sich zu lichten, sah Éowyn, dass er nach hinten in Gimlis Arme gefallen war. das Gesicht des Zwergen war vor Kummer über die Qualen seines Freundes verzerrt. Legolas war noch bei Bewusstsein; er atmete mühsam. Seine Augen waren von Verwirrung und Furcht verschleiert, als wanderte er durch ein alptraumhaftes Tal der Fieberphantasien.

„Oh, mein Freund,“ sagte Gimli, seine tiefe Stimme schwer vom unsicheren Rumpeln zurückgehaltener Tränen. Er strich Legolas das wirre, goldene Haar aus dem Gesicht, sein eigenes Gesicht so grimmig und liebevoll wie das eines Vaters, der über einem sterbenden Kind trauert. „Dass sie das ausgerechnet dir angetan haben! Du der das Licht und den Anblick der Sonne auf den grünen Blättern deiner Wälder so geliebt hat!“

„Gimli?“ Legolas berührte mit verwirrtem Staunen die Wange des Zwergen. „Gimli... wie kann das sein, dass dein Geist zu Mandos gelangt ist?“

„Wir sind nicht bei Mandos, du närrischer Elb!“ sagte Gimli mit einem kurzen, bellenden Lachen. „Ich bin am Leben und du bist es auch. Ich bin von der Seite des Berges abgesprungen und dachte, ich würde bald in Aules Hallen feiern und vor meinen Vätern mit meinen Heldentaten prahlen.“ Er schnaubte. „Kein gar so ruhmreiches Ende für mich, fürchte ich. Ich krachte mit dem Kopf zuerst auf den Boden und erwachte einen Tag später, halb im Delirium und geplagt vom Abgott aller Kopfschmerzen. Ich wanderte mehrere Tage in den Staubländern herum, bis Aragorns Späher mich fanden, halb tot vor Durst.“ Seine Stimme verdunkelte sich. „Obwohl es zu jener Zeit nicht mehr Wasser war, nach dem ich gierte, um diesen Durst zu stillen.“

„Mellon-nin,“ sagte Legolas heiser. „Ich bin froh, dich wiederzusehen!“

Und der Zwerg grollte in vorgetäuschter Entrüstung, als sein Freund ihn schwach umarmte; er murmelte: „Närrischer Elb!“ vor sich hin und tätschelte mit hölzerner Zuneigung Legolas’ Rücken.

„Aragorn?“ sagte Legolas und richtete mühsam den Blick auf seinen anderen Gefährten. „Wie---“ Er brach mit einem Aufkeuchen der Furcht ab. „Éowyn! Wo ist sie? Wo---?“

„Sie ist gleich hier, mein Freund.“ sagte Aragorn sanft.

„Éowyn?“ flüsterte Legolas.

Sie versuchte mit verschleierten Augen deutlich zu sehen und ihren schwindelnden Kopf zu klären, während er auf sie hinab schaute. Er berührte unsicher ihre Wange, und wie immer schwächte sich der Schmerz bei der bloßen Berührung seiner Hand zu etwas ab, das beinahe erträglich war. Er war totenbleich, seine leuchtende Schönheit getrübt, seine Augen eingesunken und verdunkelt. Aber der Grund, dass sich ihr Herz zusammenzog, war die Furcht, die Trauer und die schreckliche Vorahnung, die in Wellen von ihm ausgingen. Er schien in den Bruchstücken seiner Erinnerung an die letzten zwei Wochen nach einer zusammenhängenden Geschichte zu suchen. Sie betrachtete schweigend sein Gesicht und ihr Herz schrumpfte in ihrer Brust zu einem kalten Stein der Furcht zusammen. Sie sah, wie sich sein Ausdruck veränderte, als er den Großteil seiner Erinnerung wiederfand. Er schluckte langsam, und jetzt strahlte seine Gegenwart ein Gefühl krampfhafter Scham und Trauer aus; sie hätte vor Verzweiflung darüber weinen mögen. Er beobachtete ihr Gesicht ganz genau, als wollte er ihre Gedanken lesen.

Er hatte sich an alles erinnert, dachte sie dumpf. Er hatte sich mit schrecklicher Klarheit alles ins Gedächtnis gerufen, was zwischen ihnen vorgefallen war, und es erfüllte ihn mit Scham und Bedauern... mit Entsetzen darüber, dass sie sich wie Tiere in der Hitze der Brunft aufgeführt hatten. Sie hatte – sie hatte ihm seine vollkommene Reinheit genommen, die Unschuld und den ersten Liebesakt, den er einer schönen Elbenbraut zu Füßen hatte legen sollen als das unbezahlbare Geschenk, das er war. Und jetzt würde er, wenn er sie ansah, niemals, niemals, niemals etwas anderes empfinden als schmerzhaftes Bedauern über all das, womit sie sich gegenseitig besudelt hatten, während sie in der Finsternis versanken.

Sie würgte, während eine Trauer, die roher und schrecklicher war als alles, was sie je gekannt hatte, innerlich an ihr riss. Und im selben Moment raste eine weitere Woge der Schmerzen – die Pein des Athelas-Tees, der ihr Blut von Simiashas Gift reinigte – durch ihren Leib und raubte ihr die Sprache. Sie wandte ihr Gesicht ab und vergrub es mit einer gebrochenen Klage des Verlustes und der Qual an der breiten Brust ihres Bruders.

„Éowyn!“ Legolas Stimme klang wie die Verkörperung der Trauer.

„Fasst sie ja nicht an!“ sagte ihr Bruder grob. „Ihr habt bereits genug angerichtet!“

Legolas gab einen winzigen Laut von sich, einen scharfen, kleinen Atemzug, als hätte Éomer ihm gerade einen Dolch ins Herz gestochen.

Éowyn schluchzte in schwachen, zerrissenen, kleinen Stößen und segnete ihr nachlassendes Bewusstsein als eine kurze Atempause vom Kummer. Ihr letzter wacher Gedanke war, dass sie sich wünschte, sie würde sterben.

Sie wanderte zeitweise durch einen Nebel halb bewusster Schmerzen; sie kam nie ganz zu sich , sie konnte nicht sprechen oder einen klaren Gedanken fassen. Sie wusste, ihr Bruder war in der Nähe, und sie war schrecklich krank. Fallah saß oft neben ihrem Bett, obwohl ihr Gesicht manchmal zu einer Erinnerung an Éowyns Mutter hinüber schmolz. Der Schmerz flutete vor und zurück wie die Gezeiten des Meeres. Manchmal war es nur ein gedämpftes Brennen der Qual, und in der nächsten Stunde hörte sie sich selbst kreischen und Eru darum anflehen, dass er sie zu sich nahm, damit es endete.

Aragorn kam und ging viele Male. Seine Gegenwart wirkte wie ein Freudenfeuer, verglichen mit den kleineren, glühenden Kerzen des Geistes von Éomer und Fallah. Nur wenn er mit ihr sprach, machte irgend etwas außerhalb ihrer augenblicklichen Tortur irgend einen Sinn für sie.

„Es ist zu früh, sie zu wecken,“ hörte sie den König mit ruhiger, angespannter Stimme zu jemandem sagen, während er die Hand auf ihre schweißnasse Stirn legte. „Sie wird bald zu sich kommen, vielleicht noch heute Abend. Aber ich kann nicht auch noch ihr Leben riskieren, indem ich sie aufwecke, bevor ihr Fieber sinkt. So schrecklich sie auch leidet, die Quälerei würde sich verzehnfachen, wenn sie die ganze Wucht dieses Leidens bei vollem Bewusstsein ertragen müsste. Der Schmerz allein konnte ihr Herz zum Stehen bringen oder die Blutkanäle in ihrem Hirn platzen lassen.“

„Ja,“ erwiderte Gimli mit schaudernder Stimme. „Ich erinnere mich. Selbst jetzt noch versuche ich mich daran zu erinnern, wie schlimm es war, als du mein Blut auf diese Weise gereinigt hast, und mein Geist schreckt davor zurück. Und meine Verwandlung war nicht so weit fortgeschritten wie die der beiden. Aber Aragorn – er atmet kaum! Er wird die Nacht nicht überleben, wenn sie nicht zu ihm kommt.“

Ein Augenblick des Schweigens.

„Die Verwandlung hat ihn ganz gegen seine natürliche Neigung entstellt, mein Freund.“ sagte Aragorn still. „Wir können nicht sicher sein, dass seine Annahme völlig unbegründet ist.“

„Ich kann es!“ sagte Gimli mit grober Endgültigkeit. „Und wenn er tausend Jahre lang in einem Brunnen der Finsternis ertrunken läge, er könnte sie nie so verletzen!“ Der Zwerg hielt einen Moment inne, ehe er fortfuhr. „Und nebenbei – was zwischen den beiden vorging, hat nicht erst im Nest angefangen. Es hat sich zusammen gebraut, seit sie sich das erste Mal angesehen haben. Als wir nach Rhunballa kamen, konnte ich sehen, was passierte, auch wenn die beiden blind dafür waren. Ich hoffe bloß, dass dieser Alptraum nicht alles vergiftet, was zwischen ihnen hätte gut werden können.“

Sie trieb auf einem Ozean der Schmerzen davon und hörte nichts mehr.

*****

Éowyn öffnete die Augen zu gelbem Sonnenlicht, das durch das offene Fenster ihres eigenen Gästezimmers in der königlichen Villa von Rhunballa hereinströmte. Sie fühlte sich leichter als Luft und begriff euphorisch, dass sie segensreich und friedevoll frei von Schmerzen war. Ihr gesamter Körper fühlte sich an wie eine einzige, große Schramme, aber diese Pein war nichts gegen die, die sie gekannt hatte. Von jetzt an würde sie in der Zeit, die ihr noch von ihrem Leben blieb, das Wort „Schmerz“ neu definieren, und jede Verletzung oder Krankheit würde hinter dieser neuen Sichtweise zurück bleiben.

Aragorn saß neben ihr; eine warme, raue Hand umschloss eine der ihren.

„Könnt Ihr mich hören, meine Herrin?“ fragte er ruhig. „Wisst Ihr, wer ich bin?“

„Aragorn,“ sagte sie. Ihre Stimme klang, als hätte sie einen Mundvoll Kies verschluckt.

„Éowyn,“ sagte der König ohne jede Umschweife, „ich muss Euch ein paar aufdringliche und intime Fragen stellen, und ich bitte Euch um Vergebung dafür, aber in dieser Sache ist die Zeit unser Feind. Legolas liegt im Sterben.“

Ihr Atem blieb ihr in der Kehle stecken. Es schien, als klemmte ihr das Herz in der Brust fest. „Nein,“ krächzte sie. „Ver – verwandelt er sich immer noch? Ist – ist er---“

„Éowyn,“ fragte Aragorn sanft, „seid Ihr und er Liebende geworden, ehe die schlimmsten Auswirkungen der Verwandlung euren Geist beeinträchtigt haben? Oder war es eine geistlose, tierhafte Sache, geboren aus dem Gift in euren Adern? Bitte – Ihr müsst schnell antworten, und mit vollkommener Ehrlichkeit!“

„Ich---“Ein kleines Schluchzen fing sich in ihrer Brust. „In jenen ersten paar Nächten war ich bei klarem Verstand. Ich – ich dachte, er wäre es auch.“ Sie atmete tief ein und versuchte, ihre Stimme gleichmäßig zu halten. „Die erste Nacht, nachdem wir entkommen waren – wir umarmten uns, und dann haben wir uns geküsst, und dann haben wir – wir haben - “ Jetzt begann sie ernsthaft zu weinen. „Er sagte mir wieder und wieder, dass er mich liebt. Ich dachte, er täte es wirklich.“

„Es geschah nichts gegen Euren Willen?“ fragte Aragorn eindringlich.

„Ist das der Grund, weshalb er jetzt stirbt?“ fragte sie hoffnungslos. Alle ihre Tränen waren ausgetrocknet. Manche Dinge waren zu fürchterlich, so weit jenseits aller schlichten Gründe zum Weinen, dass Tränen nicht ausreichten. „Ich spürte sein – sein Entsetzen und seinen Schmerz über das, was wir getan hatten. Liegt er im Sterben, weil er zu sich selbst zurück gefunden hat und weil es ihm jetzt so vorkommt, als hätte ich ihn so benutzt, wie Simiasha es tun wollte?“

„Nein!“ Er legte einen Arm hinter ihren Rücken und hob ihren schlaffen Körper im Bett hoch. „Nachdem Ihr das Bewusstsein verloren hattet, wurde er wahnsinnig. Er kämpfte gegen uns, als wir versuchten, ihm den Athelas-Tee zu geben. Wir mussten ihn binden und ihm den Tee in die Kehle gießen. Danach redete er irre. Gestern ist er aus dem Fieber erwacht und wurde fast sofort schwächer. Er sagt, dass er sich daran erinnert, wie Ihr, nachdem ihr beieinander gelegen habt, zu weinen anfingt, als hätte man Euch das Herz aus der Brust gerissen. Als wir euch beide geweckt haben, konnte er an nichts anderes denken. Und als Ihr euch mit einem solch qualvollen Schrei von ihm abgewendet habt, schien das zu bestätigen, was er fürchtete. Er denkt, er hat Euch vergewaltigt.“

„Nein!“ Sie sprang aus dem Bett und die Beine wurden ihr weich. Aragorn fing sie mühelos auf und hob sie auf die Arme. „Bringt mich zu ihm!“ sagte sie.

Aragorn war bereits in Bewegung. Er trug sie aus dem Gästezimmer hinaus, und die weißen Wände der Villa verschwammen ihr vor den Augen, während seine langen Beine sie an ihr Ziel brachten. Er stieß die Tür zu einem anderen Schlafzimmer mit dem Fuß auf, strich quer durch den Raum und setzte sie auf dem Bett ab.

Legolas lag auf dem Bett des alten König Udam, die Augen offen und ins Leere gerichtet. Seine Haut war totenbleich, sein natürliches Strahlen dahin. Er schien kaum zu atmen. Aragorn küsste sie zart auf die Stirn und drückte ihre Hand mit aller Kraft. „Lasst ihn nicht gehen, meine Herrin! Bringt ihn wieder zu uns zurück!“

Sie beugte sich vor und streckte sich neben seinem stillen Körper aus. Er regte sich nicht und schien ihre Gegenwart nicht zu bemerken. Sie legte die Arme um ihn und küsste ihn leicht auf die Lippen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als er blinzelte und leise zu weinen begann. Sein Blick begegnete dem ihren, hoffnungslos und überfließend von grenzenlosen Kummer.

„Es tut mir leid,“ sagte er mit einem leisen, trockenen, rasselnden Flüstern. „Vergebt---“

„Legolas,“ sagte er sanft. Sie küsste ihn noch einmal, lang und tief und erfüllt von jedem einzelnen Liebeswort, das auszusprechen sie nicht den Mut gehabt hatte, selbst in der Versklavung und im Vergessen der Verwandlung. Es war ihr Fehler, dass er ihre Reaktion beim Erwachen missdeutet hatte. Sie hatte die Worte nie gesagt. Nicht einmal. Und er hatte sie in weniger als vierzehn Tagen tausendfach wiederholt.

„Ich liebe dich,“ sagte sie leise. „Du hast dir nichts genommen, was ich dir nicht freiwillig und von ganzem Herzen gegeben habe.“

Er betrachtete sie mit schwachem Staunen, während sich eine Hoffnung, nach der er nicht mehr gesucht hatte, in seinen Augen sammelte. Er atmete ein und aus, ein langer, tiefer Atemzug, wie ein Mann, der sich vom Rand eines Abgrundes zurückzieht, von dem er beinahe abgesprungen ist. Wieder atmete er ein, diesmal stärker, noch immer fast zu schwach, um zu sprechen.

„Nachdem wir uns dieses erste Mal geliebt haben, habe ich geweint, weil ich geheilt war,“ murmelte sie und streichelte sein Gesicht. Seine kalte Haut hatte sich unter ihrer Berührung merklich erwärmt. „Und als ich einmal angefangen hatte zu weinen, konnte ich nicht aufhören. Ich habe deine Scham und dein Bedauern gespürt, als Aragorn uns aufgeweckt hat, und ich dachte, alles, was wir miteinander geteilt haben, sei nur die Verwandlung gewesen, die sich auf dich auswirkt. Ich dachte, ich hätte dir weh getan, und---“

Er bewegte sich so schnell, dass sie vor Überraschung aufquietschte. Er bedeckte ihren Mund mit dem seinen, nahm sie in die Arme und drückte ihr die Luft aus den Lungen. Sie hörte schwach leise Fußtritte und das Klicken eines Türriegels, als Aragorn den Raum verließ.

Sie entspannte sich und zog sich aus ihrem Kuss zurück, um auf ihn herunter zu schauen. Sie blickte in die grauen Tiefen seiner Augen und beobachtete verblüfft wie Farbe, Licht und Leben in sein Gesicht zurückzufluten schienen. Die Wunde in seinem Geist, die ihn seiner angeborenen Lebenskraft beraubt hatte, heilte von selbst, während sie zuschaute. Er schien noch immer schrecklich schwach zu sein, aber das hatte mehr mit der Feuerprobe von Aragorns Medizin zu tun.

„Du liebst mich,“ murmelte er, seine Stimme kaum mehr als ein Hauch. Er drehte sich auf die Seite und zog sie mit sich. „Du liebst mich,“ seufzte er wieder. Sein Lächeln lag wie warmer Sommersonnenschein auf ihrem Gesicht und ihr Magen schlingerte, als wäre sie eine kleine Jungfer im Rausch der ersten Verliebtheit. Sie lag da und betrachtete voller Staunen sein Gesicht, verblüfft darüber, dass sie die vollkommene Schönheit seines Gesichtes noch nie mit weiblicher Wertschätzung wahrgenommen hatte. Aber andererseits war sie für solche Sehnsüchte tot gewesen, bis Morsuls Blut das Begehren in ihrem Körper wiedererweckt hatte. Sie fragte sich, ob der ehemalige Ritter von Doriath endlich den Weg zu Mandos gefunden hatte. Irgendwie und unerklärlicherweise war sie sich sicher, dass es so war.

Sie ruhten zusammen in einem erleichterten, zufriedenen Schweigen; sie schwelgten in der Abwesenheit der Schmerzen, jeder von ihnen im warmen Glühen der Gegenwart des anderen verloren. Keiner von beiden fühlte sich genötigt, die Konsequenzen dieses neuen, wundervollen Bundes zu erforschen oder abzuwägen.

Éowyn war die erste, die den Zauber brach. „Was wird jetzt geschehen?“ fragte sie sich laut, die Stirn besorgt gerunzelt.

„Die Jägerin lebt noch,“ murmelte er ernst. „Das muss ich dir wohl nicht erst sagen.“

„Wir waren sehr naiv zu glauben, dass wir sie so leicht erschlagen hätten,“ sagte Éowyn. „Wir werden nicht nach ihr suchen müssen. Sie hat ihre Kinder von überall her nach Hause gerufen; sie wird uns bald genug finden.“

„Wenn sie das tut, dann müssen wir sie zerstören.“

„Nun,“ sagte sie trocken, „das klingt einfach genug.“

Er gab ein schwaches Lachen von sich. „Ja. ich habe mitbekommen, wie Aragorn und Gimli miteinander sprachen, als wir krank waren. Er hat die Verwandlung in unserem Körper aufgehalten, aber---“ Er hielt inne, als würde er abwägen, ob er mehr sagen sollte. „Herrn Elronds Texte über dieses Thema sind unvollkommen. Aber Aragorn fürchtet, dass selbst dann, wenn Simiasha erschlagen wird, wir vielleicht immer in gewisser Weise – verändert sein werden. Wir müssen uns auf diese Möglichkeit vorbereiten.“

Sie schwieg und versuchte, das in sich aufzunehmen, dann holte sie lange und tief Atem. „Ich möchte nicht ,verändert’ leben.“ sagte sie mit leiser Endgültigkeit.

Er fror neben ihr ein, als hätte ihn all das neu gewonnene Leben plötzlich wieder verlassen. „Ich würde es genauso wenig wollen, wenn die Veränderung schrecklich wäre. Aber Éowyn---“

Sie starrte in sein von schrecklicher Besorgnis gezeichnetes Gesicht und verspürte ein plötzliches Schuldgefühl. Sie küsste ihn zart. „Ich muss damit aufhören, damit zu drohen, dass ich mir das Leben nehme,“ sagte sie. „Wenn ich das noch einmal tue, dann endest du mit Sorgenfalten auf der Stirn. Es tut mir Leid. Ich wollte sagen, dass ich nicht hinnehmen werde, dass sich nirgendwo auf der Welt eine Heilung finden lässt.“ Sie sah zu, wie die Starre aus seinem Körper wich und wie sich seine Züge langsam entspannten.

„Wenn wir von dieser Dunkelheit befreit sind,“ sagte er leise zu ihr, „dann werde ich dich bitten, unsere Vereinigung zu besiegeln.“

„Unsere---“ Sie brach ab, als ihr langsam klar wurde, was er meinte. Ihre Wangen liefen rosig an. Aber auf den Fersen dieser süßen, unverfälschten Freude zog sich etwas in ihrer Brust zusammen... jenes erstickende Druckgefühl von Zuviel, zuviel auf einmal, und zu schnell. Er beobachtete ihr Gesicht und schien dies herauszulesen, als hätte sie ihre Gefühle laut ausgesprochen. „Unsere Vereinigung?“ fragte sie mit kleiner Stimme.

„Bei meinem Volk,“ sagte er langsam und behutsam, „ist der Liebesakt das Sakrament. Mein Volk würde uns bereits als vermählt betrachten. Aber bei euch ist das nicht so. Wenn wir von dieser Plage an Leib und Seele frei sind, dann werde ich dich bitten, öffentliche Schwüre mit mir auszutauschen, damit die Bräuche deines Volkes befriedigt sind. Gib mir jetzt noch keine Antwort. Um die Wahrheit zu sagen, ich möchte dir eine Jahreszeit lassen, dich zu bedenken. Es gehört viel dazu, den Abgrund zu überwinden, der unsere beiden Rassen trennt, und es gibt mehr Hindernisse, als du dir bisher vorgestellt hast.“

„Unter anderem die Tatsache, dass ich sterben und dich für alle Zeiten der Trauer überlassen werde.“ sagte sie still. War Liebe genug, abgewogen gegen den Schmerz, den er in alle Ewigkeit würde ertragen müssen?

„Lass dich davon nicht in deiner Entscheidung wankend machen,“ sagte er fest. „Ich werde dir sagen, was Arwen zu Aragorn gesagt hat, als er den selben Widerspruch gegen ihre Vereinigung erhob. Die Tat ist getan. Ich werde dich lieben, bis die Sterne verblassen und der Körper von Arda von den Fluten der Ewigkeit davon gespült wird. Ich werde trauern, wenn du stirbst, obwohl es keineswegs sicher ist, dass ich dich überlebe. Ich bin schon immer jemand gewesen, der die Gefahr sucht. Ich ziehe den Ärger auf meine Türschwelle wie ein Magnet. Aber ob du nun einwilligst, dein Leben mit mir zu teilen oder nicht, ich werde dich immer noch lieben und trauern, wenn wir schließlich getrennt werden.“

„Es tut mir Leid.“ sagte sie und fühlte, wie sich das Herz in ihrer Brust im Widerstreit zwischen Freude und Schmerz verkrampfte. „Es scheint, als ob ich dir auf die eine oder andere Weise immer Kummer bereite. Wenn ich für dich ewig leben könnte, ich würde es tun.“

„Und wenn ich die Ewigkeit für dich aufgeben könnte, ich würde freudig darauf verzichten,“ sagte er wehmütig und betrübt. „Wir wollen es dabei belassen, bis unsere Zukunft sicher ist.“

„Ja,“ sagte sie zustimmend.

Sie drückte ihn ein wenig fester an sich und dachte, dass ihr die vergleichsweise Ähnlichkeit seines Körperbaus mit dem ihrem gefiel. Ihr Vater, Théoden, Théodred und Éomer – die einzigen anderen Männer, die sie jemals umarmt hatte – waren groß gewesen, mit breiten Brustkörben. Sie zu umarmen war, als würde sie von einem freundlichen Bären an sich gedrückt. Im Vergleich zu ihnen war Legolas schlank wie Riedgras, obwohl sie wusste, dass sich in seiner schlanken, muskulösen Gestalt eine enorme Stärke verbarg. Sie waren fast gleich groß, obwohl er so hoch gewachsen war. Es war besser, auf diese Weise zu spüren, wie sie einander hielten, als wenn sie das Gefühl hatte, von seiner Umarmung verschluckt zu werden. Sie ließ eine Hand über seine Brust und hinunter zu seinem Magen gleiten; sie merkte, wie die straffen Ebenen seines Körpers als Antwort auf ihre Berührung erzitterten.

„Aragorn wird sehr bald wieder hier sein, um sicher zu gehen, dass mit mir alles in Ordnung ist,“ murmelte er gedankenvoll. Seine Stimme war zu einem gedämpften Hauch herabgesunken; ein stilles, intensives Begehren flackerte in den Tiefen seiner grauen Augen.

„Er könnte unrettbaren Schaden erleiden, wenn er mitten in unseren Liebesakt hereinplatzt,“ murmelte sie. Oh, aber sie verlangte nach ihm, wie ein verdurstender Mensch in der Wüste nach Wasser verlangte. Sie wollte sich um seine Schönheit schlingen und ihn lieben, bis sie beide zu erschöpft waren, um sich zu rühren.

„Dafür ist er aus einem zu kräftigem Stoff gemacht,“ Legolas lachte leise. Seine Lippen berührten die ihren. „Du machst, dass sich mir der Kopf dreht wie von zwergischem Branntwein. Du bringst mein Blut zum Kochen. Die Begierde des Leibes ist wie ein süßer Wein, den ich mir nie habe vorstellen können, oder den ich mir ersehnt hätte. Aber nachdem ich ihn einmal geschmeckt habe, bin ich zum Trunkenbold geworden. Und hier bin ich nun, noch immer beinahe zu schwach, um mich in deine Süße zu versenken und dir Vergnügen zu bereiten, bis du vor Freude aufschreist.“

„Beinahe?“ fragte sie atemlos.

„Beinahe zu schwach,“ erwiderte er leise. „Aber nicht ganz.“

In einer Stunde würden sie aufstehen und tapfer einer Belagerung der Jäger, Simiashas sich abzeichnender Rache und sehr wahrscheinlich entrüsteten älteren Brüdern gegenüber treten. Éomer, sie wusste es, würde sie noch immer als eine Art eigensinniges Mündel betrachten – jemand, den er verteidigen und dem er befehlen musste. Er war es, der einen Ehrenhandel zu verlangen hatte, oder eine hastige Eheschließung als Lösung für ihren besudelten Ruf. Sie würden herausfinden, wer Rhunballa nun regierte – falls überhaupt. Sie würden dem Volk der Stadt die schlimmste aller möglichen Nachrichten überbringen: die Neuigkeit, dass ihre Nemesis nicht erschlagen war und in diesem Augenblick ihre Truppen für einen Angriff zusammenzog.

In einer Stunde würde sie all diesen Aufgaben und Kämpfen gegenübertreten. Aber für den Moment – vielleicht den letzten Moment des Friedens, bevor der kommende Sturm über sie hereinbrach – würden sie so tun, als durchwanderten sie noch immer das gedächtnislose Glück jener wenigen ersten Nächte in der Bambushütte. Sie würden so tun, als wären sie die einzigen beiden Wesen auf der Welt, als ob ihre Liebe keine Folgen oder Barrieren kannte, und als wäre der letzte Glockenschlag von Éowyns Lebenszeit nicht mehr als ein beliebiges Geräusch.


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