Der Preis der Freiheit (The Price of Freedom)
von Erin Lasgalen, übersetzt von Cúthalion


3. Kapitel:
Das Nest der Jäger

Sie konnte ihren Kopf nicht klar bekommen. Er war mit dem Gefühl von rauschendem Wind erfüllt und mit dem auf düstere Art angenehmen Kitzel von einem Dutzend neuer Empfindungen, für die sie keinen Namen hatte. Jeder Zoll ihres Körpers schien zu vibrieren, als hätte sie einen kleinen Blitzstrahl am Schweif ergriffen. Überall war das Geräusch großer Obsidianschwingen. Das Gefühl von lebendigem Flug, von Geschwindigkeit und schwereloser Bewegung hüllte sie in ein Staunen, das sie seit dem ersten Mal, als sie ein Pferd in vollem Galopp ritt, nicht mehr gekannt hatte.

Sie öffnete die Augen und sah eine Höhle von göttergleichen Ausmaßen, die sich unter ihr und vor ihr erstreckte, eine glitzernde Kathedrale, deren diamantgespickte Wände sich in den wogenden, schwarzen Wassern des unterirdischen Flusses in der Tiefe widerspiegelten. Eigentlich hätte sie an diesem lichtlosen Ort gar nicht imstande sein sollen, irgend etwas zu sehen.

„Wunderschön“, flüsterte sie träumerisch.

„Ja“, sagte Morsul leise und zustimmend. Er lächelte auf sie herunter und streichelte mit einer Hand ihr Gesicht; sie schauderte unter der kalten Berührung. Sie schloss die Augen und wanderte eine Zeitlang in einem dunkeln, formlosen Nebel.

Ihr Bewusstsein und alles Zeitgefühl flatterten davon.

Ein weiteres Mal erwachte sie für einen Moment zu würgender Übelkeit und dem Klang von Schreien... ein tiefes, kehliges, wütendes Schmerzgeheul, durchsetzt von Flüchen auf Westron und Zwergisch. Gedämpft und wie von weit her hörte sie Legolas’ Stimme, heiser und flehend.

„Lasst ihn in Ruhe! Ich verfluche Euch alle zu heimatloser Verdammnis, lasst ihn in Ruhe! Lasst ihn in Ruhe, ich bitte euch!“

Und Gimli, der über die Kakophonie dämonischen Gelächters hinweg brüllte: „Ich reiße euch schleimigen Blutegeln jedes Glied einzeln aus! Kommt nur noch einmal, ihr kotfressenden Feiglinge!“

„Nein!“ Sie schluchzte verzweifelt. Sie fühlte sich so verwirrt. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so verängstigt gewesen zu sein, obwohl sie sich nicht länger daran erinnern konnte, was genau es war, das sie fürchtete. Es schien, dass andere verwundet und in Gefahr waren, aber sie konnte sich nicht den Weg durch die tiefen Fluten des Schlafes empor kämpfen, um ihnen beizustehen.

„Ganz ruhig jetzt, meine goldene Tochter“, besänftigte die süße, musikalische Stimme eines Mannes. Starke Arme hielten und wiegten sie, als wäre sie noch sehr klein. Er fing an zu singen, ein Bariton, der so wundervoll war, dass ihr Herz bei dem Klang weinte, und sie vergaß die fürchterlichen Geräusche rings um sich her. Wieder schlief sie, und sie träumte von ihrem Vater. In ihrem Traum war sein Gesicht schön und bartlos, und sein langes Haar glich einem seidenen Strom der Nacht. Und irgendwo in den dunklen, lieblichen Noten seines Wiegenliedes entglitt ihr all ihre Erinnerung, selbst die an ihren Namen.

Irgendwann erwachte sie erneut und lag eine Weile still; sie streckte sich in schlaftrunkener Mattigkeit und hatte das Gefühl, als sei ihre Haut zu straff um ihren Körper gespannt. Nach einer Weile rollte sie sich auf den Bauch und erhob sich langsam auf alle Viere. Sie betrachtete ihre Umgebung mit großem Interesse.

Sie befand sich in einer kuppelförmigen Kammer, in der man bequem eine große Stadt hätte unterbringen können, und es wäre noch Platz geblieben. Hoch, hoch oben drangen fingerbreite Sonnenstrahlen durch Risse in der steinernen Decke und zeichneten die Höhle mit Speeren aus Licht. Sie durchkreuzten einander wie leuchtende Spinnennetze. Sie schaute blinzelnd nach oben, verloren in dem Spiel aus Helligkeit und Schatten über sich, bis sie es nicht mehr ertragen konnte. Das Licht schmerzte in ihren Augen, als sei sie viele Tage in der Finsternis gewandert. Sie setzte sich auf und balancierte auf ihren Schenkeln. Sie fuhr sich mit der Hand durch das Haar und schwelgte in nichts anderem als der angenehmen Empfindung ihrer Finger, die durch die Strähnen glitten; sie summte leise vor sich hin. Die Öffnungen in der Höhle hauchten ihr kühle Luft ins Gesicht und sie atmete scharf ein, bebend vor Entzücken, während die kleine Brise ihre Haut liebkoste. Jeder Sinn war zehnfach verstärkt, jedes Nervenende vibrierte bei dem kleinsten Reiz vor Vergnügen. Keine Erinnerung an irgend etwas vor ihrem Aufwachen betrübte ihr den Geist, es gab nur das Jetzt. Nur das Gefühl des Augenblicks. Sie saß lange da, von seligem Frieden überspült, verloren in den Wundern des leuchtenden Staubes, der im Licht über ihr tanzte, und den kleinen Luftwirbeln, die sie umströmten.

Die monumentale Kammer war wie ausgestorben. Niemand, nicht einmal ein Floh oder eine Spinne, lebte hier. Sie sah sich um und fühlte sich plötzlich sehr einsam; ihr Blick suchte mit einer Schärfe, die mit ihren Augen nichts zu tun hatte. Da! Sie fand etwas, ein Flackern von Hitze. Es war ein süßer, hell brennender Lebensfunke, der in der Dunkelheit glühte wie das Signalfeuer eines Leuchtturmes. Sie begann, auf seine Quelle zuzukrabbeln und fragte sich vage, wo sie war und wie sie hierher gekommen war. Vielleicht spielte es nicht wirklich eine Rolle. Sie schloss die Augen und spürte große Höhe und die flammende Weite des strahlend blauen Himmels außerhalb des Steinturmes über sich. Sie befand sich in der Aushöhlung unterhalb eines Berggipfels, und draußen war es helllichter Tag.

Sie bewegte sich an einer Seite der Höhle entlang und suchte sich geduldig auf Händen und Knien auf dieses einzelne Lebenslicht zu. Sie kam an einem weiteren Spalt in der Höhlenwand vorbei. Er war nicht breit genug, um ihren Arm hindurch zu stecken, aber sie zischte vor Schmerz, als sie den hellen Abschnitt durchquerte und die sengenden Sonnenstrahlen sie trafen.

Endlich fand sie, was sie suchte. Das lebende Ding lag mit gespreizten Armen und Beinen an Metallpfosten gefesselt, die von kraftvollen Händen in den Stein getrieben worden waren. Sie starrte es einen Moment an und runzelte verblüfft die Stirn. Es sprach zu ihr, aber die Worte waren nichts als musikalischer Lärm und ergaben keinen Sinn. Sie kannte dieses lebende Ding, sie war sich sicher. Es war schön anzuschauen und sein Anblick beschwor Gefühle von Wärme und Trost herauf. Sie saß da und ihr Stirnrunzeln vertiefte sich, als das süße, angespannte Drängen seiner Stimme lebhafter wurde. Sie entschied, dass es ihr nicht behagte, es angekettet zu sehen. Sie zog an dem Pfosten neben dem Arm des lebenden Dinges, aber sie konnte ihn nicht aus dem Stein reißen. Also zerbrach sie statt dessen die Ketten. Die Metallglieder zerrissen in ihrer Hand, als wären sie aus dünnem, verrotteten Leder gemacht.

Sie sah zu, wie es – nein, er! – sich aufsetzte; sie war überaus erfreut über sich selbst. Er berührte ihr Gesicht und schien vor Erleichterung zusammenzusinken. Sie schmiegte ihre Wange in seine Hand und genoss die warme, glatte Weichheit seiner Haut.

„Ihr seid am Leben!“ sagte er heiser. „Ihr atmet noch! Ich fürchtete---“

Er hörte auf zu reden, als sie die Hand ausstreckte und sein Haar berührte.

Sie lächelte vor Entzücken. Es war weicher als ihres. Das Gefühl, es zwischen den Fingern zu haben, war so angenehm, dass sie ihre andere Hand ebenfalls in der wirren Masse goldener Strähnen vergrub. Sie staunte über seine Schönheit, wie es das dämmrige Licht einfing und wie es leuchtete. Sie zog mit den Fingern eine Spur entlang seiner Kinnlinie hinunter, wo der weiche Wasserfall aus Gold endete und atmete beim Gefühl seiner seidenweichen Gesichtshaut scharf ein. Ihre andere Hand wanderte zu seinem Nacken hinab. Sie beugte sich vor, ließ die Hände über die glatte, harte Ebene seiner Brust hinunter gleiten und bog den Rücken durch, als die Hosen plötzlich allzu eng an ihren gespreizten Beinen zu sitzen schienen. Er roch wie ein Wald im Hochsommer, grün und lebendig. Sie bewegte sich näher heran und spürte den süßen, begierigen Drang, ihn überall zu berühren.

Er packte sie an den Schultern und schüttelte sie heftig. „Éowyn! Éowyn!“ Sein Schrei tat ihr in den Ohren weh. Er schüttelte verzweifelt den Kopf, seine schönen Augen grau wie ein stürmischer Himmel, kurz vor trauerndem Regen. „Éowyn---!“

Und endlich fand der Klang ihres Namens einen Halt in ihrem Geist. Erinnerung flutete zurück mit der brutalen Macht eines Hammerschlages.

„Legolas!“ keuchte sie.

Oh Götter! Oh Herrin des Lichts! Sie erinnerte sich. Sie erinnerte sich an alles!

Er gab eine leises Geräusch der Erleichterung von sich und zog sie vorwärts in eine machtvolle Umarmung hinein; ihr wurde schwindelig, als ein Rausch zu vieler Empfindungen gleichzeitig sie überwältigte, als dass sie sie einzeln hätte benennen können. Aber sie hielt sich an ihm fest und stöhnte leise, als der ganze Schrecken ihrer Notlage sie traf. Einen langen Augenblick klammerten sie sich aneinander wie zwei verlorene Kinder.

„Ich dachte, er hätte Euren Geist zerbrochen, als er---“ Er erschauerte an ihrem Körper, „--- als er Euch sein Blut aufgezwungen hat!“ Er zog sich ein wenig zurück und suchte ihre Augen. „Es ist nicht hoffnungslos!“ sagte er heftig. „Draußen ist es heller Tag. Sie haben uns zwei Tage an diesem Ort gefangen gehalten. Wenige von ihnen sind stark genug, sich vor Sonnenuntergang in diesen ,Tempel’ – oder wie sie es nennen – zu wagen. Sie haben mich hier vor mehr als einem Tag angekettet. Den ganzen ersten Tag und die Nacht hindurch hat Morsul Euch in seinen Armen herumgetragen wie ein Baby und hat die anderen davon abgehalten, sich von Euch zu... nähren.“

Plötzlich fühlte sie sich elend; sie sah, dass seine Tunika fort war und seine Stiefel verschwunden. Seine gesamte bloße Brust und sein Hals waren mit Kratzern und aufgerissenen, kleinen Schnitten übersät.

„Und Ihr?“ fragte sie. „Haben sie---?“

Er schüttelte den Kopf. „Sie haben mir weder zu trinken gegeben, noch haben sie von mir getrunken.... obwohl sie es versucht haben. Als die Sonne am ersten Abend unterging, wurden die anderen Mitglieder vom Hohen Hof der Jäger vor Blutdurst beinahe wahnsinnig. Es ist Jahrtausende her, dass sie zuletzt Elbenblut hatten. Sie sind über mich hergefallen wie wilde Hunde, und sie hätten mich in Stücke gerissen, wenn Morsul sie nicht zurückgeschlagen hätte; er drohte ihnen das Missvergnügen ihrer Herrin an. Ihre Königin wurde scheinbar während der Schlacht am Südpass verwundet. Sie warten alle darauf, dass sie aus ihrer Betäubung erwacht. Morsul hat damit geprahlt, dass sie mich für sie aufheben, wenn sie wieder zu sich kommt. Ein ,elbischer Heiltrank’, sagte er. Er legte Euch endlich dort hin, wo Ihr erwacht seid - nachdem er den anderen klargemacht hatte, dass sie seinen Zorn erleiden würden, wenn sie Euch etwas antäten. Ihr seid in diesen zwei Tagen weder aufgewacht noch habt Ihr euch geregt, und ich hatte Angst, Ihr wäret tot. Oder schlimmer.“

„Gimli?“ fragte sie leise und sah, wie sein schönes Gesicht sich vor Entsetzen und Kummer verzerrte.

„Sie haben ihn niedergerissen wie Wölfe, die einen Hirsch umzingeln.“ Legolas schluchzte beinahe. „Sie haben sich auf ihn gestürzt, während ich niedergehalten und gezwungen wurde zuzusehen. Sie---“ Er würgte an den Worten. „Ich werde die Hoffnung nicht verlieren! Sie haben ihn nicht getötet! Morsul hat ihr Spiel kurz vor Gimlis Tod beendet. Aber sie haben ihn fortgezerrt und ich habe ihn seit einem Tag nicht gesehen. Éowyn, wir werden ihn finden und diesen Ort verlassen. Ins Tageslicht werden sie uns nicht folgen!“

Sie starrte ihn in dumpfer Trauer an und schluckte den Aasgeschmack von Morsuls Blut hinunter, der noch immer an ihrer Zunge klebte. „Findet Gimli“, sagte sie zu ihm, „und geht.“

„Ihr...“ begann er.

„Legolas“, sagte sie sanft. „Ich lebe noch. Aber ich kann Euch und Gimli nicht in die Sonne folgen. Ihre Berührung verbrennt mich. Das Tageslicht ist jetzt für mich verloren.“

Er starrte einen Moment verständnislos und schockiert zurück. Dann sagte er: „Nein.“

„Morsul hat mir sein Blut die Kehle hinunter gezwungen“, sagte sie leise und brutal. „Diese Höhle ist so finster wie ein Grab, aber für meine Augen ist sie taghell. Ich bin beschmutzt. Ich verwandle mich in---“

„Nein!“ sagte er wieder, diesmal lauter; sein Gesicht verhärtete sich in sturer Verweigerung.

„Wenn Ihr mich retten wollt“, sagte sie, „dann könnt Ihr mir helfen, mir selbst das Leben zu nehmen---“

„NEIN!“ schrie er ihr ins Gesicht. Mit ihren neuen geschärften Sinnen klang es ihr wie ein Donnerschlag in den Ohren. „Ihr werdet leben! Ich werde Euch nicht erlauben, Euer Leben oder die Hoffnung aufzugeben, während noch Atem in Eurem Körper geblieben ist, Ihr törichtes Mädchen!“ Er kam auf die Füße und zog sie mit sich. „Ihr werdet mit Gimli und mit mir ans Tageslicht kommen.“ sagte er zu ihr. Seine Stimme war weder sanft noch bereit zu irgend einem Kompromiss. Es war die Stimme eines Kronprinzen, der ihren Trotz nicht dulden würde. „Ihr werdet nicht Hand an Euch legen! Wenn Ihr wirklich jenseits aller Hoffnung seid, dann wird die Sonne Euch rasch töten. Wenn nicht, dann entkommen wir gemeinsam!“ Sein Ausdruck wurde sanfter und er legte beide Hände um ihr Gesicht. „In jedem Fall seid Ihr frei von ihnen.“

„Ich werde leben“, sagte sie gehorsam und versuchte, ihre Stimme ruhig zu halten. Sie klang zerrissen und schwankend wie die einer alten Frau.

Sie holte tief Atem und schloss die Augen; sie lauschte und suchte nach einem weiteren lebenden Ding innerhalb ihrer neuen Wahrnehmung. So eigenartig. Es war weder Sicht noch Gehör noch Geruch, aber es war mit allen dreien verwandt. Es war keine menschliche Fähigkeit. Und auf den Fersen dieses Gedankens folgte eine weitere Erkenntnis. Sie langte nach unten und griff nach seinem Handgelenk. Sie packte das Metall, riss die dicke Fessel mit einem kleinen, angestrengten Grunzen in zwei Hälften und starrte mit grimmiger Befriedigung auf das zerfetzte Metall hinunter. Als sie den Blick nach oben wandte, beobachtete Legolas sie mit einem verschleierten, merkwürdig leeren Gesichtsausdruck. Aber sie konnte die schreckliche Furcht fühlen – Furcht um sie – die von ihm ausstrahlte wie kalte Luft.

„Morsul“, sagte sie wild zu ihm, „wird es sehr, sehr Leid tun, dass er mir diese zusätzliche Stärke verliehen hat – wenn ich sie gegen ihn und seine Brüder wende!“

Legolas nickte langsam und zustimmend, noch immer beunruhigt... aber die glosende Flamme seines Geistes erhellte sich spürbar, durchsetzt von Zuneigung und staunender Bewunderung.

„Ihr seid eine der tapfersten Seelen, die ich jemals gekannt habe“, sagte er laut. „Wenn wie hier und heute sterben sollten, dann möchte ich, dass Ihr das wisst. Und dass ich Euch gern besser gekannt hätte. Ich glaube, ich hätte Euch so innig lieben können wie ich Gimli und Aragorn liebe, wenn wir nur mehr Zeit gehabt---“

Sie legte ihre Hand über seine Lippen und hielt die Worte auf; ihre Augen brannten, ihre Brust wurde ihr plötzlich von Gefühlen eng. „Wir wollen nicht sagen ,wenn’ oder ,was hätte sein können’. Wie Ihr gesagt habt, wir werden alle gemeinsam entkommen!“

Er nickte gehorsam; ein Flackern abwesender Belustigung wirbelte durch das Licht seiner Gegenwart. War es auf diese Weise, wie Elben andere sahen und die Welt, die sie umgab? Sie fragte sich, ob diese Sicht ein Teil der Befleckung durch die Jäger war, oder irgend ein anhaltendes Überbleibsel des Elbentums, das Morsul versehentlich mit seinem Blut auf sie übertragen hatte. Es blieb keine Zeit, das jetzt herauszufinden.

Sie schärfte den Blick und suchte, so weit ihr neues Sehvermögen reichen konnte; sie fand, was sie suchte. „Gimli befindet sich in dieser Richtung“, sagte sie und deutete quer durch den dunklen, grabesähnlichen Raum. „Er ist am Leben. Mehr als das kann ich nicht sagen.“

Sie suchten sich langsam ihren Weg, die Nerven zum Zerreißen angespannt von der Furcht, das aufzurühren, was unter ihren Füßen schlief. Sie konnte sie spüren, tief im Bauch des Berges schlummernd, in finsteren Träumen von Blut und Schlächterei verloren. Sie waren --- Gnädiger Eru, es waren tausende! Mehr als sie jemals für möglich gehalten hätte.

Sie erreichten das Ende der Tempelkammer und hielten an dem offenen Bogen einer groben, gezackten Tür an, die abwärts in die Finsternis führte. Sie wurde von Blutdunst überwältigt; er füllte ihr mit seinem satten, roten Geruch den Kopf. Sie würgte beinahe, als sie begriff, dass er ihr für einen Moment so wohlschmeckend erschienen war wie ein ausgesuchtes Stück Fleisch am Spieß.

„Das fühlt sich an wie eine Falle.“ sagte sie.

„Es ist eine Falle“, sagte er zustimmend. „Deshalb haben sie uns getrennt; sie wussten, wenn Ihr aufwacht und mich befreit, während wir schlafen, dann werden wir nicht gehen, ohne zuerst Gimli zu suchen.“

„Es stinkt nach frischem Blut.“ sagte sie.

„Während Ihr geschlafen habt“, murmelte er leise, „brachten sie Männer aus einem --- einem Pferch irgendwo in der Tiefe nach oben. Ich bin sicher, dass es Gefangene waren, die sie am Südpass gemacht hatten. Sie brauchten die ganze Nacht, um sie zu töten... sie hetzten sie von einem Ende des Tempelraumes zum anderen, bis die Tapfersten unter ihnen weinten wie entsetzte Kinder. Sie haben die Leichen hier herunter geworfen, als sie fertig waren.“ Sein Gesicht wurde hart; sein ganzes Sein strahlte unterdrückten Zorn aus. „Sie haben Gimli hier hinuntergeworfen, als sie mit ihm fertig waren.“

„Lasst uns ihn finden!“ sagte sie mit einer kalten Wut, die der seinen Antwort gab. Oh Herrin des Lichts, was sie Morsul antun würde, wenn sie sich wiedertrafen!

Sie suchten sich ihren Weg die rauen Stufen hinab und stiegen über Leichen in verschiedenen Stadien der Verwesung hinweg. An einem Punkt ihres Abstieges fingen ihre Augen das Glitzern von Stahl ein und sie bückte sich und zog einen Säbel und einen Krummdolch aus der starren Hand eines der Toten. Legolas sprach ein leises Gebet für die verlorenen Seelen und tat das selbe. Nach den ersten zwanzig Schritten verschwanden die Stufen und sie stolperten und schlitterten halb und halb den schlüpfrigen, mörderischen Abhang des Tunnels hinab in die tiefer liegende Kammer.

Er war weniger als halb so groß wie der Tempelraum, aber er war immer noch riesig. Es war eine Stadt von Knochen und verfaulendem Fleisch, von Tieren und von Menschen. Sie waren im Geisterhaus der Jäger... ihrem Fressplatz.

„Das ist eine Sackgasse“, sagte er dicht hinter ihr. „Es gibt nur diesen Weg herein und heraus.“ Er atmete langsam aus; sein Atem in ihrem Nacken schickte eine bebende, befremdliche Anspannung durch ihren Unterleib. Elbereth! Was stimmte nicht mit ihr?!

Gnädigerweise schien Legolas es nicht zu bemerken. Plötzlich stand jedes Haar an ihrem Körper vor Wachsamkeit zu Berge. Etwas tief unten regte sich, drehte sich um und murmelte im Schlaf. Aber bis jetzt konnte sie nur die einsame Kerze von Gimlis Gegenwart erspüren. Die Jäger waren nicht hier oder auch nur in der Nähe.

„Sie sind nicht hier“, sagte sie zu ihm. Er stellte es nicht in Frage. Sie führte und wich den hellen Lichtstrahlen durch die kleinen Kerben in den Wänden aus. Es gab Dutzende von Rissen im Stein auf der linken Seite der Kammer. Sie ließen Licht einsickern wie strahlende Lecks in einem sinkenden Schiff. Sie waren – sie hielt inne und befragte ihren inneren Kompass – sie mussten sich auf der Westseite der Klippen befinden.

Sie klommen über die kleinen Knochenberge auf das pfeifende, schmerzerfüllte Keuchen zu, das in der tödlichen Stille rings um sie her das einzige Geräusch war. Der Zwerg lag halb bewusstlos auf dem Rücken, mühsam nach Luft ringend, als wäre simples Atemholen beinahe zuviel für ihn. Er war eine blutende Masse kleiner Wunden.

Als Legolas einen gedämpften Schrei ausstieß und an die Seite seines Freundes eilen wollte, erwischte sie Legolas am Arm. „Er ist nicht er selbst“, sagte sie. Sie schaute mit wachsender Angst auf den Zwerg hinunter, Angst um ihn und Angst um sich und Legolas.

„Er dürstet“, flüsterte sie. „Er hat keine Erinnerung und keinen Gedanken jenseits dieses Augenblicks. Da ist nur sein Durst und die Notwendigkeit, ihn zu stillen. Er ist---“ Sie wandte sich mit plötzlicher, blitzartiger Einsicht dem Elben zu. „Er ist dem selben Zustand wie ich es war, als ich aufgewacht bin! Sie müssen ihm irgendwann zu trinken gegeben haben, aber sie haben ihn auch bis an die Schwelle des Todes ausgesaugt. So machen sie eine lebende Seele zu einer der Ihren! Deshalb habe ich Euch nicht angegriffen, als ich erwachte. Ich bin mit ihrem Übel beschmutzt, aber ich habe keinen Durst, weil sie nie von mir getrunken haben!“

Er nickte langsam und bewegte sich behutsam vorwärts. „Bleibt zurück“, sagte er zu ihr. „Auf meine Stimme wird er besser hören, Wir müssen ihn wieder zu sich bringen, wie ich Euch zurück gebracht habe. Wenn er sich an seinen eigenen Namen erinnert, dann wird er so sein, wie Ihr es jetzt seid, und wir---“

Ein gedämpftes, rumpelndes, tierhaftes Knurren drang aus Gimlis fassförmiger Brust. Es war das Grollen eines wilden, ausgehungerten Hundes; es war schwer zu glauben, dass dieses Geräusch aus der Kehle des Zwergen gekommen war.

„Gimli!“ Legolas fuhr angesichts des fürchterlichen Klanges nicht zurück. „Gimli, Sohn des Glóin, hör mir zu!“ Noch einmal wiederholte er den Namen des Zwergen, wie er es mit dem von Éowyn getan hatte, und versuchte, ihn zurück ins Bewusstsein zu ziehen. „Gimli, ich bin es, Legolas!“

Gimli sprang. Er rauschte in einem verschwommenen Alptraum unglaublicher Geschwindigkeit vorwärts. Legolas wich aus, schnell wie ein Peitschenschlag; sie hätte sich nie vorstellen können, dass er so etwas vermochte. Aber sie hatte den Elben ja auch noch nie wirklich kämpfen sehen.

Der Zwerg drehte sich im Kreis. Er pflügte durch die feuchten, vermodernden Knochen und belauerte seinen Freund wie ein Bär einen Hirschen belauern würde. Wieder und wieder griff er an und stürzte sich mit unnatürlicher Geschwindigkeit auf Legolas; noch immer fehlte ihm jeder Anschein der Lebendigkeit. Legolas zuckte hierhin und dorthin und rief noch immer Gimlis Namen. Seltsamerweise schien der Elb sich nicht im mindesten zu fürchten, als sei er vorbehaltlos davon überzeugt, das sein Freund ihn nie verletzen würde, selbst in seinem extremen Zustand.

Éowyn besaß ein solches Vertrauen nicht. Und schlimmer noch, sie spürte eine erneute Regung der Wachheit aus der Tiefe, stärker diesmal, eine flackernde, schläfrige Neugier. Oh süßer Eru!

„Legolas!“ rief sie. „Uns wird die Zeit knapp! In wenigen Augenblicken fallen sie über uns her! Schlagt ihn bewusstlos, und dann tragen wir ihn, wenn wir müssen!“

Legolas hörte auf, sich zu bewegen und stand still, als Gimli einmal mehr auf ihn zustürzte. Dann kniete er sich mit einer raschen, fließenden Bewegung hin. „Es tut mir Leid, Elvellon!“ Er versetzte dem näher kommenden Zwerg einen Schlag unter das Kinn, und erhob sich dabei, so dass der Hieb sich noch verstärkte. Gimli flog geradezu rückwärts und landete unter dem lauten Knirschen verwitterter Knochen auf dem Rücken. Sie sahen zu, wie sich der Zwerg behutsam das Kinn rieb. Das Kratzen seines Bartes war das einzige Geräusch in der plötzlichen Stille. Dann hob er den Kopf und begegnete ihren Augen mit segensreicher, gequälter Klarheit.

„Närrischer Elb!“ murmelte Gimli unter Schmerzen. „Du hast mir beinahe das Kinn gebrochen!“

Legolas gab ein kurzes, bellendes Lachen von sich, das mehr zur Hälfte ein Schluchzen war. „Hartschädeliger Zwerg!“ sagte er. „Dein Kinn hat mir fast die Hand gebrochen!“

Es blieb keine Zeit mehr für eine Warnung. Es blieb keine Zeit, aufzuschreien. In einem Augenblick fühlte sie einen Ausbruch plötzlichen Bewusstseins, sah, wie sich in ihrem Geist geschlitzte, goldene Augen weit öffneten vor Überraschung und Zorn. Einen Herzschlag später explodierte der Fußboden in einem Schauer aus Knochensplittern und Aas, als die Jäger von ihrem Ruheplatz aus nach oben sprangen und mit Lichtgeschwindigkeit durch die Tunnel unter ihnen flogen. Der größte der Knochenberge hatte eine Grube verborgen gehalten, die hinunter in das Hauptnest führte.

Es gab keinen Kampf. Es waren zu viele und sie waren zu schnell. Sie war eine Närrin gewesen zu denken, dass sie im Kampf gegen sie bestehen konnte, selbst jetzt. Selbst mit Morsuls Blut, das in ihren Venen kreiste, war das Beste, was sie fertig brachte, dass sie ihre Bewegungen mit den Augen verfolgen konnte. Einen Moment später hing sie in der Luft, im Griff eines geflügelten Grauens zusammen gequetscht; ihr Schwert war fort und ihren Dolch hatte man ihr abgenommen. Und damit all ihre Hoffnung. Sein entsetzlich großes Maul gähnte weit offen und senkte sich auf ihre wehrlose Kehle hinab.

Es kreischte vor Schmerz, als es quer durch den Bauch in zwei Hälften gehackt wurde; es stürzte aus der Luft und sie fiel mit ihm und landete in einem blutigen Gewirr aus Körperteilen. Morsul riss die obere Hälfte des monströsen Kadavers von ihr herunter und starrte den Kreis der anderen Jäger an, zischend vor Wut.

„Alle von Euch, die versucht sein sollten, von meiner Tochter zu kosten, ehe sie vollständig verwandelt ist, sollten sich an dies hier erinnern!“ sagte er kalt. Sie schraken vor seinem Zorn zurück und krümmten sich in kriecherischem Gehorsam auf dem Boden.

Sie versuchte, stolpernd auf die Füße zu kommen und sah sich wild nach Gimli und Legolas um. Beide wurden von den Klauenhänden vollkommen verwandelter Jäger festgehalten. Éowyn hatte den plötzlichen, verrückten Gedanken, dass Fallah sich, wenn sie hier wäre, Notizen machen würde über die Qualität ihrer menschlichen Gestalt im Vergleich zu den riesigen Gestalten mit Fledermausflügeln und krummen Krallen. Sie schienen wie schlammiges Wasser, das über Ton strömte, von der einen Gestalt in die nächste zu fließen, abhängig von ihrer Stimmung oder dem, was der Augenblick erforderte. In hypnotischer Furcht beobachtete sie, wie die anderen langsam Menschengestalt annahmen. Es waren vielleicht hundert, allesamt Menschen, Morsul als einziger ausgenommen. Manche trugen schlecht zusammen passende Lumpen, ohne Zweifel von den Toten geraubt. Einer oder zwei trugen die Rüstung von Harad, obwohl sie altertümlich aussah. Viele von ihnen trugen gar nichts am Leib.

Er langte nach unten, zerrte sie auf die Füße und untersuchte sie nach irgend einem Anzeichen von Verletzungen. Bei der ersten Berührung seiner Hände schrie sie auf. Sie konnte spüren, wie er sich gegen ihren Willen drängte, sie umschmeichelte , still zu halten, ihr befahl, ihn einzulassen und ihm ihren Geist zu öffnen. Sie drängte ihn zurück, Auge in Auge und vertrieb ihn wieder und wieder von den verbarrikadierten Toren ihrer Seele. Es war leichter, als es jenes erste, beängstigende Mal gewesen war, als er versucht hatte, ihren Willen zu beugen. Endlich gab er ein enttäuschtes Grollen von sich, nur um einen Moment später anerkennend zu lachen.

„Ach, na schön“, sagte er liebevoll, „was sollte ich auch mit einer schwachen, geistlosen Frau anfangen.“

Er zog sie vorwärts und hielt ihr die Arme an den Seiten fest. Dann küsste er sie voll auf die Lippen, und sie schrie vor Zorn. Diesmal hatte er kein Blut im Mund, diesmal war es nur das Brechreiz erregende Gefühl der Niederlage... dass er einmal mehr mit ihr getan hatte, was ihm gefiel. Da war nur die Wut, dass sie wieder nicht stark genug war, um ihn aufzuhalten.

Legolas und Gimli schrieen beide vor Abscheu. Gimli schien in seiner Raserei das meiste von seinem Westron verloren zu haben und spie eine Flut zwergischer Obszönitäten aus. Morsul löste seine widerwärtige Umarmung, als Legolas etwas auf Elbisch sagte, etwas, das den dunklen Elben vor Zorn knurren ließ.

„Oh, ich werde noch mehr an sie legen als meine ,verrotteten, toten Hände’, mein Junge!“ sagte Morsul grob. „Ich werde sie auf jede vorstellbare Art und Weise besitzen! Sie wird meine Erstgeborene sein, mein Kind und meine Gefährtin für alle Zeiten!“

Er setzte sie in die wartenden Arme eines Jägers ab, der den fremdartigen Harnisch eines Stammesangehörigen von Khand trug. Der dunkle Elb ging steifbeinig vorwärts, das schöne Gesicht von schadenfroher Bosheit erfüllt. Langsam, mit absichtlicher Grausamkeit, zog er einen langen, scharfen Nagel über Legolas’ Brust hinunter und ließ eine rote Spur zurück. Die anderen Jäger summten vor Lüsternheit und schmatzten mit den Lippen, als der Geruch von Legolas’ Blut den Raum erfüllte.

Legolas hielt Morsuls Blick stand, ohne zusammenzuzucken; äußerlich reagierte er nicht auf die Verletzung, obwohl sie den Schmerz sehen konnte. Er verfärbte seinen Geist mit einem rotgeränderten Nebel.

Morsul lächelte langsam. „Lasst den Zwerg los“, befahl er. „Er hat sich seiner selbst erinnert, aber das wird das Ganze nur umso unterhaltsamer machen. Wir wollen uns die Zeit bis zum Sonnenuntergang mit einem Spiel vertreiben... wir wollen sehen, wie lange der Naugrim braucht, bis er die Kontrolle verliert und sich von seinem lieben Freund nährt.“

Er schlenderte mit gemächlicher Grazie zurück und nahm sie dem Jäger ab, der sie festhielt, während die anderen Gimli freigaben und ihn vorwärts dorthin stießen, wo Legolas zwischen den sich auftürmenden Bestien stand.

Gimli stand einen Moment mit gesenktem Kopf da, dann stürzte er sich brüllend vor Wut auf den von ihnen, der ihm am nächsten stand. Sie bildeten einen Kreis und johlten vor Lachen. Einer warf ihm eine Axt zu. Der Griff war pockennarbig vor Alter, aber die Klinge leuchtete noch immer hell. Er hob sie mit beiden Händen und lächelte mit grimmigem Vergnügen.

„Das wird euch Leid tun, Ihr schleimigen Blutegel!“

Sie grölten und lachten bis zu dem Augenblick, als er mit blendender Geschwindigkeit zu einer Seite hinüber schoss und einen von ihnen in zwei saubere Hälften zerteilte.

„Erschlagt ihn nicht!“ rief Morsul warnend, als sie sich alle gleichzeitig auf ihn stürzen wollten. „Wenn Ihr gefährliche Regeln macht, dann beklagt Euch nicht, wenn das Spiel misslingt.“ Er wandte sich zu ihr zurück, und während sie strampelte und kratzte, zog er sie in seine Arme. Er bemerkte ihre Abwehr kaum. Er hielt sie fest, kippte ihren Kopf ohne Vorwarnung zur Seite und grub seine Zähne mit einem hungrigen Knurren in den Übergang von ihrem Hals zur Schulter. Er trank lange und in tiefen Zügen, während sie in seinem Griff hing, verloren in einem Nebel aus Schmerz und Schock. Die ganze Zeit über schlug er fruchtlos gegen ihren Geist, wie eine tönerne Belagerungsmaschine, die die Barriere zu ihrer Seele niemals durchbrach. Als ihr Bewusstsein zu schwinden begann, stellte sie fest, dass sie ein Dankgebet dafür sprach, dass es ihm nicht gelungen war. Irgendwie war sie sich sicher, dass sie, wenn er erfolgreich damit gewesen wäre, durch die Verteidigungslinie ihres Geistes zu dringen, bei seinem Biss nichts verspürt hätte als Vergnügen. Ohne das Gewicht seines Willens, der den ihren überwand, war es, als würde sie von einem wilden Hund angefallen. Und in ihrer Vorstellung war dies unendlich vorzuziehen.

Ohne Vorwarnung, gerade als sie spürte, wie die letzte Verbindung zu ihrem Bewusstsein anfing, davon zu gleiten, versteifte er sich gegen sie und rang nach Luft wie ein Mann, den man durch die Brust geschossen hat. Er zog sich zurück, sein bleiches Gesicht einen Zoll von dem ihren entfernt, eine Maske aus Überraschung und aufdämmerndem Entsetzen.

„Was---?“ hauchte er. „Was hast du getan?“ Er sank auf die Knie, erschauerte und hielt sie noch immer an sich gedrückt. Éowyn wandte schmerzerfüllt den Kopf ab und versuchte, Gimli und Legolas zu erspähen.

Die Jäger hatten Gimli die Waffe abgenommen, nach dem sie einen anderen der Ihren an die Axt verloren, die sie ihn gegeben hatten. Einer, ein Mann mit den Gesichtszügen und grauen Augen der Söhne von Númenor, rieb mit einer Hand über die Wunde auf Legolas’ Brust und verschmierte das Blut auf Gimlis Lippen. Selbst von dort, wo sie stand, konnte Éowyn das berauschende Aroma riechen, und als sie begriff, dass ihr das Wasser im Munde zusammenlief, kämpfte sie einen Aufschrei nieder.

„Nein!“ Sie wand einen Arm aus dem eisernen Käfig von Morsuls Umklammerung frei, ballte die Faust und trieb sie mit aller Macht in seine Wange. Der Schlag schien ihn kaum zu kümmern. Er sah abwesend aus, beinahe betäubt.

„Tut das nicht!“ spie sie. „Tötet uns alle zu Eurem Vergnügen, aber tut ihnen das nicht an!“

„Was hast du mir angetan?!“ fragte Morsul heiser, als hätte er ihre Worte nicht gehört. „Es schmerzt! Oh Eru, lass nicht zu, dass ich mich erinnere! Es schmerzt!“

Gimli schauderte und stand da wie angewurzelt. Seine Hand hielt er über den Mund gepresst, um den Blutgeruch auszuschalten. Sein Gesicht war eine verzerrte Maske der Qual; er weinte jetzt ganz offen und murmelte vor sich hin: „Ich werde es nicht tun! Ich werde es nicht tun!“

Legolas hing noch immer zwischen zwei Jägern und schrie Morsul und den anderen elbische Flüche entgegen, die ganz sicher Éowyns Ohren versengt hätten, hätte sie nur irgend etwas von dem verstanden, was er sagte.

Gimli wich aus und versuchte zu flüchten, verzweifelt bemüht, etwas Abstand zwischen sich und seinen Freund zu bringen, aber die anderen fingen ihn ein. Sie stießen ihn in den Ring zurück, den sie um die Jäger gebildet hatten, die Legolas festhielten, und kreischten grausam vor Lachen.

„Bitte“, sagte sie und zwang das Wort durch zusammengebissene Zähne. Er hatte sie seine Tochter genannt, seine Gefährtin. Was für eine seltsame Besessenheit es auch war, die er für sie entwickelt hatte, sie würde sie benutzen, wenn sie ihn auf irgend eine Weise damit rühren konnte.

Morsuls Augen glühten in plötzlicher Hoffnung, und er schien sich ein wenig zu erholen. Er zog sie dicht an sich, sein leichenkalter Körper in ganzer Länge gegen sie gepresst, zitternd vor Eifer. „Sag es noch einmal, meine Süße.“ Er schlang eine Hand um ihren Nacken und zog sie noch dichter heran, seinen stinkenden Atem auf ihren Lippen.

„Bitte...“ flüsterte sie. All ihr Stolz und ihre Abwehr waren mit dem Klang von Gimlis heiserem, verzweifelten Schluchzen zerronnen. Er war dabei, seinen Kampf gegen den giftigen Wahnsinn, den sie in seine Adern gesät hatten, zu verlieren. „Bitte zwingt nicht einen von beiden, den anderen zu töten!“

Wieder küsste er sie, langsam, ihren Mund auskostend. „Und was wirst du mir geben, wenn ich diesem Spiel ein Ende mache?“

Sie begann am ganzen Körper zu zittern; Panik riss an ihr wie ein wildes Tier. „Ich --- ich---“ Sie konnte vor Angst nicht sprechen, Angst vor dem, was er von ihr verlangen würde. Ihr Mut zerschellte wie zerbrechliches Glas und jede gebrochene Scherbe spiegelte ein Alptraumbild von Gríma Schlangenzunges Gesicht wieder.

Morsuls bleiches Gesicht fror ein; seine goldenen Katzenaugen weiteten sich langsam vor Überraschung. „Nein, Liebste.“ Er lächelte humorlos und ganz ohne seinen üblichen Spott. Sie hatte das eigenartige Gefühl, dass sie einen Schatten des Elben sah, der er einst gewesen war. „Selbst jetzt bin ich nicht so tief gefallen, dass ich mich dir aufzwingen würde.“ Er lächelte wieder, und ein Hauch des alten, schwarzen Vergnügens kehrte in seine Stimme zurück. „Und wenn du vollständig verwandelt bist, dann wirst du meine Umarmungen freudig erwidern.“

„Wenn ich vollständig verwandelt wäre, dann würde ich Euch töten“, sagte sie mühsam, obwohl sie noch immer darum rang, vor Schwäche und Blutverlust nicht in Ohnmacht zu fallen. „Lebendig oder tot, ich werde nicht ruhen, bis ich Indassa und Fallah gerächt habe.“ Sie betrachtete ihn kalt und versuchte, nicht in seinen Armen zu zittern wie ein Kaninchen in der Schlinge. „Was ist Euer Preis?“

„Du musst mir deinen Geist öffnen“, sagte er, und seine gelben Augen verdunkelten sich mit einer Art schrecklichem Verlangen. Er leckte sich langsam mit der Zunge über die Lippen. „Öffne das versperrte Tor in deiner Seele, während ich trinke.“

„Wie“, fragte sie grob, „ist das in irgendeiner Weise weniger abscheulich als mich in Euer Bett zu zwingen?!“ Sie sah, wie er angesichts der eisigen Flut aus angeekeltem Hass, die sie ihm entgegen schleuderte, unmerklich zusammenfuhr. Er musste fähig sein, Gefühle auf die selbe Art zu erspüren, wie sie es jetzt konnte.

Sie sah nicht, wie es geschah. Sie hörte einen Schrei von Gimli, einen Schrei, der ihr die Seele zerriss... und ein gewaltiges Krachen von zerbrechendem Stein. Licht flutete herein durch eine gezacktes Öffnung, wo einen Augenblick zuvor noch ein armdicker Riss gewesen war. Die Jäger stoben auseinander und sie zischte vor Schmerz, als das Licht sie voll ins Gesicht traf und sie einen Moment lang blendete. Morsul zerrte sie in die Sicherheit der Finsternis zurück; er starrte verblüfft auf die gähnende Öffnung in der Ostwand der Höhle.

Legolas hatte aufgehört zu schreien. Er hatte sich von seinen Wächtern freigekämpft, als sie in die Dunkelheit in Deckung rannten. Und jetzt brachte er sie um. Er hatte ein Paar Klingen unter den zahlreichen Waffen gefunden, die über den Boden verstreut lagen, und nun bewegte er sich unter den Jägern wie die Hand von Mandos. In ihrer Verwirrung und zeitweiligen Blindheit hieb er sich eine Schneise durch sie hindurch mit der anmutigen, selbstvergessenen Präzision und Gnadenlosigkeit eines eiskalten Mörders. Sein Gesicht war leer und gänzlich ausdruckslos, aber er strahlte eine wahnwitzige, wütende Trauer aus, die ihr den Atem raubte. Sie hatte um seinen Ruf als Krieger gewusst, sie hatte Geschichten über seine Schnelligkeit und seine Fähigkeiten im Kampf gehört, aber nichts, das der Wahrheit auch nur annähernd gerecht wurde.

Sie erholten sich und gewannen ihr Sehvermögen allzu schnell zurück; Dutzende von ihnen näherten sich ihm in Rudeln. Und trotzdem taten sie es mit Vorsicht. Es brauchte weitere fünf Minuten und ein weiteres halbes Dutzend Tote, bis sie ihn wieder zu Boden rissen und bewusstlos schlugen.

„Dummer, stinkender, schlammfressender Naugrim!“ Morsul heulte vor Wut. Er zerrte sie vorwärts, gerade bis an den Rand des Lichts. Sie starrte das grobe Loch in der Wand an und begriff, dass es auf die Ostseite der Klippen führte.

Endlich verstand Éowyn. Gimli hatte die Kontrolle verloren, den letzten Rest Widerstand gegen den wahnsinnigen Blutdurst. Also war er dem Spiel auf die einzige Weise entkommen, in der er es konnte. Er hatte sich gegen die Wand geworfen und die zusätzliche Kraft benutzt, die sie ihm verliehen hatten. Er hatte den Stein zerschmettert, der ihn zum Tageslicht führte und sich den Berghang hinunter gestürzt. Er war lieber in den Tod gesprungen als sich an seinem Freund zu sättigen.

„Wir sind allesamt erledigt, wenn die Herrin jetzt erwacht“, sagte einer der Jäger mit ängstlicher Stimme.

Éowyn ließ den Kopf hängen, zu betäubt für Kummer; sie hoffte gegen alle Hoffnung auf einen raschen Tod, wenn die Königin der Jäger erwachte. Morsul fing ihren Körper auf, bevor sie zu Boden sackte.

Aber der Tod kam nicht.

Sie träumte von Schlachten, vom Töten und von rotem Chaos. Sie erinnerte sich dunkel daran, aus einer fließenden Quelle süßen, üppig purpurnen Wein getrunken zu haben, und an Morsuls Stimme, die sanft zu ihr sprach. „Stärke dich, meine Tochter! Ich werde dich nicht verlieren! Ich lasse es nicht zu!“

Der Tag verblutete in beruhigende Dunkelheit hinein und Éowyn erwachte erneut, um sich in der Tempelkammer wiederzufinden. Sie kam jäh unter dem Geräusch von höhnischem Gekrächze und kreischenden Schmerzensschreien zu sich.

Warme, starke Arme umschlangen sie, so warm und süß wie die Umarmung von Morsul kalt gewesen war. Es waren Legolas’ Arme, in denen sie lag, ihren Oberkörper quer über seinem Schoß. Sie starrte in sein ausdrucksloses, hartes Gesicht hinauf. Dieser Ausdruck wirkte so falsch auf seinen Zügen. Er brannte in ihrem Geist wie eine Fackel aus flammendem Zorn und bodenlosem Kummer. Sie durchsuchte ihr Herz nach einer Trauer, die der seinen Antwort gab, aber sie konnte in diesem Moment nichts anderes fühlen als siedenden Hass auf die, die Gimli in den Tod getrieben hatten.

Die Tempelhalle war voll. Die riesige Höhle war bis zum Rand mit Hunderten von Jägern gefüllt. Nein – es waren Tausende. Und sie schrieen allesamt, sie gackerten in wahnwitziger, giftiger Freude über irgend eine scheußliche Belustigung, die sie nicht sehen konnte. Die einzige Gnade war die, dass sie außer Legolas und sich selbst keine andere lebende Seele um sich her zu erspüren vermochte. Was immer sie auch Schreckliches machten, wenigstens taten es die Jäger einem der Ihren an.

„Ihre Königin hat sich erhoben“, sagte Legolas tonlos zu ihr.

Sie atmete ein, und sein Geruch, der süße Duft seines Blutes, erfüllte ihren Kopf mit einem irrsinnigen, gierigen Durst. Sie setzte sich auf und befreite sich in blinder, entsetzter Panik aus seinen Armen; als er ihre Hände nehmen wollte, hielt sie ihn warnend mit einem Arm zurück.

„Fasst mich nicht an!“ sagte sie. Die Verzweiflung in ihrer Stimme klang selbst in ihren eigenen Ohren herzzereißend.

„Éowyn---“

„Euer Blut duftet für mich wie Honig auf frisch gebackenem Brot!“ sagte sie ihm mit einer harten, verängstigten Stimme. „Bleibt zurück!“

Er kniete dicht vor ihr, ohne sie zu berühren. Die Jäger rings um sie her schenkten ihren Bewegungen keinerlei Aufmerksamkeit. Sie waren mitten im Auge der Versammlung. Sie würden nicht entkommen.

„Ich fürchte Euch nicht.“ sagte Legolas leise.

Sie hätte ein Jahr lang weinen mögen über das süße Vertrauen in seiner Stimme.

„Oh Legolas!“ flüsterte sie. „Wir sind verloren!“

Er beugte sich vor und hielt hartnäckig ihre Hände fest, als sie sie fortziehen wollte. „Die Königin tötet ihren Hofstaat, all die, die Gimli dazu getrieben haben, sich... sich...“ Er schluckte ein leises Schluchzen hinunter. Wieder verhärtete sich sein Gesicht, und er zwang seinen Ausdruck zu glatter Gelassenheit. „Ich werde ihnen nicht mehr den Gefallen tun zu weinen oder zu ihrem Vergnügen zu schreien, ganz gleich, was sie mir antun. Éowyn, wir können noch immer tapfer sterben! Ich habe die Königin in diesem Gewimmel noch nicht zu Gesicht bekommen, aber sie hat eine fürchterliche Laune. Sie schätzt es nicht, wenn man ihr nicht gehorcht, und Morsuls gesamte kleine Bande muss für Gimlis Tod bezahlen. Wenn wir furchtlos vor ihr stehen – und mehr noch, wenn wir sie ausreichend erzürnen – dann wird sie uns in ihrer Wut vielleicht rasch töten.“

„Und es gibt immer die Hoffnung, dass wir irgendwie vielleicht sie töten können.“ antwortete Éowyn. Der Stahl in ihrer Seele, der Stolz der Kriegerin, die unter dem Schatten von Angmar nicht erbleicht war, die in den sonnenlosen Landen von Forodwaith Trolle und Werdrachen erschlagen hatte, erhob sich und stärkte ihr das Rückgrat. „Jedes üble Geschöpf, das die Helligkeit der Welt verdunkelt, soll sterben!“ sagte sie.

Er nickte langsam; bei ihren Worten erwachte gegen alle Vernunft Hoffnung in ihm. „Wenn Sauron von der Hand eines Halblings nieder geworfen werden kann, dann können diese Bestien von unserer Hand sterben. Jede einzelne von ihnen!“

Impulsiv beugte sie sich vor und küsste ihn auf die Lippen. Sie waren so weich und süß, wie sie gewusst hatte, dass sie es sein würden. Ein warmer Rausch des Verlangens breitete sich in ihrem Körper aus und der Atem blieb ihr in der Kehle stecken. Hier auf der Schwelle des Todes, konnte sie dieses Gefühl ohne Scham oder Verlegenheit bei seinem richtigen Namen nennen. Es war die bitterste aller Ironien, dass die schwarze Befleckung durch das Blut der Jäger, die all ihre Sinne in Brand gesetzt und jede Empfindung zu schwindelerregender Euphorie gesteigert hatte, imstande gewesen war, die Barrikade aus Eis nieder zu brechen, die sich nach Grímas geträumtem Missbrauch um all ihre Leidenschaften gebildet hatte. Er ist schön und freundlich, hatte Indassa über Legolas gesagt. Und er macht mir keine Angst.

Er schnappte gegen ihren Mund nach Luft – vielleicht vor Überraschung – aber er wich nicht zurück. Als sie sich endlich von ihm löste, was sein Gesicht eine Studie weichen Staunens. Sie fragte sich, ob sie ihn noch mehr schockiert hatte als Indassa.

„Ich wollte heute Nacht nicht sterben“, erklärte sie leise, „ohne dass ich jemals einen anderen Mann geküsst habe als Morsul.“

Seine Antwort ging in den schrillen Schreien der Jäger unter, die wie eine Ratsversammlung von Krähen kreischten. Sie teilten sich wie ein Korridor aus Wasser, der vom Schwanz eines Wirbelsturms zur Seite geweht wird und bildeten eine Insel vor ihren Gefangenen. Langsam standen Éowyn und Legolas auf. Sie begegnete seinem Blick und er nickte, sein Gesicht ohne Lächeln, seine tiefgraue Augen hart. Éowyn stand hoch aufgerichtet, den Kopf erhoben.

Langsam machten sie sich auf den Weg, Seite an Seite. Als eines der nächsten Nachtgeschöpfe sie schlagen wollte, um sie dazu zu zwingen, sich schneller zu bewegen, streckte Éowyn die Hand aus und packte eine seiner Klauen; sie verdrehte sie, bis sie die Knochen brechen hörte. „Stärke dich, meine Tochter“ hatte Morsul gesagt. Der Korridor zwischen den Leibern verbreitete sich spürbar und gab ihnen mehr Raum.

Während sie sich vorwärts bewegten, sah Éowyn mit selbstsüchtiger Erleichterung, dass es in der Menge keine vertrauten Gesichter gab. Sie erkannte keine der zwanzig Frauen und Mädchen der Wache wieder, die am Südpass spurlos verschwunden waren. Sie starrte entschlossen geradeaus, während sie mit gleichmäßigen, ruhigen Schritten weiter gingen.

Am Ende öffnete sich die Menge vor ihnen und offenbarte ein rot beflecktes Podest. Darauf befand sich ein großer, reich verzierter, purpurbespritzter Thron aus menschlichen Knochen, zu einem Kunstwerk behauen. Der Thron war allerdings nicht von solch ätherischer Schönheit wie die Kreatur, die darauf saß.

Die Königin der Jäger war bleich wie das Spiegelbild des Mondes in den gefrorenen Seen des Nordens. Sie war weder jung noch alt, sondern hatte die Erscheinung einer Frau im Hochsommer ihres Lebens. Langes, schwarzes Haar wallte um ihren Leib wie ein Umhang aus Zobel. Sie schien ein schimmerndes Gewand aus Gaze und leuchtender Seide zu tragen, aber es waberte wie ein Trugbild und wirkte wie Spinnwebfäden, in denen sich das Mondlicht fing. Sie war so schön wie die süßeste, finsterste, verbotenste Sünde, und obwohl sie mitten in den zerrissenen Leibern ihrer Kinder auf einem blutbeschmierten Thron saß, befleckte nicht ein einziger Blutstropfen ihren Körper oder ihr Gewand.

Vor ihr, umgeben von den Überresten der anderen Jäger, die Gimli zu Tode gequält hatten, kniete Morsul. Sein Gesicht war in Unterwerfung bis zum Granitfußboden heruntergebeugt. Als sie näher kamen und Seite and Seite neben ihm vor seiner Königin standen, zuckten seine Augen zu Éowyn hinüber. Jeder Zoll seiner Haltung war ein Bild starren Entsetzens. Sie wollte nicht allzu gründlich darüber nachdenken, welche Art Wesen einem Alptraumgeschöpf wie Morsul solche Angst einflößen konnte.

Die Königin lächelte liebevoll auf den Elb hinunter, der gebückt vor ihr kniete. Als sie sprach, war ihre Stimme so süß wie dunkler Honigmet. „Wenn du nicht so überaus lieblich wärst, mein ungezogenes Schoßtier, dann hättest du dich deinen Spielgefährten angeschlossen, die mein Podium schmücken.“

„Ich bitte um Vergebung, Herrin.“ sagte Morsul demütig.

Die Herrin der Jäger erhob sich mit fließender, katzengleicher Grazie von ihrem Thron. Sie legte Morsul einen Finger unter das Kinn und brachte ihn so dazu, aufzustehen. Während sie das tat, sah Éowyn, dass ich Arm eine geschwärzte Masse aus Verbrennungen und vernarbtem Fleisch war. Sie unterdrückte ein Lächeln. Fallah wäre so stolz gewesen.

„Du hast dir mit eigenen Händen eine passende Strafe für deinen Ungehorsam erschaffen, mein Morsul.“ Die Königin lächelte und küsste die Lippen des dunklen Elben wie eine Geliebte, die wehmütig Abschied nimmt. Und während sie noch sprach, wandte sie sich Éowyn zu. Ihre Augen leuchteten in der Dunkelheit. Es waren nicht die Augen einer Tochter von Menschen oder einer Elbenfrau. Sie waren von einem blassen Eisblau, so bleich, dass sie fast weiß wirkten. Ihr Blick war von einer solchen Macht erfüllt, dass Éowyn unter ihrer kühlen Betrachtung erbebte und sich närrisch vorkam, wie ein schmuddliges, kotbeschmiertes Straßenkind vor einer großen Herrscherin. Éowyn straffte das Kinn und gebot dem Zittern Einhalt. Selbst ein schmuddeliges Straßenkind war besser als diese blutsaugende Ausgeburt der Nacht.

Die Königin lächelte kalt, als könnte sie ihre Gedanken lesen. Éowyn schrie, als eine Lawine über ihr niederbrach, ein Gewicht aus Willen und Druck, das ihr die Luft aus den Lungen saugte und sie mit einem Gefühl zurückließ, als sei ihr Hirn zerquetscht worden. Der Rammbock der Macht durchdrang ihen Willen nicht, aber es fühlte sich an, als würde er sie mit seinem Begehren nach Einlass schlicht zerbrechen. So schnell wie er begann, ließ der Angriff wieder nach und Éowyn blieb zurück, schwindelig vor Übelkeit.

„Sag mir“, murmelte die Königin und beobachtete Éowyn mit großem Interesse, als wäre sie ein Käfer unter einer Glasglocke. „Wer hat die Barriere in deinen Geist gesetzt? Es war nicht einer der Eldar.“

„Barriere?“ wiederholte Éowyn unsicher.

Die Herrin der Jäger schüttelte in milder Verachtung den Kopf. „Ahnungslose Dirne! Da ist eine Barriere, eine Art Steinmauer auf der Schwelle deines schwächlichen Geistes. Sie ist mit der Gabe und der Macht der Ainur gebaut. Ich könnte deinen Geist wie ein Stück Ungeziefer zerquetschen, aber ich kann nicht in ihn eindringen. Wer unter den Großen hat ein wertloses, sterbliches Kind eines solches Schutzes für würdig erachtet?“

Gandalf, flüsterte Éowyns Geist.

Der eisig blaue Blick der Königin flackerte zu Legolas und er rang ebenso nach Luft wie Éowyn, obwohl er nicht aufschrie. Sie hielt die Augen des Elben einen Moment fest, bevor sie ihn freigab. Legolas sackte vor Erleichterung zusammen. Er schwankte auf den Beinen.

„Mithrandir“, sagte sie nachdenklich, „Gandalf der Graue.“ Sie rollte die Namen, die sie gerade aus Legolas’ Kopf gezogen hatte, auf der Zunge. „Vielleicht kannte ich ihn einst, vor langer Zeit. Deine Erinnerungen an ihn berühren irgend etwas Vertrautes, obwohl die Gestalt, die er benutzt hat, mir fremd ist. Olórin ist sein Name, denke ich. Als war er es, der sich verschworen hat, Sauron nieder zu werfen... und er hatte Erfolg. Das erklärt eine Menge. Wer hätte gedacht, dass so eine graue Maus von einem Gelehrten soviel Köpfchen hat! Einst hat er in Niennas Hallen gedient... vielleicht hatte er Ihr ewiges Gejammer satt.“*

„Ihr wart einst eine der Ainur?“ Legolas Augen weiteten sich. „Ich kenne die Legende Eurer Erschaffung! Ihr seid Thuringwethil!“**

„Das war ich“, erwiderte sie liebenswürdig. Éowyn spürte, wie ihr bei dem Blick, den die Königin der Jäger Legolas zuwarf, der Mund trocken wurde. Thuringwethil beäugte ihn mit hungriger Erwartung, als wäre er ein preisgekröntes Stück Pferdefleisch, ein wilder Hengst, den sie zu kaufen gedachte. „Ich werde Simiasha die Jägerin genannt. Ein neuer Name für ein neues Zeitalter. Eine kleine Anzahl meines Volkes folgte dem wahren Dunklen Gott in diese Schattenlande. Sauron, diese schmeichelnde Kröte, war nur einer von vielen. Er überlebte den Fall von Angband wegen seiner großen Durchtriebenheit, aber auch wegen seines wundersamen Talentes, immer dann den Schwanz einzuziehen und zu flüchten, wenn seine Pläne fehlschlugen. Ich habe seinen Sturz genossen! Jetzt ist er nur noch Rauch und Asche und wandert heimatlos über die Ebenen von Dagorlad. Wie wundervoll! Sauron ist nicht mehr. Der süßzüngige, junge Herrscher von Harad schmachtet in meiner Finsternis, und bald werden seine Häuptlinge sich im Kampf um ein Stück von seinem Reich gegenseitig auffressen. Nun steht nur noch ein einziges, schwaches, menschliches Hindernis zwischen uns und einem absoluten Chaos in ganz Mittelerde.“ Sie lächelte wie ein Mädchen, das über seine große Liebe seufzt. „Und auf den Flügeln des Chaos werden wir uns erheben, meine Kinder!“

Die Jäger brüllten vor Freude. Ihre schrillen Schreie hallten von den Wänden der Höhle wieder.

Aragorn? dachte Éowyn plötzlich. Süße Herrin, meint sie Aragorn?!

Simiasha streckte träge eine Hand aus und nahm Éowyns Kinn in ihre zerstörte Hand. „Hast du etwas gesagt, Kind?“

„Ihr werdet Aragorn nicht in Euer Netz locken, so wie Ihr es mit Haradoun getan habt!“ sagte Éowyn geringschätzig.

„Das habe ich bereits.“ Simiasha gab ein trillerndes Lachen von sich, süß und böse. „Ich habe dem jungen Haradoun die Gelegenheit geboten, mein Hauptmann unter der Sonne zu sein, mein Schwertarm im Tageslicht seiner eigenen Länder und in den Ländern des Westens. Ich habe ihm sogar angeboten, von meinem unsterblichen Blut zu kosten, wenn er mir den Preis bringt, die ich verlange – die beiden engsten Freunde des westlichen Königs!“

Sie schürzte die Lippen und offenbarte ihre langen Fangzähne; sie ergötzte sich ganz offen am Entsetzen ihrer Gefangenen.

„Wir haben zugelassen, dass ein paar Männer von Gondor in Sicherheit fliehen, den Weg zurück, den sie gekommen sind. Sie werden bis nach Minas Tirith gerannt sein, so schnell ihre Füße sie trugen, um ihre entsetzliche Geschichte zu erzählen. Oh, Elessar wird so bestürzt sein, wenn er hört, dass seine alten Gefährten gefangen genommen oder erschlagen worden sind! Das, gemeinsam mit den Überfällen meiner Kinder auf den Feldern im Grenzland von Gondor, wird sicherstellen, dass Elessar genau jetzt edelmütig zu eurer Rettung herbei reitet! Haradoun, eifriges Kätzchen, das er war, bot sogar an, mir ohne Mehrkosten noch eine Geisel zu einzufangen. Er sagte, unter den Händlern hielte sich das Gerücht, dass Aragorns kriegerische Geliebte jetzt in meinem eigenen Land lebt.“

Simiasha lächelte, als sie die Wut sah, die in Éowyns Gesicht aufblitzte.

„Aber was das angeht, wurde ich irregeführt, wie es scheint. Du bist noch Jungfrau, mein Mädchen. Und wenn du Elessar niemals das Bett gewärmt hast, dann bist du als Köder für einen König nutzlos.“ Sie gluckste tief in der Kehle und ihr Blick glitt gedankenvoll zu Legolas ab. „Allerdings denke ich, dass ich einen Nutzen für dich finde.“

„Meine Königin---“ begann Morsul.

„Nein, mein Schoßtier.“ Simiasha sprach mit süßer Grausamkeit. „Du darfst sie nicht behalten. Das ist deine Strafe dafür, dass du mein Gesetz gebrochen hast. Ich nehme keine Frauen in meinen Dienst. Und selbst wenn ich es täte, sie ist immun gegen meinen Einfluss. Es soll nur eine Königin in diesem kleinen Bienenstock geben. Ich werde keine Rivalinnen dulden. Sie soll sterben, um heute Nacht das neueste meiner Kinder zu nähren.“

„Herrin!“ Morsul sprang vor und brachte sich zwischen Éowyn und seine Königin. Die rohe Verzweiflung auf seinem Gesicht machte seine vollkommene, kalte Schönheit beinahe verletzlich. Beinahe menschlich. „Ich habe dir zwei volle Zeitalter dieser Welt treu gedient! Ich flehe dich auf den Knien an! Lass mich sie haben! Lass sie mein Kind sein, meine Erstgeborene! Sie wird ein starker Krieger sein---“

„Schweig.“ sagte Simiasha leise. Sie betrachtete Morsul fast mitleidig. „Du hast dich deiner selbst erinnert“ sagte sie mit sanfter Verachtung. „Deine Erinnerungen an das Leben vor mir sind nicht länger verschwommen.“

Morsul antwortete nicht. Sein Gesicht war eine Maske gefrorenen Abscheus , als sie sein Gesicht mit ihrer vernarbten, verkrüppelten Hand liebkoste.

„Du krümmst dich unter meiner Berührung wie ein lebendiger Elb... du, der stets jeden einzelnen ausgeweidet hat, der auch nur daran dachte, dir deinen Platz in meinem Bett zu rauben. Nun... du weißt, warum es für jeden außer mir selbst verboten ist, eine Seele mit in unsere Dunkelheit zu bringen. Der Austausch von Blut ist ein zweischneidiges Schwert, mein süßer Teleri-Prinz. Wenn Wille und Geist des Kindes stärker sind als der des Schöpfers, dann fällt der Schöpfer dem Willen seiner eigenen Schöpfung zum Opfer. Du hast mir dreimal nicht gehorcht, in ebenso vielen Nächten. Wegen deinen kindischen Spielen ging mir der Naugrim verloren. Ich sollte dich vernichten für eine solche Vermessenheit, aber ich kann mir in deinem augenblicklichen Elend keine größere Strafe für dich denken, als dass das Ziel deiner neuen Besessenheit dir genommen wird. Sie ist durch Olórins Zauber vor deinem Einfluss geschützt. Sie empfindet nichts als Abscheu für dich, ihren eigenen Schöpfer. Aber du, mein Liebster, bist auf dem besten Wege, ihr williger Sklave zu werden!“

Ihre Stimme wurde immer lauter, die hauchdünne Fassade menschlicher Schönheit fiel von ihr ab, als ihre Lippen sich zu einem zornigen, hündischen Knurren zurückzogen. Sie drehte sich zu Éowyn um.

„Ihr Wille, ihr selbstgerechtes, mitleidiges, gnädiges Herz, ihre erstickenden, verkrüppelnden Vorspiegelungen von Tapferkeit und Moral haben deine reine Bosheit vergiftet! Du, der du mein vollkommener Gefährte gewesen bist, lasterhaft und völlig verrucht, du bist ruiniert! Sie hat die Herrschaft meines Willens über dich gebrochen, und dafür würde ich sie tausendmal töten, wenn ich könnte!“

Simiasha wirbelte mit einem wütenden Grollen herum und betrachtete Legolas mit wollüstigem Hunger. Morsul erwischte Éowyn am Arm, als sie sich vorwärts bewegen wollte, „Sie wird ihn nicht töten“, zischte er ihr ins Ohr, „wirf dein Leben nicht weg!“

„So schön...“ sagte Simiasha leise. Ihre Augen bohrten sich in ihn hinein, so dass er unter ihrem schweren Blick sichtlich zu zittern begann. „Ich kann dich mit einer Berührung zur Begierde bringen, Kind. Mein Geist in dem deinen kann all deine zarte, elbische Empfindsamkeit beiseite fegen. Ich kann dir einen Genuss zeigen, wie du ihn dir noch nie erträumt hast. Was würdest du tun, Prinz von Düsterwald, wenn ich dich in mein Bett nähme?“

„Ich würde sterben, Majestät“, antwortete Legolas mit einer dünnen, verängstigten Stimme; seine Worte waren fast nur ein Flüstern. „Noch in der selben Stunde.“

„Ja“ stimmte sie gedankenvoll zu, „ich glaube, das würdest du wohl. Wir werden uns den Spaß für später aufheben, wenn ich mich mit deiner Hilfe besser fühle.“ Sie packte ihn an der Kehle. Ihre Stärke musste monströs sein. Legolas konnte nicht gegen sie ankämpfen; er hing einfach ihn ihrem Griff, während sie ihn langsam von den Füßen hob. Seine Hände klammerten sich schwach an ihre plötzlich klauengleichen Finger, aber er schien das Bewusstsein zu verlieren. Simiasha wandte die Augen zu Éowyn zurück und lächelte gehässig. „Halt sie zurück, mein Morsul, oder du sollst mich in ihrem Blut baden sehen“, sagte sie. Er war einmal mehr gesprungen und packte Éowyn um die Mitte, als sie vorwärts stürzen wollte.

Simiashas liebliches Kinn hatte sich zu etwas Scheußlichen in die Länge gezogen. Ihr schimmerndes Gewand wellte sich, begleitet vom knirschenden Geräusch der Knochen, die sich unter der Hautoberfläche verschoben. Zwei riesige, dunkle, fledermausähnliche Flügel entfalteten sich auf ihrem Rücken. Eine ihrer Schwingen war zerrissen und zerfetzt, vom Feuer so geschwärzt wie ihr Arm. Mit absichtlicher Langsamkeit zerrte sie Legolas vorwärts und richtete ihre Augen wieder auf Éowyn.

„Du hast dir meinen Elb zum Sklaven genommen“, zischte sie. „Schön und gut. Ich nehme mir deinen!“

Sie stieß ihre Fänge tief in Legolas’ bloße Schulter. Er gab kein Geräusch von sich – selbst jetzt noch hielt er sich an seinen Schwur, ihnen nicht das Vergnügen seiner Schreie zu gönnen – aber sein Körper verkrampfte sich, während sie sich an ihm gütlich tat und von seinem Leben trank.

Éowyn hörte jemanden vor Entsetzen aufschreien und seine Verweigerung herauskreischen; sie brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass sie diejenige war, die schrie. Sie schlug auf Morsul ein und riss Wunden in das Fleisch seiner Arme und Hände, während er sie mit langen, scharfen Nägeln festhielt. In ihrer Verzweiflung merkte sie nicht einmal, dass sich ihre eigenen Hände auch verwandelt hatten.

„Nein!“ klagte sie. „Nein!“

Nicht er! Nicht Legolas, ruiniert und geschändet und in Finsternis ertrunken! Sie hatte eine plötzliche Vision von Legolas’ Gesicht, zu einer Kopie von Morsuls mörderischem, arroganten Antlitz verzerrt, und das Bild trieb sie vor Schrecken fast in den Wahnsinn. Sie würde eher den Mond und die Sterne vom Himmel reißen, ehe sie es zuließ, ihn so verdorben zu sehen.

„Lass mich los!“ schrie sie hysterisch. Die zusätzliche Stärke ihres Entsetzens machte es schwierig für Morsul, sie festzuhalten.

„Nein!“ sagte er grob, während sie wie eine Wilde gegen ihn ankämpfte. „Sie wird dich auf der Stelle töten! Du kannst ihn nicht retten! Du kannst es nicht!“

Simiasha schenkte ihnen keine Beachtung. Sie hob ihren Kopf; ihr Mund strömte von Legolas’ Blut über. „So süß!“ sagte sie schwerfällig. Langsam hielt sie ihren vom Feuer vernarbten Arm hoch und die Menge der Blutsäufer schrieen ihre Freude heraus, als Arm und Schwinge sich wellten. Die Furchen und das zerschmolzene Fleisch glätteten sich wieder zu alabasterner Vollkommenheit und die düstere Membrane ihres Flügels wurde wieder heil. Mit geblähten, riesigen Schwingen sprang sie in die Luft und trug Legolas’ schlaffen Körper mit sich. Sie schwebte über dem Gewimmel ihrer Kinder, die ihr anbetend entgegenbrüllten, ehe sie sich im Zentrum der Menge wieder auf dem Boden herabließ.

Von der Erhöhung mit dem Thron aus beobachtete Éowyn gelähmt, wie Simiasha Legolas’ Kopf zurück bog, und ihn mit ihren Augen festhielt, die sich in seine Seele bohrten. Legolas, der noch immer bei Bewusstsein war, wenn auch nur gerade eben, starrte zurück, in hypnotisiertem Entsetzen gefangen. Er fing an, nach Luft zu schnappen wie ein ertrinkender Schwimmer, als das Gewicht ihres Blickes sich auf ihn nieder senkte.

„Was macht sie da?!“ stöhnte Éowyn.

Hinter ihr hielt sie Morsul noch immer in festem Griff. Er zitterte an ihrem Körper, seine Stimme war unsicher und heiser. „Sie – sie zwingt ihm ihren Willen auf. Sie drängt sich in seinen Geist und macht alles zunichte, was er ist. Sie---“ Morsul Stimme brach mit einem Keuchen ab, als Legolas einen langen, herzzerreißenden Klageschrei ausstieß.

Éowyn fragte sich, ob er seine eigene Geburt in die Dunkelheit wieder erlebte. Hatte Simiasha die Wahrheit gesagt, als sie behauptete, dass Éowyns Blut ihn von dem Gift ihrer bösartigen Kontrolle befreit und einen blassen Schatten des Elben erweckt hatte, der er einst gewesen war? Sie sah Indassas Augen, im Tod weit offen, Fallahs blutüberströmten Kopf, und sie hörte den Klang von Gimlis schrecklichem Schluchzen, bevor er in den Tod sprang. Es war ihr gleich, was Morsul war oder was er nicht war; er hatte ihr zuviel geraubt, als dass sie ihm jemals vergeben konnte. Aber wenn er ihr helfen konnte, Legolas zu retten, dann würde sie ihn wie ein Schwert gegen ihre Feindin benutzen. Wieder sah sie das quälende Bild von Legolas süßer Güte, verdorben und geschwärzt zu einer nächtlichen Kreatur wie der, die sie festhielt. Sie grub ihre Finger in seine Unterarme.

„Hilf ihm!“ befahl sie. „Wenn das hier dich so entsetzt, dann hilf ihm, du wertloser Feigling!“

„Wenn wir versuchen, ihn zu retten, dann werden wir sterben“, sagte er, sein Gesicht starr vor Unentschlossenheit.

Und wieder schrie Legolas, ein Geräusch, voll von solcher Verzweiflung und solchem Verlust, dass ihr Herz sich zusammenzog. Sie versuchte, ihren Willen, ihr verzweifeltes Bedürfnis, Legolas zu retten, auf Morsul zu werfen; sie betete zu allen Valar, dass Simiasha die Wahrheit über den dunklen Elben gesagt hatte. Morsul schauderte, als hätte ihn ein körperlicher Schlag getroffen.

„Hilf mir, Morsul!“ flehte sie. „Wenn du dich wirklich deiner erinnert hast, dann stirb wie ein Krieger der Eldar!“

Er seufzte und sog den Atem in seine luftlosen Lungen. Er ließ sie los. „Ich habe zwei volle Zeitalter in der Dunkelheit gelebt. Ich sollte versuchen, meinem Geburtsrecht wieder würdig zu sein.“ Seine Augen glühten ganz kurz in einem dunklen, verruchten Humor. „Ich wünschte, du hättest das Bett mit mir geteilt, und wäre es auch nur einmal. Selbst wenn du mir danach meine Männlichkeit abgeschnitten hättest, wäre es wunderbar süß gewesen. Stell dich Rücken an Rücken mit mir, Liebste, und wir werden uns den Weg zu ihm erkämpfen!“

„Wir haben keine Schwerter“, sagte sie angespannt.

Er gluckste freudlos. „Du hast nicht länger ein Schwert nötig, Geliebte.“

Sie sprangen nach vorne und gemeinsam begannen sie, die Jäger aus ihrem Weg zu hauen. Éowyn verschloss ihren denkenden Geist gegen den Anblick ihrer rot befleckten Hände, gegen das Bild ihrer eigenen, zu Dolchen verlängerten Nägel. Wenn denn ein Morgen kam, dann wollte sie sich nicht an das lustvolle Gefühl knackender Knochen erinnern, und an Fleisch, das zwischen ihren Händen zerriss. Sie war sich sicher: Wenn sie sich einen klaren Eindruck davon bewahrte, wie ihre Knochen und Sehnen sich bewegten und ihre Form veränderten, dann würde sie den Verstand verlieren.

Sie hackten sich einen blutigen Korridor durch untotes Fleisch und bewegten sich einen unmöglichen Schritt nach dem anderen vorwärts. Die Nachtgeschöpfe umringten sie von allen Seiten und warfen sich in Massen auf das Paar, das Rücken an Rücken kämpfte, um die beiden durch ihre schiere Zahl mürbe zu machen. Und selbst so hätten sie es beinahe geschafft. Sie hätten ihr Ziel beinahe erreicht.

Doch dann hatte Éowyn einen kurzen, grauenvollen Eindruck von Legolas, ausgeblutet und weiß wie ein gebleichter Knochen. Er kniete vor Simiasha und trank aus dem Handgelenk der Jägerin, seine strahlenden Augen glasig und ganz und gar verloren. Éowyn schrie auf. Jeder Sinn für Selbstschutz war bei diesem Anblick dahin und sie schoss vorwärts. Und während sie das tat, rammte ein riesiger, schwerknochiger Jäger einen hölzernen Speer von der Größe eines Zaunpfahles durch Morsuls Brust und spießte ihn damit auf.

Ohne einen Verbündeten, der ihr den Rücken deckte, hielt sie nicht lange durch. Sie packten sie an Armen und Beinen. Es brauchte zwei Dutzend von ihnen gleichzeitig, um sie zu bändigen. Sie schleppten sie hinunter zu ihren Fressplatz und sprangen durch die offene Mündung der Grube in seiner Mitte. Sie fielen, vorbei an endlosen Ameisenhügelfurchen in den Felsen rings um sie herum, vorbei an Schicht um Schicht staubiger, knochentrockener Leichen. Hinab und hinab und hinab sanken sie, in einem Abstieg, der nicht ganz Flug war und nicht ganz freier Fall. Sie krachten in einer Grube licht- und sonnenloser, dauerhafter Mitternacht auf den Grund. Ein gackernder Jubelschrei erhob sich rings um sie her, als der Größte von ihnen, ein missgestalteter Riese, den Speer aufhob, auf dem noch immer Morsul stak. Der gewaltige Jäger stieß den Speer, der fast so dick war wie Éowyns Oberschenkel, mit einem wortlosen, grunzenden Lachen in die Wand der Grube.

Und damit verschwanden sie und flogen aufwärts davon. Éowyn saß, wo sie sie fallen gelassen hatten und betrachtete dumpf ihre Umgebung. Dies musste ein weiterer ihrer Fressplätze sein. Überall lagen Körper, Tiere, Menschen, Orks und Trolle. Hier war kein Boden sichtbar. Die Grube war an ihrer breitesten Stelle dreißig Meter breit, aber der Boden war, wie sie ohne jedes Gefühl feststellte, ein Teppich verwitterter Knochen und verdichteter Leiber. Sie fragte sich, wie weit die Grube wohl hinunterging und entschied, dass sie es nicht wissen wollte. Die oberste Schicht der Leichen war frisch.

Sie befand sich in ihrem Vorratslager, ihrer Speisekammer für frische Beute.

Die neuesten Körper hier waren in die Rüstung von Gondor und Harad gekleidet. Éowyn kniete sich hin und drehte eine der Leichen um; sie wusste, dass sie zu klein war, um ein Mann zu sein. Sie starrte auf das Gesicht des toten Mädchens hinunter. Éowyn kannte sie, sie kannte ihr Gesicht, aber sie konnte sich nicht an ihren Namen erinnern.

Du hast Besseres verdient als das“, sagte sie zu dem Mädchen. Eine weitere Seele, die der wachsenden Liste derer hinzugefügt werden musste, die sie enttäuscht hatte.

„Oh Legolas!“ Ihr Herz weinte. „Es tut mir Leid!“

Ihr Kopf fuhr hoch; sie spürte Bewegung, spürte eine grimmig hell brennende Lebensflamme. Sie stand auf, richtete sich auf diese einzelne Gegenwart aus und strich unbeirrt auf ihre Quelle zu. Die zermahlenen Knochen knirschten unter ihren Stiefelabsätzen wie Meeresmuscheln.

Der Mann war an die Wand gekettet, vielleicht dreißig Fuß von dort entfernt, wo Morsul hing. Sein zerfetzter Harnisch waren nach der Art von Harad gemacht. Er war jung, vielleicht ein Jahr oder zwei jünger als Éowyn, aber sein Haar war schlohweiß geworden. Sie schaute ihm ins Gesicht, zu versunken in ihrem eigenen Schockzustand, um davon beeindruckt zu sein, dass seine Augen noch klar und bei Verstand waren nach zwei ganzen Wochen in dieser Leichengrube.

„Könnt Ihr noch sprechen?“ fragte sie leise.

„Frau, bist du wirklich?“ krächzte er. Seine Stimme war heiser von Schreien. „Bist du ein Traum?“

„Ich bin wirklich.“ sagte sie. Sie zog an der Kette, die seine Hände über seinem Kopf gefesselt hielt und riss sie aus der Höhlenwand.

Er regte sich nicht. Er blieb still wie ein Stein, seine geweiteten Augen suchend und blind. Natürlich, dachte Éowyn. Anders als sie konnte er nicht im Dunkeln sehen.

„Bist du eine von ihnen?“ fragte er mit müder Stimme.

„Nicht ganz.“ erwiderte sie.

„All meine Männer sind erschlagen“, erklärte er zögernd. „Ich habe deine Augen gelb in der Dunkelheit glühen sehen und dachte, sie wären endlich gekommen, um mich zu holen. Deren Miststück von einer Königin hat mir gesagt, sie will mich ganz bis zum Schluss aufheben.“

„Eure Männer?“ Sie betrachtete ihn aufmerksam, dann lächelte sie langsam. Sie hatte das Gefühl, dass es kein angenehmes Lächeln war. „Ihr seid Haradoun.“

„Das bin ich.“ sagte er. „Seid Ihr---“ Er grollte vor Frustration. „Ich kann Euch nicht sehen! Seid Ihr eine der Kriegerfrauen von Rhunballa? Ich dachte, sie hätten euch alle in der ersten Nacht getötet.“

„Ich bin eine der Verteidigerinnen von Rhunballa“, sagte sie sanft. „Aber ich bin nicht am Südpass gefangen genommen worden. Ich bin Éowyn von Rohan, Befehlshaberin der Rhunballani-Wache, und ich war bis vor kurzem die Leibwache Ihrer Majestät Indassa.“

Er schwieg, während er das, was sie gesagt hatte, einsinken ließ. Endlich lachte er reuevoll und seufzte wie zum Eingeständnis seiner Niederlage. Er bat nicht um Gnade, und das ließ sie höher von ihm denken. „Das hier ist die reinste Ironie.“

„Ja.“ sagte sie zustimmend.

„Trotzdem.“ meinte er. „Ich bin froh, Euch zu sehen, Frau. Ich möchte lieber als ein Mensch und für die Verfehlungen eines Menschen sterben, als dass einer von denen mich auffrisst.“ Sein junges Gesicht wurde ernst. „Sie haben mir gesagt, dass meine kleine Indassa tot sei. Das habe ich nicht gewollt. Wisst Ihr, ich hätte es wieder gutgemacht. Sie wäre die erste Frau eines Shah von Harad gewesen, und die Mutter des nächsten Shah. Ich hätte sie über alle Vernunft hinaus verwöhnt und dafür gesorgt, dass sie den Tod ihres Vaters vergisst... und die Unbequemlichkeit, ihre Unschuld gewaltsam verloren zu haben.“

Éowyns Augenbrauen zogen sich zusammen. Sie fühlte sich erschöpft. Er begriff nicht, dass das, was er getan hatte, jenseits von Vergebung und Wiedergutmachung war. Er verstand nicht wirklich, dass er überhaupt falsch gehandelt hatte, und wenn sie noch hundert Jahre in diesem dunklen Loch im Boden gesessen hätten, sie hätte es ihm nicht klarmachen können.

Also tötete sie ihn einfach. Sie nahm seinen Kopf in ihre Hände und brach ihm das Genick.

Nachdem sie den Leichnam ein paar Momente ausdruckslos angestarrt hatte, wandte sie sich an und ging dorthin zurück, wo Morsul aufgespießt an der Wand hing. Er war bei Bewusstsein und erwiderte ruhig ihren Blick, aber er sagte nichts. Sie betrachtete ihn kalt, dann kniete sie sich wieder neben das tote Mädchen, an dessen Namen sie sich nicht erinnern konnte. Éowyn schloss ihr die Augen. Nach einem Moment des Nachdenkens fing sie an, in Knochenresten und Abfall ein Grab zu graben. Irgendein Grab war besser als gar keines. Als sie den Körper in die flache Vertiefung legte, sah sie, dass das Mädchen in jeder Hand etwas umklammert hielt. Sie witterte den schwachen, harzigen Geruch von Schwefel und Lampenöl. Oh süße Elbereth...

Sie hielt sich die kleinen Schätze, die sie gefunden hatte, vor die Augen; sie wagte nicht zu glauben, dass sie keine Einbildung waren, geboren aus zerbrochenem Wahnsinn. Es waren ein paar Feuersteine und eine von Fallahs Feuerflaschen.

„Wirst du ihn töten, wenn er zu dir kommt?“ fragte Morsul leise.

Éowyn stand auf, die Feuersteine und die Flasche in der Hand. Sie betrachtete den pfostendicken Speer, der aus der Brust des dunklen Elben ragte. Dann zerbrach sie das Holz an der Basis und riss es nicht allzu sanft aus seinem Körper. Er bäumte sich vor Qual auf, aber er schrie nicht, während er zu Boden glitt.

„Wie kommt es überhaupt, dass du noch lebst?“ Sie blickte ohne jede Zuneigung auf ihn hinunter.

Er gab ein schwaches Glucksen von sich. „Ich bin nicht am Leben, Geliebte.“

„Und ich bin nicht deine Geliebte.“ sagte sie. Sie setzte sich neben ihn und rollte die Feuersteine wie Würfel in ihrer Hand. Sie wusste, sie hatte nur noch wenig Zeit, um den Mut zusammenzunehmen für das, was sie tun musste. Sie war hoffnungslos müde und viel zu sehr in Verzweiflung versunken, als dass sie sich die Mühe gemacht hätte, ihn zu töten.

„Du hättest es sein können.“ sagte er. Sein Lächeln war wie ein zerbrochenes, misstönendes Lied, und trotzdem war es schön. „Wenn wir uns in den blühenden Gärten von Doriath begegnet wären, im Land meiner Geburt. Oder später, in den Häfen von Sirion. Ich hätte dich umworben und vielleicht für mich erobert, wenn wir uns unter der Sonne begegnet wären, in irgend einem Zeitalter dieser Welt.“ Er nahm ihre Hand und sie hatte nicht genug Kraft übrig, um sie ihm zu entziehen. „Du planst, diese kleine, neumodische Einrichtung zu benutzen, um uns alle in Brand zu setzen, wenn Orophers Enkelsohn hier hinunter geworfen wird, um sich von dir zu nähren. Es ist sehr trocken hier, und ich kann mir vorstellen, dass der Inhalt der Grube ein ziemlich großes Freudenfeuer abgibt. Hör mir zu. Es gibt noch einen anderen Weg, als Eure Seelen durch Feuer zu befreien.“

„Sag ihn mir.“

„In Doriath“, sagte er, „in längst verlorener Zeit, da war Elwe Singollo König. Ich war Hauptmann seiner königlichen Garde. Nun... Graumantel war stolz und selbst ein machtvoller Krieger. Er war immer wieder ohne seine Leibwache unterwegs, wenn es ihm so gefiel. Ich war nicht da, um ihm den Rücken zu decken, als die verräterischen Naugrim ihn im Bauch ihres Berges erschlugen, weil sie den Silmaril unserer geliebten Tinúviel begehrten. Eine Jahreszeit lang haben wir ihn verzweifelt betrauert, aber dann wurde unsere Hoffnung und Freude erneuert, als der Sohn von Tinúviel den Thron bestieg. Er war...“ Morsul seufzte, ein leiser, flüsternder Laut. „Dior war Thranduils jungem Sohn sehr ähnlich. Er war tapfer und unschuldig und schöner als die Dämmerung an einem Sommermorgen. Und ich habe ihn mit der Zeit so sehr lieben gelernt, wie du deine kleine Indassa geliebt hast.“

„Ich kenne den Rest dieser Geschichte.“ murmelte Éowyn. „Die Söhne Féanors haben mit Doriath Krieg um die Simaril geführt.“

„Es ist keine Geschichte.“ sagte er. „Unser junger König befahl mir, seine Frau und seine Kinder in Sicherheit zu bringen. Selbst darin habe ich versagt. Die Königin wurde sofort erschlagen, noch bevor ich sie finden konnte. Die beiden Kleinen wurden in die Wildnis verschleppt, und was aus ihnen wurde, weiß ich nicht. Nur ein Kind konnte ich retten. Ich nahm die kleine Prinzessin Elwing und so viele andere, wie ich finden konnte, und führte sie fort von der Schlacht. Mein junger Herr wurde erschlagen, während er sein Reich gegen die Sippenmörder verteidigte, und ganz Doriath versank in Schutt und Asche. Endlich kamen wir zu den Häfen von Sirion, wo wir eine Zeitlang gemeinsam mit den Flüchtlingen aus den anderen, geplünderten Königreichen in Frieden lebten. Aber die Silmaril riefen nach den Söhnen von Féanor, und sie fielen ohne Vorwarnung über uns her. Wieder erschlug Elb den Elben, und die Bucht von Sirion war rot von Blut. Diesmal war ich da, um meine Schutzbefohlenen zu verteidigen. Ich versagte. Ich wurde im Kampf fast zu Tode verwundet. Meine Herrin Elwing sprang ins Meer, den Silmaril an ihre Brust gedrückt. Ihre jungen Söhne wurden gefangen genommen. Als ich aus meiner Erstarrung erwachte, verfiel ich dem Wahnsinn. Ich folgte den Spuren von Maglor und suchte nach Elwings Kindern. Ich fand sie nicht. Statt dessen fand ich sie.“

„Thuringwethil“, flüsterte Éowyn.

„Die Frau der Nacht,“ sagte er. „Sie bot mir Stärke an, um die Sippenmörder zu erschlagen. Sie bot mir ein Ende an von Trauer und Erinnerung. Ich habe nicht gelogen, als ich sagte, ich hätte die Dunkelheit gewählt. Ich hatte die Absicht, jeden einzelnen Elben zu jagen und zu erschlagen, der das Schwert gegen Doriath und Sirion erhoben hatte... und vielleicht auch noch die gesamte Naugrim-Rasse auszurotten, wo ich einmal dabei war. Ich wollte sie alle erschlagen. Aber als sie mich zu dem Ihren machte, glitten Erinnerung und Bedauern davon, genau wie sie es versprochen hatte. Mein ganzes langes Leben bis zu diesem Punkt schien wie ein trauriger Traum zu sein, unwirklich und unwichtig. Jeder Gedanke und jede Wahrnehmung wurde gefiltert durch ihre Bosheit und Grausamkeit.“

Er hob ihre Hand hoch und küsste sie ehrerbietig.

„Das ist es, was ich war. Und so bin ich gefallen. Als ich dein Blut nahm, fing ihre Herrschaft über mein Herz und meinen Geist an zu verblassen. Und mehr als das, die abgerissene Verbindung zu meinem Gedächtnis und meinem früheren Selbst wurde wieder hergestellt. Ich erinnerte mich mit vollkommener Klarheit an mein gesamtes Leben.“ Er schüttelte schwach den Kopf. „Ich weiß nicht, wie das geschehen ist. Ich denke, weil du immun gegen ihren Einfluss bist, hat dein Blut diese Immunität auf mich übertragen. Du wirst schwer in Versuchung geraten, dieses Feuerfläschchen zu benutzen, wenn dein Legolas herkommt. Er wird nicht mehr so sein, wie du ihn gekannt hast. Er wird so sein, wie ich es war.“

„Legolas.“ Sie sagte den Namen mit leiser Stimme, würgend an ihrem Kummer.

„Du musst entscheiden, was du tun willst, wenn er kommt,“ sagte Morsul. „Was immer auch geschieht, ihr verwandelt eich beide. Eure Körper werden innerhalb von vier Wochen sterben. Du kannst gegen ihn kämpfen, wenn er kommt, um sich zu nähren. Du kannst ihn töten oder er kann dich töten, oder du kannst uns alle mit deinem Feuerstein und deiner Flasche verbrennen. In beiden Fällen ist das Ende gleich, wenn Thuringwethil überlebt. Sie ist die Mutter von uns allen, der Ursprung und die Quelle unseren Übels. Aber wenn du sie töten kannst, ehe eure Leiber sterben, dann könntet ihr von der Befleckung frei sein.“

„Wie?“ fragte Éowyn verzweifelt. „Wie?!“

Morsul lächelte. „Zwei Schwächen hat sie. Obwohl einige wenige von ihren Kindern sich während der Stunden des Tageslichts bewegen können, kann sie sich nicht regen, während die Sonne am Himmel steht. Morgoth hat sie auf diese Weise gefesselt, um zu verhindern, dass sie zu mächtig wurde. Die andere Schwäche hast du bereits gegen sie benutzt. Du hältst den Auslöser in der Hand.“ Sein Lächeln wurde boshaft. „Um diese Jahreszeit ist das Nest sehr trocken, Geliebte. So trocken wie eine Zunderbüchse.“

Éowyn starrte auf die Feuersteine in ihrer Hand hinunter.

Morsul erschauerte mit grauen, blutlosen Lippen; er schaute nach oben.

„Der Junge erwacht,“ sagte er traurig. Seine Stimme war kaum mehr als ein Wispern. „Sein Durst ist riesig. Und jeder seiner Gedanken ist zu Bösartigkeit geronnen. Aber du kannst ihn retten... wenn du tapfer genug bist.“

„Wie?“ fragte sie noch einmal und beugte sich hinunter, um sein verwehendes Flüstern zu hören.

Er lächelte. Es war ein echtes Lächeln, ein trauriges, süßes Echo all dessen, was zerstört worden war. Er berührte ihre Wange und strich mit einem Finger über ihre Lippen. „Auf die gleiche Weise, wie du mich gerettet hast.“

Die Luft, die er eingesogen hatte, um zu sprechen, seufzte aus seinem Körper. Die Hand auf ihrem Gesicht zerbröckelte wie verwittertes Pergament und zerfiel zu Staub. Sein Leib löste sich einfach auf und wurde zu trockener Erde.

Er hatte ihre Soldaten abgeschlachtet. Er hatte Indassa ermordet und Fallah vielleicht tödlich verwundet. Er hatte Éowyn schreiend in die Finsternis gezerrt und sie mit seinem abscheulichen Blut vergiftet. Und doch... wenn sie imstande gewesen wäre, um ihn zu weinen, sie hätte es getan.

*****

Sie saß allein in der Finsternis, allein in der stillen, schweigenden Grube der vermodernden Toten. Sie wartete und versuchte, an nichts zu denken.

Sie spürte, wie er fiel und von der gähnenden Öffnung in der Kammer eine halbe Meile über ihr in die Tiefe sank. Wie sie konnte er noch nicht fliegen. Sie fühlte, dass diese Fähigkeit nicht kommen würde, während ihre Leiber noch atmeten, während ihre Herzen noch durch lebendiges Fleisch Leben pumpten.

Er krachte herunter und ließ mit der Wucht seines Aufpralles einen Schauer von Knochensplittern in die Luft wirbeln. Er kniete gebückt und reglos in dem kleinen Krater, den er verursacht hatte, weniger als zwanzig Fuß von dort entfernt, wo sie saß. Sie bewegte sich nicht; sie wartete darauf, dass er sich orientierte. Er würde sie bald genug finden.

„Éowyn?“ Seine Stimme war gesenkt und leise. Sie klang fast normal.

Sie antwortete nicht.

Er hob den Kopf. Dann streckte er sich und dehnte seinen Körper mit geschmeidiger Grazie, wie eine riesige, tödliche Katze. Seine Augen fanden die ihren und er lächelte.

„Éowyn. Ich bin gekommen, um den Kuss zu erwidern, den du mir gegeben hast.“

Sie wollte angesichts des tückischen, kalten Spottes in diesen Worten vor Trauer sterben.

„Dann komm und küss mich.“ flüsterte sie.

Sie bewegte keinen Muskel, während er sich ihr vorsichtig näherte; er traute ihrer Fügsamkeit nicht. Er kniete vor ihr nieder und sie sah, dass sich seine Augen zu eine leuchtenden Bernsteinton verfärbt hatten. Selbst jetzt war er noch so schön, dass ihr das Herz in der Brust wehtat.

„Ich dürste, Éowyn“, sagte er und strich mit einem Finger über ihr Gesicht. „Du wirst nicht gegen mich kämpfen?“

„Ich bin todmüde vom Kämpfen“, sagte sie wahrheitsgemäß. „Ich verwandele mich, genau wie du, Legolas. Ich möchte lieber durch deine Hand sterben als durch einen von ihnen.“

„Simiasha hat mir befohlen, dass ich dich vor Tagesanbruch töte“,. murmelte er. Bedauern rieselte durch seine Stimme wie Regen. Seine Hand lag auf ihrem Hals und strich ihr Haar zur Seite. Seine Haut war kühl, aber nicht kalt. Es war noch immer Leben in seinem Körper. „Es dauert mich, dass du sterben musst. Wenn du ihr nur deinen Geist geöffnet hättest, dann hätte sie dich vielleicht verschont.“ Er beugte sich vor, legte ihr sanft einen Arm um das Kreuz und zog sie an sich. „Sie hat Erinnerung und Bedauern fort gewaschen, und all meine Kümmernisse. Sie erspart mir die Qual aller Schuld, alle Hemmungen und alle kindische Unschuld.“

Er nahm ihre Lippen in Besitz und küsste sie lang und tief, ihren Körper an sich gepresst. Selbst jetzt, da sie in ihrem Entsetzen darüber verloren war, ihn so verändert zu sehen, raubte es ihr den Atem. Jedes Nervenende sang vor Begierde. Ihr Herz galoppierte ihr in der Brust wie ein durchgehendes Pferd. Er lächelte gegen ihre Lippen, seine Stirn gegen die ihre gedrückt. „Als du im Tempel ohne deine Erinnerungen erwacht bist, konnte ich dein Verlangen nach mir riechen. Es war wie der Duft einer süßen Blume, die nach einem bitteren Frühling endlich aufgeblüht ist.“Seine Hand bewegte sich ihr Rückgrat hinauf und glitt unter ihre Tunika. Sie über ihre bloße Haut gleiten zu fühlen, ließ sie in seinen Mund hinein nach Luft schnappen. „Als du mich geküsst hast, fühlte ich mich, als wäre mein Körper in Brand gesetzt worden. Ich habe kaum gewusst, was es war, ich armer Narr. Es war so neu, anders als alles, was ich je gekannt hatte. Ich wollte dich, und das erfüllte mich mit Staunen, und mit Angst um uns beide.“

Er küsste sich einen Weg entlang der Linie ihrer Kehle hinunter.

„Ich hätte diese Worte für immer in meinem Herz versiegelt, aus Angst davor, sie laut auszusprechen, aus Angst, die Hand auszustrecken und mir zu nehmen, was ich wollte. Jetzt fürchte ich nichts. Ich bin nicht mehr so sanft, wie ich es war. Ich will dich immer noch... es ist wie ein Feuer in meinen Adern. Deinen Körper, dein Blut, alles von dir, ganz und gar! Schlaf mit mir, Éowyn! Wir können noch immer einen süßen Hauch von dem erleben, was hätte sein können. Und wenn die Dämmerung kommt, werde ich deine Seele von dieser Finsternis erlösen, wie du es dir gewünscht hast. Aber ich werde mich immer an dich erinnern.“

Sie ließ ihren Kopf zurücksinken und legte ihm ihre Kehle bloß. „Nimm den ersten Trunk“, wisperte sie.

Noch einmal küsste er sie, tief und andauernd. Dann vergrub er seine Zähne in ihrem Halsansatz. Er trank vom Fluss ihres Lebens, und sein Körper bebte in eifrigem Vergnügen gegen den ihren. Er bog sie auf den Rücken hinunter und sie wölbte sich ihm entgegen und schlang ihre Arme und Beine um ihn.

Eine Woge aus Druck und Entzücken baute sich tief in ihrem Leib auf. Jeder geschärfte Sinn war erfüllt von seinem Duft, seinem Geschmack, den Gefühl der nackten, seidigen Haut seines Rückens unter ihren Händen, dem Gewicht seines Körpers auf dem ihren. Dann brach der Damm in ihr und schickte eine flammende Feuerwelle durch sie hindurch. Sie wölbte den Rücken und schrie auf, als die Welle sie auf ihrem Kamm mit sich riss und sie atemlos und erschöpft zurückließ, als sie endlich abebbte.

Ihre Augen trübten sich. Sie klag keuchend und betäubt da; nur noch ein dünner, zerfranster Faden hielt sie noch am Bewusstsein fest. Hatte er zuviel getrunken? Lag sie im Sterben? Ganz langsam wurde ihr Atem leichter und der mühsame Herzschlag in ihren Ohren verlangsamte sich. Ihr wurde bewusst, dass jemand weinte. Es war eine gebrochene Litanei von schrecklichem Verlust und untröstlichem Kummer. Es war der Klang jeder einzelnen, heimlichen Angst der Kindheit, die plötzlich wahr geworden war.

Legolas schluchzte; er hielt ihren schlaffen Körper in den Armen, als könnte er zurücknehmen, was er gerade eben nur durch die Kraft seiner Umarmung allein zustande gebracht hatte. „Éowyn! Éowyn!“ Er stöhnte leise. „Stirb nicht! Oh Eru, lass das ein schrecklicher Traum sein! Ich bin verloren! Éowyn, es tut mir Leid! Es tut mir Leid!“

Sie hob schwach eine Hand, strich ihm das matte Gold seiner Haare aus dem Gesicht und wischte ihm die Tränen ab. Sie wünschte sich, sie hätte die Kraft für einen Freudenschrei, als sie sah, dass seine Augen wieder ihr eigenes, tiefes Grau hatten. Er war wieder er selbst.

„Ich sterbe nicht“ sagte sie sachte. Und dann hielt sie ihn fest, so gut sie konnte, als er wieder zu weinen begann, diesmal vor Erleichterung.

„Du bist frei!“ Sie lächelte schwach. „Du bist frei von ihr!“

„Ich bin frei,“ sagte er mit schwankender Stimme. „Obwohl ich nicht weiß, wie. Aber du---“ Seine Augen wurden weit und er zuckte entgeistert zurück. „Du hast zugelassen, dass ich---“

„Irgendwie ist mein Blut ein Heilmittel, das ihr Gift aus der Seele vertreibt, wenn auch nicht aus dem Körper,“ murmelte sie. „Ich denke, es ist ein Teil des Zaubers, den Gandalf gewoben hat, um Gríma daran zu hindern, wieder in meine Seele einzudringen.“

Er nahm es hin, aber seine Augen füllten sich einmal mehr, als die Erinnerung an das, was er gerade getan hatte, wieder über ihn hereinbrach. „Du hättest mich eher erschlagen sollen, als dass du zulässt, dass ich---“ Seine Stimme brach in einem neuen Schluchzen, „—dass ich an deiner Kehle reiße und dein Blut trinke wie ein wildes Tier! Ich wäre lieber gestorben, als so etwas zu tun! Oh Elbereth! Sag nicht, dass ich dir nicht wehgetan habe! Du hast geschrieen!“

„Legolas.“ sagte sie ruhig und geduldig. „Das war kein Schmerzensschrei.“

„Es war kein---?“ Er blinzelte in entgeisterter Verwirrung auf sie hinunter. Dann begann sein Gesicht in ungläubiger, scheuer Verlegenheit rot anzulaufen. „Oh.“

Und unglaublicherweise spürte sie, wie leises Gelächter in ihr aufwallte. Einen Moment später kräuselte sich einer seiner Mundwinkel und seine Brust vibrierte mit einem schwachen Glucksen gegen die ihre. Sie schlang die Arme um ihn und er erwiderte ihre Umarmung mit heftiger Erleichterung. Sein Kopf war in ihrer Halsbeuge vergraben. Ihre Arme hielten ihn und ihre Beine schlossen sich um seine Hüften, die Knöchel hinter seinen Knien verhakt.

„Es ist mehr als unpassend, in einer solch intimen Umarmung mit einer Jungfrau zu liegen, die weder mit mir verheiratet noch mir versprochen ist,“ sagte er leise. „aber ich bitte dich, lass mich deine Wärme noch ein wenig länger borgen. Du bist warm und lebendig, und selbst mit ihrem Gift in deinen Adern duftest du noch nach Sonne und blühenden Blumen! Sie war so kalt. Éowyn – sie war so kalt!“

Wieder erschauerte er an ihrem Körper, hob den Kopf und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar.

„Hat sie---“ Éowyn konnte sich nicht dazu bringen, die Worte laut auszusprechen.

„Nein,“ seufzte er, „sie hat mir geglaubt, als ich ihr sagte, dass ich innerhalb der selben Stunde tot sein würde, wenn sie mich so benutzt. Sie sagte, ich würde ihre Liebkosungen willig hinnehmen, wenn ich erst einmal vollkommen verwandelt wäre.“

„Morsul ist tot.“ sagte sie zu ihm. „Bevor er starb, hat er mir viele Dinge gesagt. Wir werden nicht wirklich zu ihnen gehören, bevor unsere Körper sterben. Ihr Gift wird uns innerhalb von vier Wochen töten. Aber er hat mir auch gesagt, dass wir vielleicht ganz von der Vergiftung frei werden, wenn es uns gelingt, ihre Quelle zu zerstören. Wir müssen Simiasha töten, während sie schläft.“ Ihre Hand suchte ungeschickt nach den beiden Feuersteinen, die sie fallen gelassen hatte. Sie umklammerte sie, als wären sie ein Talisman. „Wenn die Dämmerung kommt, werden wir aus dieser Grube klettern und das Nest niederbrennen!“

„Dämmerung.“ Er sagte das Wort wie ein Gebet. „Ich kann spüren, dass sie näher kommt. In einer Stunde wird die Sonne aufgehen.“ Er küsste sie zögernd; es war wie ein scheues Wispern gegen ihre Lippen, ein Versprechen von Leben und Licht jenseits dieses Hortes Fleisch gewordener Alpträume. „Lass uns bis dahin ausruhen, Meleth-nin.“

„Meleth-nin...“ seufzte sie gegen seinen Hals. Sie legte ihn um sich wie eine weiche Decke. Es fühlte sich so gut an, berührt und im Arm gehalten zu werden. Es fühlte sich auf eine Weise warm an, die sie noch nicht einmal anfangen konnte auszudrücken. „Was bedeutet das?“

„Das sage ich dir morgen.“, erklärte er sanft. „Wenn wir gemeinsam unter der Sonne stehen.“

Sie schloss die Augen. Sie lagen einander in den Armen, versunken in einem oberflächlichen Schlummer; sie warteten auf das Kommen der Sonne.

*Nienna ist eine der Valar, die Herrin von Trauer und Leid, und die Schwester von Mandos, dem Herrn über die Hallen der Toten.

**Thuringwethil war eine monströse Fledermaus, die Sauron im 1. Zeitalter als schreckerregende Botin einsetzte. Lúthien benutzte ihre Gestalt, um sich in Morgoths Palast einzuschleichen und den Simaril zu stehlen.


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