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Der Preis der Freiheit (The Price of Freedom)
von Erin Lasgalen, übersetzt von Cúthalion


5. Kapitel:
Nacht und Wahnsinn

Éowyn erwachte beim Klang der Stimme ihres Bruders aus ihrem warmen, halben Dösen. Sie weichte sich selbst in einem seifigen Bad ein. Sie lächelte und streckte sich; ein süßes Brennen des Vergnügens lief durch sie hindurch, ausgelöst durch nichts mehr als die Erinnerung an Legolas’ Hände, die durch ihr Haar glitten, während er zusammen gekauert hinter ihr in der Badewanne des alten König Udam saß. Er hatte ihr das Haar gewaschen und sie mit langsamer, auserlesener Gründlichkeit gebadet, bevor er ihr gestattete, ihm den Gefallen zu erwidern.

„Sie ist wach,“ Legolas’ Stimme driftete aus der angeschlossenen Schlafkammer herein, „aber sie ist noch nicht mit dem Baden fertig. Ich würde ihr ein paar Momente Zeit lassen, ehe du eintrittst.“

„Ach, würdest du wirklich?“ sagte Éomers Stimme bissig, „Ich sollte meinen, dass du nichts Befremdliches daran findest, meine Schwester nackt zu sehen!“

Éowyn zuckte zusammen und setzte sich auf; sie wrang sich das Wasser aus den Haaren. Sie entdeckte frische Kleidung zum Wechseln und sah, dass es ihre eigene war: schwarze Sabadi-Hosen und ihre leinerne Hauptmannstunika mit der leichten Lederweste der Wachen. Ihre Weste trug das Siegel des Hauses der Rhunballa-Könige, das Abzeichen, das sie als Wache der Königin auswies. Sie entfernte das Siegel und küsste es liebevoll. Und dann steckte sie es weg für später, gemeinsam mit ihrer Trauer um Indassa. Fallah musste die Kleider irgendwann in die Villa gebracht haben. Sie erhob sich aus der großen Eisenwanne und begann eilig, sich anzuziehen, während sie dem gedämpften, angespannten Wortwechsel auf der anderen Seite der Tür lauschte. Legolas schien es abgelehnt zu haben, auf Éomers letzten Kommentar etwas zu erwidern. Als ihr Bruder nach einem kleinen Schweigen wieder zu sprechen begann, spürte sie, wie ihr Temperament sich mit jedem Wort, das er von sich gab, stärker regte.

„Aragorn wird mir Rede und Antwort dafür stehen, dass er euch beide in einem Schlafzimmer eingeschlossen hat, das sogar jetzt noch nach deinem und ihrem Körper riecht, als Teil irgendeines merkwürdigen, elbischen Heilmittels! Dich trifft keine Schuld an ihrer Entehrung,“ Ihr Bruder sagte das, als kämpfte er darum, ruhig zu bleiben. Er versuchte scheinbar, seinen Jähzorn zu bezwingen und sich daran zu erinnern, dass Legolas ein Freund war, der gerade schreckliche Qualen durchlitten hatte. „Aber bei Eorls Gebeinen, du wirst sie heiraten, Legolas!“

„Mit Freuden, mein Herr,“ sagte Legolas ohne jeden Zorn. „Wir haben darüber gesprochen, sie und ich, und ich habe die Entscheidung in ihre Hände gelegt. Wenn sie mich haben will, dann werde ich nach sterblichem Brauch die Gelöbnisse mit ihr austauschen. Ich bat sie, eine Weile über die Angelegenheit nachzudenken, und wir sind übereingekommen, zu warten, bis die kommende Schlacht gewonnen ist, ehe wir wieder darüber reden.“

„Sie wird zustimmen!“ sagte Éomer fest. „Dafür werde ich sorgen!“

Éowyn schluckte ein leises Grollen alter, allzu vertrauter Wut hinunter und schlüpfte mit einem heftigen Ruck in ihre Stiefel.

„Wie?“ fragte Legolas leise.

„Was meinst du damit?!“ Éowyn konnte fast sehen, wie sich der finstere Ausdruck auf dem Gesicht ihres Bruders vertiefte.

„Sie hätte vielleicht Théodens Anordnungen Folge geleistet,“ sagte Legolas, „denn er war für euch beide wie ein Vater. Aber du bist ein Bruder und sie war mehrere Jahre nicht unter deiner Aufsicht. In Wahrheit war sie das nie. Wenn du ihr befiehlst, was sie tun soll, als wäre sie dein Besitztum, dem du sagen kannst, wo und wen es heiraten soll, dann wird sie dich ohrfeigen.“

„Sie würde nicht---“ Éomer brach ab und wurde still. Dann gab er ein kurzes, bellendes Lachen von sich. „Ja. Das ist wahr.“ Er seufzte schwer, und schien, während er das tat, den größten Teil seines gedankenlosen Ärgers auszuatmen. Nach einem Moment sprach er wieder. „Ich habe es vier Jahre lang ertragen, zu hören, wie ihr süßer, tapferer Name durch die schmutzigen Gerüchte müßiger Narren beschmutzt wurde, Legolas! Das hier ist ein weiterer Krug Öl auf dieses Feuer. Die Soldaten von Gondor und meine Reiter haben zuviel gesehen in dieser Hütte, und jetzt zerreißen sie sich alle das Maul über euch. Ich habe einem von Aragorns Männern heute Morgen die Zähne ausgeschlagen, als ich ihn dabei erwischte, wie er mit seinen Kameraden darüber spekulierte, ob die Herrin von Rohan wohl bald ein halbelbisches Kind austrägt. Ich---“ Er grollte leise und wütend, wie ein zu früh aus seinem Winterschlaf erwachter, junger Bär.

„Sie erwartet kein Kind,“ sagte Legolas mit vollkommener Sicherheit. Und als sie diese Worte hörte, verspürte Éowyn einen kleinen Ruck in ihrer Brust, eine seltsame, widersprüchliche Mischung aus Erleichterung und Traurigkeit. „Éomer,“ fuhr er mit einer sanfter Stimme fort, „sprich mit ihr. Es ist nicht an mir, das zu sagen, ich weiß das, aber du und sie, ihr solltet euch versöhnen, bevor der kommende Kampf über uns hereinbricht. Selbst im Falle eines Sieges leben wir vielleicht nicht alle lang genug, um den morgigen Sonnenaufgang zu sehen. Es ist eine gefährliche Zeit , um irgend etwas ungesagt zu lassen zwischen dir und einer, die du so sehr liebst.“

„Ja,“ sagte Éomer zustimmend, seine Stimme ein ernsthaftes, leises Rumpeln. In dieser Stimmung klang er sehr wie ihr Onkel. „Ja. Und lass auch uns Frieden schließen, mein Freund. Ich... ich werde glücklich sein, dich Bruder zu nennen, wenn wir das hier überleben, Legolas!“

Sie wartete; sie hörte, wie sich Legolas leise verabschiedete. Sie traute sich selbst nicht genug, die Tür zur Schlafkammer aufzustoßen, die sie von ihrem Bruder trennte. Sie saß in dem kleinen Sessel neben der Wanne, versuchte, ihre Gedanken zusammen zu nehmen, versuchte, sich vorzustellen, was sie zu ihm sagen würde. Sie war ein Feigling, dass sie darauf wartete, dass er zu ihr kam, sie wusste es, aber---

Das leichte Pochen an der Badezimmertür ließ sie zusammenfahren. „Schwester? Darf ich hereinkommen?“

Er trat langsam ins Badezimmer, als dachte er, er könnte sie erschrecken, wenn er sich zu plötzlich bewegte. Sein Bart war voller, dachte sie dümmlich. Es war der einzige, merkliche Unterschied zu dem Bild, das sie vier Jahre lang liebevoll in ihrem Geist bewahrt hatte. Sein Anblick, wie er vor ihr stand, seine großen Hände aus Sorge um sie zusammen gekrampft, aus Liebe und aus Unentschlossenheit, was er tun oder sagen sollte, nun, da sie sich im erwachenden Licht des Tagesanbruchs von Angesicht zu Angesicht gegenüber standen, ließ all ihre schwächlichen Vorspiegelungen von Selbstbeherrschung in sich zusammenfallen.

Sie warf sich ihm schluchzend in die Arme. Er erwiderte ihre Umarmung mit rückgratbrechender Kraft; seine mächtige Brust bebte von unterdrückten Tränen. Für mehrere lange Minuten sagten sie beide nichts; sie konnten einander nur festhalten und weinen.

„Ich habe ganz Mittelerde nach dir abgesucht!“ sagte er heiser. „Ich bin jedem Gerücht gefolgt, habe jedem Narren und jedem Scharlatan mein Ohr geliehen, der behauptete, er hätte etwas von dir gehört. Als ich an Aragorns Seite in dieses Land aufgebrochen bin, fingen wir an, von den Rhunland-Karawanen und den Seestadt-Händlern Gerüchte über eine goldhaarige Frau aus dem Norden zu hören, die die weiblichen Soldaten von Rhunballa befehligte. Meine Hoffnung wieder neu entzündet zu sehen, nur um von deinen Schildmaiden zu erfahren, dass du von diesen Bestien gefangen genommen worden warst, war beinahe mehr, als ich ertragen konnte. Wir waren kaum einen Tag in der Stadt, als meine Späher auf Gimli stießen, der in der Ödnis östlich in diesem Tal herum wanderte. Als Gimli wieder zu Verstand kam und uns erzählte, dass du am Leben und immer noch ihre Gefangene warst, musste Aragorn mir androhen, mich an einem Pfahl festzubinden, um mich davon abzuhalten, dass ich zu deiner Rettung ausreite. Und dann sind die Klippen – der gesamte Berg, den die Frauen dieses Landes Dhak-Dír nennen – scheinbar explodiert. Rauch und Staub verdunkelten den Himmel zwei Tage lang, und Gimli lachte und sagte mir, dass sie wohl den Fehler gemacht hätten, dich wütend zu machen.“

Éowyn begann, schwächlich zu lachen.

„Wir fingen an, die Trümmer des Berges und die Staubländer zu durchsuchen,“ fuhr Éomer fort „aber wir fanden keine Spur, von keinem von euch. Aragorn hielt meine Hoffnung aufrecht; er sagte, es sei mehr als wahrscheinlich, dass du und Legolas dem Zusammenbruch des Berges entkommen wärt. Und dann kam ein Bauer aus dem Tiefbrunnendorf zu uns; er gestand uns, er hätte sich eben vor der Abenddämmerung zu seinem Hof hinaus geschlichen und sich die Besitztümer seiner Nachbarn angeeignet. Er sagte uns, die Nacht hätte ihn draußen eingeholt, und dass er beinahe einem Paar von Jägern zur Beute geworden sei. Er beschrieb euch beide in allen Einzelheiten.“ Éowyns Rippen knirschten, als er seine Umarmung verstärkte. „Als wir euch gefunden haben, schien es der grausamste, vorstellbare Scherz zu sein, dass ihr ein Nest von Bestien zerstört hattet, nur um – um --“

„Ich bin wieder ich selbst,“ sagte sie leise und löste sich sanft aus seinen Armen, „Und Gimli hatte unrecht, da in dieser Hütte. Selbst in diesem Nebel aus Hunger und Finsternis habe ich dich erkannt. Ich erkannte meinen Bruder, und ich hätte ihn nicht getötet!“

Er studierte sie einen Moment lang schweigend, ohne auf die Tränen zu achten, die ihm über das Gesicht liefen.

„Warum, Éowyn?“

„Warum?“ wiederholte sie, obwohl sie bereits wusste, worauf seine Frage abzielte.

„Warum hast du dein Volk verlassen?“ Seine Stimme war von Trauer gezeichnet, aber jetzt war da auch Zorn. „Warum hast du mich verlassen, ohne auch nur ein Wort? Du bist alles, was von unserer Familie geblieben ist. Théodred war tot, Théoden war tot und du warst fort – scheinbar vom Angesicht Mittelerdes verschwunden. Du hast mich allein gelassen, all derer beraubt, die ich am meisten liebte!“

Jedes Wort, halb verwundet, halb im Zorn, war wie ein Messerstich in ihre Brust. Sie begegnete seinem Blick und wusste, dass es keine Worte gab, die ausreichten, um sich für das zu entschuldigen, was sie ihm zugefügt hatte. Elbereth, sie wünschte, er würde sie anschreien und auf sie losgehen. Die verletzte Verständnislosigkeit in seinen lieben Augen war mehr, als sie aushalten konnte. Und sie konnte ihm nicht sagen, warum. Das Wissen darum, was sie befallen hatte, die Tatsache dass sie direkt unter seiner Nase verhext und missbraucht worden war, würde ihm einen Schlag versetzen, der niemals wirklich heilte. Sie blickte stumm zu ihm auf, ohne eine Ahnung zu haben, was sie ihn antworten würde.

Éomer sprach zuerst.

„War es Schlangenzunge, Schwester?“ fragte er langsam und mit schrecklichem Gesicht. „Hat er... hat er dir weh getan, nachdem ich verbannt wurde?“

Nichts, was er sagte, hätte sie mehr schockieren können. Sie öffnete den Mund, um zu lügen und ihm zu sagen, dass seine Vermutungen unbegründeter Wahnsinn seien. Aber kein Wort kam heraus. Sie starrte zu ihm zurück und alles Blut wich ihr aus dem Gesicht. Sie konnte mit ihm nicht über... dies... reden. Es war ihr nie möglich gewesen, in Worte zu fassen, was ihr angetan worden war. Sie fing an zu zittern und ihre verräterischen Augen füllten sich mit Tränen. Er bedeckte ihre kleineren Hände sanft mit den seinen, als fürchte er, seine Berührung würde sie verängstigen.

„Nein, sag nichts,“ sagte er leise. „Ich habe meine Antwort. Ich habe die Veränderung an dir bemerkt, als wir uns nach der Schlacht in der Hornburg wieder gesehen haben. Ich wusste, dass irgend etwas schrecklich falsch war. Aber – süße Herrin, Schwester! Die ganze Welt brannte nieder, und---“

„Und damit verglichen waren meine Wunden gar nichts,“ beendete sie den Satz. „Das waren auch meine Gedanken.“

„Ich habe meine Erinnerungen an diese Zeit tausend Mal in meinem Kopf gewälzt, nach dem du verschwunden warst. Ich habe jede deiner Bewegungen und Worte untersucht und wieder aufpoliert. Das Warum kam vor einem Jahr zu mir, als ich ein Dutzend Frauen gerettet habe, die bei einem Überfall von Räubern gefangen genommen worden waren. Sie hatten den selben Blick in ihren Augen. Es tut mir Leid, Schwester! Ich hätte dort sein müssen, um dich zu retten!“

„Er---“ Ihre Kehle fing an, sich zuzuschnüren. Sie räusperte sich und versuchte zu sprechen. „Du hättest nichts tun können, Éomer. Es hatte mit dunklem Zauber zu tun, die gleiche Art, die er bei Théoden benutzt hatte. Er – er - “ Sie biss die Zähne zusammen und kämpfte wütend gegen das reißende Schluchzen, das in ihrer Brust aufstieg.

Nach einem Augenblick schaffte sie es, ihren Atem wieder zu beruhigen. „Nach dem Krieg,“ sagte sie still, „als ich noch in den Häusern der Heilung war, da kam ich zu der Überzeugung, dass ich nie wieder heil und ganz sein würde, es sei denn, ich verließe die Maßregelung und den Schutz von jedem und allem, das ich je gekannt hatte. Ich kann es nicht mit Worten erklären, die Sinn machen. Ich weiß nur, wäre ich mit dir nach Hause zurückgekehrt oder hätte den Herrn Faramir geheiratet, ich würde mich nie wieder sicher oder stark fühlen. Aber das ist keine Entschuldigung dafür, dich ganz und gar im Stich zu lassen. Ich hätte Briefe schicken können. Ich hätte dich wissen lassen können, dass ich am Leben war, um dir das Herz zu erleichtern. Es tut mir Leid. Es tut mir so Leid!“

Er beugte sich vor und küsste sie auf die Stirn. „ich liebe dich, Éowyn,“ war alles, was er als Vergebung zu sagen hatte. Sie vermutete, dass das am Ende alles war, was gesagt werden musste. „Was ist jetzt mit dir?“ fragte er zögernd.

„Das Blut der Jäger verschmutzt noch immer das meine,“ sagte sie – und bereute es sofort, als sie sein Gesicht sah. Sie fragte sich, wie viel Aragorn ihm erzählt hatte. „Legolas, Gimli und ich werden nicht von diesem Übel frei sein, bis ihre Königin tot ist.“ Sie begegnete seinen Augen und ihr Blick wurde kalt und stählern. „Ich werde sie töten.“

„Ja,“ sagte er mit einem eigenartigen, kleinen Glucksen. Was auch immer er in ihrem Gesicht gesehen hatte, musste ihn entnervt haben. „Scheinbar hast du es dir zur Lebensaufgabe gemacht, Monster zu erschlagen.“ Er hielt inne und betrachtete sie. „Ich wollte wissen, ob du dich sonst gut fühlst. Hast du deine Heilung gefunden?“

„Das habe ich,“ erwiderte sie leise. „Obwohl ich nicht völlig geheilt war, bis ich mir Legolas zum Geliebten nahm.“

Er runzelte angesichts dieser unverblümten Feststellung die Stirn. Seine Hände ballten sich reflexartig zu Fäusten; vielleicht stellte er sich vor, dass sie um einen elbischen Hals lagen.

„Dann war es also nicht das Blut der Jäger?“ fragte er allzu ruhig.

„Nein,“ sagte sie. „Der Wahnsinn kam danach. Sei nicht wütend, Bruder, nicht auf ihn und nicht auf mich. Er liebt mich und ich liebe ihn.“

Er grollte verärgert etwas ohne Worte und sie nahm seine Hand.

„Bei seinem Volk bedeutet Liebende zu werden, vermählt zu sein. Es gibt keine unehrenhafte Grauzone. Er wird mich nach sterblichem Brauch heiraten und mich alle Tage meines Lebens lieben, wenn ich seinem Antrag zustimme. Aber ich kann jetzt nicht an die Zukunft denken, nicht, während dieses widerliche Leiden noch immer meinen Körper und mein Blut beschmutzt.“

Während er ihren Worten lauschte, schien sich Éomer unmerklich zu entspannen. Endlich schnaubte er und lachte. „Als ich vor drei Jahre die Tochter von Fürst Imrahil geheiratet habe, gab es einen gewaltigen Aufruhr. Die Söhne Númenors schienen zu glauben, dass ein wilder Nordmann – selbst ein König – zu niedrig geboren wäre, um in die Linie von Dol Amroth einzuheiraten. Die Edelfrauen von Minas Tirith – ganz besonders die – werden deinen Kopf fordern, wenn sie erfahren, dass du und Legolas einander versprochen seid.“ Er sprach, als sei die Frage ihres Einverständnisses mit dieser Hochzeit längst abgeschlossen. „Sein Vater wird ebenfalls betrübt sein.“

„Betrübt oder erzürnt?“ fragte Éowyn.

„Bei Thranduil ist es oft schwierig, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Éomer gab ein grunzendes Geräusch von sich. „Ich bin ihm einmal begegnet, als Aragorn vor zwei Jahren einen Rat der Könige einberief. Er ist Erkenbrand ganz ähnlich, wenn du verstehst, was ich meine. Er ist ein guter Mann – oder Elb. Ein richtiger Bastard ist er ebenfalls. Er hat wenig Verwendung für Sterbliche.“

Éowyn schüttelte den Kopf; sie verspürte einen schwachen Druck in ihrer Brust, den Hauch jenes Gefühls, zwischen zwei großen Felsbrocken zerquetscht zu werden. „Das ist nichts, worum man sich jetzt sorgen muss,“ sagte sie fest. Innerlich wandte sie ihren Geist von Hochzeiten und erzürnten Elbenkönigen ab Nach dem wenigen, was Legolas während ihrer schmerzhaften Krankheit und Entgiftung herausgefunden hatte, befanden sie sich praktisch im Belagerungszustand. „Hat Aragorn den Befehl über die Stadt übernommen?“ fragte sie abrupt. „Was hat die Rhunballani-Wache während des Aufruhrs der vergangenen zwei Wochen getan?“

Ein Klopfen an der Tür unterbrach Éomers Antwort.

„Mein Herr König!“ Oh süße Herrin, war das die Stimme von Gambold?

„Komm herein!“ sagte Éomer.

Gambold, Sohn des Gamling, kam in den Raum, sein Gesicht angespannt vor Sorge. Sein Blick fiel auf sie, und der Ausdruck änderte sich zu einem breiten Grinsen Er nahm ehrenbietig ihre Hand und küsste sie.

„Meine Herrin,“ war alles, was er sagte. Er hatte mit Éomer gespielt und sich mit ihm geprügelt, seit sie kleine Jungen waren, und es hatte ihn nicht im Geringsten gekümmert, als er bei einer Schwertübung Théodred die königliche Nase brach. Aber sie hatte er immer behandelt, als käme sie in seinem persönlichen Tempel der Anbetung direkt nach Elbereth und Varda. Die schlichte Freude, die dieser gute, starke, wortkarge Mann in diesen kurzen Gruß legte, ließ Éowyns Augen brennen, als müsste sie weinen.

„Mein Herr Gambold,“ sagte sie und nahm seine riesige, vernarbte Hand in die ihre, „es ist gut, Euch wiederzusehen.“

„Was ist geschehen?“ fragte Éomer ruhig. Niemand hätte ihre Wiedervereinigung für etwas Unwichtiges unterbrochen.

„Elessar schickt Nachricht, dass Eure Schwester im Rat der Königin verzweifelt gebraucht wird. Die beiden Lager schreien sich jetzt schon seit einer Stunde an, und vielleicht kommt es bald zu einer Schlägerei. Ein weiser Mann würde Geld auf die Schildmaiden der Wache setzen, aber tatsächlich wäre das ein Aufstand der Armee gegen die Minister.“

Natürlich. Die Wache musste sich gegen Obari und ihre Minister erhoben haben, die auf die Kontrolle über das Königreich aus waren.

„Lasst uns gehen!“ sagte Éowyn. Sie bewegte sich bereits, noch bevor sie den Satz beendet hatte.

Durch die königliche Villa zur Ratshalle zu gelangen war leichter gesagt als getan. Die Korridore gleich hinter dem königlichen Flügel waren so mit Leuten überfüllt, dass sie nicht durch kamen. Das gesamte Königreich hatte sich in der Villa und draußen im Brunnenvorhof versammelt, sagte ihr Gambold ruhig, als er sie einen verwickelten Weg durch die versteckten Durchgänge der Dienstboten zum Vorraum der Ratshalle führte. Der Druck der vielen Körper war hier ebenso groß, aber ein paar Sekunden, nachdem Éowyn jemanden ihren Namen hatte sagen hören, begann sich die Menge zu teilen. Ein allgemeines Nach-Luft-Schnappen folgte. Finger zeigten auf sie und jedes Auge wandte sich ihr zu. Die Gesichter dieser einfachen Leute, die dastanden und warteten, während die Mächtigen über ihr Schicksal und das ihrer Kinder entschieden, waren voller Ehrfurcht und ein wenig verängstigt. Éowyn vermutete, dass sie nicht jeden Tag eine Frau zu sehen bekamen, die von den Toten zurückkehrte. Sie wichen zur Seite wie ein Weizenfeld unter dem Finger eines Wirbelsturmes. Verspätet wurde Éowyn klar, dass jetzt sie diejenige war, die führte. Es fühlte sich seltsam an, dass ihr Bruder, vier Jahre älter als sie und ein König, hinter ihr zurück stehen sollte, selbst in dieser Sache.

Die äußere Umgebung und die Eingänge der Ratshalle waren bis zum Platzen umlagert, aber was immer sie an Rätselhaftigkeit gewonnen hatte, indem sie lebend aus dem Nest entkam, setzte sich auch hier durch. Der Pulk teilte sich und machte ihr den Weg frei. Selbst über das allgemeine Murmeln hinweg, das ihre Gegenwart auslöste, konnte Éowyn das Geschrei hören. Sie trat in den Ratssaal der Königin, blieb stehen und nahm die Veränderungen in sich auf, einen schrecklichen Kloß in der Kehle.

All die hübschen Polster von Indassa waren durch Sessel mit harten Lehnen im Westron-Stil ersetzt worden, die im Kreis aufgestellt waren. Éowyn presste die Lippen zu einer harten Linie zusammen, um sie am Beben zu hindern, als ihr klar wurde, dass sie instinktiv nach ihrer kleinen Königin suchte, ihrer Schutzbefohlenen, ihrer Schwester. Indassa war nicht hier, und sie würde niemals wiederkommen.

Der ätzende Ton von Obaris grober Stimme, all seiner eingeübten Kultiviertheit beraubt, brach durch Éowyns traurige Träumerei. „Wer hat diese Verräterin, diese Bringerin des Verhängnisses, in meinen Rat gerufen?!“

Éowyn machte ein paar Schritte vorwärts; sie versuchte, sich einen Überblick zu verschaffen und heraus zu finden, wer wo stand. Sie drang langsam in das Zentrum des Sesselkreises vor, wo die Ratsfrauen und die Frauen der Wache einander in zwei deutlichen Halbkreisen gegenüber saßen oder standen, wie zwei gegnerische Armeen, bereit zur Schlacht. Bevor sie irgend etwas sagen konnte, sprach Shaeri von dort aus, wo sie stand, direkt hinter Sunis Sessel.

„Du musst unsere Kommandantin entschuldigen, Mutter,“ sagte Shaeri kühl, „Sie war während dieser Vorgänge verhindert, weil sie anderswo damit beschäftigt war, das Nest der Jäger auszubrennen und die Klippen nieder zu reißen.“

Alle Versammelten fingen an zu kichern. Aber es war ein nervöses Gelächter, eingefärbt von der Furcht eines jeden vor Obaris rachsüchtigem Langzeitgedächtnis. Und, wie Éowyn betrübt begriff, Furcht vor Éowyn selbst und dem, was sie getan hatte.

„Jawohl!“ sagte Obari laut und starrte ihre Erstgeborene giftig an. „Es war das Wenigste, was sie tun konnte, nachdem sie bei ihrer Aufgabe als Leibwache der Königin auf die schlimmstmögliche Weise versagt hat!“

Éowyn hielt ihr Gesicht ausdruckslos und steinern, aber innerlich verzagte sie, als die Worte der alten Frau sie bis auf die Knochen trafen. Sie hatte Indassa im Stich gelassen. Sie hatte sie im Stich gelassen.

Sie drängte ihre Trauer und Schuld erbarmungslos beiseite und fuhr damit fort, sich still im Ratssaal umzusehen. Aragorn, von Legolas und Gimli flankiert, stand auf einer Seite des Kreises, die Hände vor sich verschränkt; er beobachtete den Hagel aus Drohungen und Anschuldigungen, als wäre er ein stummer Zuschauer. Éowyns Blick streifte flüchtig Legolas und zwang ihren Blick an ihm vorbei. Im Zentrum auf der Seite der Wache des Ratsringes saß Suni. Shaeri stand links von ihr, Ikako und Fallah zu ihrer Rechten. Hinter Sunis Sessel waren die Befehlshaber jedes Wachhauses von Rhunballa versammelt, fächerförmig aufgereiht wie eine Ehrenwache hinter dem – dem Thron.

Suni saß auf dem Thron von Rhunballa.

Und einmal mehr dachte Éowyn: „Natürlich.“ Der Rat musste versucht haben, in der Lücke, die Indassas Tod hinterlassen hatte, die Macht an sich zu reißen. Die Wache musste gekontert haben, indem sie Suni als letztes lebendes Mitglied des königlichen Hauses - wenn auch aus einer illegitimen Linie - auf den Thron beförderte. Und jetzt stand Rhunballa am Rande einer Katastrophe, unfähig, eine Verteidigung vorzubereiten oder überhaupt irgend eine Entscheidung zu treffen, weil es nun zwei entgegen gesetzte Regierungen hatte, von denen keine die Autorität der anderen anerkannte. Und da sie Sunis kühlen Pragmatismus so gut kannte, wie sie es tat, wusste Éowyn, dass diese ausweglosen Situation heute auf die eine oder andere Weise ein Ende finden würde.

Éowyn verhärtete ihr Gesicht, wandte sich zu Obari zurück und betrachtete sie ohne jeden Ausdruck. „Wenn ich mich nicht sehr irre, dann ist das nicht Euer Rat.“

Obari erhob sich und stakste durch den Zwischenraum, der sie trennte, hinein in das Niemandsland im Mittelpunkt des Sesselkreises. Éowyn bewegte sich langsam vorwärts, den Rücken gestrafft, den Kopf hoch erhoben; sie strahlte aus, wovon sie hoffte, dass es eine Aura müheloser Autorität war. Es stand in heftigem Gegensatz zu der Pose gekrümmter Anspannung und kaum verhohlener Wut der älteren Frau. Wie auch immer die Umstände waren, Obari brachte es immer fertig, vor allem wie die tyrannische Herrin des Haushaltes ihres toten Mannes auszusehen, die gegen Kinder und Dienerschaft wütete. Éowyn starrte der Frau des Weinhändlers ins Gesicht und entdeckte schockiert, dass Obari in weniger als drei Wochen um zwanzig Jahre gealtert zu sein schien. Ihr Gesicht war von Furcht und Zorn eingefallen, und von etwas anderem, etwas Schrecklichem, das Éowyn sich nicht erklären konnte.

„Dein Platz ist nicht länger hier, Éowyn von Rohan,“ verkündete Obari mit einer Stimme, die laut genug war, um den Saal zu erfüllen. „Unsere Königin ist tot, durch deine eigene Nachlässigkeit! Da drüben---“ Sie stach mit einem Finger in Aragorns Richtung, „steht er, der dich als Erste Frau für eine andere verschmäht hat. Geh mit ihm und diene seiner Königin als Kammerzofe, wenn er es gestattet. Oder folge deinem neuen Liebhaber in seine elbischen Länder und trag seine nicht-menschlichen, bleichhäutigen Bälger---“

Etwas schnellte an Éowyns Augenwinkeln vorbei, und Obaris Tirade, ihre gehässige, öffentliche Rache für Éowyns lieblose Worte über die Tugend ihrer Töchter, wurde mit einem lauten Knall abgeschnitten. Shaeri stand neben Éowyn und hielt sich die brennende Hand, die sie soeben benutzt hatte, um ihre Mutter zu schlagen.

Die gesamte Halle hielt den Atem an, während Obari vor Schreck erblasste. Niemand sonst hätte das tun können, was Shaeri getan hatte. Wenn Éowyn oder irgendeine der anderen Frauen der Wache Obari so zu Schweigen gebracht hätte, hätte das eine Schlägerei bedeutet, wenn die Unterstützer des Rates denn so närrisch gewesen wären, sich auf die Wache zu stürzen. Und dann hätten sie alle in einem Militärregime in der Falle gesessen, das Suni allein durch Waffengewalt aufrecht hielt. Aber da es Mutter und Tochter gewesen waren, zwischen denen es zu Schlägen kam, fühlte sich niemand geneigt - oder tatsächlich tapfer genug – dazwischen zu gehen.

„Sei still, Mutter!“ flüsterte Shaeri wild, „Wir haben uns jetzt über eine Stunde deine Schmähungen angehört, ohne dass es irgend einen Nutzen gehabt hätte. Jetzt ist die Kommandantin an der Reihe. Ihre Worte magst du zurück weisen, aber du wirst mit deiner bösartigen Beleidigung ihrer Ehre aufhören, oder ich schleppe dich höchstpersönlich aus dieser Halle!“

„Du kleine Viper---!“

„Sei bitte einen Moment ruhig, Obari.“ sagte Éowyn leise.

Sie war sich nicht bewusst, dass irgend etwas in ihrer Stimme oder ihrem Verhalten bedrohlich wirkte. Aber als Obari ihr ins Gesicht blickte, schien die Frau des Weinhändlers etwas zu sehen, das sie mehr ängstigte als ein ganzes Heer von Jägern. Oder vielleicht, dachte Éowyn mit einem eisigen Erschauern, hatte Obari genau das gesehen – das flache, gnadenlose Starren eines Jägers, verschattet hinter Éowyns Augen. Die helle, boshafte Gegenwart der älteren Frau flackerte mit einem kalten Wirbel der Furcht. Obari machte ein paar Schritte nach hinten und nahm wieder Platz, langsam, als zöge sie sich vor einem gefährlichen Tier zurück. Neben Éowyn schaute Shaeri sie mit einer Art stiller Wachsamkeit an. Was immer Obari in Éowyns Gesicht gesehen hatte, Shaeri hatte es auch wahrgenommen. Und es hatte sie erschreckt.

„Obari hat Recht,“ sagte Éowyn der Versammlung „Indassa wurde ermordet. Ich bin nicht länger die Leibwache der Königin. Und meinen Rang als Hauptmann der Wache gibt es nicht mehr.“

„Du bist hiermit wieder eingesetzt.“ sagte Suni mit Festigkeit.

Éowyn begegnete dem Blick der ehemaligen Kommandantin vom Wachhaus des Gespannten Bogens und ihr Herz lächelte angesichts des leuchtenden, freudigen Willkommens, das sie in Sunis normalerweise ausdruckslosem Gesicht sah. Suni schien sich in den reichen Seidengewändern, die sie trug, entschieden unwohl zu fühlen; Shaeri und Ikako mussten sie mit vorgehaltenem Schwert gezwungen haben, sie anzuziehen.

„Und ich nehme von ganzem Herzen an, meine Königin!“ Éowyn war verblüfft über den klingenden Jubel, der sich nach ihren Worten erhob.

„Das ist schön und gut,“ sagte Sharadi und erhob sich von ihrem Sessel auf der Ratsseite des Kreises. Sie verbeugte sich mit kalter Höflichkeit vor Suni. „Obwohl Éowyn nicht meine Freundin ist, erkenne ich wenigstens die Notwendigkeit einer vereinigten Kampfeskraft an, so lange diese Notlage dauert.“ Ein widerwilliges Gemurmel der Zustimmung folgte von sämtlichen Ratsmitgliedern – ausgenommen Obari, die starr wie eine Mumie dasaß und Éowyn mit einer verkniffenen Mischung aus Furcht und Hass beäugte. „Lasst uns nicht um den Teewärmer streiten, während rings um uns das Haus niederbrennt.“ fuhr Sharadi in kaltem Ton fort. Sie betrachtete Éowyn mit der flachen Nüchternheit einer Fischhändlersgattin, die die Güte einer Forelle überprüft. „Wir haben viele Fragen. Lasst uns Eure Geschichte hören, Éowyn von Rohan. Elessar hat sich geweigert, das zu übernehmen, und der Elb hat gesagt, die Nachrichten kämen besser von Euren Lippen.“

„Sie haben uns im Keller der Weinpresse überfallen,“ sagte Éowyn ruhig. „Zu der Zeit, als Legolas und ich eintrafen, hatte ihr Anführer bereits Indassa ermordet und Meister Gimli verwundet. Sie brachten uns in das Nest. Ich werde nicht darüber sprechen, was dort geschah, denn ich kann kaum daran denken, ohne---“

Einen Moment hörte sie auf zu reden. Man hätte in der großen Halle eine Stecknadel fallen hören können.

„Wir entkamen, als wir einen Vorrat von Frau Fallahs Feuerflaschen bei den – den Leichen der Wache gefunden hatten, die am Südpass verschleppt worden waren.“ Sie blickte sich nach den kummervollen Gesichtern der Wachfrauen um, von denen viele die Entführten gekannt und geliebt hatten. „Sie sind alle sehr schnell gestorben, und keiner von ihnen wurde verwandelt. Wir entkamen, Legolas und ich; zu der Zeit dachten wir noch, Gimli, Sohn des Glóin sei in den Tod gesprungen. Wir benutzten die letzte Feuerflaschen, um das Nest niederzubrennen, als wir es verließen.“ Bei dem kleinen Jubelschrei, der folgte, schloss sie die Augen. „Jubelt nicht! Wir setzten ihre Königin in Brand und ließen sie dort zurück, damit sie verglüht. Während wir flüchteten, riss sie den Berg über uns nieder.“

Plötzlich wurde Éowyn klar, warum Simiasha das getan hatte. Hinter dem letzten Anfall der Jägerin hatte kalte Absicht gesteckt.

„Ich denke jetzt, dass sie es getan hat, um die Flammen zu ersticken, die sie verzehrten. Sie ist nicht tot. Und schlimmer noch, sie hat all ihre Kinder heim gerufen, aus Vorder-Harad und den Grenzgebieten von Gondor. Sie werden kommen. Sie werden angreifen. Es ist nur eine Frage der Zeit. Wir müssen darauf vorbereitet sein, gegen sie zu kämpfen!“

„Sie kommen deinetwegen!“ sagte Obari scharf. „Hältst du dich für eine Heldin, Mädchen? Deine Flucht hat uns alle verdammt!“

Sharadi warf Obari einen abschätzenden Blick zu, der ausdrückte, dass sie an diesem Punkt nahezu willens war, Shaeris Drohung, Obari aus der Halle zu werfen, beizupflichten. „An dem Morgen, als Ihr verschleppt wurdet, Hauptmann,“ sagte Sharadi, „da fand Frau Obari einen... einen Brief von der Königin der Jäger. Er war auf Indassas aufgebahrten Leichnam gelegt worden, und er war an die Ratsversammlung gerichtet. Darin hieß es, unser ,Verrat und Trotz’ am Südpass müsse mit Blut zurückgezahlt werden. Die Königin der Jäger versicherte uns, dass mit der Ermordung Indassas und Eurer Gefangennahme die Schuld zur Gänze beglichen sei. Sie ließ uns wissen, das es einen erneuerten Frieden geben würde zwischen ihrem Volk und dem unseren.“ Sie betrachtete Obari mit giftiger Verachtung. „Es gab jene im Rat, die dies für eine gute Nachricht hielten.“

„Aber für die meisten Rhunballani,“ fuhr Suni in kaltem Ton fort, „war die Abschlachtung unserer geliebten Königin ein Übel, das wir nicht willens waren zu ertragen. In diesem Zustand erneuerten Friedens begann die Wache, Fallahs Arsenal wieder aufzubauen und ließ den Rat denken, was er wollte. Dieser da---“ Suni deutete mit eisiger Präzision geradewegs auf Aragorn, „kam vor einer Woche in die Stadt, allein und als Bote und Arzt verkleidet. Er brachte unsere Fallah wieder auf die Beine und brachte Herrn Hurin die Nachricht, dass fünftausend Mann von Gondor jetzt von der Westlichen Spalte aus nach Osten marschierten. Er verzichtete darauf zu erwähnen, dass er diese Männer her geführt hatte und offenbarte seine wahre Identität erst vor zwei Tagen, als er Euch und Legolas zurück nach Rhunballa brachte, während ihr beide noch unter den Wunden littet, die Ihr im Nest davongetragen habt.“ Sie sagte das mit zartem Takt, als bewege sie sich auf dünnem, unsicheren Grund. Éowyn begriff plötzlich, dass Suni wusste – dass jedermann wusste – was sie befallen hatte. Dass sie vom Rande der Verwandlung zurück gerissen worden war. Wussten oder vermuteten sie, dass sie noch immer unrein war? Wenn es so war, dann fürchtete sich sogar Obari, das laut auszusprechen. „Nun,“ fuhr Suni fort, „hat Elessar, der ruhmreiche Held der Pelennorfelder, sein Lager auf unserer Türschwelle aufgeschlagen. Er bietet seine Hilfe an.“

„Aber ehe wir sein Angebot annehmen oder zurückweisen,“ schnappte Sharadi, „müssen wir entscheiden, wer mit ihm verhandeln soll. Der Rat – oder diese selbst ernannte Thronbewerberin.“

Éowyn schwieg einen Moment. „Meine Damen,“ sagte sie, „die Jägerin wird nicht darauf warten, dass wir unsere Unstimmigkeiten lösen. Wir können uns eine solche Sackgasse nicht leisten. Jemand muss sich beugen.“

Sharadi lächelte unangenehm. Éowyn konnte beinahe sehen, wie die Räder im Geist der alten Frau sich drehten, während sie ihre Möglichkeiten abwog. „Wie haben einen Kompromiss angeboten, der in Bausch und Bogen zurückgewiesen wurde.“

„Meinen ältesten Sohn als König zu nehmen,“ sagte Suni angespannt, „unter der vereinigten Vormundschaft von mir selbst und dem Rat. Ich hätte eine Stimme unter zwölfen gehabt, wie mein kleiner Aram aufgezogen und wie dieses Land regiert wird.“ Sie schüttelte finster entschlossen den Kopf. „Nein! Damit wären wir zu den ersten Tagen von Indassas Herrschaft zurück gekehrt, als der Rat sich darüber zankte, wie er am besten weiter seine finanziellen Interessen befriedigen und dabei das Königreich dem Verderben überlassen konnte.“

„Es wird kein Königreich geben, wenn wir uns nicht bald für einen Kurs des Handelns entscheiden.“ sagte Sharadi grob.

„Es gibt noch eine Möglichkeit!“ Obari trat vor und hob die Stimme wie ein Gaukler, der die Bühne betritt. „Eine Alternative zu Schlacht und Blutvergießen! Eine, die Rhunballa in der Vergangenheit immer gut gedient hat.“

„Und was würde das sein, bitteschön?“ fragte Sharadi kühl.

„Wir können den Jägerin geben, was sie haben will,“ sagte Obari.

Totenstille.

„Sie wird Rache fordern an denen, die sie verletzt haben!“ rief Obari. „Wenn wir ihr Éowyn von Rohan geben, den Elben und den Zwerg, dann wird sie zufrieden gestellt sein. Und wenn wir ihr den großen Preis schenken, nach dem sie die ganze Zeit gesucht hat, dem König des Westens, dann mag es sehr wohl sein, dass sie uns belohnt!“

„Meine Dame,“ sagte Sharadi abschätzig, „ich bezweifle ernstlich, dass Elessar es zulassen wird, wie ein abgehangenes Beutestück verschnürt und den Jägern übergeben zu werden. Und die Wache wird Euch die Gedärme herausreißen, wenn Ihr auch nur die Hand gegen ihren Hauptmann erhebt.“ Ihre Lippen kräuselten sich in einem schrägen Lächeln. „Wenn sie Euch nicht selbst totschlägt dafür, dass Ihr ihrem König und ihrem Elben Gewalt androht.“

„Wir müssen sie bloß aus der Stadt werfen!“ sagte Obari. Sie drehte sich langsam im Kreis und sprach zu der ganzen Menge. „Alles wird so sein, wie es war! Die Jäger werden unsere Berge gegen Eindringlinge schützen, und wir werden wieder frei von Furcht leben!“

Ein leises Murmeln aus der Menge. Éowyn war sich entfernt einer tiefen, stillen Enttäuschung bewusst, nahe an herzzereißendem Kummer, dass irgendeine der Frauen in dem Pulk so etwas auch nur in Erwägung ziehen konnte. Aber als Sharadi und Suni sich beide mit einem Schrei von ihren Sesseln erhoben, für den Augenblick vereint gegen den bloßen Gedanken an eine weitere Ära der Versklavung unter die Jäger, da stand Éowyn ganz still, und ihre Worte machten für sie keinerlei Sinn. Die ganze Welt war still und kalt, als sie die Augen schloss; sie sah den leeren Spalt im gekreuzten Stützbalken der Weinpresse vor sich, wo sie die Scherbe platziert hatte, die Fallahs Werkstatt und ihre Arbeit beschützen sollte. Das Bild war von all den schrecklichen Ereignissen, die dieser Entdeckung gefolgt waren, aus ihrem Geist vertrieben worden, aber jetzt schien es alles andere zu verdunkeln.

„Obari,“ Éowyns allzu ruhige Stimme schnitt durch den dunkleren Klang von Sharadis Worten und brachte sie zum Schweigen. „Woher hast du gewusst, dass die wahre Beute der Jägerin Aragorn war? Stand diese Forderung in dem Brief, den die Jäger bei Indassas Leiche zurück gelassen haben?“

Sharadi runzelte ungeduldig die Stirn. „Eine solche Forderung stand nicht in dem Brief. Sie---“

Sharadi war schnell, und Suni nicht weniger. Aus dem Augenwinkel sah Éowyn, wie ihre kurzfristige Verwirrung sich in Schock auflöste. Einen Moment später wurde der Schock zu Wut.

„Du dumme Kuh!“ zischte Sharadi.

Obari starrte die drei Frauen an, die nun in einem lockeren Kreis um sie herum standen. Die Menge und die weniger hochrangigen Mitglieder des Rates traten nervös von einem Fuß auf den anderen; sie strengten sich an, die gesenkten Stimmen des Quartetts von Frauen zu hören, das in der Mitte der Ratshalle stand. Obaris Gesicht war zu einer schädelartigen Maske von Wut, Furcht und – und Schuld verzerrt. Schuld. Endlich sah Éowyn sie und begriff nur zu gut, wo sie herkam.

„Du wolltest uns an die Jäger verschachern,“ sagte Éowyn sanft. „Legolas, Gimli, Aragorn und mich selbst. Ist Morsul zu dir gekommen, Obari, und hat dir Frieden angeboten, wenn du die Scherbe aus der Weinpresse entfernst?“

Einen Moment lang gab niemand in der Halle einen Laut von sich.

„Mutter!“ Insis’ Stimme, die von dort schrie, wo sie innerhalb der Ränge der Wache stand. Das Mädchen klang plötzlich furchtbar jung. „So etwas konntest du nicht tun! Sag ihr, dass du das nicht getan hast!“

„Ja, Obari,“ sagte Suni kalt. „Sag es ihr.“

„Ich--- ich---“ Obari sank sichtlich in sich zusammen. Dann richtete sie ihre Augen auf Éowyn und schien sich ein wenig zu erholen; sie fand Stärke in der Konzentration auf die Frau, die sie als Quelle allen Übels betrachtete. Sie stierte Éowyn an, ihr Gesicht voll hasserfüllter, rattenhafter Furcht. „Die Katastrophe am Südpass war Eure Schuld! Ihr habt es verdient, zu sterben, Ihr barbarische Bestie! Und der König von Gondor? Pah! Er ist ein Feind. Die anderen beiden waren Fremde, und nicht einmal Menschen! Und ich dachte – ich dachte, wieso nicht den Glauben an unsere Beschützer erneuern? Und mit dem selben Streich die Frau los werden, die Rhunballa auf den Kopf gestellt hatte, und den König, der meinen Ehemann erschlug, und meine drei wunderschönen Söhne? Sie – sie sollten Indassa keinen Schaden zufügen! Ich – ich wollte nie, dass das geschieht!“

Éowyn trat mit langsamer, kalter Entschlossenheit vor. Sie sah Indassas hübsche Augen, weit offen im Tod. Sie sah Legolas schreien, als Simiasha ihren Geist in ihn hineinstieß. Sie sah Gimlis gutes, starkes Gesicht, blut- und tränenverschmiert, einen Wimpernschlag, bevor er von den Klippen sprang. Sie sah sich selbst schlaff in Morsuls Armen hängen, als er ihr das Leben aussaugte. Nicht einmal hob sich ihre Hand zu dem Schwert, während sie weiterging. Obari verdiente das selbe Schicksal wie Haradoun. Éowyn würde sie mit bloßen Händen töten.

Shaeris Gesicht erschien plötzlich vor ihr; sie versperrte ihr den Weg zu Obari. „Éowyn, bitte.“ sagte ihre Freundin leise.

Éowyn starrte sie an, ihr eigenes Gesicht ausdruckslos und kalt. „Weißt du, an was sie uns ausgeliefert hat?“ flüsterte sie. „Soll ich dir beschreiben, was sie uns in dem Nest angetan haben?“

Aber Shaeri senkte nur den Kopf, die Hände vor sich gefaltet wie zum Gebet. „Éowyn,“ sagte sie leise. „Bitte bring meine Mutter nicht um.“

Éowyn hielt inne und starrte in das verzweifelte Gesicht ihrer Freundin.

Plötzlich schrie Obari auf, und Éowyn drehte sich um und sah, wie Sharadi und die Frau des Weinhändlers um den Besitz eines Dolches mit blutiger Spitze rangen.

„Das ist für unsere Indassa, du dummes, verräterisches Miststück!“ kreischte Sharadi.

Suni, Shaeri und Éowyn waren gemeinsam nötig, um die beiden älteren Frauen auseinander zu zerren. Der Ratssaal befand sich im Aufruhr.

„Bleibt sitzen!“ rief Suni mit einer scharfen Stimme aus, die keinen Ungehorsam duldete.

„Mama! Mama!“ Insis hatte die Ränge der Wache durchbrochen und rannte dorthin, wo Shaeri ihre Mutter sanft zu Boden gleiten ließ. Éowyn hörte kaum Sunis groben Befehl, der Ikako den Auftrag gab, Sharadi in den Kerker zu bringen. Sie war zu sehr damit beschäftigt, die beiden Schwestern zu beobachten, die den Ungehorsam gegenüber dieser bösartigen, kleingeistigen Frau, die sie gebar, zur Kunstform erhoben hatten. Und jetzt knieten sie weinend über ihrer sterbenden Mutter. Sharadi hatte ihre Klinge tief in Obaris Bauch versenkt; Éowyn wusste aus harter Erfahrung, dass eine solche Wunde in der Leber fast immer tödlich war.

„Mama!“ flüsterte Shaeri und küsste das aschgraue Gesicht ihrer Mutter. „Bitte, stirb nicht!“

„Es ist gerecht,“ sagte Obari mit einer trockenen, rasselnden Stimme, die kaum zu hören war. „Ich habe meine Königin betrogen, obwohl ich es nicht wollte.“

Éowyn sah stumm zu, wie Fallah und Aragorn sich der gequälten Frau näherten und sich hinknieten, um sich um sie zu kümmern. Insis’ gedämpfte, kleine Schluchzer bescherten Éowyn einen Kloß in der Kehle. Sie schluckte ihn gemeinsam mit den Tränen hinunter, die ihr in den Augen stachen. Eru wusste, noch vor fünf Minuten hätte sie Obari mit Freuden selbst erschlagen. Und jetzt.. und jetzt war es unmöglich, über den Tod dieser erbärmlichen Frau zu jubeln, ohne den Schmerz ihrer Kinder zu verspotten. „Erinnere dich immer daran,“ hatte Théoden ihr vor langer Zeit gesagt, „und wenn er so böse wie ein Morgulgeist wäre, irgendwo wird es jemand geben, der um den Mann weint, den du erschlägst.“

„Wir müssen sie aus diesem Zirkuszelt herausbringen, oh König,“ Fallah sprach mit Aragorn so, wie ein Wanderheiler seinen geliebten Lehrmeister anreden würde, dachte Éowyn. Irgendwann würde sie gern herausfinden wollen, was diese Veränderung in ihrer Freundin bewirkt hatte, die bis vor einem Monat auf den Boden gespuckt hatte, wann immer Elessars Name erwähnt wurde. Der grimmige Blick, den die Tochter des Apothekers mit Aragorn gewechselt hatte, hatte Éowyn alles gesagt, was sie über Obaris Chancen wissen musste. „Um ihrer Töchter willen,“ fuhr Fallah fort, „sollten sie alle etwas für sich sein.“

„Ich werde sie tragen,“ sagte Aragorn zustimmend.

„Lasst Somal sie tragen,“ sagte Suni ruhig. Es war keine Bitte. „Ihr werdet hier noch etwas länger gebraucht.“

Aragorn sah sie durchdringend an, dann verbeugte er sich leicht in stiller, höflicher Übereinstimmung.

„Stirb und sei verflucht, du treulose Verräterin!“ rief jemand von der oberen Galerie.

„Ruhe!“ schrie Éowyn. „Der nächste von euch, der die Trauer der Töchter des Weinhändlers mit Füßen tritt, bekommt es mit mir zu tun!“

Die Halle wurde ganz plötzlich still.

Sie beobachteten schweigend, wie Somal vortrat und Obari von den gaffenden Blicken der Versammlung fort trug, damit sie in Frieden sterben konnte, während ihre Töchter für sie sorgten. Éowyns Kopf begann, vor Anspannung zu pochen. Shaeri und Insis hatten es verdient, ihre Mutter ohne Schmerzen dahinscheiden zu sehen, auch wenn Obari selbst es nicht verdiente.

Es folgte eine lange Stille, nur vom Schieben all der Leiber unterbrochen, die sich in die Halle drängten. Niemand wagte es, noch einmal das Wort zu ergreifen. Suni wahrte ein gleichgültiges Gesicht; sie beobachtete das, was vom Rat übrig war, mit wachsamem, angespannten Blick. Ihrer beiden mächtigsten Führer beraubt, war es nicht gerade ein beeindruckender Haufen. Matab, die Frau des Webers, sah aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen.

„Éowyn“, sagte Suni leise. „Vielleicht bin ich eine Närrin, aber ich bin nicht ganz sicher, was ich als Nächstes tun muss.“

„Der Rat hat sich gegen sich selbst gewandt,“ sagte Éowyn. „Er ist öffentlich entehrt und hat das Vertrauen aller eingebüßt. Übernimm den Thron, meine Königin.“

Sunis gut aussehendes Gesicht blieb ruhig, aber ihre Augen waren Fenster zu der Furcht und Anspannung in ihr. „Ich wollte nicht, dass dies alles mir aufgedrängt wird.“

„Die Weisen würden sagen, dass ein solches Empfinden den guten Herrscher ausmacht, Majestät,“ murmelte Aragorn.

Suni betrachtete ihn kalt und schien sich zu sammeln. Sie hob den Kopf und überblickte die Menge.

„Wann, mein Volk,“ sagte sie mit klingender Stimme, „haben wir jemals frei von Angst gelebt? Wann haben wir überhaupt frei gelebt? Wir haben unser Vertrauen in Vipern gesetzt, in untote Bestien – in Monster! Mit solchen Geschöpfen kann man keine Freundschaft schließen oder sie zähmen! Sie sind der verkörperte Tod! Sie sind vollkommen böse und werden uns in dem Moment verschlingen, wenn sie die Laune packt.“

Sie wandte sich mit eisigen Augen an Aragorn. Sie war ein hoch gewachsener, kupferhäutiger Speer von einer Frau, so alt wie Éowyn, und jeder Zoll eine geborene Kriegerin.

„Wenn es gleich auf gleich stünde“, sagte Suni, „dann würde ich freudig mein Schwert in das Herz dieses Sohnes von Númenor versenken, denn er erschlug meinen Vater, meine Brüder und meinen Gatten.“

Éowyn bewunderte, wie Aragorn dastand, scheinbar unberührt von der Wolke aus Hass, die sich gegen ihn richtete.

„Aber wenn die Jägerin ihn nimmt, dann glaube ich, haben wir in ihren Augen unseren Zweck erfüllt. Sie wird sich an unserem Blut mästen, und am Blut unserer Kinder. Wenn wir sterben, haben wir noch Glück. Außerdem... “

Sie drehte sich um und sprach Aragorn direkt an.

„Ihr hättet diese Stadt in der letzten Woche jederzeit nach Lust und Laune einnehmen können. Und doch habt Ihr es nicht getan. Ihr habt für die gesorgt, die zu retten Ihr her gekommen seid, und Ihr habt in unseren Ratsversammlungen geschwiegen. Wir werden Euch niemals Freund nennen, aber es wäre schwer, in Zeiten der Belagerung einen besseren Verbündeten zu finden.“

Sie wandte sich zurück an die Menge.

„Lasst Elessar einen Teil des Blutes zurückzahlen, das er jeder einzelnen Frau in Rhunballa schuldet, indem er sein Blut vergießt, um dieses Königreich zu verteidigen!“

Das „Ja!“-Geschrei war ohrenbetäubend.

„Also dann,“ sagte Suni mit frostiger Höflichkeit zu Aragorn. „Wir nehmen Euer Angebot an, Sohn des Arathorn. Aber Ihr müsst Euch unter den Befehl meiner Wache stellen.“

Aragorn verneigte sich tief. „Uneingeschränkt, oh Königin.“

Éowyn hielt ihr Gesicht ohne jeden Ausdruck, um die Tatsache zu verbergen, dass ihr Mund soeben trocken geworden war. Sie konnte Aragorn keine Befehle erteilen! Jeder Instinkt, den sie besaß, würde davor zurückscheuen, dass sie in irgend einer Situation, in der er anwesend war, die Führung übernahm. Aber den Befehl zu verweigern, würde bedeuten, Sunis erste Entscheidung als Königin in Zweifel zu ziehen. Und in Wahrheit würden die Rhunballani lieber sterben, als sich von Aragorn in die Schlacht führen zu lassen. Éowyn atmete langsam ein und begegnete Aragorns Augen. Und während sie das tat, schien etwas von seinem persönlichen Zauber auf sie überzuströmen. Er festigte ihren Geist, ihre Hände, ihre Stimme. Er sagte ihr in einem Ton, dem zu widersetzen sie sich nicht vorstellen konnte, dass sie die Stärke, den Willen und die Führungskraft hatte, es zu tun.

Ihre Augen lächelten ihn dankbar an, obwohl ihre Lippen sich nicht bewegten, und sie spürte ein eigenartiges Ziehen an ihrem Herzen... dem Geist ihrer alten Heldenverehrung. Obwohl sie ihn nicht als Ehemann oder Liebhaber begehrte, würde sie ihn immer lieben, vielleicht auf die gleiche Weise, wie Legolas und Gimli ihn liebten.

Ein Grollen aus der Menge, die sich aus dem Hintergrund nach vorne fortpflanzte wie die Stimme eines sich nähernden Erdbebens, schreckte sie aus ihrer Träumerei. Der Klang so vieler fragender Stimmen und so vieler drängender Körper ließen Sunis Worte fast ertrinken.

„Was ist geschehen?“ rief sie. „Gebt die Nachricht weiter!“

„Eine Kompanie Männer, meine Königin!“ rief jemand ein paar Sekunden später. Eine Pause. „Krieger aus Harad. Die Soldaten von Gondor haben sie gerade auf den Hof getragen. Es sind weniger als sechzig, und manche sind schwer verwundet.“

Éowyn wollte sprechen und begann, sich entschlossen vorwärts zu bewegen. Aber sie hielt sich selbst scharf im Zaum und wandte ihren Blick der neuen Königin von Rhunballa zu Suni war nicht Indassa. Suni würde ihre Soldaten führen wie Aragorn, im geistigen Sinne und ganz wörtlich genommen. Éowyn hielt einen Moment inne, um einen neuen Schwall der Trauer herunter zu schlucken, dass Indassa nicht lange genug gelebt hatte, um zu solcher Kühnheit zu wachsen. Dann fiel sie direkt hinter Sunis rechter Schulter in Gleichschritt und folgte der Königin in den Hof. Die Menge teilte sich für Suni, als sie hindurchging, und alle verbeugten sich tief.

Die Morgensonne schien in einem grellen, blendenden Winkel, aber Éowyn beschirmte ihre Augen nicht. Mit so vielen Blicken, die auf ihr ruhten, würde es nicht gut sein, wenn sie zu empfindlich gegen Sonnenlicht erschien. Der Pulk auf dem Hof zog sich von dem Kreis zurück, der sich um die verwundeten Männer gebildet hatte. Sarabi, die Hebamme und ihr neuer Ehemann Brock, der Müller aus der Seestadt, hatten bereits angefangen, sich um sie zu kümmern; sie trennten die Verletzten von den Sterbenden und stillten die Blutungen derer, deren Wunden nicht jenseits aller Heilung waren. Im Osten wurde es als Grausamkeit betrachtet, das Leben tödlich Verletzter auf irgend eine Weise zu verlängern.

„Mein Herr!“ Herr Hurin verbeugte sich höflich vor Suni; seine Augen ruhten auf Aragorn. „Ihr Anführer ist schwer verletzt, aber er verlangt, mit Shah Haradoun zu sprechen. Er sagt, er bringt dringende Neuigkeiten über die Bewegungen der Blutsäufer östlich von den Bergpässen.“

„Tarosh!“ schrie Moussah, und sprang vorwärts, weg von der Menge. Er war schneller als Aragorn an der Seite des Verwundeten.

„Haradoun!“ Der alte Mann war von oben bis unten mit seinem eigenen Blut beschmiert. Sein rechtes Bein sah aus, als wäre es fast von seinem Körper abgerissen worden. Aber irgendwie war er noch immer bei Bewusstsein. Er umklammerte die Arme des jüngeren Haradrim mit aller Kraft. „Wo ist der Shah, Junge?“

„Er--- “ Moussah hielt inne, sein Gesicht gesammelt und hart, als würde er hinter den steinernen Fassade Tränen zurückhalten. „Er ist erschlagen, Onkel.“

„Der ältere Mann, den Moussah Tarosh genannt hatte, erbleichte, aber er schien nicht überrascht zu sein. „Als er uns so lange keine Nachrichten schickte, nachdem er Gondor verlassen hatte, wussten wir, dass etwas nicht stimmte. Dein Vater berief ein Treffen der Häuptlinge ein, um zu entscheiden, was getan werden sollte. Während wir in der Oase Khizg zu Abend aßen und miteinander stritten, fielen die Dhak-Dir über uns her. Niemand hat überlebt, außer mir.“

Nach der Reaktion zu urteilen, die er zeigte, hätte Moussahs Gesicht aus Granit gehauen sein können. Er nickte behutsam und sprach mit einer flachen, gefühllosen Stimme.

„Mein Vater ist tot?“

„Ja,“ flüsterte Tarosh. „Und jeder Häuptling der Dreizehn Größeren Stämme! Und ein großer Teil ihrer Leute, die um die Oase herum ihr Lager aufgeschlagen hatten. Bei Sonnenaufgang war keiner der Älteren mehr übrig, außer mir. Also folgte ich dem Plan, den dein Vater und ich vorgeschlagen hatten.“ Er tastete unbeholfen nach einem schwarz eingeschlagenen Bündel, das neben ihm auf dem Boden lag. „Ich habe mitgebracht, was ich vorhatte, Haradoun zu geben. Ich gebe es dir, junger Shah, jetzt, da dein Vetter und dein Vater tot sind.“ Tarosh gab einen trockenen Seufzer von sich und fiel endlich in Ohnmacht. Er hatte sich nur durch schiere Willenskraft an das Bewusstsein geklammert.

Und noch immer zeigte Moussahs Gesicht keinerlei Regung, obwohl es langsam alle Farbe verlor. Shah hatte Tarosh ihn genannt.

„Mit deiner Erlaubnis, Hajila-dai,“ sagte Aragorn förmlich. Er hatte neben dem hingestreckten Mann gekniet und ihn untersucht, während er seine Geschichte erzählte.

Bei den Haradrim-Worten, die Aragorn flüssig über die Lippen kamen, hob Moussah ruckartig den Kopf. Hajila-dai... Geehrter Herrscher.

„Wenn die Ehre Eure Onkels es zulässt,“ sagte Aragorn, „dann denke ich, sein Leben könnte gerettet werden.“

Moussah runzelte die Stirn, hin- und her gerissen zwischen seiner Trauer über Taroshs Geschichte und einem kalten Pragmatismus, nicht wenig entsetzt darüber, dass ein feindlicher König nun wusste, dass sich Harad in Unordnung befand und dass seine mächtigsten Häuptlinge erschlagen waren. „Kann sein Bein gerettet werden?“

Aragorns Gesicht war so ausdruckslos wie das des jungen Mannes vor ihm. „Nein.“

„Er ist ein Krieger der Shil Dassi,“ sagte Moussah, als würde das alles erklären.

„Der Stamm der Wölfe,“ murmelte Aragorn.

„Ihr werdet den Tod eines tapferen Mannes nicht dadurch entehren, dass Ihr ihn als wertlosen Krüppel weiter leben lasst!“ sagte Moussah flach. Er zog den langen, gebogenen Dolch an seiner Seite und begann zu beten. Éowyn zuckte zusammen, als sie die Schwarze Sprache erkannte. Der Klang war unmissverständlich... wie lange, hexenhafte Fingernägel, die über eine Schiefertafel gezogen wurden.

„Mir scheint,“ sagte Aragorn und unterbrach leise die groben Töne von Moussahs Anrufung, „dass ein bewährter Krieger als Kriegsratgeber an einen Häuptling der Häuptlinge nicht verschwendet wäre. Und mit einem Bein kann er aus dem Sattel noch immer kämpfen. Aber es ist nicht an mir, das zu sagen.“

„Nein, ist es nicht.“ schnappte Moussah. Er starrte auf das besinnungslose Gesicht seines Onkels herunter; seine Augen brannten in heftiger Unschlüssigkeit. „Der alte Brauch verlangt, dass ich als sein engster Verwandter ihn töte. Aber---“ Er holte langsam und tief Atem und war für einen langen, angespannten Moment still. Zu viel Veränderung, und zu schnell, dachte Éowyn. Sie wusste nur zu gut, was Moussah empfand.

„Es kommt mir in den Sinn,“ sagte Moussah endlich, „dass der Hajila-dai seine eigenen Bräuche schaffen kann. Tarosh ist weise und gerissen, und von der Lehre der Kriegskunst durchdrungen. Ich werde einen solchen Mann nötig haben.“ Er steckte seinen Dolch mit einem nahezu unhörbaren Seufzer wieder in die Scheide. „Rettet ihn, wenn Ihr könnt, Elessar. Aber Ihr sollt eine reiche Belohnung haben, denn ich will nicht in Eurer Schuld leben!“

„Spart Euch euer Gold,“ sagte Aragorn grimmig. „Wenn wir die nächsten paar Nächte überleben, dann werden wir alle uns das Leben gleich dutzendfach schulden.“

Moussah nickte; seine Lippen bogen sich zu einem freudlosen Lächeln nach oben. „Ihr sprecht die Wahrheit.“

Die nächste Stunde verstrich in einem Wirbel, während sie die verwundeten Männer auf Sunis Befehl in die Königliche Villa brachten. Der Audienzraum bot die beste Möglichkeit für ein gut gelüftetes Behandlungszimmer. Irgendwann traf Fallah ein und teilte ernst mit, dass sie Obari gesondert in einem der Gästezimmer der Villa untergebracht und ihr etwas gegeben hatte, um ihr die letzten Stunden etwas bequemer zu machen.

Éowyn nahm die Hände der Apothekerstochter und drückte sie fest. „Ich dachte, die Jäger hätten dich getötet, meine Freundin!“ sagte sie.

„Sie haben bewiesen, dass mein Vater Recht hatte,“ sagte Fallah gelassen. „Er hat immer aller Welt erzählt, dass seine Tochter einen ungewöhnlich harten Schädel hätte.“

Éowyn stand im Torbogen zur Halle der Königin und sah zu, wie ihre Freundin fort ging, um sich das Waffenlager mit Raketen anzusehen, dass Suni am Rand der Stadt angelegt hatte.

„Éowyn!“ Aragorn kam auf sie zu, die Hände und die Tunika voll roter Flecken, das Gesicht grimmig. „Éomer ist zu den brach liegenden Sojafeldern hinunter gegangen, wo die meisten meiner Männer und seine Reiter ihr Lager aufgeschlagen haben. Ich muss dich nicht erst warnen, dass ein großer Hebel nötig sein wird, um deinen Bruder und deine Landsleute in dieser Schlacht von ihren Pferden zu trennen.“

Éowyn hätte beinahe laut aufgestöhnt. Sie hatte nicht einmal daran gedacht.

„Wie möchtest du, dass wir unsere Männer aufstellen?“ sagte Aragorn mit etwas sanfterer Stimme und beobachtete dabei genau ihr Gesicht. Wieder fühlte sie den kreisenden Schwindel der Unwirklichkeit bei den Gedanken, dass Aragorn sie nach ihren Anweisungen fragte. „Éowyn.“ Ihre Augen öffneten sich jäh bei dem angedeuteten Befehlston in seiner Stimme. „Du kennst die Verteidigungslinien dieses Landes besser als irgend jemand anderes. Du hast sie gebaut.“

„Das habe ich.“ sagte sie zustimmend. Sie lächelte mit warmer Dankbarkeit und berichtete ihm von ihren wesentlichen Befestigungen und ihrem Schlachtplan. Er nickte in stiller Zustimmung und sie machten sich an die Arbeit.

*****

Jedes Paar Hände in Rhunballa wurde eingesetzt und arbeitete in fieberhafter Furcht; aller Augen wandten sich ständig dem unvermeidlichen Abstieg der Sonne nach Westen zu. Jedes Gebäude in der Stadt, das die Jungen und die Alten beherbergen sollte, war bereits mit einer Mischung aus Wasser und Backpulver übertüncht worden. Hunderte von Leuten hatten sich versammelt, um Pfeile zu befiedern und jedes fertige Stück in Öl zu tauchen.

Es gab einen spannungsgeladenen Augenblick im Westron-Lager, als Éomer sich beinahe ihrem Befehl widersetzt hätte, dass seine Reiter ihre Pferde in Pferchen unterhalb der Stadt zurücklassen sollten; Aragorn hatte sie gewarnt, dass er genau das tun würde.

Sie ging mit ihm ein kleines Stück vom Hauptlager weg, auf die Heuschober zu, die seine Reiter am Fuß der Lehmtreppen errichtet hatten, die hinauf in die Stadt führten. Sie hatte Éomer angeblich von seinen Leuten fort gelotst, um seine Meinung in einer wichtigen, taktischen Angelegenheit zu erfragen. Die Wahrheit was, dass sie sich nicht vor seinen Männern mit ihm streiten wollte.

Als sie ihm ihre Gedanken offenbarte, gönnte ihr Bruder ihr den mauleselsturen Gesichtsausdruck, an den sie sich gut aus ihrer Kindheit erinnerte.

„Selbst wenn wir hier nicht zwischen eng stehenden Gebäuden in einer Stadt mit engen Straßen und Durchgängen kämpfen müssten,“ sagte sie zu ihm, „wäre ein Mann auf dem Pferderücken für diese Kreaturen ein leichtes Ziel. Unsere Leute werden gegen einen Luftangriff der Jäger ebenso wehrlos sein wie gegen die Nazgûl auf dem Pelennor.“ Die Worte blieben ihr in der Kehle stecken, als sie sich an das Entsetzen erinnerte, als der Hexenkönig von oben auf Théoden hinunter stieß.

„Bruder, ich will nicht dich oder irgendeinen unserer Krieger so sterben sehen wie Théoden, Pferd und Reiter gemeinsam.“

Bei diesen Worten wurde sein Gesicht weicher. Es war vielleicht das Einzige, was sie hätte sagen können, das ihn rührte, wo kalte Logik keine Wirkung zeigte. Éomer war ein guter Mann. Er war klug und stark, und er hatte nie nach Auszeichnungen gestrebt. Aber er dachte – wie immer – mit seinem Bauch und seinem Herzen. Ihnen war er in der Hitze des Augenblickes gefolgt, und das Einzige, was ihn vor der Katastrophe bewahrt hatte, war die Tatsache, dass sein Herz so groß und so rein war. Aber im kalten Licht der Fakten betrachtet blieb es wahr, dass er am Besten als Gondors Reitermarschall und Schwertarm zu gebrauchen war, und wenn er Aragorn die schweren Entscheidungen überließ.

„Du solltest deinen zukünftigen Ehemann besser nicht so herum kommandieren wie deinen unglückseligen Bruder,“ sagte er endlich gereizt, „oder er könnte sich seinen Antrag noch einmal überlegen.“

Éowyn schluckte eine wütende – und wahrscheinlich sehr laute – Antwort auf diese Stichelei zum Abschied hinunter und sah zu, wie ihr Bruder davonging. Sie drehte sich auf dem Absatz um und rannte beinahe in Legolas hinein. Sie betrachtete ihn eine Sekunde oder zwei und spürte einen Stich der Schuld, dass sie ihm den ganzen Morgen keinen Blick gegönnt hatte, oder auch nur einen verirrten Gedanken.

„Legolas.“ Sie seufzte seinen Namen so, wie ein Weitgereister den Namen seiner Heimat aussprach.

Ein Lächeln, so hell wie die Sonne über ihnen, erblühte auf seinem schönen Gesicht. „Er irrt sich,“ murmelte Legolas. „Du darfst mich auf jede Weise herumkommandieren, die du für richtig hältst, meine Herrin.“

Sie spürte, wie ihre Wangen brannten, als ein Strom des Verlangens durch ihren Körper ging, ausgelöst durch nichts mehr als die zarte Anspielung in seinen unschuldigen Worten. Sie starrte ihn an wie eine Närrin und versuchte, sich daran zu erinnern, was sie gerade hatte sagen wollen.

„Ich kann kaum klar denken, wenn du mich so anlächelst.“ sagte sie endlich.

„Es ist seltsam und wundervoll, nicht wahr?“ Er stand gute zwei Meter von ihr entfernt, die Hände fest hinter dem Rücken verschränkt. Nichts in seinem Gesicht oder seiner Haltung ließ irgend etwas anderes vermuten als eine beiläufige Unterhaltung. Aber seine grauen Augen spiegelten die gleiche Hitze wider, die in ihr flammte. „Zuvor waren wir für solche Dinge blind und taub. Jetzt ist es, als seine eine eingedämmte Flut in uns frei gebrochen. Und ich werde von ihrer raschen Strömung davon getragen.“

Sie nickte stumm; sie wagte nicht zu sprechen.

„Wir sollten jede Stunde Tageslicht zu unserem Vorteil nutzen,“ fuhr er fort. „Es ist zuviel Arbeit zu tun. Aber bei jeder Regung denke ich an dich. Und jetzt, da ich dich ansehe, möchte ich nichts lieber tun, als neben dir auf einem Bett aus sommerlichen Wildblumen zu liegen und zu sehen, wie die Blüten sich in deinem Haar verfangen, während wir---“ Er hörte auf zu sprechen und holte tief und zittrig Atem, um sich zu beruhigen. Sie war froh, dass er das konnte, denn sie schien zeitweilig die Fähigkeit zum Atmen verloren zu haben. „Ich habe Aragorn danach gefragt, denn ich war besorgt, dass ein solch überwältigendes Verlangen ein Teil der Verwandlung wäre. Er lachte nur und sagte mir, das sei ganz normal, wenn eine Liebe so neu ist.“

„Es---“Éowyn schluckte hart. „Es ist gut zu wissen, dass wir nicht den Verstand verlieren.“ Sie wollte nicht darüber nachdenken, wie Aragorn und Legolas über die Natur der Begierde diskutierten, oder was Legolas seinem verheirateten Freund wohl noch alles anvertraut hatte. Wenn sie das tat, würde sie nie wieder imstande sein, Aragorn ins Gesicht zu sehen, ohne sich vor Scham zu krümmen.

„Ich habe heute Morgen Abstand gehalten,“ sagte Legolas, „damit wir beide unsere Arbeit tun konnten, ohne abgelenkt zu sein. Auch wollte ich um deinet- und Éomers willen nicht noch mehr Klatsch hervorrufen, als es ohnehin schon gibt.“

„Wir haben Glück gehabt, dass Éomer Obari heute Morgen für ihre Worte nicht selbst umgebracht hat,“ sagte Éowyn. „Mich machen sie bloß wütend, all diese Gerüchte und Halbwahrheiten, die herumerzählt worden sind. Aber sie tun Éomer furchtbar weh, weil er mich so sehr liebt.“

„Ja,“ sagte er ruhig. „Aber die Großen werden dem Atem der Geschichtenerzähler immer ein Thema liefern. Gerüchte und Legendenbildungen folgen Estel, wie das Karibu aus dem Norden den Sommerwinden auf grünere Felder folgt. Seit er den Thron bestiegen hat, haben die engsten Freunde Aragorns allesamt unter falschen Geschichten und Anschuldigungen zu leiden gehabt.“

Sie runzelte neugierig die Stirn. „Zum Beispiel?“

„Sie sagten, Gimli hätte Aragorn dazu verleitet, deinen Bruder unter Druck zu setzen, dass er die Glitzernden Höhlen unterhalb von Helms Klamm – und Helms Klamm selbst – zum Hoheitsgebiet der Zwerge erklärt,“ sagte Legolas, „und dass er damit dein Volk seiner uralten Festung beraubte. Die Wahrheit ist, dass dein Bruder Gimlis Leuten alle Höhlen unterhalb der Hornburg vermachte, als Gegenleistung für einen Anteil an den Metallen und Edelsteinen, die die Minen hergeben würden. Gimlis Volk erbaut eine Zwergenstadt unter der Oberfläche deines Heimatlandes. Manche Männer flüstern, dass Aragorn Mithrandir von seiner Seite fort schickte, weil er seine große Macht fürchtete, wo er in Wahrheit doch in den Westen reiste, wo er herkam. Und von mir sagen sie---“ Er hielt inne und lachte leise vor sich hin.

„Was?“

„Als Herr Elrond Arwen zu Aragorns Krönung brachte, um ihre Hand in die seine zu legen,“ sagte Legolas, dessen Augen vor Vergnügen funkelten, „da führte ich die Prozession des Schönen Volkes an. Es gibt viele in Minas Tirith, die sagen, dass ich, als ich vor Estels Braut beiseite trat, dies in mehr als einer Hinsicht getan hätte.“

Éowyns Augen weiteten sich. „Sie sagen, du wärst der Liebhaber der Königin gewesen?“

„Oh nein!“ sagte er fröhlich. „Sie sagen, ich war Aragorns Liebhaber.“ Und als er ihren Gesichtsausdruck sah, lachte er laut.

„Ach du meine Güte.“ war alles, was ihr zu sagen einfiel.

Legolas schüttelte den Kopf. „Diese Geschichte ist ein Anzeichen des schwindenden Wissens in Gondor, glaube ich... man erinnert sich zwar daran, dass die Elben weder Gesetze noch Bräuche haben, die eine solche Liebe verbieten, aber man vergisst---“ Seine Lippen zuckten. „—dass nicht alle Elben dazu neigen.“

Sie konnte sich nicht helfen – sie fing an zu lachen wie ein kleines Mädchen. All sein warmer, ansteckender Humor schien auf sie übergeflossen zu sein und löste – wenn auch nur für einen Moment – die verhärteten Knoten der Anspannung in ihrem Rücken und ihrer Brust.

„So solltest du immer lachen,“ sagte er leicht ernüchtert, „Hell und sorglos, mit der Sonne auf deinem Gesicht.“

,„Das wäre schön,“ sagte sie ein wenig wehmütig.

„Dieser Tag wird kommen, Meleth-nin,“ sagte er leise zu ihr. „Ich schwöre es.“

Seine Augen fingen die ihren ein, und sie musste an sich halten, ihn nicht zu berühren und ihm in die Arme zu fliegen.

„Gib mir eine Aufgabe, Éowyn,“ sagte er mit plötzlicher, stiller Intensität. „Gib mir eine Aufgabe und lass mich sofort an die Arbeit gehen, oder ich werde dich im nächsten Moment in den Heuschober hinter uns tragen, und keiner von uns wird irgend etwas tun, um sich für die Schlacht an diesem Abend vorzubereiten!“

Sie fuhr schuldbewusst zusammen. Es war jetzt nicht die Zeit, sich in ein kicherndes, liebestrunkenes Mädchen zu verwandeln. „Es gibt etwas, worum ich dich und Gimli gern bitten würde,“ sagte sie und brachte ihre Stimme unter Kontrolle. „Es gibt viele Scherben, die doppelt so groß sind wie die kleinsten Splitter von Elwings Kugel, Legolas, aber auch diese Splitter haben vor den Jägern geschützt. Wir werden heute Nacht zwei- oder dreimal so viele Scherben brauchen.“

„Ja.“ Er nickte. „Wir müssen noch immer all die Jungen und Alten sicher unterbringen, aber wir müssen auch Scherben haben, um die Soldaten zu beschützen, die im Freien kämpfen.“

„Es ist nötig, dass du und Gimli alle Scherben findet und sie noch einmal zerbrechen,“ sagte sie. „Wir müssen die neuen Splitter an alle Kompanien der Männer und Frauen verteilen, die heute Nacht kämpfen.“

„Ich tue es, so schnell ich kann!“ Er lächelte knapp, die gesamte Macht seiner Liebe zu ihr in den Augen, dann drehte er sich auf dem Absatz um und sprintete die Lehmtreppen zur Stadt hinauf.

Sie sah ihn gehen, die Füße am Boden festgefroren. Er erreichte die Spitze des in Lehm gehauenen Durchganges, drehte sich um und winkte ihr rasch zu. Das Herz zog sich ihr in der Brust zusammen und ein kalter Schauer der Furcht kroch ihr den Rücken hinauf und verdunkelte die goldene Sonne über ihr.

Obwohl sie sich vor mehr als vier Jahren in Helms Klamm begegnet waren, wurde ihr plötzlich klar, dass sie alles in allem weniger einen Monat in der Gegenwart des anderen verbracht hatten. Und doch fühlte sie sich, als hätte sie ihn schon ihr ganzes Leben lang gekannt, als wäre er ebenso ein Teil von ihr, Herz, Seele und Fleisch, wie Éomer es war.

Wenn er heute Nacht starb, würde sie das so sicher zerstören wie ein Schwert, das man ihr ins Herz stieß.

Ein schrecklicher Krampf der Angst überfiel sie, während sie die selbe Treppe hinauf stieg, die Legolas genommen hatte; an einer der verwickelten Biegungen, die hinter die Wäschereien führte, wandte sie sich nach links. Dies war nicht die Furcht, die sie um Théoden und Éomer gehabt hatte. Dies war nicht die Ängstlichkeit, die sie jedes Mal kannte, wenn sie einen anderen Krieger in die Schlacht führte. Es war ein verzweifeltes, selbstsüchtiges Entsetzen, das keinen Gedanken an etwas oder jemand anderes kannte als an Legolas. Sie erreichte das obere Ende der Lehmtreppe und ging schneller durch die geschäftigen Straßen der Stadt, die sie jetzt seit achtundzwanzig Monaten ihr Zuhause nannte. Zum hundertsten Mal machte sie eine geistige Aufstellung der Soldaten und Waffen, die sie zur Verfügung hatten. Tatsächlich war der größte Teil der Vorbereitungen schon abgeschlossen. Sie hatte ihre Pläne für einen Großangriff der Jäger bereits vor mehr als einem Jahr gemacht. Die einzigen wirklichen Abänderungen waren äußerst positiv, da es jetzt mehr Verteidiger gab. Und mit dem zusätzlichen Bonus der Scherben, den sie nie erhofft hatte, hatten sie im Kampf vielleicht tatsächlich eine Chance.

Sie bewegte sich an den Handelshäusern der Färber und an den Wäschereien vorbei, wo Frauen noch immer die größten Gebäude mit einer milchigen Mischung aus Wasser und Backpulver bedeckten. Vor Anbruch der Nacht würde die gesamte Stadt weiß beschmiert sein, aber das war ein großer Schritt auf dem Weg, Rhunballa davor zu bewahren, dass es, sobald die Raketen einmal zu fliegen begannen, bis auf den Grund nieder brannte. Als sie die Straße der Ärzte überquerte, sah sie einen stetigen Strom von Männern und Frauen, die mit Armen voller Feuerwerkskörper aus dem neuen Waffengeschäft rannten. Fallah hatte sie bereits vor einem Monat handverlesen. Als sie den Brunnenhof erreichte, beobachtete sie fasziniert, wie Fallahs Feuerwerkertruppe sich in geordneter Form ausbreitete und sich auf die Kompanien der Wache unter der fremden Verteidiger Rhunballas verteilte, die bereits im Quartier ihres Hauptmannes in der Stadt ihre Position einnahmen. Es blieb nur noch, sie mit den Scherben zu schützen, die Legolas und Gimli bringen würden. Éowyn entdeckte Suni und ging, um sich um die Organisation des nördlichen Flügels der Verteidiger von Rhunballa zu kümmern.

„Mädel!“ Gimli hastete auf sie zu, sein Gesicht über dem vollen, roten Dickicht seines Bartes schmerzerfüllt und zornig. „In der Bibliothek des Königin braut sich etwas zusammen!“

Éowyn folgte ihm zurück in die Villa. Sie runzelte die Stirn; ihr Gesicht schmerzte von Anspannung und Konzentration. Gimli führte sie in die Bibliothek, die das private Studierzimmer des alten König Udam gewesen war. In den vier Jahren von Indassas Herrschaft hatte die junge Königin den riesigen Raum mit jedem Buch und jedem Wälzer gefüllt, den sie von den Händlern kaufen oder erbetteln konnte, die über ihre Grenzen kamen. Suni saß in dem schwarz gepolsterten Sessel, von dem Indassa behauptet hatte, dass er der Lieblingsort ihres Vaters in ganz Mittelerde gewesen sei. Das Gesicht der neuen Königin war eine merkwürdige Mischung aus Besorgnis und äußerster Verstimmung. Auf der einen Seite von Sunis Sessel stand Moussah, den Rücken stocksteif, die Nase hoch erhoben, während er Éomer mit gleichgültiger Verachtung strafte. Er hielt mit beiden Händen ein in schwarzes Tuch eingeschlagenes Bündel fest an die Brust gedrückt, als wäre es ein heiß geliebtes Kind.

Zur Rechten der Königin stand Éomer zwischen Aragorn und Legolas; seine gewaltigen Schultern bebten förmlich vor unterdrücktem Zorn.

„Kann mir kein Mann hier eine einfache Antwort geben, nun, da die fragliche Dame anwesend ist?“ sagte Moussah und warf einen kurzen Blick in ihre Richtung.

„Ich habe es Euch klipp und klar gesagt,“ erwiderte Aragorn mit einer tödlichen, stillen Höflichkeit, die Éowyn einen Schauder den Rücken hinunter jagte. Aragorn war so dicht davor, die Beherrschung zu verlieren, wie sie es noch nie gesehen hatte, und es war ein beängstigender Anblick. „Die Herrin Éowyn ist weder jetzt meine Frau oder Geliebte, noch ist sie es jemals gewesen.“

„Moussah nickte kurz. Er wandte sich zu Éomer und Legolas zurück. „Dann ist es also an einem von Euch beiden. Wenn der Elb sie nicht als Erste Frau beansprucht, dann ist der König vo Rohan noch immer ihr Gebieter. Wirst du sprechen, Elb, jetzt, da die Frau vor uns steht?“

Legolas betrachtete ihn kühl. „Fragt Ihr, ob wir nach dem Brauch meines Volkes vermählt sind, oder nach ihrem?“

Moussah grollte leise. Er sah aus, als kämpfe er dagegen an, vor Wut mit den Zähnen zu knirschen „In Harad wissen die Menschen, dass Elben schön erscheinende Verführer und Verderber der Unvorsichtigen sind. Du hast meine einfache Frage in der letzten Viertelstunde fünf Mal beantwortet, und nicht einmal ist es dir gelungen, mir etwas zu geben, was auch nur irgendwie an eine richtige Antwort erinnert. Bist du imstande, dich klar auszudrücken? Lass mich ganz offen sein, damit es keine Missverständnisse gibt zwischen uns. Westron-Eheschwüre und verweichlichte, sinnlose Zeremonien können Mann und Frau nicht fest aneinander binden! Antworte mir: hast du ihre Jungfräulichkeit genommen oder nicht?!“

„Du stinkende Sandratte!“ Éomer hätte einen Satz vorwärts gemacht, das Schwert in der Hand, hätte Aragorn seinen rechten Arm nicht mit einem Griff gepackt, der das Gesicht des jüngeren Mannes erbleichen ließ.

Éowyn war bereits vor ihren Bruder gesprungen und öffnete den Mund, um ihn laut zu schelten. Einen Moment später hörte sie hinter sich einen dumpfen Aufprall. Moussah lag auf dem Rücken und starrte mit kaltem Blick auf das lange Messer, das Legolas gegen seine Kehle gedrückt hatte.

„Könnt Ihr mir sagen,“ fragte Legolas ihn sanft, „wieso ich Euch nicht die Kehle durchschneiden sollte dafür, dass Ihr meine Herrin so respektlos behandelt habt?“

„Dann gehört sie Euch---“ Moussah beendete diesen Satz mit einem erstickten Keuchen, als Legolas die Klinge ein wenig fester gegen seinen Hals presste.

„Sie gehört sich selbst.“ sagte Legolas leise.

„Legolas,“ sagte Éowyn still, „bitte bring ihn nicht um. Er ist ein tapferer Krieger, und heute Nacht werden wir sein Schwert nötig haben.“

Sehr langsam zog Legolas das Messer von der Kehle des jungen Mannes zurück. Éowyn beobachtete ihn, ein wenig schockiert von dem jähen Ausbruch kalten Zorns um ihretwillen, so gerechtfertigt er auch sein mochte. Einmal mehr ging ihr auf, dass sie ihn, obwohl sie ihn ohne jede Einschränkung liebte, in vielen Dingen kaum kannte.

Es herrschte eine eisige, zornige Stille, während Moussah wieder auf die Füße kam. „Was wollt Ihr von mir, dass Ihr unbedingt wissen müsst, zu wem ich gehöre?“ fragte Éowyn.

Moussah runzelte unbehaglich die Stirn und begegnete ihrem Blick für eine halbe Sekunde, bevor er wegschaute. Und plötzlich begriff Éowyn die merkwürdige Veränderung seines Benehmens ihr gegenüber. In Harad hatten Witwen ohne männliche Verwandte die Freiheit, sich selbst um ihre Angelegenheiten zu kümmern, damit ihre Kinder nicht darben mussten. Bei seiner Ankunft in Rhunballa hatte Moussah angenommen, dass Éowyn – wie fast alle anderen Frauen in diesem Land – eine Witwe des Krieges war. Aber im Licht der neuesten Offenbarungen, gemeinsam mit der Tatsache, dass sie eine unvermählte Frau von königlicher Geburt war, hatte sich das tief in ihm verwurzelte Verhalten wieder Geltung verschafft. Im Osten sprach ein Mann eine Dame nicht direkt an, nicht ohne die Erlaubnis ihres Gatten oder Vaters. Er sah ihr nicht geradewegs in die Augen, es sei denn, er war mit ihr verwandt. Éomer und Legolas waren beide über Moussahs unverblümte Frage in Wut geraten, aber es wäre eine unverzeihliche Beleidigung gewesen, hätte er die Frage ohne die Erlaubnis der beiden an Éowyn selbst gerichtet.

Éowyn seufzte. „Ich gehöre weder meinem Bruder noch Legolas, noch Aragorn,“ sagte sie in die Luft hinein und wandte sich von dem jungen Shah ab, um ihn nicht noch mehr in Verlegenheit zu bringen. „Aber ich bin eine Frau des Westens, und Aragorn ist mein König. Und mein Gebieter.“

Moussah nickte fast unmerklich; noch immer sah er sie nicht an. Niemand außer Aragorn schien dies als die respektvolle Geste zu begreifen, die es tatsächlich war. Moussah wandte sich zu Aragorn zurück, die schwarzen Augen voller Stolz. Langsam enthüllte er den in dunkle Seide gewickelten Schatz. Es waren zwei Obsidian-Bruchstücke, eines klein, das andere groß. Sie waren völlig schwarz, und doch...

Sie schienen von einer Art innerlichem Strahlen dumpf zu glühen. Es war, als wären die beiden Steine Lampen – Lampen, die statt Licht Finsternis verbreiteten. Neben sich hörte Éowyn, wie Legolas ein leises Zischen von sich gab und zurück trat, als würde der Anblick der Steine ihm Schmerzen bereiten.

„Was ist das?“ fragte Aragorn angespannt.

„Man nennt es den Daegond,“ sagte Moussah ehrfürchtig. „Mein Vorfahr Herumor brachte es aus Númenor in die Länder der Sonne. Seine Mutter war eine Konkubine, die Tochter eines Häuptlings aus Harad, die als Tribut für den letzten König jenes Landes nach Andor gebracht wurde.“

„Das würde ihn zum Bastard von Ar-Pharazôn machen.“ sagte Aragorn kalt.

„So ist es, Vetter,“ erwiderte Moussah mit einem schlauen Lächeln. „Von der ungebrochenen Linie der Erstgeborenen von Elros. Wenn Númenor noch bestünde, würde mein Anspruch auf den Thron den Euren übertreffen.“

„Wenn Númenor noch bestünde,“ stellte Aragorn fest, „dann würden die Valar es lieber noch einmal in den Abgrund stürzen, als jemanden wie Euch auf dem Thron sitzen zu sehen.“

„Das werden wir niemals wissen,“ Moussah zuckte die Achseln „Der Daegond war ein Geschenk des Dunklen Gottes höchstselbst an Herumor. Es ist ein Splitter von Grond*, den Sauron aus der Zerstörung von Angband rettete.“

„Und wieso,“ fragte Aragorn mit leisem Zorn, „wollt ihr solch ein übles Ding in die Hände dieser Dame legen?“

Éowyn zuckte zusammen und blickte verwirrt von Aragorn zu Moussah. Sie fühlte sich deutlich im Nachteil, weil sie zu spät gekommen war.

„Es bemäntelt das Strahlen von elbischem Zauber und maskiert selbst die Macht von Relikten der Westron-Götter,“ erwiderte Moussah. „Sein Metall ist nicht von dieser Erde. Die Legende sagt, dass Morgoth seinen mächtigen Hammer aus einem toten Stern schuf, der vom Himmel herabstürzte. Im ursprünglichen Zustand ist es hart wie ein Diamant, aber unter Hitze kann man es in jede Form schmieden, die wir uns wünschen. Während der Schlacht von Gorgoroth benutzten wir es gegen die Zauberei von Gil-Galad und seinen Günstlingen. Ich dachte, wir könnten das Erz zu kleinen Kästchen formen. Darin könnten wir mehrere von den elbischen Scherben verstecken, bis die Dhak-Dir über uns sind, und dann eine Art Falle zuschnappen lassen.“

Gimlis Augen weiteten sich. „Wenn dieses verfluchte Metall die Macht der Scherben verbergen kann, bis wir sie dicht herangelockt haben, dann könnten wir sie in viel größerer Anzahl töten!“

„Jawohl,“ stimmte Moussah mit einem grimmigen Lächeln zu. „Nehmt es, Vetter.“ Er hielt das größere der beiden Bruchstücke Aragorn hin und lächelte eisig angesichts der abschätzigen Art, mit der der König ihn ansah. Moussah wusste wohl, dass sein ,Vetter’ es sehr unerfreulich fand, an die gemeinsame Verwandtschaft erinnert zu werden, die ihn mit den Schwarzen Númenorern verband. „Unter meinen Kriegern haben wir keine Schmiede.“

Aragorn betrachtete den Stein widerwillig. Er war pragmatisch genug, den taktischen Wert des Daegond zu erkennen, aber er empfand noch immer Abscheu davor, ihn zu berühren. „Ich will nichts damit zu tun haben,“ sagte er endlich. Legolas gab einen tiefen Seufzer der Erleichterung von sich.

„Dann gib ihn mir!“ sagte Suni und erhob sich von ihrem Stuhl. „Mein Volk wird ihn gebrauchen, um sich zu schützen, selbst wenn deines es nicht tut.“

„Er ist Euer, Majestät,“ sagte Aragorn ernst „Obwohl ich Euch dringend davon abraten würde, ihn zu benutzen. Solche Dinge saugen die Bosheit ihrer Herren mit der Zeit auf und könnten sich gegen Euch wenden wie eine Schlange.“

„Eine Schlange,“ sagte Suni, „kann sich nicht gegen mich wenden, wenn ich sie nicht für zahm oder freundlich halte. Wir werden ihn mit Vorsicht einsetzen.“

Moussah gab Suni das größere Steinstück. Er hielt das kleinere Stück noch immer in der Hand und warf Aragorn einen kurzen Blick zu. „Vor tausend Jahren brach dieses Stück von dem größeren Stein ab. Von unseren Sehern wurde prophezeit, dass es seinen Weg in die Hände einer Goldenen Löwin finden müsse, die Harad und sein Volk vor der Königin von Blut und Finsternis retten würde.“

Éowyn spürte, wie ihr eisige Kälte das Rückgrat hinauf kroch, obwohl sie äußerlich keine Reaktion zeigte.

„Ich glaube,“ sagte Moussah eindringlich, „dass die Stunde dieser Vorhersage gekommen ist, denn meine Verwandten haben mir gesagt, dass ganz Vorder-Harad von den Dhak-Dir belagert wird. Wenn dieses kleine Königreich fällt, dann fallen beide, der Osten und der Westen. Wir werden niemals Freunde sein, Elessar, noch werden wir Frieden haben zwischen unseren Reichen, wenn wir diesen Kampf überleben. Ihr seid ein wahnsinniges Volk, das die Unsterblichkeit zurückgewiesen hat, die Sauron den Menschen gewährt hätte, wären seine größten Pläne Wirklichkeit geworden.“ Er deutete kurz zu Éowyn hinüber und starrte Aragorn und Éomer an. „Mir gefriert das Blut in den Adern, wenn ich sehe, dass ihr diese starke, schöne Frau so leichtherzig einer solchen... Kreatur wie diesem da zur Ehe überlasst.“ Er stach mit dem Finger in Legolas’ Richtung, und seine Lippen verzogen sich vor Ekel, als er den Blick wieder zu Aragorn wandte. „Aber schließlich habt Ihr ja eine von ihnen zur Frau genommen, also---“

„Halt!“ sagte Aragorn scharf. Seine Stimme war noch immer ruhig, noch immer beherrscht, aber sein Gesicht war weiß vor Wut. „Ich habe jetzt genug von Euren Haradrim-Gotteslästerungen gehört. Mehr werde ich mir nicht mehr anhören. Und wenn Ihr meine Frau oder meinen Bruder im Herzen noch einmal als ,Kreatur’ bezeichnet, dann werdet ihr mich zornig sehen.“

Moussah schien drauf und dran zu sein, etwas ziemlich Unkluges von sich zu geben, aber die Vernunft siegte. Er spannte das Kinn an und nickte. „Ja. Jawohl, es gibt gegenwärtig keinerlei Nutzen für diese alte Debatte. Ihr nennt uns Sklaven und die Kriegshunde einer Bestie, und wir sagen, ihr seid Verräter an der Menschheit. Aber die Dhak-Dir kümmert es nicht, ob wir Westron sind oder Söhne von Harad. Last uns für den Moment darin übereinstimmen, dass wir nicht übereinstimmen. Im Osten, Elessar, ist der Löwe das uralte Symbol des Kriegers. Ich bitte Euch als Gebieter und Herrn der Frau Éowyn darum, ihr diesen Teil des Daegond übergeben zu dürfen. Ich glaube, sie ist dazu bestimmt, ihn zu unserer Verteidigung zu verwenden.“

Aragorn schwieg einen langen Augenblick still. „Wenn sie ihn aus Eurer Hand entgegen nehmen will, dann hat sie meine Erlaubnis, ihn zu nutzen, wie sie es für richtig hält.“

Moussah verbeugte sich eisig. „Ich würde auch gern mit der Dame sprechen... wenn Ihr gestattet.“

„Wie Ihr wünscht.“ sagte Aragorn kurz.

Moussah bot Éowyn den Stein an und hielt ihn vor sich wie einen Brautpreis, noch immer bescheiden darum bemüht, ihren Blick zu vermeiden. „Nehmt dies, Herrin, Und mögt Ihr wahrhaftig unsere Retterin sein, oder unsere Hoffnung in dieser Lage ist gering, selbst mit den elbischen Scherben und euren schlauen Feuerwaffen.“

Sie spürte mehr als dass sie sah, wie Legolas sich neben ihr anspannte, als sie das schwarze Bündel wortlos entgegen nahm.

Moussah zögerte, als würde er seine nächsten Worte mit großer Vorsicht wählen. „Ich muss Euch eine Frage stellen, Herrin.“

„Fragt.“ sagte Éowyn und hielt den schwarzen Stein auf Abstand von ihrem Körper. Er fühlte sich unter ihrer Berührung auf ungesunde Weise warm an, wie ein lebendiges Ding. Seine Nähe sorgte dafür, dass sie einen Schauder unterdrücken musste.

„Ich kann mir nicht ausmalen, wie schrecklich es für Euch war in dem Nest,“ sagte Moussah leise, „Wenn Ihr nicht zu antworten wünscht, verstehe ich das. Aber fragen muss ich. Während Ihr deren Gefangene wart, habt Ihr irgendetwas von Haradoun gesehen? Haben – haben sie ihn in einen der ihren verwandelt, so wie sie versuchten, Euch zu verwandeln?“ Der rohe Kummer in seiner Stimme erschreckte sie mehr, als sie es je für möglich gehalten hatte. „Und wenn er so böse wie ein Morgulgeist wäre,“ flüsterte Théodens geisterhafte Stimme einmal mehr in ihrem Kopf, „irgendwo wird es jemand geben, der um den Mann weint, den du erschlägst.“ Das Bild von Obaris totenblassem Gesicht, von Shaeri und Insis, die über dem verwundeten Körper ihrer Mutter weinten, ging ihr kurz durch den Sinn.

„Sie haben ihn nicht verwandelt,“ sagte Éowyn zu ihm; ihre Stimme klang ihr seltsam sanft in den Ohren. „Noch haben sie sich von ihm genährt. Er verschied als ein sterblicher Mensch. Es geschah sehr schnell.“

Moussah stand da, ohne sich zu rühren, sein gut aussehendes Gesicht unbewegt, die Augen trocken. Aber noch immer hätte Éowyn weinen mögen über die stille Trauer, die von ihm ausging. „Habt Ihr ihn getötet, meine Herrin?“ fragte er sehr ruhig.

Éowyn war sich plötzlich der Gegenwart von Legolas neben ihrer rechten Schulter bewusst, und der von Aragorn neben ihrer linken. Éomer war beinahe lässig auf die andere Seite des jungen Haradrim hinüber geschlendert und flankierte ihn. Wenn Moussah irgendwelche plötzlichen Bewegungen machte, würde sich Harad woanders nach seinem nächsten Shah umsehen müssen.„Mit meinen eigenen Händen,“ erwiderte Éowyn mit ebenso ruhiger Stimme. Es gab keine Worte der Entschuldigung oder des Bedauerns, sie sie ihm geben konnte und die keine Lügen waren.

Moussah schwieg für einen langen Augenblick. „Ich danke Euch, meine Herrin, dass Ihr meinen Verwandten vor den Dhak-Dhir bewahrt.. und dass ihr ihm den Tod eines Kriegers geschenkt habt.“

Für Haradouns Namen hätte es ewige Schande bedeutet, wenn er als Simiashas Gefangener oder Leibeigener gestorben wäre. Aber dadurch, dass ihm der Tod durch die Hände eines Feindes zuteil geworden war, war seine Ehre bei seinem Volk gerettet worden In Moussahs Augen hatte sie Haradoun eine Freundlichkeit erwiesen.

Éowyn nahm seinen Dank gleichmütig entgegen; bei sich dachte sie, dass Haradoun keine Ehre besaß, die er verlieren konnte. Das einzige, was sie bewahrt hatte, waren die Gefühle des jungen Mannes vor ihr, der seinen Vetter wie einen Bruder geliebt hatte. Sie betrachtete diesen jungen Shah von Harad ganz genau, während er sich tief vor ihr verneigte. Moussah war dazu erzogen worden, ein getreuer Diener von Mordor zu sein. Er glaubte vorbehaltlos daran, dass Sauron –und Morgoth vor ihm – Krieg geführt hatten gegen die Tyrannei der Valar und die Unmoral der Eldar, die sich den rechtmäßigen Platz im Herzen Erus angeeignet hatten, der eigentlich den Menschen zustand. Er würde für Aragorn einen gerissenen und tödlichen Widersacher abgeben, wenn er ihre augenblickliche Bedrohung überlebte. Aber er hatte nicht gefragt, warum sie seinen Verwandten umgebracht hatte. Er wusste es, und – noch viel wichtiger – er verstand, warum. Und das war – wenigstens in Éowyns Augen im Vergleich zu Haradoun ein unschätzbarer Schritt aufwärts.

„Meine Landsleute sind zwischen den Wachen von Rhunballa in Bereitschaft,“ sagte er zu ihr. Ein kleines Grinsen kräuselte seine Lippen „ich habe ihnen die Wahl gelassen, entweder Schulter an Schulter mit den Kriegern Elessars zu stehen – oder an der Seite von Frauen zu kämpfen.“

Éomer schnaubte wütend; er erkannte die Beleidigung als das, was sie war. Aragorn lächelte nur grimmig.

„Fürchtest du dich, unter den Unseren zu kämpfen?“ fragte Éomer drohend.

„Die Witwen dieses Landes sind von meinem Blut, wenn auch weit entfernt,“ sagte Moussah. „Sie haben die Sack und Asche der Trauer abgeworfen und zu den Waffen gegriffen, um ihre Kinder zu verteidigen. Wir kämpfen in weit edler Gesellschaft als Ihr.“ Er betrachtete Aragorn kühl. „Das Zwielicht liegt fast über uns. Was werdet Ihr tun, wenn unsere Verteidigungslinien überrannt werden?“

Aragorn schwieg.

„Ich bin ein Mensch,“ fuhr Moussah fort, „und ich werde ein Herrscher über Menschen sein, wenn wir den Tag überstehen und gewinnen. Aber Ihr seid auf irgend eine Weise von Euren arroganten Göttern berührt worden, Elessar. Denn obwohl Ihr nicht richtig im Kopf seid, und mit den Eldar wie ein Bruder verschworen, seid Ihr ein Großer unter den Königen. Wenn sie Euch zum Gehilfen nimmt, dann wird sie über Mittelerde hinweg rasen wie eine unaufhaltsame Seuche.“

„Sie wird mich nicht lebend fangen“, sagte Aragorn flach. „Wenn der Augenblick kommt, da ich zu schwer verwundet bin, um der Königin den Preis zu verweigern, nach dem sie sucht, dann haben diese drei, die neben mir stehen, meine mir vertrauten Waffenbrüder, geschworen, eher mein Leben zu beenden, als zuzulassen, dass sie mich bekommt.“

Moussah nickte langsam. „Das schwöre ich ebenfalls.“

„Und ich,“ sagte Éowyn. Aber der verhängnisvolle Eid schmeckte in ihrem Mund wie Begräbnis-Asche.

Sie stand in dumpfer Reglosigkeit da, während die anderen, einer nach dem anderen, sich voneinander und von ihr verabschiedeten. Später stellte sie fest, dass sie sich nicht an die genauen Worte erinnern konnte, die sie mit Aragorn, Gimli, Suni oder sogar Éomer gewechselt hatte. Sie stand wie auf der Stelle angewurzelt da, nachdem sie alle gegangen waren und starrte auf die Schlachtpläne hinunter, die quer über den Schreibtisch des alten König Udam verstreut lagen; sie waren nicht mehr als eine ordentliche Aufteilung der Stadt unter ihre einzelnen Verteidiger. Sie legte den schwarz eingeschlagenen Stein, den Moussah ihr übergeben hatte, auf das dunkle Holz des Tisches, den seine Berührung sorgte dafür, dass ihre Haut kribbelte. Sie sollte gehen und ihren Platz auf dem Hof an Sunis Seite einnehmen. Sie sollte schauen, wie Fallahs Verteilung des Waffenarsenals voranschritt. Aber als sie spürte, wie Legolas’ Hände sich sanft auf ihre verspannten Schultern hinab senkten, da erschauerte ihr das Herz einmal mehr in der Brust.

„Mit Aragorns Männern und Éomers Reitern zusätzlich,“ sagte sie zu ihm, „sind es mehr als siebzehntausend Leben, die auf dem Spiel stehen. Und das Einzige, was ich in diesem Moment im Kopf habe, ist das Entsetzen, dass ich dich heute Nacht tot sehen könnte.“

„Ja.“ sagte er zustimmend, und seine Stimme bebte. Er trat dichter hinter sie und legte seine Arme um ihre Mitte, seinen Atem in ihrem Haar. „Ich habe niemals wirklich den alten Brauch unter meinem Volk verstanden – bis jetzt - der Kriegern, die Liebende sind, verbietet, in der selben Truppe zu kämpfen. Ich bin hin- und her gerissen zwischen dem Wunsch, dir den Rücken zu decken, und---“

„Aragorn ist wichtiger als ich,“ sagte sie fest.

„In meinem Herzen sind er und du gleich,“ murmelte er. Er drehte sie in seinen Armen um, damit sie ihn ansah, und sie weinte beinahe darüber, wie ihr gesamtes Sein einen Freudensprung machte, selbst jetzt, da sie nur sein Gesicht anschaute. War sie verrückt? Noch immer beeinflusst von dem dunklen Blut, das nach wie vor in ihrem Adern kreiste? Oder war Liebe in ihrem Kern eine Form von Wahnsinn? Sie hatte keine Vergleichsmöglichkeit für diese Gefühle. Sie konnte, was sie jetzt empfand, nicht mit den verkrüppelten, bedürftigen Sehnsüchten vergleichen, die sie gegenüber Aragorn empfunden hatte. Aragorn war ihr erschienen wie ein Leuchtfeuer inmitten einer See aus hoffnungsloser Nacht, ein Rettungsboot für eine ertrinkenden Seele, die auf dunklen Wassern dahin trieb. Legolas war – er war ihr Fleisch und Blut, die andere Hälfte ihres Herzens.

„Ich habe solche Angst.“ sagte sie. Ihre Brust fühlte sich an, als hätte sich ein Schraubstock darum geschlossen und hemmte ihr natürliches Heben und Senken während sie atmete.

„Wovor fürchtest du dich?“ fragte er leise und küsste ihr Gesicht.

„Ich habe Angst, dass wir zerstört werden, und das Mittelerde überrannt wird von Simiasha und ihrer Brut!“ sagte Éowyn „Ich habe Angst, dass jeder in diesem Tal heute Nacht sterben wird. Ich habe Angst, meinen Bruder zu verlieren, nachdem ich ihn gerade erst wiedergefunden habe. Ich habe Angst, dich zu verlieren!“ Sie wischte sich das Gesicht zornig mit dem Handrücken; sie war sich nicht sicher, wann sie angefangen hatte zu weinen. „Du hast mich geheilt, oder mir doch wenigstens geholfen, mich selbst zu heilen. Aber Legolas, ich habe noch nie einer Schlacht entgegen gesehen, ohne dass ein Teil meines Herzens erstarrt war! Ich bin über alle Maßen dankbar, dass ich wieder heil und ganz bin, aber – aber ich habe Angst, dass diese uneingeschränkte Fähigkeit zu fühlen mich überwältigen wird, wenn ich handeln muss!“

Er trocknete ihr die Tränen von den feuchten Wangen. „In dieser langen Litanei all deiner Sorgen verschwendest du nicht ein einziges Wort der Angst an dich selbst. Die Tapfersten sparen sich ihre Furcht immer für die auf, die sie lieben. Du wirst nicht versagen. Die Angst um die, die dich umgeben, wird dich nur stärken, und deine Entschlossenheit aufrecht erhalten, unseren Feind zu besiegen.“ Er sprach mit solch absoluter Sicherheit, solch gelassener Stärke. Sie starrte ihm in die Augen und sah die geisterhaften Erinnerungen an Schlachten und Scharmützel ohne Zahl, an Jahrtausende, in denen er den üblen Dingen von Angesicht zu Angesicht gegenüber stand, die sich unter den dunklen Schwingen von Dol Guldur verbargen, und unter dem Schatten, der die großen Wälder seiner Heimat verpestet hatte. Als Prinz eines belagerten Reiches musste er gelernt haben, den Geist eines Kriegers bis auf Haaresbreite zu beurteilen. Und sie wusste ohne jede Frage, dass er sie niemals anlügen würde.

„Ich bete, dass es so ist,“ sagte sie.

Er küsste sie noch einmal, wie ein leises Flüstern der Hoffnung, in ihre Lungen geblasen. „Ich muss Aragorn beistehen, und du musst an der Seite der Königin kämpfen. Ich liebe dich, Éowyn von Rohan! Und wenn die Dämmerung kommt, werde ich dich wiedersehen!“

Er drehte sich um, und dann war er verschwunden. Für einen langen Augenblick rührte sie sich nicht und stand in stillem Gebet. Dann hob sie den Kopf und legte ihre rechte Hand auf den Griff ihres Schwertes. Fast beiläufig packte sie das schwarze Bündel auf dem Tisch zusammen und ging in die Nachmittagssonne hinaus, um ihre letzten Vorbereitungen auf den Weg zu bringen.

*****

Eine Stunde vor Einsetzen der Abenddämmerung präsentierte Ikako Suni ein halbes Dutzend kleiner Kästchen, wie Venusmuscheln geformt, die sie aus dem Daegond geschaffen hatte, und die Königin von Rhunballa verteilte sie unter der Wache. Jedes enthielt eine Scherbe und durfte nur dann geöffnet werden, wenn die Jäger sich in Massen sammelten.

Ikako runzelte die Stirn, während sie zusah, wie Suni eine der Bogenschützinnen ihres eigenen Wachhauses vom Gespannten Bogen mit dem letzten der schwarzen „Schmuckkästchen“ weg schickte. „Es ist kein gesundes oder natürliches Metall,“ sagte sie zu Éowyn, „Nichts woran ich jemals gearbeitet habe, hat sich in weniger als drei Stunden in so kleine, präzise Formen schmieden lassen. Es ist, als hätte sich das Erz aus eigenem Willen seine Gestalt gesucht.“

Éowyn schauderte. „Ich habe mit ihr gesprochen, aber sie lässt sich nicht davon abbringen.“ Sie hatte wenig Raum für Kritik, wenn sie sich an das kleine, herzförmige Stück des selben Metalls erinnerte, dass sie in ihren Beutel gestopft hatte, weil sie schlicht und einfach nicht wusste, was sie sonst damit tun sollte. Sir konnte nicht sagen, weshalb sie den Stein nicht beiseite gelegt hatte, aber trotz ihrer eigenen bösen Vorahnungen und dem schleichenden Gefühl der Finsternis, das aus dem Stein zu sickern schien, hatte sie nicht abtun wollen, was eine mögliche Waffe sein mochte.

„Ich habe eine Überraschung, Hauptmann,“ sagte Ikako unvermittelt. „Komm.“

Éowyn folgte ihr vom Hof durch eine Menschenmenge aus Männern und Frauen, die hastig in letzter Minuten anfallende Pflichten erledigten. Sie sah Gambold, der höflich eine weitere Familie in die Villa scheuchte. Die kleine Nihon-jin-Schmiedin sagte auf dem Weg kein Wort, und Éowyns Neugier wurde, noch bevor sie Ikakos Schmiede in der Straße der Handwerker erreicht hatten, beinahe unerträglich.

„Ich habe dein breites Westron-Schwert zerbrochen auf dem Boden der Weinpresse gefunden, nach dem die Jäger euch gefangen genommen hatten,“ sagte Ikako in ihrer kurz angebundenen Art, „Ich habe auch die langen Messer des Elben gefunden –- eine wunderschöne Handwerksarbeit ist das! Er war sehr froh, als ich sie ihm heute Nachmittag zurück gegeben habe. Als sie euch lebend nach Rhunballa zurück gebracht haben, fing ich an, dein Schwert neu zu schmieden. Ich habe für die Neuschöpfung dieser Waffe ein paar Materialien aus deinem Zimmer im Wachhaus der Königin gestohlen.“

Sie zog das schimmernde katana aus einer Seidenhülle auf ihrem Arbeitstisch „Es ist noch nicht fertig. Ich muss die Klinge jetzt noch härten, oder sie wird zu zerbrechlich sein, um mehr als eine Schlacht zu überstehen, aber es ist fast soweit.“

Das Metall leuchtete im Mondlicht wie Silber. Der Glanz war stärker als der von sterblichem Stahl, oder sogar von Mithril. Éowyn nahm das Schwert und prüfte seine Balance. Es war vollkommen und wunderschön, ein tödliches Meisterwerk.

„Was hast du gemacht, meine Freundin?“ fragte Éowyn leise und ehrfürchtig. „Wie---?“

Ikako lächelte, eine kaum sichtbare Aufwärtsbewegung ihrer Mundwinkel; sie erzählte Éowyn, was sie getan hatte, und wie sie dieses leuchtende Ding geschaffen hatte. „Es ist eine Waffe, um eine Königin unter Bestien zu erschlagen, nicht wahr?“

Éowyn fing langsam an zu lächeln und nickte. „Ja, das ist es. Du magst damit wohl unsere Rettung erschaffen haben, Ikako.“

„Ich hätte es Suni gegeben, wenn du die Heilmethode nicht überstanden hättest,“ murmelte Ikako. „Aber Bogenschützen sind nur mit kurzen Klingen gut. Du bist die bessere Frau mit dem Schwert.“

„Es gibt eine Sache, die noch zusätzlich gebraucht wird,“ flüsterte Éowyn. „Simiasha ist beängstigend stark, aber ich habe herausgefunden, dass die meisten üblen Wesen feige sind, wenn sie sich eine wahren Bedrohung gegenübersehen.“

„Du musst nur fragen, Hauptmann-sama,“ Ikakos exotische, schräge Augen strahlten vor Stolz, obwohl ihr Gesicht sich nicht im Geringsten veränderte, als Éowyn ihr sagte, was sie brauchte. „Es wird die ganze Nacht dauern,“ sagte die Schmiedin nach einem Moment des Nachdenkens. Sie grinste durchtrieben.

„Ich werde dir eine Scherbe zum Schutz schicken,“ sagte Éowyn, „damit du heute Nacht ungehindert arbeiten kannst.“

Ikako machte sich an's Werk. Éowyn überließ sie ihrer großen Aufgabe; als sie die Schmiede verließ und in die immer länger werdenden Schatten des Abends eintauchte, blieb sie plötzlich stehen. Die Welt um sie herum wurde heller, lebendiger. Der Schmerz in ihren Muskeln und Knochen, das Gefühl, dass ihr gesamter Körper nach der Qual der Blutreinigung eine einzige, große Schramme war, innerlich wie äußerlich, war verschwunden. Sie fühlte sich stark und voll grenzenloser Energie, wacher als sie sich den ganzen Tag gefühlt hatte. Während sie mit schwereloser Leichtigkeit die Straßen in Richtung Hof entlang ging, waren die Männer und Frauen, die an ihr vorbei eilten, feurig brennende Funken von Licht und Leben, jeder einzelne mit seiner eigenen, köstlichen Schattierung von Farbe und Gefühl. Bald würde die Sonne untergehen, in weniger als einer Stunde. Und der Teil von Éowyn, der noch immer eine Jägerin war, erwachte.

Die Sonne glitt ohne großes Aufsehen hinter die Westlichen Gipfel. Von dem Aussichtspunkt des Flachdachs vom Gästeflügel der Königlichen Villa sah Éowyn zu, wie die Stadt einen allgemeinen Seufzer von sich gab. Irgendwie hatte jedermann einen schrecklichen Anschlag in dem Moment erwartet, in dem die Sonne unterging. Er kam nicht. Éowyn runzelte die Stirn, von düsteren Vorahnungen erfüllt. In einer weiteren Stunde würden die Verteidiger der Stadt darüber zu spekulieren beginnen, ob Simiasha vorhatte, ihnen noch eine weitere Woche Zeit zu lassen, oder ob sie gleich angreifen würde. Nachdem Éowyn gefangen genommen worden war, waren die Leute aus dem Tal in wachsamer Furcht in ihren Häusern geblieben, von den Scherben beschützt. Rhunballa war bis zu diesem Abend verschont worden, erst durch Simiashas Verletzungen, dann durch die Notwendigkeit, ihre Armee heim zu rufen, und durch ihren Befehl, den Rat von Harads mächtigsten Häuptlingen zu dezimieren. Aber ohne ein Wort der Warnung, ohne den geringsten Beweis wusste Éowyn, dass es heute Nacht soweit war. Sie wusste es in ihrem Blut. Neben Éowyn stand Suni, hochgewachsen und unbewegt; sie befingerte ihren Köcher voller ölgetränkter Pfeile. Fallah saß dicht neben ihnen und entfachte Feuerchen aus Holzspänen in den kleinen Blumentöpfen aus Zinn, die sie benutzen würden, um ihre Feuerflaschen, Pfeile und Raketen in Brand zu setzen.

„Deine Landsleute haben Wetten abgeschlossen, ob irgend jemand die Nacht überlebt,“ sagte Suni gelassen. Ihr kühler, ruhiger Blick glitt über die Ziegeldächer der Stadt hinweg; auf vielen davon standen ganz ähnliche Gruppen von Bogenschützen und Mitglieder dessen, was Fallah die „Raketentruppe“ genannt hatte. Überall quer durch die Stadt, auf jedem großen Gebäude, das Rhunballas Bevölkerung beherbergte, und darum herum, standen die Krieger von Rhunballa, Rohan, Gondor und Harad bereit.

Éowyn grinste. Wie waren die Quoten?“

„Zwölf zu eins dagegen.“ erwiderte Suni.

„Die Reiter glauben, dass es Glück bringt, mit den Quoten zu wetten, selbst wenn sie gegen dich stehen,“ sagte Éowyn zu ihr. „Du gewinnst in jedem Fall.“

Suni gluckste leise. „Ich habe ihre Schnelligkeit und Stärke am Südpass gesehen, mein Hauptmann,“ sagte sie; ihr flüchtiges Lächeln verblasste. „Du hast mehr von ihnen gesehen, als jede lebende Seele sollte sehen müssen. Können wir siegen?“

„Wenn wir diese Nacht überstehen,“ sagte Éowyn ruhig, „dann können wir sie besiegen. Dessen bin ich sicher.“

Suni betrachtete sie prüfend. „Ich will deinem Wort in dieser Sache vertrauen, Éowyn, und meine Hoffnung aufrecht erhalten. Du hast mich noch nie angelogen.“

Éowyn zog eine Grimasse. „Ich habe oft gelogen, indem ich etwas weg gelassen habe.“

„Indem du darauf verzichtet hast, uns deine Lebensgeschichte zu erzählen?“

Shaeri humpelte auf ihrem geschienten Bein zu ihnen hinüber, den uralten Säbel ihres Vaters gezogen und locker in einer Hand.

„Dass du die Enkelin, die Nichte und die Schwester von Königen bist? Dass du eine liebe Freundin von Zwergenfürsten und Elbenprinzen bist, sogar von Elessar? Oder dass du den Meister der Neun im Zweikampf erschlagen hast?“ Shaeri schnaubte. „Wir wären vor Lachen zusammengebrochen und hätten dir gesagt, dass du deine Hirngespinste in ein anderes Land mitnehmen sollst.“

Bei den fragenden, zögerlichen Blicken der anderen drei Frauen lächelte die Tochter des Weinhändlers traurig.

„Meine Mutter ist dahin geschieden. Sie hat Insis und mir gesagt, dass wir schreckliche, respektlose und beschämende Töchter wären. Und dass sie uns mehr liebt als Himmel und Erde.“ Shaeri lachte, die Augen strahlend und ohne Tränen. „Sie ist sich immer treu geblieben, meine Mutter. Ich habe ihr gesagt, dass Moussah der Kaiser von Harad sein und mich zur Ersten Frau nehmen wird, wenn ich ihn haben will. Mama starb mit einem Lächeln.“

„Ich bedaure deinen Kummer,“ sagte Éowyn.

„Ich auch,“ sagten Suni und Fallah mit einer Stimme.

Shaeri hatte nie die Gelegenheit, darauf zu antworten. Ein Ruf kam von der Kerzenmacher-Werkstatt und wurde von Hausdach zu Hausdach weiter getragen. „Schaut nach Westen! Sie kommen von Westen!“

Éowyn starrte angestrengt hin – und schnappte nach Luft. Ihre Nachtsichtigkeit machte das Tiefblau des späten Zwielichtes für sie so klar wie den Tag. Eine schwarze Wolke hatte sich von den Westlichen Gipfeln gelöst und sich in den dunkelnden Himmel erhoben. Sie wuchs an Größe, während sie an Geschwindigkeit zunahm. Sie sah, dass es keine Wolke war; gleichzeitig verfluchte und segnete sie die Klarsichtigkeit, die Morsuls Blut ihr geschenkt hatte. Es war ein wimmelnder Schwarm schwarz geflügelter Jäger, Tausende stark. Das summende Geräusch ihrer Schwingen und das schrille Gackern ihres grausigen Gelächters drang in die Stadt, und von allen Seiten hörte Éowyn als Antwort das Klagen von Rhunballas Verteidigern, die vor Angst verzagten.

„Fackelträger!“ rief Éowyn. „Zündet die Fackeln nicht an – ich sage es noch einmal, zündet sie nicht an – bis der Feind direkt über Euren Köpfen und in Reichweite ist!“

Weit entfernt, vom Dach des Hauses der Zimmermannsgilde südlich des Hofes hörte sie Aragorns kraftvolle Stimme, die seinen Bogenschützen und der Raketentruppe befahl, sich zurück zu halten und ihre Zeit abzuwarten. Sie waren überein gekommen, dass die Stadt zu unzusammenhängend und auseinander gezogen war, um sich unter einem einzigen Befehlshaber verteidigen zu lassen. Und so hatten sie Rhunballa in Viertel aufgeteilt. Aragorn, der die größte Zahl an Soldaten unter seinem Banner versammelte, hatte die gesamte Südhälfte der Stadt übernommen und befehligte den Südosten selbst. Das südwestliche Viertel hatte er an Herrn Hurin übergeben. Éomer und seine Reiter verteidigten den Nordosten. Die Wache und Moussahs Krieger hatten den Nordwesten übernommen, in dem sich die Königliche Villa und der Hof befanden. Unter die Ränge jeder Verteidigungstruppe hatte Éowyn Mitglieder von Fallahs Raketentruppe mit Scherben geschickt, um sie zu beschützen.

Überall in der großen Stadt erwachten Fackeln flammend zum Leben, wie tausend Feuerfliegen, die sich zum Flug bereitmachten. Sie warteten in erstarrtem Schweigen, während das Geräusch der feindlichen Schreie zu betäubendem Lärm anschwoll. Näher und näher kamen sie und stiegen auf die Lebenden herab wie ein gefräßiger Ansturm von Aasvögeln.

„Eine Sache muss ich noch wissen, bevor wir sterben.“ sagte Shaeri.

„Was ist es?“ fragte Éowyn angespannt.

„Dein Elbenprinz – war er wundersam süß?“

„Über alle Worte hinaus,“ flüsterte Éowyn. Oh Götter, sie hatte ihn nicht gesagt, dass sie ihn liebte, bevor sie sich trennten. Und jetzt hatte sie vielleicht nie wieder eine Gelegenheit dazu.

Shaeri warf ihr einen Seitenblick zu und grinste; sie packte ihren Säbel fest mit beiden Händen. „Glückliches Weibsstück! Ich hab’s gewusst!“

„Mutter des Tages!“ sagte Fallah mit würgender Stimme neben ihnen. „Hier kommen sie!“

Die Jäger erreichten die Stadt und flogen darüber hin; sie schwebten über ihren Köpfen und verdunkelten mit ihrer schieren Anzahl die Sterne. Und dann kamen sie herunter. Éowyn hatte einen kurzen Moment, in dem sie dachte, dass dies falsch war, und zu einfach. Der Angriff war entweder wahnwitzige Arroganz oder selbstmörderische Dummheit.

„Feuer!“ schrie sie und zog das Ersatzschwert, das sie aus dem Wachhaus der Königinnengarde geholt hatte. Sein Gewicht war ungewohnt, aber es würde seinen Zweck erfüllen.

Die Raketen schossen in die Luft und machten die Nacht zum Tag, wo sie explodierten. Jetzt , da sie zu den zerrissenen Überresten der untersten Welle von Jägern hinauf blickte, sah sie, dass es kein Wahnsinn gewesen war. Simiasha hatte die Hälfte ihr Armee kalt und mit voller Absicht geopfert. Die andere Hälfte des untoten Heeres schwebte weiter oben, gerade eben außer Reichweite, und benutzte seine Gefährten als Kanonenfutter, damit Fallahs Raketen verbraucht würden.

„Pfeile anzünden!“ rief Suni ihrem Schwarm Bogenschützinnen zu und spannte ihren eigenen Bogen. Die Scherbe, die Damri vom Wachhaus des Gespannten Bogens umklammerte, erwachte zum Leben und badete das Dach in silbernem Licht.

Die Jäger stürzten sich auf sie hinunter.

Ein Nachtgeschöpf, dann das nächste schwang sich herab und ging in Flammen auf, als es in den Lichtkreis hineinraste. Éowyn hatte für eine halbe Sekunde das Bild von Shaeri vor Augen, die eine Feuerflasche in die Luft warf. Ein dritter Jäger kam von oben auf sie hernieder, traf die Flasche mit einem Fuß und trat sie zurück auf das Dach. Rings um sie her explodierte die Nacht. Éowyn wurde von der Wucht des Knalls zwanzig Fuß durch die Luft geschleudert. Sie rollte sich ab und kam hustend auf die Beine, das Schwert in der Hand. Ein gelbäugiges, feixendes Gesicht drehte sich vor ihr in den Rauchwolken, und sie schnitt es beinahe abwesend in zwei Hälften.

„Suni!“ rief sie.

„Wirf deine Feuerflasche nächstes Mal höher, du dummes Luder!“ sagte Sunis Stimme irgendwo links von ihr.

„Habe ich Euch das herrschaftliche Hinterteil versengt, oh Königin?“ kicherte Shaeri.

„Éowyn!“ rief Fallahs Stimme.

„Ich bin hier!“ sagte Éowyn.

Ein brennender Pfeil pfiff knapp neben ihrem Kopf vorbei, gefolgt von einem schmerzerfüllten, gutturalen Knurren. Éowyn drehte sich um und fing an, die Monster nieder zu hauen, die über ihren gefallenen Gefährten hinweg kletterten. Sie rannte quer durch die Feuerausbrüche und Schreie, hielt sich gerade eben außerhalb vom Licht der Scherbe und nahm sich den Geruch des Todes zum Ziel, der Simiashas Kinder umgab. Sie richtete ein Gemetzel unter dem Dutzend Jäger an, das närrisch genug gewesen war, auf das Dach der Villa ins Feuer zu geraten. Ihre Blitzesschnelle schien sich zu etwas verlangsamt zu haben, mit dem man besser zurecht kam, etwas, das weniger einschüchternd war. Aber als sie auf eine klauenbewehrte Bestie einhieb, die neben Shaeris Schulter aufragte, begriff Éowyn, dass sie sich irrte. Sie waren so rasch und tödlich wie immer. Es war Éowyn, die sich verändert hatte. Der brennende, giftige Trank von Morsuls Blut, durch den Einbruch der Nacht aus dem Schlaf erwacht, kreiste wieder in ihren Adern und verlieh jeder ihrer Bewegungen unmenschliche Stärke und Geschwindigkeit. Éowyn lächelte grimmig. Sie rollte sich unter einem anderen, unbeholfenen Schlag eines Jägers hindurch und schwang ihr Schwert. Der Kopf der Bestie flog davon und sein Körper zerfiel zu Asche.

„Suni!“ Sie hörte Shaeris Stimme, die voller Furcht aufschrie.

Éowyn sprintete vorwärts, aus der Rauchwolke hervor, die sie umgab; sie traf auf den gespannten Bogen von Rhunballas Königin und krachte in ihrer Hast fast in die Pfeilspitze hinein. Suni begegnete ihrem Blick und Éowyn sah die Furcht in ihren Augen, als ihre Freundin langsam den Bogen senkte... Furcht vor den Monstren rings um sie herum, sicherlich. Aber auch Furcht vor Éowyn.

„Deine Augen...“ sagte Suni zögernd, die Hände noch immer um den gespannten Bogen gekrampft.

„Ich bin noch immer dein Hauptmann, Suni,“ sagte Éowyn grimmig. „ich bin keine von ihnen... noch nicht.“

„Éowyn! Suni!“ rief Fallahs Stimme. „Kommt und schaut!“

„Wenn ihr überleben wollt, bleibt im Licht!“ befahl Suni der Gruppe Frauen, die sich noch immer im schimmernden Schein der Scherbe zusammen drängelten.

Éowyn duckte sich nach hinten weg und sah zwei Nachzüglerinnen, junge Mädchen aus dem Wachhaus des Tiefen Brunnens. Sie zog sie vorwärts, dichter an das Licht, einen Augenblick bevor das stille Wesen hinter ihnen sie in den Tod gerissen hätte.

„... noch nicht eine einzige Frau verloren,“ sagte Shaeri gerade neben Suni. Éowyn erreichte den Dachrand, wo die anderen in schweigendem Schrecken standen und auf Rhunballa hinunter starrten. Auf den ersten Blick sah es so aus, als stünde die ganze Stadt in Flammen. Jedes Gebäude strahlte silbernes Licht aus, als wäre es bis unters Dach mit leuchtendem Moos gefüllt. Die Scherben in den Häusern flammten und schreckten alle Jäger ab, die geneigt sein mochten, sich auf der Suche nach wehrloser Beute nach drinnen zu wagen. Überall waren Feuer, aber es war unmöglich zu sagen, ob es die Stadt war, die brannte, soweit man sehen konnte, oder die Jäger, Überall war der Klang von Stimmen zu hören, die in Schmerz, Angst, Wut und Triumph schrieen. Überall glühten die strahlenden Zündungen der Feuerflaschen auf. Vom Nachthimmel regneten noch immer sich windende Feuerbälle herab, als Bogenschützen aus der Zuflucht der Scherben ihrer Kompanie ins Ziel trafen.

Genau auf der anderen Seite des Hofes befanden sich Moussah und seine Männer auf dem Dach des Hauses der Königlichen Wache. Sie kämpften in einem Kreis von Kriegern, die Gesichter nach außen gewandt, eine leuchtende Scherbe in ihrer Mitte. Und sie sangen in ihrer eigenen Sprache. Éowyn kannte das Lied. Die Wache hatte es während des Scharmützels an der Östlichen Teilung vor sechs Monaten in einer leicht veränderten Version angestimmt. Während sie lauschte, hörte sie, wie der Rest der Wache es wieder aufnahm und der Führung von Moussahs klarer Stimme folgte.

Brüder, wir kämpfen und sterben heut Nacht,
unter schwarzem Himmel, der Sterne Wacht
Tapfer und stark schlagen wir den Feind
In ruhmreichem Ende herrlich vereint!

Weiter entfernt, südlich auf die Straße der Handwerker zu, konnte sie Bruchstücke einer alten Weise aus Númenor hören. Und östlich des Hofes erhaschte sie ein, zwei Zeilen eines Rohirric-Schlachtliedes. Sie konnte sich ihren Bruder ausmalen, der sein Schwert schwang, Gambold zur Seite, wie er den geflügelten Scheusalen rings um sich ins Gesicht lachte und seine Reiter anspornte, lauter zu singen, damit sie nicht von den Haradrim oder sogar den Söhnen von Gondor übertroffen würden.

„Wir gewinnen!“ rief eines der jüngeren Mädchen aus. „Wir bringen sie alle um!“

„Für den Augenblick.“ sagte Éowyn finster. Sie blickte angestrengt nach oben und spähte mit ihrer unnatürlichen Weitsicht, um zu sehen, was die Ansammlung dunkler Gestalten, die noch immer direkt über dem Hof schwebte, im Sinn hatte. „Sie sind zu klug für das hier, glaubt mir das!“

„Dann lasst uns so viele von ihnen töten, wie wir können, während sie ihr Leben noch immer wie Narren wegwerfen!“ murmelte Suni.

Éowyn nickte, den Blick immer noch in den Himmel über ihnen gerichtet; ein furchtbares Gefühl der Vorahnung schwoll ihr in der Brust.

Sie mussten nicht lange auf den nächsten Stiefeltritt warten (wie Éomer gesagt haben würde). Während Éowyn schwungvoll durch den Körper eines um sich schlagenden, geblendeten Jägers hieb, der ihr zu nahe gekommen war, ergoss sich ein schwarzer Schauer aus dickem Schleim aus der Luft über ihnen. Sie bürstete sich die Klumpen von der Schulter und spähte in aufdämmerndem Entsetzen auf das hinunter, was ihre Hand bedeckte. Es war ein dickes Gelee aus schwarzem Öl und Holzspänen.

Oh süße Herrin!

Ein Chor des Schreckens erklang rings um sie her; jede Frau, die eine Fackel oder einen brennenden Pfeil festhielt, schrie auf, als das Feuer auf ihre ölbespritzte Kleidung und ihre Haare übersprang. Ein weiterer Jäger, der gerade außerhalb der Reichweite der Scherbe herunter kam, ließ seine Last direkt über Damri fallen, die die Scherbe trug. Die schwarze Mixtur bedeckte sie von Kopf bis Fuß und das Mädchen ging in Flammen auf wie ein ölgetränkter Stofffetzen. Kreischend, die Haut brennend wie Kerzenwachs, stolperte Damri über den Rand des Daches der Königlichen Villa und war verschwunden.

„Taora!“ schrie Suni, ohne einen Schlag auszulassen. „Mach das schwarze Kästchen auf, das Ikako geschmiedet hat!“

Das Mädchen rang bereits darum, das ,Schatzkästchen’ zu öffnen, das Ikako für die zusätzlichen Scherben geschaffen hatte. Es war als überraschende Falle gedacht gewesen, die geöffnet werden sollte, wenn eine große Anzahl von Jägern gleichzeitig auf sie eindrang. Aber jetzt brauchten sie es einfach, um zu überleben. Taora versuchte mit aller Kraft, das wie eine Venusmuschel geformte Kästchen aufzustemmen. Und es wollte sich nicht öffnen. Genau wie Aragorn sie gewarnt hatte, dachte Éowyn, hatte sich der Daegond gegen sie gewandt. Als Fallah mit einem gefährlich aussehenden Hammer in einer Hand herbei rannte, um ihr zu helfen, schoss einer der Jäger herab und trug die schreiende Taora aufwärts mit sich davon.

Es blieb keine Zeit für Entsetzen, denn die Jäger waren über ihnen. In Kreisformation kämpften sie nun Rücken an Rücken nur noch darum, am Leben zu bleiben. Éowyn beschrieb enge Bögen und stach in einem tödlichen Wirbel der Bewegungen hier- und dorthin; sie war entschlossen, keine andere Frau aus dieser Kompanie mehr sterben zu sehen. Sie riss die Bestien von ihren Gefährtinnen herunter und schlug ihnen die Glieder ab. Sie würde sie nicht die Villa oder den Hof einnehmen lassen, denn sie waren das Herz der Stadt. Es gab nun keine Möglichkeit mehr zu sehen, was anderswo geschah. Die Nacht und der Himmel waren eine Welt aus Flammen, Rauch und Geschrei. Das Einzige, was sie zu diesem Zeitpunkt direkt beschützen konnte, war das Leben der Frauen in ihrer Kompanie und die Leute, die sich in den Gästeflügeln der Villa unter ihnen drängten.

Sie konnte gedämpft Aragorns Stimme hören. „Wenn Amrod fällt, nimmt jemand anderes die Scherbe!“ Ein guter Rat. Aber Damri oder Taora hatte er nicht gerettet.

„Das Dach!“ kreischte Fallahs Stimme rechts von Éowyn. „Éowyn, sie brechen durch das Dach!“

Sie flog auf den Klang von Fallahs Stimme zu und kam schlitternd neben ihrer Freundin zu Stehen. Die Tochter des Apothekers lag atemlos auf den Knien, mitten in einem sich ausbreitenden Teich aus Licht. In einer kleinen Hand hielt sie eine Scherbe. Erst mehrere Stunden später wurde Éowyn klar, dass Fallah – die tapfere, närrische, geliebte Fallah – das Abflussrohr hinunter geklettert war und ihre Scherbe von Damris verbrannter Leiche auf dem Boden entfernt hatte. Éowyn erreichte ihre Freundin gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie zwei Jäger, hochgewachsene, knochenbleiche Männer, ein Fass mit ihrem öligen Schleim durch das klaffende Loch hinunter schütteten, dass sie in das Dach der Villa gerissen hatten – genau über der Gästehalle. Genau über den kreischenden Kindern und alten Frauen, die sich drinnen zusammen drängten. Mit einem langzähnigen Lächeln ließ der Größere der beiden die Fackel, die er über das Loch hielt, fallen.

„Geh!“ schrie Fallah. „Wir haben die Scherbe wieder, um uns hier oben zu schützen! Halt sie auf! Halt das Feuer auf!“

Es würde ausreichen müssen, dachte Éowyn, als sie einen Satz machte und durch das Loch abtauchte. Die zwei Jäger hatten Feuer gelegt. Sie mussten nur darauf warten, dass es sich ausbreitete und die Hilflosen in Inneren dazu zwang, aus der Villa zu fliehen.

Und dann würden sie über sie herfallen.

*****

Éowyn stürzte mit dem Kopf voran. Sie hatte nicht Acht gegeben, als sie sprang. Sie drehte sich in der Luft wie eine Katze und krachte in einer brennenden Hölle aus Klageschreien auf den Boden. Wenn sie gedacht hatte, sie hätte vor diesem Augenblick schon Entsetzen gekannt, dann war sie eine Närrin gewesen. Der schwarze Schauer war über Jung und Alt gespritzt, und das nachfolgende Feuer hatte keine Gnade gezeigt. Die, die in Brand geraten waren, wurden aus ihren Kleidern geschält und man schlug die Flammen aus, wenn sie nicht ganz darin eingehüllt waren. Aber die Farben an der Wand und der Decke brannte ebenfalls. Die Villa war jetzt nicht mehr zu retten. Éowyn blickte nach oben und sah die Gesichter von Suni und Fallah, die durch den Riss im Dach hinunterspähten.

„Das Feuer frisst sich durch die Decke!“ rief sie. „Folgt mir von draußen! Ich werde die Tore von hier aus aufbrechen, aber wir müssen dort sein, um sie zu schützen, während sie fliehen!“

„Wir kommen, so schnell wir können!“ schrie Suni durch die Rauchwolke zwischen ihnen und war verschwunden.

Éowyn überblickte die schreiende Menge. Sie drängte sich bereits in Massen gegen die verbarrikadierten Tore, die hinaus auf den Brunnenvorhof führten. Die Menschen ganz vorne wurden von denen hinter sich erdrückt, während alle in blinder, sinnloser Panik vorwärts drängten. Éowyn suchte und fand Madgar, die Frau des Scharfrichters, der sie die Scherbe gegeben hatte, die das Innere der Villa vor den Jägern schützte. Die dünne, vogeläugige, alte Frau stand ungerührt von dem Entsetzen zu beiden Seiten und hielt die Scherbe hoch, als würde der Raum rings um sie her nicht rasch nieder brennen.

„Frau Madgar!“ rief sie. „Ich werde die Tore öffnen! Ruft so viele zu Euch wie ihr könnt, sobald wir draußen sind, und gebt ihnen den Befehl, nicht vom Licht der Scherbe zu flüchten!“

Die alte Frau nickte grimmig. Éowyn bahnte sich ihren Weg vorwärts, bis sie nicht weiter voran kam. Die Tore – oh Elbereth, die Tore öffneten sich nach innen, und das erdrückende Gewicht von all denen, die versuchten, den Ausgang zu erreichen, machte es nur noch schlimmer. Sie blieb stehen und schloss für eine knappe Sekunde die Augen; sie schauderte vor Entsetzen über das, was sie vorhatte. Sie reichte tief in sich hinein und fand dort die gesamte, schreckliche Stärke, die Morsul, ihr Vater in Finsternis, ihr verliehen hatte.

Éowyn machte einen Satz und sprang über den Köpfen derer, die sich klagend gegen die unnachgiebigen Türen pressten, durch die Luft. Sie traf mit den Füßen zuerst auf die massiven, schwarzen Eichentore und durchbrach sie. Das Holz zerschmetterte unter der Wucht ihres Aufpralles zu dünnen Spänen. Éowyn rollte sich herum und kam gerade noch rechtzeitig auf die Beine, um der heranstürmenden Masse von Frauen und Kindern in Panik auszuweichen.

„Bleibt auf dem Platz!“ schrie sie aus vollem Hals denjenigen zu, die jetzt an ihr vorbei in die frische Luft hinaus stolperten. Sie wusste nicht zu sagen, ob irgend jemand ihre Worte hörte, aber es war offensichtlich, dass sie das Licht der Scherbe sahen, die Madgar in der erhobenen Hand hielt. Sie strömten aus der raucherfüllten Villa und sammelten sich in einem wachsenden Pulk um die alte Frau. Éowyn hielt sich am äußeren Rand der Menge, die Augen wild; sie machte Ausfälle zu der einen oder der anderen Seite, wo immer das Geräusch von Flügeln ihr die Gegenwart von Jägern anzeigte. Ein Schrei ertönte von anderen Ende der Menge, als einer der Untoten, schlauer aus seine Kumpane, seine Flügel zusammen faltete, schlichtweg zu einem kleinen Mädchen hinüber lief, das am Außenrand kauerte, und es auf seine Arme hob. Er stürzte mit einem Knurren ab, bevor er auch nur drei Meter hoch in der Luft war; ein brennender Pfeil ragte zwischen seinen Schulterblättern hervor. Die schreiende Mutter des Mädchens riss es von den verkohlenden Körper weg. Éowyn sah nach oben und sah das weiße Aufblitzen von Moussahs Zähnen auf dem Dach des Wachhauses der Königin auf der anderen Seite des Hofes.

Ein weiterer Pfeilregen schwirrte über ihren Kopf und fand mit bösartiger Genauigkeit sein Ziel. Éowyn spähte in die Richtung dieser besonderen Salve. Zuerst sah sie niemanden. Sie runzelte die Stirn und versuchte, sich daran zu erinnern, wer oben auf der Neuen Bäckerei kämpfte, wenn überhaupt. Das Wachhaus der Königin stand zwischen dem Platz und der großen, kastenförmigen Bäckerei und verdeckte den größten Teil ihrer Sicht. Einen Moment später konnte sie gerade so eben die schattenhaften Gestalten erkennen, die sich hier und dort erhoben. Erst sprang einer, dann ein weiterer vom Dach der Neuen Bäckerei und landete leichtfüßig auf dem Boden. Aber es war eine Höhe von mehr als zwanzig Fuß----

„Wir sind hier!“ rief Fallah und hastete auf sie zu. Suni und ihre Bogenschützen eilten hinter ihr her und schossen im Laufen. Fallah rannte um die andere Seite der Menge herum und fand den Platz, der am weitesten von Madgar und ihrer Scherbe entfernt war, so dass ihre eigene Scherbe den Menschen an den Außenseiten mehr Schutz geben konnte.

Ein weiterer Pfeilsturm, brennend wie ein Heer winziger Drachen, flogen aus der Richtung des Wachhauses der Königin. Ein Schrei und ein wütender Haradrim-Fluch erklang, als ein Mann mit dem Kopf voran vom Dach des Hauses stürzte. Plötzlich sah Éowyn auch, warum. Der Jäger schwebten noch immer über ihnen, gerade außerhalb der Reichweite der Scherben und Pfeilschüsse. Und jetzt bewarfen sie Moussahs Männer mit Steinen von der Größe menschlicher Köpfe.

„An den Seilen hinunter!“ brüllte der junge Kaiser. „Bleibt dicht bei Udin und der Scherbe – hier können wir uns nicht verteidigen!“

Über dem Platz sammelten sich die Jäger in Massen. Die Verlockung so vieler schreiender Menschen und das sichere Wissen, dass es zu viele Leute auf dem Platz gab, um sie alle zu schützen, zog sie an wie der Honig die Fliegen.

Éowyn warf sich auf Fallah und stieß ihre Freundin beiseite, bevor ein Balken von der Größe eines Zugpferdes auf sie herunter donnerte. Die Scherbe, die sie trug, flog in die Luft, als Éowyn sie in Sicherheit schubste, und ihr Licht ging ganz plötzlich aus. Éowyn stand auf und hastete auf den riesigen Stein zu, der jetzt auf Fallahs Scherbe lag und ihr Strahlen verdeckte.

Eine gestiefelte Ferse krachte von oben gegen ihren Kopf und warf sie auf den Rücken. Schwindelig kam sie wieder auf die Beine; sie spuckte Blut und sah den Jäger, der sie getreten hatte, vor sich stehen. Er ließ Taoras Daegond-Schatzkästchen von einer Hand baumeln. Sie warf sich nach vorne und aufwärts, als er wieder in die Luft aufsteigen wollte und bekam ihn an der Ferse zu fassen. Sie schmetterte ihn mit aller Kraft in das Geröll, und er stürzte in einem Durcheinander aus gebrochenen Schwingen zu Boden; er fluchte fließend in der Allgemeinen Sprache. Er richtete sich auf und wich knapp ihrem Schwerthieb aus. Überall waren Schreie, überall um sie herum, und das Gebrüll von den Stimmen der Jäger und Menschen sagte ihr, dass keine Flammenpfeile übrig waren, um ihr zu helfen. Die Wache und Moussahs Männer waren zu sehr in Bedrängnis, um mehr zu tun, als den Feind davon abzuhalten, sie selbst und alle anderen vom Platz zu verschleppen.

Der Jäger, ein hochgewachsener Mann aus Gondor, grinste und ließ das Schatzkästchen in einer Hand auf- und abhüpfen. „Ist dies etwas Wichtiges, kleine Schwester?“

Sie spie ihm einen hässlichen Fluch entgegen und schoss vorwärts. Der Jäger wich zur Seite aus, aber nur knapp. Und während er das tat, schwebte eine zweite, dunkle Gestalt von oben herunter, und wieder wurde sie von einem Schlag gegen den Kopf getroffen. Eine weitere schwarzflügelige Gestalt berührte den Boden neben ihnen, dann noch eine, dann ein Dutzend weiterer. Sie schlossen einen Kreis um sie und grinsten in grausamem Spott; sie blieben immer gerade außer Reichweite ihres Schwertarmes. Sie drehte sich langsam um sich selbst und hielt das Schwert mit zitternden Händen vor sich. Die Welt wirbelte jetzt trunken um sie herum. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie tief in der Kehle fauchte wie eine in die Ecke getriebene Katze.

„Die Herrin hat befohlen, dass wir dich lebend gefangen nehmen.“ sagte der Mann aus Gondor.

Einer seiner Kumpane, ein stumpfgesichtiger Soldat in zerlumpter Haradrim-Uniform, gluckste böse. „Wenn all die anderen tot sind, wirst du die Sklavin der Lieblingssöhne der Königin sein. Aber zuerst werden wir dich kosten---“ Seine Worte endeten in einem Gurgeln, als Éowyns Schwert seinen Kopf in zwei saubere Hälften hieb.

„Dann her zu mir, ihr feiges Pack Schakale!“ schrie sie. Ihre Worte kamen in einem scharfen, unmenschlichen Knurren heraus. „Her zu mir, jeder Mann von euch, der denkt, er kann mich übertreffen! Ich bin die Tochter von Morsul, dem Gefährten der Königin, und ich werde jede Unze Kraft einsetzen, die er mir verliehen hat, nun, da die Nacht über uns liegt. Kommt!!!“

Ihr Gesichtsausdruck musste wahrhaft fürchterlich sein, denn sie fuhren wie ein Mann zurück. Sie wartete nicht darauf, dass sie sich erholten. Sie warf sich nach einer Seite und zog ihre Klinge durch den Hals dessen, der ihr am nächsten stand. Aber einen Augenblick später stürzten sie sich alle gleichzeitig auf sie; sie klammerten sich an ihren Schwertarm, erdrückten sie mit ihrer schieren Zahl und nutzten ihre vereinigte Macht in dem tapferen Versuch, sie unbeweglich zu machen. Sie spürte, wie sie vom Boden hochgehoben wurde, und das Geräusch ihrer ledrigen Schwingen füllte ihr die Ohren. Kalte Hände krochen gierig über ihre Brüste und Lenden und zerrten an ihrer Kleidung.

Sehr viel später würde Éowyn versuchen, sich genau ins Gedächtnis zu rufen, was als nächstes geschah, aber die Erinnerungen waren verschwommene, rotgeränderte Bilder. Irgend etwas in ihr – sie war sich nicht sicher, ob es die Frau oder die Bestie war – gab ein Wutgeheul von sich, das ihr die Knochen gefrieren ließ.

Sie erwischte eine der Hände, die nach ihr grabschten und riss dem Jäger ganz einfach den Arm aus der Schulterpfanne. Sie drehte sich und wirbelte im Kreis, während ihre entsetzten Bedränger schwer zu Boden stürzten. Überall hörte sie das Geräusch menschlicher Stimmen, die aufschrieen, als sie gerade noch rechtzeitig aus dem Weg stolperten, bevor Éowyn und die Monsterarmee rings um sie herum auf das Geröll mitten in dem Pulk hinunter krachten.

Wo war die blutige Scherbe, die sie Moussah gegeben hatte? Oder die, die die alte Madgar festhielt? Waren sie alle zu bedrängt und versprengt, um die ganze Volksmenge auf dem Platz mit dem Licht ihrer Scherben zu decken? Oder waren der junge Udin und Madgar mitsamt Scherben und allem anderen unter Steinen begraben, wie es Fallah beinahe geschehen wäre?

Diese kurzen Fragen schossen ihr in einem Sekundenbruchteil durch den Kopf. Dann bäumte sich die Bestie in ihr auf und brüllte einmal mehr ihre Wut heraus. Sie zerrte und schnitt, sie riss ihre Gegner mit ihren rasiermesserscharfen Fingernägeln in Stücke und lachte, während sie sie umbrachte. Der letzte, der Westron-Mann mit den gebrochenen Schwingen, hinkte davon und versuchte, sich in die Luft zu erheben Éowyn machte einen Satz nach oben und schor ihm den einen heilen Flügel vom Rücken. Als er wieder zurück auf die Erde fiel, nahm sie seinen Kopf in beide Hände und riss ihn von seinen Schultern. Er löste sich in ein Häufchen schwarzer Asche auf; sie durchsuchte verzweifelt seine staubigen Überreste nach dem Daegond-Kästchen. Mit einem Grollen des Triumphes entdeckte sie es.

„Auf mit dir, du verräterisches Miststück!“ zischte sie. Sie schmetterte das Schatzkästchen auf das Steinpflaster, und es zerbrach in zwei Hälften.

Errettung, blasssilbern und wunderschön, überflutete den gesamten Platz, spülte in jeden Winkel und fand die Untoten, wo immer sie auch waren. Es war, als hätte das Licht der Scherbe, das im Daegond-Kästchen aufbewahrt worden war, während der Zeit, in der es auf seine Dunkelheit beschränkt war, an Macht gewonnen und rauschte jetzt, als es endlich freigelassen wurde, nach draußen wie ein eingedämmter Fluss. Die hohen, qualvollen Schreie der Jäger ertönten überall auf dem Platz, auf dem Boden und über ihnen, als das heilige Licht sie zu Staub verbrannte.

*****

Sehr langsam, nach einer unbekannten Zeitspanne, wurde Éowyn wieder der Klang von Stimmen bewusst, von Schreien, dem Flackern von Fackelschein. Sie begann allmählich, aus dem blutroten Nebel aufzutauchen, der vor ihren Augen schwamm. Sie brachte es fertig, ihre Augen auf ein seltsames Objekt zu richten, das sich weniger als fünfzehn Zentimeter vor ihrer Nase befand. Sie betrachtete es stirnrunzelnd und mit erschöpfter Verwirrung. Ihr Kopf schmerzte fürchterlich.

Es war eine nadelscharfe Pfeilspitze. Sie war, wie sie endlich sah, an einem Pfeil befestigt, der auf der Sehne eines gespannten Eschenbogens lag. Sie saß in einem Kreis gespannter Bögen, und alle zielten auf sie.

„Zur Seite, Elandor!“ sagte eine tiefe, musikalische Stimme ungeduldig.

„Mein Herr, sie ist eine---“

„Jetzt!“ Das Gesicht eines Elben trat plötzlich an die Stelle der Pfeilspitze, die direkt zwischen ihre Augen gezielt hatte. „Kannst du mich verstehen, Kind?“ fragte er sanft.

Seine Stimme war so wunderschön, dass sie sich selbst schwach lächeln fühlte. Sie nickte stumm und versuchte, ihre Worte wiederzufinden. Es war, als würde sie sich einmal mehr den Weg aus dem sprachlosen Nebel suchen, den die Verwandlung ausgelöst hatte.

„Leben... ich... am Leben...“ brachte sie heraus. „Nicht... nicht wie sie.“

Der Elb warf einen Blick auf das Massaker, das sie unter ihren Feinden angerichtet hatte und grinste ironisch. „Dessen bin ich sicher.“ Sein Lächeln glitt davon. „Wie viele andere – außer dir – sind erkrankt?“

„Ich selbst,“ sagte sie mit Anstrengung, „Gimli, Glóins Sohn. Und Legolas von Düsterwald.“

Sie beobachtete, wie das Blut langsam aus dem vollkommenen Zügen des Elben wich... obwohl er nicht überrascht zu sein schien. „Wo ist er?“

Éowyn musste nicht fragen, ob er Legolas oder Gimli meinte. „Südöstliches Viertel. Er kämpft... Aragorns Seite.“

Das Gesicht des Elbenkriegers verfinsterte sich und sein Mund wurde zu einer dünnen, harten Linie.

„Natürlich. Natürlich tut er das.“

Sie studierte sein Gesicht und dachte, dass er Legolas kaum ähnelte, abgesehen von seinem goldenen Haar. Er war größer, mit kraftvollen Muskeln, ein Schwertkämpfer eher als ein Bogenschütze. Für sterbliche Augen schien er fünf bis zehn Jahre älter als Legolas zu sein. Sein Gesicht war härter, seine Augen weniger strahlend und offen, verschattet von altem Kummer und nicht wenig Bitterkeit.

„Ihr seid Thranduil,“ sagte sie mit einem weiteren schwachen Lächeln Sie fühlte sich schwindelig und leicht im Kopf, und so schwach, dass sie nach vorne gesunken wäre, hätte er sie nicht mit einer starken Hand an der Schulter gehalten. „Ihr seid gekommen, um Euren Sohn zu retten. Er wird glücklich sein, Euch zu sehen!“ Sie sprach mit einer zittrigen Stimme, die der ihren ganz und gar nicht ähnelte. Aber während sie sprach, wurde sein Gesicht weicher. Er legte einen Arm mit dem Geschick eines altgedienten Feldschers** um ihre Mitte, half ihr auf die Füße und hielt sie dabei noch immer aufrecht.

„Wollen wir’s hoffen.“ sagte er trocken. „Komm, Glorfinniel***. Der Kampf ist erst einmal vorüber. Der Himmel wird hell. Führ mich von diesem Haufen undankbarer Weiber weg zu meinem Sohn.“

„Meine Freundinnen---“Éowyn drehte sich um und suchte in der Menge vertrauter Gesichter nach Fallah, Suni und Shaeri. Endlich entdeckte sie Fallah und sah, weshalb Thranduil versucht hatte, sie sanft vom Platz weg zu führen.

Fallah war unverletzt. Hinter ihr, ein wenig weiter nach rechts, standen Suni und Shaeri. Moussahs hoch gewachsene, schwarz gekleidete Gestalt schwebte schützend direkt hinter Shaeri. Ihre Gesichter waren rußverschmiert und müde, aber es war die Furcht und das Mitleid in diesen Gesichtern, das Éowyn das Herz brach. Sie hatten sie am Ende gegen die Jäger kämpfen sehen, sie dabei beobachtet, wie sie sich im finsteren Wahnsinn der Verwandlung verlor. Es war eine Sache zu wissen, dass Éowyn mit dem Blut der Jäger infiziert war. Es war eine gänzlich andere Sache zu sehen, wie ihre Hände zu Klauen wurden, ihre Zähne zu Fängen. Sie fragte sich ob ihre Augen auch jetzt noch blau waren – oder die goldenen Schlitzaugen einer Jägerin. Die starrenden Blicke ihrer Freunde hätten nicht entsetzter und betrübter sein können, wenn sie vollständig verwandelt zu ihnen gekommen wäre und nach einer Kostprobe ihres Blutes verlangt hätte.

„Fallah?“ sagte Éowyn leise. „Sie versuchte, einen Schritt in Richtung ihrer Freundin zu machen. Während sie das tat, zuckte die Tochter des Apothekers unbewusst zurück. Éowyn gab einen kleinen, schwachen Laut wortloser Verletztheit von sich und wäre gefallen, hätte Legolas’ Vater sie nicht aufgefangen.

Er streifte die Leute mit einem ätzenden Blick eisiger Verachtung. „Wie kurzlebig ist die Treue der Menschen zu denen, die ihr Leben verteidigen!“ erklärte er ihnen. „Wie immer!“

Thranduil hob Éowyn ohne ein weiteres Wort auf die Arme und trug sie fort; er bahnte sich rüde einen Weg durch die Menge, seine Krieger auf den Fersen.

Die plötzliche Bewegung zerstörte Éowyns zerbrechliches Gleichgewicht ganz und gar, und sie schloss die Augen; ihr Kopf drehte sich und ihr Magen verkrampfte sich bedenklich Sie fragte sich, ob der König von Düsterwald wohl furchtbar wütend sein würde, wenn sie sich über sein schönes Kettenhemd aus Mithril erbrach. Nach einem Augenblick oder zwei hatte sie sich an seine gleitende Gangart mit den langen Schritten gewöhnt. Sie rieb sich gereizt das Gesicht und wischte Tränen weg, die vergossen zu haben sie sich nicht erinnern konnte. Sie fühlte sich im Moment stärker und bewusster. Über ihren Köpfen wurde der Himmel stetig heller; Indigo verwandelte sich in das rötliche Grau der nahenden Dämmerung.

„Du sagst, es sei das südöstliche Viertel dieser Stadt?“ fragte er ruhig.

„Ja,“ sagte sie. „Ich kann stehen, mein Herr.“

„Das kannst du,“ pflichtete er ihr finster bei. „Aber du kannst nicht fort rennen oder dich gegen die wehren, die es sich vielleicht in den Kopf setzen mögen, dich nieder zu strecken wie ein lahmendes Fohlen. Ich würde keiner Seele in dieser Menge dein Leben anvertrauen, bevor sie nicht Zeit hatten, ihre Furcht, vor dem, was sie gesehen haben, zu bemeistern.“ Er schaute auf sie herunter, als sie ein schwächliches, kleines Schluchzen herunter schluckte, und wieder wurde sein kaltes, schönes Gesicht weicher. „Wein ruhig, wenn du es nötig hast, Glorfinniel. Elben verwechseln Tränen nicht mit Schwäche - selbst bei Schildmaiden der Rohirrim.“ Er schenkte ihr ein schräges Halblächeln, das ihr sehr un-elbisch vorkam. „Ich habe gehört, wie die anderen auf dem Hof deinen Namen gerufen haben.“

„Wer da?!“ rief die Stimme eines jungen Mannes; sie klang wie die von Marsil. Thranduil blieb stehen und beäugte an seiner Nase entlang den blutbeschmierten, kriegsmüden Jüngling vor sich. „Ich bin Thranduil von Eryn Lasgalen,“ sagte er, und seine Stimme triefte von arroganter Ungeduld. „Lasst mich durch!“

Jemand warf eine Fackel, die fünf Fuß vor den Hirschlederstiefeln des Elbenkönigs auf dem Boden landete. Sie beleuchtete das grollende Gesicht von Legolas’ Vater. Marsil trat ins Licht und senkte seinen Bogen.

„Vergebt, mein Herr,“ sagte der junge Mann demütig. „Wir mussten sicher sein. Ich bringe Euch zum König.“

„Ich will deinen König überhaupt nicht sehen, Bursche!“ schnappte Thranduil ungnädig. „Bring mich zu meinem Sohn!“

Marsil fuhr sichtlich zusammen und verbeugte sich noch einmal. „Folgt mir, mein Herr.“

Die Treppe aus Tonziegeln, die zum Ende der Straße der Handwerker und zum Gildenhaus der Zimmerleute hinauf führte, wirbelte schwindelerregend an ihr vorbei. Männer, Frauen und Kinder rannten hin und zurück und trugen eine endlose Kette spritzender Wassereimer. Das glutrote Licht der Flammen, die gierig das Gildenhaus einschlossen, tat Éowyn in den Augen weh.

„Für einen Elben seid Ihr sehr rüde,“ sagte sie benommen.

Der Elbenkönig gab ein kurzes, bellendes Lachen von sich. „Ja, Kind! Meine Manieren – oder mein Mangel daran – sind unter den Söhnen von Gondor legendär geworden, jetzt, da---“

„Stehen bleiben!“ donnerte Aragorns zornige Stimme. „Stehen bleiben, sage ich! Zurück mit Euch, weg von ihm! Ich ziehe persönlich den zur Verantwortung, der ihn verletzt!“

Eine instinktive Vorahnung ließ Thranduils breite Brust erzittern, und er beschleunigte seinen Schritt. Sie umrundeten die nördliche Ecke des brennenden Gildenhauses zu der mit Elfenbein eingefassten Einmündung der Hellen Straße. Ein tiefer, knurrender Schrei wie von einem verwundeten Tier – Legolas’ Stimme – bestätigte Éowyns Furcht vor dem, was sie finden würden. Thranduil hielt an, und was er sah, ließ ihn erstarren, wo er stand.

Legolas kniete halb zusammengekrümmt auf dem Boden; seine schlanke Gestalt bebte hilflos. Seine Hände endeten in blutbeschmierten Klauen. Als er den Kopf hob – vielleicht als Reaktion auf etwas, was Aragorn ihm gerade zugeflüstert hatte – sah Éowyn dass seine Augen von glühender Bernsteinfarbe waren, und geschlitzt wie die einer Katze. Aragorn kniete furchtlos neben ihm, eine Hand fest um die Klauenhand des Elben geschlossen. Aragorns Männer umdrängten beide ängstlich; sie gehorchten dem Befehl ihres Königs, Legolas in Ruhe zu lassen, aber sie hatten entsetzliche Angst, dass der Elb ihren Gebieter jeden Moment in Stücke reißen könnte.

„Komm zurück, Legolas!“ sagte Aragorn leise. „Komm zu dir!“

Legolas erschauerte und gab ein weiteres, wildes Heulen der Verzweiflung von sich. Seine Zähne waren gefletscht, die langen, scharfen Fänge eines Raubtieres.

Thranduil stellte Éowyn mit einer einzigen, fließenden Bewegung auf die Füße und bewegte sich vorwärts, sein Gesicht ein Bild der Trauer und Wut. Éowyn taumelte hinter ihm her zu der Ecknische hinüber, wo Legolas und Aragorn knieten, umringt von einem Dutzend gondoreanischer Soldaten. Thranduil bahnte sich seinen Weg durch die Reihe menschlicher Spießruten und fing Aragorns Blick ein, ehe er sich ihm langsam näherte. Aragorn sah beim Anblick des Königs von Düsterwald verblüfft und erleichtert aus. Er winkte Legolas’ Vater heran. Behutsam, ohne eine plötzliche Bewegung zu machen, kniete sich Thranduil neben die zitternde Gestalt seines Sohnes. Éowyn stand im Kreis der Soldaten, die sie umgaben, ihren Herzschlag im Mund, während Thranduil seinem Sohn eine Hand auf die Wange legte und so leise mit ihm sprach, dass sie die Worte nicht hören konnte.

Legolas’ gelber Blick richtete sich für einen Moment in verständnisloser Qual auf das Gesicht seines Vaters; ein leises, warnendes Knurren grollte in seiner Brust. Und dann glitt ein Strahl Sonnenlicht, das erste schwache Licht der Dämmerung über sein Gesicht und er rang nach Atem. Sein ganzer Körper verkrampfte sich und süße, segensreiche Klarheit flutete in seine Augen zurück.

„A-a-ada?“ Er schwankte und sackte geschwächt auf die Seite.

Thranduil gab einen Laut von sich, der irgendwo zwischen einem Schluchzen und einem Fluch lag. Er zog seinen Sohn in eine kraftvolle Umarmung hinein und hielt ihn an sich gedrückt, während Legolas’ Körper sich langsam wieder zurück verwandelte, von Schmerzen und stillem Schluchzen geschüttelt.

Éowyn bewegte sich vorwärts, als würde sie von einem Zwergenmagneten angezogen. Sie kniete sich unbeholfen neben Aragorn und presste die Hände gegeneinander, um sich davon abzuhalten, sie auszustrecken und an Legolas’ Seite zu fliegen Sie wusste, dass Legolas im Augenblick einen Trost nötig hatte, den nur Thranduil ihm geben konnte. Wie viele Jahrzehnte oder Jahrhunderte auch immer seit den Alpträumen der Kindheit vergangen sein mochten, Papa blieb immer Papa.

Eine warme Hand wurde gegen ihre Stirn gedrückt. Aragorn betrachtete sie genau, mit dem prüfenden Auge eines Heilers.

„Es geht mir gut.“ log sie leise.

„Ich bin ein Narr!“ Seine eisengrauen Augen waren von der Bitte um Vergebung erfüllt. „Ich hätte vorhersehen müssen, was geschieht, wenn ihr drei Euch dem Blutvergießen und dem Kampf gegenüber seht!“

Ihre Augen weiteten sich. „Ist Gimli---?“

„Es geht ihm gut.“ Aragorn lächelte freudlos. „Er ging mitten in der Schlacht, um eine Extra-Scherbe zu Éomers Kompanie zu tragen. Euer Bruder sah, was mit Gimli geschah, als der Kampf heftiger wurde; Éomer schlug ihn bewusstlos. Er wird in ein, zwei Stunden mit fürchterlichen Kopfschmerzen aufwachen, aber er hat weniger Schaden genommen als Ihr und Legolas.“ Er schüttelte den Kopf. „Wir wurden hier beinahe überwältigt. Sie fingen an, uns mit Öl zu übergießen und warfen aus der Höhe Steine nach unseren Scherbenträgern. Wir brachen die Türen des Gildenhauses auf, als das Feuer außer Kontrolle geriet, aber sie griffen die Frauen und Kinder nicht an. Sie kamen meinetwegen. Legolas---“ Aragorn verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „Er riss sie von mir herunter, als sie mich davontragen wollten zu ihrer Königin. Zuerst benutzte er seine langen Messer, aber dann hat er---“ Aragorn seufzte müde.

„Er hat sich verwandelt.“ sagte Thranduil mit einer kalten, flachen Stimme. „Ihr habt meinen Sohn, den Zwergen und diese Maid der Rohirrim in die Hitze der Schlacht geworfen, und sie haben sich dem Blutdurst ergeben. Eure Ahnungslosigkeit hat die Verwandlung in jedem von ihnen wieder herauf beschworen!“

„Adar,“ sagte Legolas schwach, „bitte tu das nicht.“ Er kämpfte darum, sich aufzusetzen und löste sich widerwillig aus den Armen seines Vaters. „Es war Aragorns Heilung, die uns vom Abgrund zurückgezogen hat. Ohne ihn hättest du uns so kalt und tot vorgefunden wie die Bestien, gegen die wir heute Nacht gekämpft haben. Es gibt äußerst wenig Überlieferung zu diesem Leiden für die, die es nicht aus erster Hand gesehen haben.“ Er sah seinen Vater scharf an. „So wie du es vor langer Zeit aus erster Hand gesehen hast. Adar, woher wusstest du, dass du kommen musst?“

„Ich hörte deine Seele aufschreien, als sie deinen Willen brach,“ sagte Thranduil leise. Er berührte fast reflexartig das Gesicht seines Sohnes, als Legolas bei der Erinnerung daran erschauerte. „Ich sah ihr Gesicht in meinem Geist aufblitzen, bevor ihre Finsternis über dir herabsank. Thuringwethil!“ Er warf einen Blick zurück zu Aragorn, die mürrische Bitte um Vergebung in seinen stolzen Augen. „Um die nackte Wahrheit zu sagen, bin ich für Eure Ahnungslosigkeit verantwortlich, denn ich habe gegen diese Kreaturen gefochten, als sie uns an den Häfen von Sirion heimgesucht haben. Elrond, Euer Lehrer in der Überlieferung, erinnerte sich an Bruchstücke davon, aber er war zu jener Zeit noch ein Kind. Euer Ziehvater plagte mich Jahrhunderte lang, ihm alles zu sagen, was ich wusste, um es für die Nachwelt aufzuzeichnen, aber die Erinnerungen waren so übel, dass ich mich nicht überwinden konnte, darüber zu sprechen.“ Er schüttelte zornig den Kopf; eine seiner Hände ruhte noch immer unbewusst auf Legolas’ Schulter, als hätte er Angst, ihn außer Reichweite seines Armes zu lassen. „Sie und ihre Untertanen machten vor allem Beute unter den Edain, die Seite an Seite mit uns an den Häfen lebten, entfernte Verwandte von Herrn Tuor. Sie versuchte viele Male, einen Elben in einen ihrer Art zu verwandeln, aber das Brechen ihres Willens tötete ihre Gefangenen jedes Mal.“ Seine Augen richteten sich auf Legolas. „Ich kann kaum glauben, dass du noch lebst, mein Sohn, obwohl ich bis an mein Ende Lobeshymnen dafür singen werde, dass es so ist.“

Legolas’ Hand suchte nach der von Éowyn und sie nahm sie, ohne nachzudenken. „Éowyn hat mich gerettet, Adar,“ sagte er zu seinem Vater. „Sie ist gegen Simiasha immun – gegen Thuringwethil – durch etwas, das Mithrandir in ihren Geist pflanzte. Sie hat diese Immunität auf mich übertragen, und indem sie das tat, befreite sie mich.“

Thranduil war sehr still geworden; sein Blick bohrte sich in den seines Sohnes und sah viele Dinge, die hinter den Fenstern von Legolas’ Augen ungesagt blieben. Sogar indirekt zuckte Éowyn angesichts der blendenden Macht in diesem Starren zusammen.

„Du hast ihr Blut genommen.“ sagte Thranduil; ein schrecklicher Verdacht wuchs in seinem Gesicht.

„Ja,“ erwiderte Legolas schlicht, „Für eine Weile war ich Thuringwethils Geschöpf, Adar, an ihren Willen gefesselt und untergegangen in ihrem Übel. Sie hat mich zu ihrem Sklaven und Gefährten gemacht. Ich nahm Éowyns Blut, als ich mich im ersten Wahnsinn des Blutes verlor. Sie hat meine Seele gerettet.“

Thranduil schluckte, seine Züge so von Furcht verzerrt, dass er alt aussah. Der Elbenkönig wandte die unerbittliche Macht seiner Sorge zu Éowyn, und das Wenige, das Legolas vor dem allsehenden Blick seines Vaters verborgen haben mochte, musste in Éowyns Augen lächerlich offensichtlich sein, in ihrem Gesicht und ihrem durchsichtigen, menschlichen Herzen. Er nagelte sie mit seinen Augen auf der Stelle fest, wie einen Schmetterling in einer von Fallahs Insektensammlungen. Er schien jede Facette ihres inneren Selbst durchzugehen, abwägend und beurteilend, auf der Suche nach Fehlern und Schwächen. Sie hielt seinem Blick stand, nicht gewillt, sich einschüchtern zu lassen.

„Und was hast du ihr dafür gegeben?“ fragte Thranduil seinen Sohn, ohne die Augen von Éowyn zu nehmen.

„Alles, was ich ihr geben konnte.“ flüsterte Legolas.

Thranduil schwieg. Er schien nicht wütend zu sein, wie sie es gefürchtet hatte. „Ich verstehe,“ sagte er schwer. Als er Éowyn und seinen Sohn ansah, waren seine Augen voller Kummer und Mitgefühl. „Und ich bin traurig für euch beide.“

Éowyn fragte sich benommen, was er damit meinte; Aragorn legte eine Hand auf ihren Hinterkopf, und als er sie zurückzog, war sie voller Blut. An mehr erinnerte sie sich nicht mehr, bevor sie das Bewusstsein verlor.

*****

Éowyn erwachte jäh vom Klang strömenden Regens und dem Durcheinandergeplapper vieler Stimmen. Sie lag auf einer Pritsche im Hauptlager und Warenhaus der Neuen Bäckerei. Sie richtete sich langsam auf und sah, dass der größte Raum in ein improvisiertes Erholungs- und Behandlungszimmer verwandelt worden war. Fallah saß neben ihr, die großen, mandelförmigen Augen rotgerändert vom Weinen. Die Tochter des Apothekers hielt einen Becher mit Essigwasser und fing schweigend an, einen Schnitt über Éowyns linker Braue zu betupfen; stille Tränen rollten ihr über das schmutzige Gesicht.

„Deine Kopfwunde ist in den letzten paar Stunden fast vollständig geheilt,“ schniefte sie. „Ich habe hier gesessen und zu begreifen versucht, warum dieser kleine Riss in deinem Gesicht es nicht tut.“ Sie begegnete Éowyns Augen. „Éowyn, es tut m-mir L-leid---!“

„Nicht doch,“ unterbrach Éowyn sie sanft. Sie nahm die zitternden Hände ihrer Freundin in ihre eigenen. „Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest. Ich habe euch alle halb zu Tode erschreckt.“ Oh süße Herrin, wie sehr sie sich wünschte, diese nächste Frage nicht stellen zu müssen. „Fallah, wie viele haben wir verloren?“

„Ein Drittel der Wache ist erschlagen,“ flüsterte Fallah „Suni und Shaeri geht es gut. Die kleine Insis wurde schwer verwundet, aber sie wird sich erholen. Dein Bruder ist wohlauf. Er kam, um nach dir zu sehen, während du geschlafen hast, und er hat noch nicht einmal einen Kratzer. Aber er hat letzte Nacht fast die Hälfte seiner Männer verloren, und – und die meisten Leichen haben wir nicht gefunden. Herr Gimli hat sich erholt. Er kam zusammen mit Legolas, als der dich vor vier Stunden hierher getragen hat.“ Sie seufzte, ein müdes, kleines, klagendes Geräusch. „Der gute Herr Hurin ist tot. Camah und Sokkora von der Garde der Königin. Timhad, der Junge von Moussahs Leuten, und Hatab, der alte Pferdemeister.“

Sie hielt inne und atmete ein; ihre Brust erzitterte unter den Schluchzern, die ihr in der Kehle stecken blieben.

„Somal ist tot, Éowyn! Ich – ich habe versucht, ihn zu retten! Elessar hat all sein Heilwissen und allen Elbenzauber benutzt, den er kannte. Aber – aber er ist einfach gestorben. Es ist nicht gerecht, dass er die Pelennorfelder im Alter von dreizehn Jahren überlebt, einer unter vierzig übrig gebliebenen Männern von den Tausenden, die sie verschleppt haben. Er hätte lange leben und viele Kinder haben sollen, und er hätte sterben sollen mit einem Dutzend Enkelsöhnen und Enkeltöchtern. Und jetzt ist meine ganze Familie fort. Ich bin das letzte der Kinder von Somala nördlich des Erdgürtels, und die Letzte meiner Familie auf der ganzen Welt!“

Ihre Stimme war so voll von elendem Kummer, dass Éowyn ebenfalls zu weinen begann.

„Und – und Ikako... sie lebt noch, aber – aber die ganze Straße der Handwerker ist in dem Feuer verbrannt, das das Gildenhaus der Zimmerleute erfasst hat Ich weiß nicht, wieso sie ihre Werkstatt nicht verlassen hat, als noch Zeit dafür war!“

„Zeig sie mir,“ sagte Éowyn heiser.

Ikako lag abseits vom allgemeinen Krankenraum mit den Verletzten in einem stillen Nebenzimmer, in dem bis vor kurzem Rohrzucker gelagert worden war. Jetzt war es eine ruhige Abteilung für die Sterbenden. Die Luft war schwer vom Übelkeit erregenden Geruch nach süßem Zuckerrohrsirup und verbranntem Fleisch. Und Ikako – Éowyn kniete sich hölzern neben das Totenbett der Schmiedin. Ikako war am Leben, aber in Wirklichkeit konnte Éowyn nicht erkennen, auf welche Weise sie sich an dieses Leben klammerte. Eine Hälfte ihres Körpers war noch immer heil und stark. Die andere Hälfte war verbrannt, ihr Fleisch an manchen Stellen bis auf die Knochen herunter geschmolzen. Suni saß neben den Pritsche, ihr Gesicht eine ausdruckslose Studie stoischer Trauer. Ikako und Suni waren ihr ganzes Leben über die besten Freundinnen gewesen, Éowyn wusste das. Zu ihrem Schrecken sah sie, dass Ikako wach und bei klarem Bewusstsein war.

„Sie hat sich geweigert, Fallahs Betäubungsmittel zu nehmen,“ sagte Suni ruhig. „Sie hält nur deinetwegen noch durch, Hauptmann.“ Sie drückte Ikakos gute Hand. „Sie ist hier, Schwester. Éowyn ist gekommen.“

„...getan.“ krächzte Ikako und wandte ihren Kopf leicht in Éowyns Richtung. „Es ist getan.“

Das letzte Ding, das Éowyn von ihrer Freundin verlangt hatte, lag fest umklammert in der zerstörten Hand der sterbenden Schmiedin... das letzte Stück der Waffe, die Éowyn empfangen hatte, um die Mutter der Blutsäufer zu vernichten.

„Sie wollte es niemandem geben außer dir.“ sagte Suni.

Éowyn nahm die kostbare Metallarbeit, das Geschenk, das Ikako mit Sicherheit das Leben gekostet hatte, weil sie sich ihrer Arbeit widmete, ohne darauf zu achten, dass die Straße der Handwerker um sie herum nieder brannte. „Das katana..“ flüsterte Ikako. „Liegt in meinem Laden. Auch fertig.“ Irgendwie brachte sie ein kleines, durchtriebenes Lächeln zustande, das gleiche, das sie Éowyn geschenkt hatte, als die ihr ihren Plan erklärte. „Wünschte, ich könnte ihr Gesicht sehen...“ Ihre Stimme verklang, als sie ihren nachlassenden Griff um das Leben lockerte. „... wenn du sie tötest...“ Ihre Worte endeten in einem leisen Pfeifen; die halb geschmolzenen Lungen gaben ihren letzten Atemzug mit einem rasselnden Seufzen frei, das klang, als würde sie trocken vor sich hin glucksen.

Ikako war tot.

Éowyn sah zu, wie Suni sich vorbeugte und die verbrannte Wange der leeren Hülle auf der Matratze küsste. „So beginnt mein zweiter Tag als Königin,“ sagte sie gebrochen. Fallah senkte das Gesicht in die Hände und fing wieder an zu weinen.

Ikako hatte ihr ganzes Leben lang in der Straße der Handwerker gelebt und sich um ihren verwitweten Vater gekümmert; sie war eine respektable alte Jungfer von dreißig Jahren, als sie ein Jahr vor dem Großen Krieg ihrem Mann begegnete. Will von der Seestadt war eine Partnerschaft in der Schmiede ihres Vaters eingegangen, nachdem er die Liebe seines Lebens getroffen und sie geheiratet hatte... nur um vier Monate später von Haradouns Leuten in die Armee gepresst zu werden. Er starb auf den Pelennorfeldern, und Suni hatte Éowyn einmal anvertraut, dass der größte Teil von Ikako mit ihm gestorben war.

„Er wird dich begrüßen, wo immer du auch hingehst, meine Freundin.“ flüsterte Éowyn. Sie verabschiedete sich mit der dumpfen Bitte um Vergebung von ihren Freundinnen und stolperte aus dem dicken Gestank dieses abgeschlossenen Raumes heraus. Weit hinten, auf der anderen Seite des Warenlagers, sah Éowyn Aragorn, der sich über einen verwundeten Soldaten beugte, die Stirn konzentriert gerunzelt. Aragorn hatte höchst wahrscheinlich seit der Dämmerung keinen Augenblick geschlafen. Er musste dieses Krankenzimmer mit Fallahs Hilfe eingerichtet haben, dachte sie abwesend.

Der schwache Klang eines Liedes drang an ihr Ohr, so leise und schön, dass es eine süße Erinnerung an Legolas Stimme hätte sein können, wie er in der Bambushütte für sie sang. Sie folgte ihm durch den Eingang des Pförtners hinaus auf die schattige, mit Schleiern überspannte Straße der Händler. Sie war wundersamerweise vom Feuer völlig unberührt. Die Blumenkästen, die schon immer jede Vorderseite der Geschäfte geschmückt hatten, waren hell und fröhlich, die Läden unzerstört von Flammen oder Gewalt. Sie ließen das Haus mit den Verletzten und Sterbenden wirken wie einen Alptraum.

Das Lied war zu Ende. Eine kleine Gruppe von Elben hob den leblosen Körper ihres Kameraden auf und trugen ihn fort. Sie sah ihnen schweigend zu. Sie waren so sehr in ihrer eigenen, stillen Trauer versunken, dass sie ihre Gegenwart nicht zu bemerken schienen.

„Ein Waldelb sollte seinen letzten Atemzug nicht innerhalb eines Hauses tun,“ bemerkte eine Stimme ernsthaft.

Thranduil von Eryn Lasgalen saß in einem der Schaukelstühle aus schwarzer Eiche, die Osha dem Bäcker gehörten. In seiner Hand hielt er einen kleinen Vogel. Er lag in der sanften Schale seiner Handfläche und atmete flach. Thranduil flüsterte der kleinen, erschreckten Kreatur etwas zu; ihre Augenlider flatterten und ihre Flügel regten sich.

„Konnte Aragorn ihn nicht retten?“ fragte sie und starrte auf die hängenden Körbe mit Petunien hinaus, die nach oben wuchsen; sie begrüßten den fallenden Sommerregen wie eine zärtliche Umarmung.

„Sein Geliebter wurde erschlagen, als wir auf dem Weg von der Bäckerei zum Platz waren,“ murmelte Thranduil „Von den hundert Kriegern in meiner Kompanie wurden nur zwei wirklich getötet. Aber drei weitere fehlen.“ Er seufzte erschöpft. „Gilros und Sirluin waren schon als kleine Jungen zusammen, und sie waren unzertrennlich. Als er feststellte, dass Sirluin gefallen war, begann Gilros zu vergehen. Unsere Bindung an das Fleisch ist zerbrechlicher als die der Edain. Wenn unsere Herzen gebrochen werden, wenn sie zerschmettert werden über alle Heilung hinaus, dann werden wir einfach---“Er öffnete die Hand und der benommene Vogel erhob sich in die Luft und flog die überdachte Straße hinunter. Er stand auf und sah sie an. Und einmal mehr war es, als würden seine Augen sie auf der Stelle festhalten, als hindere er sie körperlich daran, den Blick abzuwenden. Sie begegnete seinen Augen mit Anstrengung; ihre Sicht verschwamm und sie zitterte von der Mühe, sich aufrecht zu halten. Aber sie konnte wirklich nicht sagen, ob es an ihrer Schwäche oder ihrer persönlichen Trauer lag. „Es war selbstsüchtig und närrisch von meiner Seite, fünf Leben zu verschwenden und hundert zu riskieren, um einen Krieger zu retten. Es war die Entscheidung eines Vaters, nicht die eines Königs.“

Sie schluckte. „Wo ist Legolas?“

„Ich weiß es nicht,“ sagte er. „Wir hatten vor einer Stunde ein Gespräch miteinander, er und ich.“

Sie machte Anstalten, sich abzuwenden; sie dachte kalt, dass dies das letzte Ding in Mittelerde war, das auch nur eine Minute der kostbaren Tageslichtstunden beanspruchen sollte, die ihnen noch blieben. „Ich muss in die Straße der Handwerker,“ sagte sie hölzern. „Vergebt mir, mein Herr, aber diese Unterhaltung muss warten, bis wir die Zeit für einen solchen Luxus haben!“

Sie stieg von der Bretterrampe für die Träger herunter, die die Müller benutzten, um große Lieferungen nach drinnen zu bringen; sie stolperte und ihr wurden die Knie weich. Thranduil bewegte sich mit leichtfüßiger Anmut vorwärts und fing sie auf. Sie kämpfte gegen eine Woge von Zorn und heißer Scham an, als er sie in den Schaukelstuhl setzte und sich vor sie hin kniete. Er strich ihr mit einer glatten Hand über die Stirn. „Deine Haut ist wie Eis, Kind. Du solltest nicht auf den Beinen sein.“

„Ich rutsche immer tiefer in Richtung Tod und Verdammnis!“ sagte sie mit einem qualvollen Flüstern. „Ich werde dem nicht begegnen, während ich im Bett liege.“ Sie sah ihm scharf in die Augen, als sie sich plötzlich an seine Worte über die Häfen von Sirion erinnerte. „Ihr wisst mehr über ihre Geheimnisse als Aragorn oder irgend jemand, der noch lebt. Werden wir von der Finsternis befreit sein, wenn Simiasha einmal tot ist?“ Sie stählte sich für die Antwort.

Er runzelte die Stirn, als wäre der simple Akt, diese Erinnerungen durchzugehen, noch immer schmerzhaft, selbst Jahrtausende später. „Die Herrin Galadriel behandelte die wenigen Überlebenden, die wir in diesen Nestern fanden. Wenn sie von einem der Nachkommen Thuringwethils gefangen genommen worden waren – Bestien, denen sie gestattet hatte, ihre eigene Blutlinie zu beginnen, in den Tagen, als sie mit Sauron in Tol N’Gauroth lebte – dann erholten sie sich vollständig, nach dem ihr Erzeuger tot war. Wurdet ihr alle gezwungen, ihr Blut direkt zu trinken?“

„Nur Legolas,“ sagte sie still. „Sie – sie – ich konnte ihn nicht davor bewahren!“

Er nahm ihre Hand. „Du musst nicht darüber sprechen. Er hat mir die ganze Geschichte erzählt.“ Er lächelte. „Dein Metall ist von der Art, aus der Legenden geschmiedet werden, Éowyn von Rohan. Und ich spreche nicht nur mit dem Stolz eines Vaters, wenn ich sage, dass dies auch für meinen Sohn gilt. Der elbische Jäger muss einer ihrer ältesten und stärksten Abkömmlinge gewesen sein, denn du bist so tief vergiftet wie Legolas, obwohl der, der dich angesteckt hat, um eine Generation von der Quelle entfernt war.“

„Er zwang mich, mehr als einmal zu trinken,“ sagte sie dumpf. „ich erinnere mich nicht daran, wie oft. Sein Name war Morsul.“ Sie sprach den Namen behutsam aus. Elbereth, wie konnte sie so viel Trauer für jemanden fühlen, der ihr so viel Böses angetan hatte?

Er bemerkte es und hielt ihre Hand ein wenig fester. „Die Zuneigung, die du empfindest, wenn du an ihn denkst, ist nicht echt, Glorfinniel.“ sagte er mit harter Stimme. „Es liegt daran, das er für den Moment noch immer ein Teil von dir ist. Das vergeht, wenn dein Blut endlich von seinem Blut gereinigt sein wird.“

„Nein,“ sagte sie leise, „Nein. Ich hatte Mitleid mit ihm, als er mir seine Geschichte erzählte. Er war der Hauptmann der Leibwache von Thingol Graumantel, und später der Beschützer der Herrin Elwing. Er flüchtete in die Wildnis, um die Kinder seiner Herrin vor den Söhnen von---“

„Laersul,“ sagte Thranduil. Er starrte ihr ins Gesicht, aber der Blick seiner Augen hatte sich nach innen gewandt. Sie erschrak, als sie sah, dass sich Tränen darin sammelten. „Sein Name war Laersul.“ flüsterte Thranduil.

„Sommerwind,“ wiederholte Éowyn den Namen. Sie schaute ihn hilflos an, während stille Tränen begannen, eine Spur über das Gesicht des Elbenkönigs zu ziehen. „Er nahm mein Blut, und so hat er sich am Ende seiner selbst erinnert,“ sagte sie sachte. „Er starb, während er darum kämpfte, uns zu befreien. Mit seinen letzten Worten sagte er mir, wie ich Legolas vielleicht von ihrer Kontrolle erlösen könnte.“

„Ich dachte, er sei seit zwei langen Zeitaltern der Welt in Mandos’ Frieden,“ sagte Thranduil mit erschütterter Stimme. „Er war der liebste Freund meines Vaters. Er lehrte mich den Umgang mit dem Schwert.“

„Er ist jetzt im Frieden.“ sagte Éowyn.

„Jawohl,“ sagte Thranduil nach einem Moment schroff. „Ich würde viel darum geben, zu wissen, was für eine Art schützenden Zauber Mithrandir wohl in deinen Geist eingesetzt hat, Kind. Du hast Legolas auf die selbe Weise von Thuringwethils Kontrolle befreit wie Laersul – indem du die Herrschaft ihres Blutes an dich gerissen hast, glaube ich. Es ist, wie ich zuerst dachte. Du und Legolas, ihr seid auf die selbe Weise aneinander gebunden wie Thuringwethil und ihre Abkömmlinge. Als wir uns das erste Mal begegnet sind, fragte ich mich, wieso du ein so makelloses Sindarin sprichst.“

„Ich spreche kein---“

„Du hast nicht ein Wort der Allgemeinen Sprache gesprochen, seit wir angefangen haben, miteinander zu reden,“ sagte er sanft. Sie konnte ihn nur mit offenem Mund anstarren. „Im Augenblick seid ihr, du und mein Sohn, zwei Teile eines Ganzen. Es ist, als wäre er das Kind deiner eigenen, dunklen Blutlinie, an dich gebunden durch das Blut, das ihr euch teilt, in Herz und Geist.“ Er sprach mit einer so tiefen Erleichterung, dass sie die Stirn runzelte und über die wahre Bedeutung seiner Worte rätselte.

„Was meint Ihr damit, Herr?“ fragte sie langsam.

Er betrachtete sie unverwandt. „Wir müssen nicht darüber reden, ehe du dich besser fühlst---“

„Bis die Sonne untergeht, werde ich mich wohl kaum besser fühlen,“ sagte sie unverblümt. „Sagt mir, was Ihr im Sinn habt!“

„Wenn Simiasha vernichtet ist,“ sagte er nach einem Augenblick des Zögerns, „dann wird das Gift in euren Adern nachlassen und schwinden, da seine eigentliche Quelle beseitigt ist. Und wenn das geschieht, könnte das Band der Gefühle zwischen dir und meinem Sohn vielleicht ebenfalls schwinden.“

Sie erwiderte seinen Blick, bleich und schwach; sie fühlte sich, als hätte sich soeben die Erde geöffnet, um sie zu verschlucken. „Ist es das, was Ihr glaubt, mein Herr?“ fragte sie mit einer kalten, brüchigen Stimme. „Oder das, was Ihr hofft?“

„Beides,“ sagte er mit stiller Resignation. Seine elbengrauen Augen waren voller Erbarmen, und doch sah sie darunter noch etwas anderes. Etwas Angsterfülltes, fast Verzweifeltes. „Missversteh mich nicht, Eorls Tochter. Ich schaue nicht auf dich herab oder erachte dich für zu niedrig geboren oder zu gering, mein Schwiegerkind zu sein.“

„Ich weiß, was Ihr im Sinn habt, mein Herr,“ sagte sie. „Ihr fürchtet, so wie ich, dass er für immer trauern wird, wenn ich aus dieser Welt scheide.“

„Nein, Glorfinniel,“ sagte der Elbenkönig, seine tiefe Stimme ernst, wie eine Totenglocke für all ihre dünnen, selbstsüchtigen Hoffnungen. „Meine Furcht ist, dass er sich, wenn deine Tage aufgebraucht sind, neben dir niederlegen und sterben wird.“

Ihr Brustkorb schien in sich zusammengefallen zu sein. Sie konnte nicht atmen „Wie Gilros?“

„Nicht so glücklich wie Gilros,“ sagte Thranduil erbarmungslos. „Denn er wird einmal wieder mit seinem Geliebten vereint sein, so wie ich. Kennst du die Geschichte von Beren und Lúthien?“

Sie nickte stumm.

„Für mich ist es nicht Geschichte, sondern Erinnerung.“ sagte er. „Als Carcharoth wie ein Sturm der Verwüstung an die Grenzen von Doriath kam, während der Silmaril ihn von innen verbrannte, war ich ein Teil der Jagdgesellschaft des Königs, die auszog, um ihn zu töten. Wir trugen Beren zurück zu Lúthien; er klammerte sich an das Leben, so dass er seinen letzten Atemzug an den Lippen seiner Liebsten tun konnte. Wir sahen alle hilflos weinend zu, wie er in Lúthiens Armen starb. Sie folgte ihm weniger als eine Viertelstunde später Weißt du, warum, Glorfinniel?“

„Weil sie glaubte, dass Beren hinter den Schleier dieser Welt verschwunden war.“ sagte Éowyn dumpf. Ihre Kehle fühlte sich wund an. „Zu dem verborgenen Schicksal, das den Menschen bereitet ist. Denn im Tod sind die Edain und die Eldar bis über das Ende der Welt hinaus getrennt. Für immer. Ich weiß das, mein Herr. Oder besser, ich wusste es. Vielleicht hat meine eigene Selbstsucht es mich vergessen lassen. Wenn ich seine Liebe ungeschehen machen könnte, ich würde es tun, um seinetwillen. Ich möchte ihn lieber lebendig und glücklich sehen, als ihn für mich zu haben und zu wissen, was kommen wird. Ich liebe ihn so sehr, dass mir das Herz stockt bei dem Gedanken, dass er Schmerzen leidet... so sehr, dass ich wohl glauben mag, dass es teilweise am Einfluss des Blutes liegt, das wir miteinander teilen. Denn es kam plötzlich über mich und zuweilen kommt es mir wie Wahnsinn vor und überwältigt mich mit seiner Macht. Ich habe schreckliche Angst davor, sein Herz in den Händen zu halten, denn ich weiß, sein Herz ist sein Leben. Ich habe mehr um seinetwillen Angst vor dem Tod als um meinetwillen.“

Sie ballte die Hände an beiden Seiten zu Fäusten und versuchte, ihren Körper am Zittern zu hindern. Plötzlich erinnerte sie sich daran – so, als wäre es ein Stück von einem schönen Traum - wie während ihrer letzten Tage in der Hütte die Sprache angefangen hatte, sie im Stich zu lassen. Und doch hatten sie sich mit vollkommener Klarheit verständigt. Sie hatte um jeden seiner Gedanken gewusst, jeden Hauch von Gefühl und Impuls. Es hatte während des Liebesaktes Momente gegeben, da schien es, dass ob ihr Geist, die ganze Essenz seiner Seele und der ihren, ineinander schwamm, so dass sie nicht mehr sagen konnte, wo sie endete und er begann. War irgend etwas davon wirklich gewesen?

„Ich kann mir nicht denken, was ich tun sollte,“ sagte sie tonlos, „Ihr seid älter und viel weiser, mein Herr. Sagt Ihr mir, was ich tun muss! Wenn seine Liebe mit Simiashas Macht vergeht, dann werde ich ihn zum Abschied küssen und Trost aus dem Wissen schöpfen, dass er ohne meine Liebe besser davon kommt. Aber – aber wenn er mich wirklich liebt---“

„Dann...“ Er seufzte betrübt. „Dann liebe ihn, Glorfinniel. Liebe ihn alle deine Tage, denn er wird nicht aufhören, dich zu lieben, selbst wenn du ihn verlassen solltest. Das ist der beste Rat, den ich geben kann, denn obwohl ich lange gelebt habe, hat man mich nie unter die Weisen gerechnet. Ich bin ein Krieger und der Sohn eines Kriegers, der zum König wurde, weil alle Besseren erschlagen waren. Wenn deine Liebe sich als wahrhaftig erweist, dann lass die Furcht vor dem, was kommen wird, dir nicht die Freude an ihm trüben. Und was die jenseitige Welt angeht...wir müssen auf Erus Wohlwollen vertrauen, auf all das, was wir für gut und heilig halten. Hab Glauben und vertrau darauf, dass dein Lied nicht mit einer Note der Verzweiflung endet.“

„Ihr scheut den Namen ,Weiser’ zu Unrecht, mein Herr,“ sagte sie. Trotz der Bedrohung und der Trauer um die Toten, die auf ihrem Herzen lastete wie ein Mühlstein, war sie imstande, ihn durch die Tränen und den Regen auf ihrem Gesicht anzulächeln.

Er half ihr in die Straße der Handwerker hinüber und leitete ihre noch immer mühsamen Schritte zu der zerfallenen Hülle von Ikakos Schmiede. Er half ihr, die Ruinen zu durchsuchen und die Asche und das bröckelnde Holz umzugraben, die durch den Dauerregen immer schlammiger wurden. Endlich fand sie, was sie suchte. Sie zog es aus dem schwarzen Matsch, und der Schmutz fiel davon ab, als fürchte er sich vor der wunderschönen, tödlichen Klinge. Es war Ikakos Meisterstück, und nun würde es nie wieder ein anderes geben. Sie hielt es in der rechten Hand und flüsterte still ein Gebet.

„Legendär, in der Tat.“ sagte Thranduil leise.

„Sie wird heute Nacht kommen, um Aragorn zu holen“, sagte Éowyn heftig. Sie stand da und hielt die beiden Teile ihrer Waffe mit den Händen umklammert. „Sie wird einen Weg durch unsere Verteidigung finden und versuchen, ihn zu ergreifen. Wenn sie kommt, dann werde ich sie mit diesem hier empfangen!“

Der König von Eryn Lasgalen lächelte wölfisch und nickte.

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*Grond - Morgoths Hammer, den er als Waffe und zur Zerstörung benutzte.

**Feldscher - altmodischer (aber in dieser Geschichte sehr passender) Ausdruck für einen Lazarettarzt auf dem Schlachtfeld

***Glorfinniel - Goldhaar


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