Der Preis der Freiheit (The Price of Freedom)
von Erin Lasgalen, übersetzt von Cúthalion


6. Kapitel
Das Schwert des Lichts

Der Sonnenuntergang war noch geschätzte sechs Stunden weit weg. Éowyn schleppte sich durch einen Tag endloser Pflichten; sie wusste, dass sie Stärke und einen klaren Geist zurück gewann, sobald die Schatten länger wurden. Als Suni zu ihr kam, ihr Gesicht eine Maske des Kummers, um ihr zu sagen, dass sie Éowyn beim Untergang der Sonne den Oberbefehl über die Stadt aus der Hand nehmen würde, nickte Éowyn nur abwesend und fuhr mit ihrer Arbeit fort. Sie wusste, dass sie als Befehlshaberin eine Gefährdung war, wenn der Wahnsinn sie erneut packte. Sie würde nicht in der Verfassung sein, irgend etwas oder irgend jemanden zu führen, sobald die Sonne unterging. Und in Wahrheit war die Frage, ob sie sich wieder verlor, wenn die Schlacht begann, von untergeordneter Bedeutung. Heute Nacht würde sich alles entscheiden, auf die eine oder andere Weise. Sie besaß keine Magie, keine elbische Voraussicht, aber sie wusste dies mit der selben Sicherheit, mit der sie wusste, dass die Sonne im Westen versank. Sie brauchte weder Aragorn noch Thranduil, um zu bestätigen, dass ihr das Meiste an Boden, das ihr der Athelas-Tee erkauft hatte, wieder verloren gegangen war. Aber sich machte sich keine großen Sorgen darüber; sie war zu beschäftigt.

Es hatte den gesamten frühen Morgen hindurch geregnet, ein Geschenk der Götter, das Rhunballa davor bewahrt hatte, bis auf den Grund nieder zu brennen. Aber jetzt hingen Sturmwolken tief und unbewegt über dem Tal, wie schwarze, reglose Schiffe. Sie verliehen dem Himmel einen bedrohlichen Farbton von tiefstem Blaugrau und verschleierten die Sonne, die ihr sonst wohl die Haut versengt hätte. Nach einer kurzen Besprechung mit Suni und den ausländischen Verteidigern begannen sie mit der Aufgabe, jedes Kind, jeden Zivilisten und alle Verletzten, die dazu in der Verfassung waren, in die verhältnismäßige Sicherheit der großen Lagerhäuser zu schaffen, die die endlosen, wasserdurchzogenen Soja- und Reisfelder sprenkelten. Die Stadt war ein entzündliches Leuchtfeuer, das die Jäger anziehen würde. Mehr noch, der Feind hatte weniger Interesse daran gezeigt, die Leute davon zu tragen, die aus der brennenden Königlichen Villa und dem Zunfthaus der Zimmerleute geflüchtet waren, als vielmehr an den Kriegern, die sie verteidigten.

„Ich zweifle nicht, dass sie uns alle erschlagen hätten, wenn sie es gekonnt hätten,“ sagte Éowyn grimmig, „aber ich denke, sie will Krieger, keine Kinder und alte Frauen.“

„Ja,“ grollte Gimli, „ich bin sicher, dass sie die Hilflosen verschlingen können, wenn all ihre Verteidiger gefangen genommen oder getötet sind!“

„Ich fühle es in meinem Geist, dass Simiasha den Angriff heute Nacht führen wird,“ sagte Éowyn dunkel und ignorierte den unbehaglichen Ausdruck der Gesichter rings um sich her. „Teilweise deshalb, weil ihr Blut noch immer in meinen Adern fließt... und obwohl ich ihre Gedanken nicht sehen kann, habe ich ein vages Empfinden, was sie im Sinn hat. Aber ich glaube auch, dass die letzte Nacht nur dazu diente, unsere Verteidigung zu prüfen und uns zu zwingen, den größten Teil unserer brennbaren Munition zu verbrauchen - und so viele von uns gefangen zu nehmen, wie sie konnte, für ihren eigenen Nutzen.“

Viele waren in der letzten Nacht erschlagen worden. Aber viel zu viele fehlten ganz einfach, in die Finsternis davon geschleppt, denn Simiasha würde viele Soldaten brauchen für die Armee, die sie Aragorn führen lassen wollte. Herr Hurin und Somal hatten Glück gehabt, dass sie einen sauberen Tod als Menschen gestorben waren.

„Sie will mich,“ sagte Aragorn flach. „Ich glaube, Éowyn hat Recht. Die Jägerin wird heute Nacht kommen, um sich ihre wahre Beute zu holen. Wenn ich Rhunballa verlasse oder getötet werde, wird sie trotzdem jeden in diesem Tal umbringen oder verwandeln. Wenn ich in Rhunballa bleibe, werde ich die Jäger von denen fortziehen, die in den Reisfeldern versteckt sind. Aber ich werde mich nicht verbergen wie eine Maus in ihrem Loch. Wenn ich heute Nacht vor aller Augen stehe, mitten in einem Spießrutenkreis aus Scherben, dann mag es wohl sein, dass wir die Jäger sind!“

„Ihr könnt Euch nicht selbst als Köder einsetzen!“ rief Éomer entrüstet.

„Er hat Recht!“ sagte Suni mit klarer Stimme. „Es gibt jetzt keinen Ort, wo man sich vor ihnen verstecken kann. Wenn sie ihn gefangen nehmen, dann sind wir verloren. Wenn er getötet wird, wird uns die Königin in ihrer enttäuschten Wut allesamt die Gedärme heraus reißen. Die einzige Möglichkeit ist der Kampf.“

Diesen ganzen Tag über sprach sie nicht mit Legolas und sah ihn auch nicht. Wenn weniger zu tun gewesen wäre, weniger Mühe, gegen das stetige, fortgeschrittene Wandern der Sonne anzugehen, mehr Zeit, zu überlegen, dann hätte sie das merkwürdig gefunden. Wenn weniger Arbeit zu überwachen gewesen wäre, sie hätte vielleicht nach Legolas gesucht. Aber es gab weder Zeit noch Gelegenheit dazu. Während der Tag verging, hörte sie von Gimli, dass Legolas dabei half, die Verletzten in die verhältnismäßige Sicherheit der Reisfelder zu bringen, oder von Fallah, dass sie ihn ganz knapp verpasst hatte, während er den letzten Vorrat an Feuerflaschen auf den Platz trug.

Und so kam es, dass sie sich um halb sechs am Nachmittag (weniger als vier Stunden Sonnenlicht blieb ihnen noch) am Steinkreis des Brunnenhofes wiederfand, wie sie die überlebenden Verteidiger der Stadt beobachtete, die sich auf dem Platz und zwischen den durchweichten Überresten der Villa verteilten. Die reglosen, schwarzen Wolken, die das Tal bedeckten, hatten nicht noch mehr Regen geliefert, obwohl das weit entfernte Donnergrollen niemals abriss. Éowyn hatte diese Gewitterwolken den ganzen Tag mit wachsendem Unbehagen beobachtet. Sie verschleierten die Sonne so gründlich, dass der lange, schwüle Nachmittag gewirkt hatte wie ein endloses Zwielicht.

„Wo ist Aragorn?“ rief sie zu ihrem Bruder hinüber.

Er durchbrach den Knoten von Reitern, die ihn unter dem dürftigen Schatten des halb verbrannten Vordaches zum Haus der Königlichen Wache umringten, und kam auf sie zu. Er hielt seinen Helm in der einen und eine Wasserflasche in der anderen Hand. Sie folgte seinem Blick zurück zu dem Grüppchen gondoreanischer Offiziere und verspürte einen Stich der Trauer, als ihr klar wurde, dass Herr Hurin sich nicht unter ihnen befand.

„Er war vor ein paar Momenten hier,“ antwortete er. „Vielleicht ist er mit Gimli und Legolas gegangen, um sich das neue Stück Schlauheit anzuschauen, das Frau Fallah ersonnen hat. Etwas, wobei die Scherben benutzt werden... hat jedenfalls Legolas gesagt.“

Er betrachtete ihr Gesicht ganz genau und grinste. „Du fängst schon fast an zu seufzen, wenn ich bloß den Namen des Elben ausspreche, Schwester!“

„Das tue ich nicht!“ schnappte sie und starrte ihn stirnrunzelnd an, als er sich hinunter beugte und seinen Wasserschlauch im Becken des Springbrunnens füllte. „Aragorn sollte nicht außer Sicht sein, selbst so viele Stunden vor der echten Abenddämmerung nicht. Dieser dunkle Himmel ist gefährlich, Éomer.“

„Meinst du, der Feind könnte imstande sein, anzugreifen, wenn die Sonne so verhüllt ist?“ Éomer erhob sich und legte besorgt die Stirn in Falten. „Nun, lass uns ihn suchen und ihn hierher bugsieren, soweit man den König des Westens denn durch die Gegend bugsieren kann.“ Er nahm einen langen Schluck Wasser, schnitt eine Grimasse und rieb sich das Gesicht. „Diese elende Hitze lässt mir den Kopf schwimmen! Ich werde in der Straße der Heiler nach ihm suchen.“

Éowyn nickte. Ich werde in der Straße auf der anderen Seite der Neuen Bäckerei nach ihm sehen.“

Sie setzte sich bereits in Bewegung. Ihr Nacken war auf merkwürdige Weise starr, als säße dort ein Knoten schrecklicher Anspannung. Ein grabestiefes Donnergrollen wälzte sich von der einen Seite des Tales zur anderen. Éowyn blickte nach oben; ihr Magen verkrampfte sich zu einem Ball unerklärlicher Furcht.

Sie warf ihren besonderen Sinn aus, den Jagdsinn, den Morsuls übles Blut ihr verliehen hatte; sie suchte nach dem flammenden Stern, der Aragorns Lebenskraft darstellte. Er überstrahlte mit seiner rohen Macht und Brillanz selbst den von Thranduil, obwohl Aragorn nur noch ein einziges Jahrhundert an Leben vor sich hatte. Einen Großen unter den Königen hatte Moussah ihn genannt.

Sie fand ihn mit so wenig Mühe, wie man nötig hatte, um ein Freudenfeuer in einem Feld voll Streichhölzer zu entdecken. Sie hielt sich nicht damit auf, die Rückkehr dieser Gabe zu betrauern – ein weiteres, sicheres Zeichen , dass sie ein Gutteil der Menschlichkeit, die Aragorns Behandlung ihr zurückgab, wieder verloren hatte. Sie folgte dem Leuchtfeuer, das der König von Gondor war, wie ein Bluthund, der einer Witterung auf der Spur war, und sie suchte sich ihren Weg um die Neue Bäckerei herum und auf die Marktstraße. Als sie den letzten der verlassenen Händlerstände umrundete, blieb sie stehen... und seufzte vor Erleichterung. Sie kam sich vor wie eine Närrin.

Aragorn saß auf einer der Lehmziegelbänke, die den Brunnen auf der Marktstraße einfassten. Er hob die Kelle aus dem Wassereimer, den er gerade hoch gezogen hatte und ließ sich den Inhalt mit einem Seufzer der Erleichterung über den Kopf laufen. Er warf ihr einen Blick zu, beobachtete, wie sie näher kam und grinste wie ein Junge.

„Ihr schaut mich so finster an wie ein Lehrer, der einen ausgerissenen Schüler tadelt.“ sagte er mit einem leisen Glucksen.

„Tu ich das?“ fragte sie; plötzlich war sie verlegen.

Sein Grinsen wurde breiter. „Meine Wasserflasche war leer, und anders als Éomer bin ich mit dem östlichen Brauch vertraut, in das Brunnenbecken zu spucken, weil es Glück bringt.“

Éowyn grinste und schüttelte den Kopf, als er ihr eine Kelle voll Wasser anbot. Trotz der schwülen Hitze hatte sie den ganzen Tag über keinen Durst gehabt. Das würde nicht mehr der Fall sein, wenn das Zwielicht kam, dachte sie mit einem Schauder. Aragorn beobachtete ihr Gesicht; vielleicht sah er die dunkle Wendung, die ihre Gedanken genommen hatten. Falls er es tat, beschloss er offenbar, ihr keine Fragen zu stellen.

„Ich fürchte,“ sagte er betrübt, „dass das Königtum mein Stehvermögen gemindert hat. Ich bin viele Jahre nicht mehr in diesem Teil der Welt gewesen, und ich hatte vergessen, wie sehr ich die Sommer verabscheue.“

„Wenn die Sonne scheinen würde,“ erklärte sie ihm, „dann hättet Ihr zweimal so viel Grund zum Kummer.“

„In der Tat.“ Er schaute nach oben und sein Grinsen verblasste. „Der schwarze Himmel ist falsch, Éowyn. Ich denke, es ist irgendeine bösartige Kunst der Königin. Sauron und Saruman waren beide von den Ainur, und sie konnten unnatürliche Stürme wie diese weben.“

„Wir sollten zum Platz zurückgehen.“ sagte sie angespannt.

Er nickte und schaute nahezu betreten drein. „Ich werde Euch ein Geheimnis anvertrauen,“ sagte er, und während er sprach, füllte er seine Wasserflasche in dem Eimer. „Es ist viel Gutes daran, ein König zu sein. Der ständige Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu sein ist keines davon.“

Sie stellte fest, dass sie wieder grinste. „Habt Ihr Legolas und Gimli gesehen?“

Er runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. „Ich habe Gimli vor einer Stunde gesehen... Legolas den ganzen Tag noch nicht.“

Sie rang darum, den unvernünftigen Drang zu verbergen, Legolas zu treffen, noch einmal mit ihm zu sprechen, bevor die Nacht herab fiel. Er würde sehr wahrscheinlich auf sie warten, wenn sie auf den Platz zurückkehrten. Es war kindisch, sich so darüber zu ängstigen, dass sie ihm seit der Dämmerung nicht begegnet war, aber sie konnte sich nicht helfen.

„Vor Sonnenuntergang werdet Ihr ihn sehen, Éowyn.“ sagte Aragorn sanft.

„Bin ich so leicht zu durchschauen, mein Herr?“ Sie lächelte zittrig.

„Ich verstehe nur zu gut, was Ihr fühlt, meine Freundin,“ sagte er ernsthaft. „Niemand weiß das besser. Es ist ein wundervolles und gefährliches Ding, in der Liebe solche Grenzen zu durchbrechen.“ Er hielt inne, als würde er erwägen, ob er noch mehr sagen sollte.

„Ich denke, dass Ihr erst jetzt anfangt, den Preis zu begreifen, den er dafür zu zahlen haben wird, dass er Euch liebt.“

Sie biss die Zähne zusammen und ihre Hände zitterten, als sie an Thranduils Worte dachte, an den Zweifel, den er in ihr Herz gesät hatte. Konnte es sein, das keines dieser Gefühle echt war? Vor einem Monat noch war Legolas eine süße Erinnerung an Freundlichkeit und ätherische Schönheit mitten im Entsetzen des Krieges gewesen. Jetzt war er die ganze Welt für sie, und sie war es für ihn. Wie war es nur möglich, dass sie einander so schnell und vollständig lieben konnten? Selbst wenn sie sich ihres eigenen Herzens sicher war, es wäre ihr wie Wahnsinn vorgekommen, zu glauben, dass jemand wie er sich selbst mit Leib und Seele einer sterblichen Frau verschrieb, ohne irgend eine Art von Beeinflussung, die ihn antrieb.

Und wenn es wahr war, wenn er sie so wahrhaftig und vollständig liebte, wie sie es tat ---

Sie brachte ihre zitternden Hände zur Ruhe und erinnerte sich selbst daran, dass Thranduil, der ein mehr als begründetes Interesse daran hatte, dass ihre und Legolas’ Liebe sich als eine bloße Nebenwirkung ihres miteinander geteilten Blutes erwies, nicht sicher gewesen war. Wenn deine Liebe sich als wahrhaftig erweist, hatte er gesagt. Es gab keinen Weg, es zu wissen, keine Sicherheit, an die sie sich klammern konnte. Also klammerte sie sich allein an die Hoffnung, denn das war alles, was sie hatte, auch wenn sie wusste, dass es selbstsüchtig war. Tief in ihrem Bauch wusste sie, dass der König von Eryn Lasgalen die Wahrheit sprach, wenn er sagte, dass Legolas ihren Tod nach einem sterblichen Lebensalter an ihrer Seite vielleicht nicht überlebte. Aber für den Augenblick, solange, wie dieser Kampf dauerte, brauchte sie diese Hoffnung, um dafür zu kämpfen. Für den Augenblick brauchte sie diese Hoffnung, um sich den Willen zu bewahren, einen Atemzug nach dem anderen zu tun.

„Wenn Ihr es nicht als Aufdringlichkeit auffasst,“ fuhr Aragorn sachte ort, „dann lasst einen, der diesen Pfad bereits gegangen ist, Euch einen Rat geben. Lasst Euch durch die Sorge um die Zukunft nicht Eure Freude in der Gegenwart verderben. Solche Liebesbünde sind nur eine Handvoll an Malen geschlossen worden, seit Beren und Lúthien auf Erden gewandelt sind. In jedem Fall, von dem ich weiß, hat es einen Weg gegeben. Unsere Schicksale sind von denen der Eldar abgesondert, bis das Lied von Ilúvatar vollständig ist. Aber Er ist die Verkörperung der Liebe, Éowyn, und deshalb ist er unfähig zur Grausamkeit. Ihr müsst glauben, dass es einen Weg geben wird.“

Sie lächelte; sie fühlte sich gut, innerlich warm und zum ersten Mal an diesem Tag voller Hoffnung. „Aragorn,“ sagte sie ruhig, „ich bin sehr froh, dass Ihr mein Freund seid.“

Er lächelte nur, hob die Kelle an die Lippen und nahm einen tiefen Zug. Dann stand er auf, schüttelte den Kopf und versprühte Wassertropfen aus seinem dunklen Haar.

„Dann kommt!“ sagte er. „Wir wollen g---“ Er brach ab, starr wie eine Statue. Alle Farbe wich aus seinem Gesicht und er schwankte auf den Beinen. Éowyn bekam ihn an der Schulter zu fassen und stützte ihn, ihren Herzschlag im Mund.

„Etwas---“ Aragorn rang nach Atem. „Etwas Übles im Wasser!“ Er presste die Lippen zusammen und versuchte vergebens zu würgen.

Éowyn tauchte die Hand in den Wassereimer, nahm einen Schluck und ließ den Geschmack über ihre Zunge rollen, ohne zu schlucken. Kaltes Entsetzen durchströmte sie und ließ ihr Herz gefrieren, als der Kupfergeschmack von Blut ihr den Mund füllte. Er war schwach, so verdünnt, dass menschliche Sinne ihn nie wahrgenommen hätten. Aber er war da, gepaart mit dem brennenden, prickelnden Nachgeschmack von--- von---

Eine Reihe von Bildern sprang ihr in den Sinn und zeichneten ein gnadenlos klares Gemälde... von Éomer, der sich sein verschwitztes Gesicht abwischte und murmelte, dass die Hitze seinen Kopf schwimmen ließ, einen Moment, nachdem er aus dem Brunnen getrunken hatte. Von den Frauen der Wache und den Männern aus Gondor, Rohan und Harad, die in langen Zügen aus Schläuchen und Wassereimern tranken, die die Rhunballani ihnen angeboten hatten, während sie daran arbeiteten, die Kinder, die Alten und so viele von den Verwundeten wie möglich zu evakuieren, und daran, die halb nieder gebrannte Stadt wieder zu befestigen.

Sie spie das Gift in ihrem Mund aus und packte Aragorn an den Schultern. „Sie haben das Wasser mit Blut verunreinigt, mit ihrem Blut! Oh Elbereth, Aragorn! Jeder Soldat in der Stadt könnte jetzt angesteckt sein! Erbrecht es! Bei allem, was heilig ist, erbrecht das Gift, wenn Ihr könnt!“

„Ich – ich kann nicht!“ keuchte Aragorn und sackte in ihren Armen zusammen. „Ich versuch’s... aber ich kann nicht!“

Gnädiger Ilúvatar, die Jägerin hatte Aragorn und die gesamte Stadt ohne einen einzigen Schlag erobert! War der Angriff letzte Nacht nichts mehr als ein Ablenkungsmanöver gewesen, damit sie die Brunnen mit dem Schmutz ihres Blutes verseuchen konnten?

Kaltes, kicherndes Gelächter erfüllte ihren Geist. Armes, schwerfälliges Kind! sang Simiashas Stimme wie misstönende Silberglöckchen in ihrem Kopf. Jetzt ist er mein! Ich werde ihn mir nehmen, ich werde ihn verwandeln, und ich werde die Erde beherrschen, mit ihm an meiner Seite!

Aragorn krümmte sich zusammen, rutschte aus ihren Armen und fiel auf die Knie, beide Hände seitlich gegen den Kopf gepresst, als versuchte er, einen unheiligen Lärm auszuschließen.

„Éowyn! Éowyn, ich höre sie!“ rief er mit würgender Stimme. „Ihre Stimme ist in mir! Sie – sie---“Mit einem heiseren Stöhnen brach er ab.

„Aragorn!“ Wieder packte sie ihn an den Schultern und zerrte ihn auf die Beine. „Steht auf! Wir müssen Euch jetzt von hier fort bringen!“

Ein weiteres spöttisches Trillern süßer Bosheit. Und wo werdet ihr hingehen, mein närrisches Mädchen? gurrte Simiasha. Zu wem werdet ihr um Hilfe fliehen? Jede Seele, die heute mein Blut geschlürft hat, ist nun mein Geschöpf, auch wenn sie es alle noch nicht wissen. Ich muss nur meinen Willen ausstrecken und jeder einzelne wird meinem Befehl folgen!

Ein Strom der Macht, wie jenes Geräusch mächtiger Obsidianschwingen, die sich zum Flug ausbreiteten, schoss an Éowyn vorbei wie ein Sandsturm in der Wüste, ohne sie zu berühren. Von allen Seiten, aus jedem Winkel der Stadt hörte sie ihre Schreie. Tausende von Stimmen, während die Königin von Blut und Finsternis ihnen ihren Willen aufzwang. Und Aragorn schrie gemeinsam mit ihnen auf, die Art tödlicher Schrei, die ein Mann von sich gab, wenn eine Klinge in seinen Körper eindrang und alles darin zerriss, was gut war und gesund.

Jeden Moment werden sie die Verfolgung aufnehmen, mein Mädchen! zischte Simiasha. Die Verfolgung von dir und von Elessar. Wem unter meinen neuen Söhnen soll ich befehlen, dich zuerst zu nehmen? Vielleicht deinem ansehnlichen, strammen Bruder?

Éowyn kreischte etwas Obszönes und fast Wahnwitziges. Ihre geschärften Sinne sagten ihr bereits, dass die Schreie erstarben und sich in gesenktes, schmerzerfülltes Stöhnen und zorniges, tierhaftes Knurren verwandelten. Aragorn sackte gegen sie; er atmete wie ein Mann in einem Haus voller Rauch und kämpfte mit aller Macht. Sie konnte schneller rennen als sie alle, wenn sie musste, aber es würde keine Rolle spielen, wohin sie gingen. Die Jägerin würde sie finden, wo immer sie sich auch verbargen, wie weit sie auch fort liefen, so lange ihr Blut noch immer in Aragorns Adern wütete.

Sie zog ihr Messer aus dem Gürtel und schlitzte sich zwei Fingerspitzen auf.

„Aragorn!“ sagte sie grob, während sie auf das Geräusch rennender Füße lauschte.

Die Stadt war noch immer von wütendem, schmerzhaften Schluchzen erfüllt. Selbst die Jägerin konnte nicht sofort in den Geist von so vielen gleichzeitig eindringen. Noch war niemand auf den Beinen. Aragorn hob halb betäubt den Kopf und sie hielt ihm ihre blutigen Finger vor das Gesicht. Seine Augen weiteten sich, aber er nickte verstehend. Er zog eine Grimasse schwachen Ekels und nahm ihre Finger in den Mund. Er schluckte einmal. Zweimal. Und während er das dritte Mal schluckte, vergruben sich seine Finger in ihrem Haar und umklammerten ihren Nacken mit erneuerter Kraft. Seine starken Arme schlossen sich um sie und pressten sie fest gegen seinen Körper... und für einen kurzen Moment flammte ihr eigener Leib auf in einem blitzartigen Feuer geschmolzenen, tierhaften Verlangens. Seine Lippen fanden die ihren, heiß und fordernd, und er schmeckte nach süßem Pfeifenkraut und dunkler, ungezügelter Begierde. Für einen kurzen, herzzereißenden Moment verlor sie sich in seinem Geruch roher Männlichkeit, in der knisternden Empfindung seiner gewaltigen Macht, die vor ihren inneren Auge so hell loderte wie ein Stern.

Und dann war es vorüber.

Er sah sie an und blinzelte; er war geschwächt, aber bei vollem Bewusstsein. Seine grauen Augen weiteten sich langsam vor Entsetzen und waren erfüllt von der Bitte um Vergebung. Und von schrecklicher, schrecklicher Schuld.

„Éowyn...“ sagte er heiser. „Verzeiht---“

Sie berührte sein Gesicht mit beiden Händen. „Es war das Blut,“ sagte sie sanft. „Das wart nicht Ihr! Ihr habt nichts falsch gemacht. Das wart nicht Ihr!“

Er starrte sie einen Moment lang an, aschfahl und erschüttert. Und dann seufzte er wie ein Mann, den man auf dem Block des Henkers begnadigt hat. Éowyn wurde die Kehle eng, als sie die Tränen der Erleichterung sah, die ihm in die Augen sprangen. Sein Kummer, seine Schuld, seine bebende Erlösung, all das strömte durch das Blut, das er von ihr genommen hatte, aus ihm heraus und in sie hinein. In den zwei oder drei Sekunden, bevor die Einsicht in ihn in ihrem Geist verblasste, sah Éowyn sein ganzes Herz mit einer Klarheit, wie Aragorn selbst es vielleicht nicht vermochte. Seine Arwen, die wunderschöne Elbenmaid, die er sein ganzes Leben lang geliebt hatte, war sein Norden, sein Süden und alle Punkte dazwischen. Der bloße Gedanke, dass er seine Liebe verraten haben könnte – auch nur mit einem einzigen, verbotenen Kuss – war genug, um ihn zum Weinen zu bringen, genug, ihn auf die Knie zu zwingen. Arwen war der Prüfstein, an dem er sein Leben maß.

Aber das Blut konnte nicht nach etwas rufen, das nicht irgendwo in den dunkelsten, verborgensten Sehnsüchten des Herzens eine Nische besaß. Aragorn liebte Éowyn nicht – obwohl sie ihm teuer war – aber ein Teil von ihm hatte sie von Anfang an begehrt. Ein Teil von ihm begehrte sie noch immer. Sie war der erdgeborene Ruf seines sterblichen Blutes und seines kriegerischen Geistes, das Brennen eines verwandten Verlangens, das Gleiches zu Gleichem zog. Sein waches Bewusstsein ahnte nichts davon, und es würde ihm das große Herz brechen, wenn er dieser verborgenen Wahrheit jemals ins Gesicht sah.

Also schüttelte sie ihn sachte, eine Hand noch immer auf seinem Gesicht. „Es tut mir Leid!“ sagte sie leise. „Es gab keinen anderen Weg, Euch von ihrem Willen zu befreien. Ich wusste nicht, dass mein Blut die selbe Reaktion bei jedem hervorruft, der es trinkt.“

„Gut zu wissen!“ Er lachte zittrig. „Obwohl ich glaube, dass Arwen mir immer noch den Kopf abreißt, wenn---“

„Geht auf die andere Seite!“ rief die Stimme eines Mannes.

Das Geräusch rennender Füße, das Gefühl Dutzender von Leuten, die sich näherten. Oh Götter, sie waren auf beiden Seiten der Marktstraße! Sie wirbelte herum und suchte nach einem Ausweg, einer Öffnung in dem Netz, das sich um sie beide zusammengezogen hatte, während sie unter der Wirkung von Éowyns Blut in seinen Adern taumelten. Sie konnte das Flackern von Lebensgeistern jetzt von allen Seiten spüren.

„Wir sind umzingelt!“ sagte sie mühsam. „Wenn wir kämpfen, dann werden wir Freunde töten, und die, die wir lieben!“

Aragorns Augen zuckten zu dem Brunnen hinüber und leuchteten auf. „Éowyn! Es sind noch Stunden bis zum Sonnenuntergang! Habt Ihr genügend Kraft, um uns beide bis auf den Grund des Brunnens zu tragen?“

„Das werden wir gleich herausfinden.“ sagte sie grimmig.

Sie schob ihre Schulter unter die seine und sie kletterten auf den Brunnenrand. Sie sprangen und fielen erst an Ziegeln, dann an Stein und dann an einer roten Tonschicht vorbei nach unten. Sie tauchten durch das Wasser in die Tiefe. Sie stützte Aragorn mit den Armen und fing den Aufprall ab, als ihre Füße nach wenig mehr als dreieinhalb Metern Wasser auf den Boden trafen. Sie stieß sich vom Boden ab und ihre Köpfe brachen durch die Oberfläche. Ein kühler Hauch von Höhlenluft strich ihnen über das Gesicht.

„Das ist kein Brunnenquell!“ sagte Aragorn. „Wir befinden uns in einer Strömung!“

Der Fluss! Plötzlich erinnerte sich Éowyn an das riesige, schwarze Band aus wogendem Wasser, dem Morsul und seine Kumpane gefolgt waren, an die unvorstellbar riesigen, gewölbten Höhlen, die Wände mit schimmernden Diamanten geschmückt und mit leuchtenden Mithril-Adern, so dick wie der Leib eines Mannes.

„Der Ursprung---“ Sie fuhr zusammen und senkte die Stimme. Jedes noch so kleine Geräusch schien sich zu vervielfältigen. „Der Ursprung der Hundert Quellen ist ein riesiger, unterirdischer Fluss.“

„Um das Wasser in jedem Brunnen zu vergiften, müssten sie---“ Aragorn brach ab, als der Klang von Stimmen vom Rand des Brunnens widerhallte.

„Sie sind nicht hier!“ spie jemand voller Abscheu. Éowyns Herz krampfte sich zusammen, als sie begriff, dass es Éomers Stimme war. „Meine Schwester hat ihm ihr Blut gegeben, und die Herrin kann ihn nicht länger sehen. Sie könnten sonstwo sein!“

„Lasst sie sich noch drei weitere Stunden verbergen, oder vier,“ sagte Moussah gleichgültig. „Wenn die Herrin sich erhebt, werden wir so lange die Frauen und Kinder abschlachten, bis er sich zeigt.“

Éowyn spürte, wie Aragorn neben ihr in stiller Wut bebte.

„Seid still!“ sagte Suni zornig. „Sie spricht!“ Ein kurzes Schweigen. Éowyn hörte gedämpft Simiashas Stimme, wie den entfernten Hauch einer belauschten Unterhaltung. Sie biss die Zähne zusammen und lauschte weiter; sie bekam gerade genug mit, um die wesentlichen Befehle der Jägerin zu verstehen.

„Lasst uns danach handeln!“ sagte Éomer grob.

Sie hielten so still wie die Mäuse, die auf den weit entfernten Tritt der Katze hören. In der Dunkelheit war Aragorns Gesicht qualvoll angespannt und besorgt.

„Wenn Ihr euch selbst aufgebt,“ sagte Éowyn leise, „dann wird Simiasha die alten und die ganz Jungen trotzdem töten.“

„Ich weiß.“ sagte er „Aber dadurch wird es nicht leichter, das zu ertragen. Konntet Ihr ihre Worte hören?“

„Thranduil und seine Leute sind noch nicht angesteckt worden!“ sagte sie drängend. „Sie sind einfach verschwunden.“

Aragorn nickte. „Die Elben hätten das Gift im Wasser geschmeckt.“

„Wir müssen sie finden, bevor Éomer und die anderen es tun!“ sagte Éowyn, Sie schloss die Augen und dachte angestrengt nach, die Stirn gerunzelt, den Mund konzentriert zusammen gepresst.

„Sie haben den Brunnen nicht von oben vergiftet.“ sagte sie langsam. „Das Wasser wäre einfach abgeflossen. Ihr habt Euch an diesem Brunnen angesteckt, und er ist ein Seitenarm des großen Flusses, der unter diesem Tal entlang fließt. Wenn der Springbrunnen und dieser Brunnen und all die anderen verschmutzt wurden, und alle haben fließendes Wasser auf ihrem Grund---“

„Dann haben sie den Zufluss des Wassers stromaufwärts verschmutzt!“ rief Aragorn aus. „Es ist Simiashas Blut in dem Wasser. Sie kann nicht einfach eine Tasse voll davon in die Fluten gegossen haben. Die Strömung hätte es davon getragen.“

„Sie hat sich oberhalb der Stadt eine Vene geöffnet und sich dann in den Fluss gelegt,“ sagte Éowyn heftig. „Sie kann sich noch weitere drei Stimmen nicht erheben. Wir müssen sie finden und sie töten, bevor sie es tut, oder jeder in diesem Tal ist verdammt!“

Éowyn schloss die Augen und suchte nach Thranduil. Er war da, ein scharf brennendes, glühendes Licht, wenn auch weit entfernt. Östlich. Östlich der Stadt und--- und---

Sie fing den Eindruck von Thranduils schönem Gesicht ein, dass finster und unwillig auf Gimli nieder starrte, und den schwachen, geisterhaften Klang vom rostigen Glucksen des Zwergen.

„Frieden, Elbenkönig!“ sagte Gimli gerade. „Ich kenne mich aus unter der Erde. Legolas ist direkt da vorn.“

Sie suchte mit aller Kraft, warf ihre Sinne aus nach dem süßen Leuchtfeuer von Legolas’ Lebenskraft, aber er war nicht da. Sie konnte ihn nirgendwo spüren. Sie schluckte; Sorge knotete sich in ihrem Laib zusammen und vernebelte ihre Beurteilung von allem anderen. Er hätte das vergiftete Wasser nicht getrunken, aber vielleicht hatten sie ihn gefangen genommen und ihn verletzt. Vielleicht---

Nein! Es ging ihm gut. Gimli hatte es gerade gesagt, nicht wahr? Sie versuchte, die Furcht fort zu stoßen, aber sie wollte nicht verschwinden. Das Einzige, was sie beschwichtigen konnte, war, Legolas mit eigenen Augen zu sehen.

„Wir sind nicht allein,“ sagte sie endlich. „Thranduil und seine Elben sind ebenfalls unter die Erde gegangen, hinab in die Brunnen. Legolas und Gimli sind bei ihnen! Sie sind nur ein Stück weiter stromaufwärts!“

Aragorn grinste wild. „Ich denke, wir vier und hundert Elbenkrieger können einem schlafenden Dämon ohne viel Federlesens den Garaus machen!“

Sie lächelte zurück und trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen, während ihre Haut prickelte angesichts der Nähe der Waffe, die auf ihren Rücken geschnallt war... der Waffe, die der Jägerin den Tod bereiten würde, wenn es denn irgend etwas innerhalb der Schöpfung gab, das sie töten konnte.

Sie suchten sich ihren Weg vorwärts; sie gingen an den schlammigen Ufern des Wassers entlang, wo es möglich war, oder kämpften sich gegen die Strömung voran, so schnell es ging. Die Höhle schrumpfte nie zu einer Höhe zusammen, dass sie kriechen mussten, und ihr Weg senkte sich nie in einen überfluteten Tunnel ab. Sie gingen eine schwache Steigung hinunter. Aragorn war hinter ihr und sie hielt seine Hand fest in der ihren, denn er war blind in der Finsternis. Trotzdem war es nicht völlig dunkel. Auf dem größten Teil des Weges gab es eine schwachen Schimmer von Helligkeit, entweder von anderen Brunnen, an denen sie vorbei kamen oder von kleinen Unvollkommenheiten im Boden über ihnen, kleinen Rissen in der Erde, die dem Licht erlaubten, nach unten zu dringen.

Aragorn stolperte immer wieder, und sein Atem ging mühsam und schwer. Sein Geist war von Simiashas Macht befreit, aber er war noch immer frisch vergiftet durch das Blut der Jägerin. Éowyn staunte darüber, dass er überhaupt auf den Beinen war. Er hielt so gut mit ihr Schritt, wie er konnte, und sie hielt seine Hand mit festem Griff, falls er fiel. Irgendwie wusste sie, dass er das nicht tun würde... nicht deshalb, weil er große, übermenschliche Kräfte besaß, sondern weil er einfach nicht fallen konnte. Zu viel – sein Weib, sein Sohn, sein Königreich, der gesamte Westen – hing von ihm ab. Er war die tragende Mauer, die alles, was er liebte, aufrecht hielt, und er konnte nicht fallen.

„Wartet!“ flüsterte sie endlich, und beide kamen an der Einmündung eines großen, höhlenartigen Raumes zum Stehen. Hinter ihr mühte sich Aragorn, in der undurchdringlichen Finsternis etwas zu erkennen. Nicht einmal ein Funken Licht war rings um sie zu sehen.

Aber direkt vor ihnen, weniger als dreißig Meter, konnte sie die strahlenden Flammen der hundert Elbenkrieger und von Thranduil selbst spüren.

„Mädel?“ rief eine brummige Stimme.

„Gimli!“ rief sie. „Ich bin es! Aragorn ist bei mir. Ist – ist Legolas bei euch?“

„Ist er,“ sagte Gimli und trat hinter einem Riss in der Mauer hervor. Er grinste breit. „Ich wusste, du würdest uns finden! Hab ich’s nicht gesagt, Legolas?“

Legolas tauchte aus einer dichten Wand aus Schatten gleich neben ihnen auf. „Ich erinnere mich, dass ich es war, der sagte, dass sie uns rasch finden würde, mein Freund,“ sagte er und hob arrogant eine Augenbraue. Das ließ ihn seinem Vater ähneln, obwohl er ihm sonst nicht glich. Er lächelte sie voller Wärme an. „Ich bin froh, dass du hier bist, Meleth-nin.“

Éowyn schlug jede Vorsicht und Zurückhaltung in alle vier Winde. Sie fiel ihm in die Arme, während Freude und Erleichterung sie überspülten „Ich dachte, sie hätten dich auch gefangen genommen,“ seufzte sie. „Ich bin so froh, dass du in Sicherheit bist!“ Sie küsste ihn, ohne sich darum zu kümmern, dass Aragorn, Gimli und sehr wahrscheinlich Thranduil und alle seine Krieger ihr dabei zuschauten.

Sie öffnete die Augen und zog ihren Mund langsam von seinem zurück; ihr Herz schrumpfte ihr in der Brust zu einer kalten Hülle zusammen. Alle Hoffnung floh, während er sie kalt und spöttisch anlächelte. „Dein Kuss schmeckt nach Estel, meine treulose Liebste,“ sagte er leise, während er sie noch immer fest an sich gedrückt hielt.

„Und deiner schmeckt nach Blut,“ wisperte Éowyn, während ihr die Tränen in die Augen stiegen. Sie hörte Aragorns leisen, schmerzhaften Seufzer, als Gimli die Axt schwang und den König mit dem Griff nieder schlug. „Dein Vater und deine Leute---“

„Oh, die sind hier, gleich um die Biegung da vorne,“ erklärte Legolas; eine Hand ruhte leicht auf ihrem Nacken. „Sie sind allesamt ohne Besinnung.“

Simiasha würde so viel kostbares Elbenblut nicht verschwenden. Sie würde sich an Thranduil und seinen Leuten sättigen, wenn sie erwachte. Närrin! Närrin! kreischte ihr Geist. Sie hatte Aragorn geradewegs in ihre Hände geführt, wie ein Lamm zum Schlachter. Sie hob den rechten Arm und legte ihre Hand auf den Knauf des strahlenden Dinges, das Ikako für sie geschmiedet hatte. Im selben Moment zog Legolas ihr den Griff seines langen Messers über die Schläfe.

Ich habe versagt! dachte sie voller Verzweiflung, während sie fiel. Ich habe sie alle im Stich gelassen!

*****

Sie erwachte in Legolas’ Armen und fragte sich für einen Moment, ob das Ganze vielleicht ein schrecklicher Alptraum gewesen war. Sein Körper dicht an ihrem war noch immer warm. Seine Hand auf ihrer Wange, seine Lippen auf ihrer Stirn waren sanft.

„Sie wacht auf.“ sagte eine grobe Männerstimme in schwerfälligem Tonfall. Sie brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass es Éomer war, der sprach.

„Was soll dir das nützen?“ sagte Legolas kühl und gleichgültig. „Halt Abstand, Pferdereiter. Ich werde dich, deine Männer und die gesamte Totenarmee der Herrin abschlachten, wenn du sie anrührst.“

Éomer schnaubte und lachte hämisch. „Du widerstehst dem Willen der Herrin, Elb. Ich werde es genießen, dabei zuzusehen, wie sie dich noch einmal zerbricht, wenn sie zurück kommt!“

Das Geräusch vieler Füße, die sich weg bewegten. Legolas’ Brust hob und senkte sich dicht neben ihr in einem Seufzen angespannter Erleichterung. Er saß mit gekreuzten Beinen auf dem Kopfsteinpflaster des Brunnenplatzes. Ihre Hände und Füße waren mit dicken Ketten gebunden und sie lag auf seinem Schoß wie ein schlafendes Kind, den Kopf an seiner Brust. Feuer flackerte am Rand ihres Blickfeldes, die Flammen Dutzender von Fackeln. Das Murmeln Hunderter von Stimmen kam von allen Seiten, leise und erregt, wie von Zuschauern, die auf eine Krönung warteten. Scheinbar saßen sie am Rand einer riesigen Menge.

Es war tiefste Nacht.

„Hilf mir,“ flehte sie leise.

„Ich kann nicht,“ sagte er, eine Welt der Trauer in seiner Stimme. „Ihr Geist ist in meinem. Ich bin verloren, Geliebte. Ich – ich habe die anderen davon abgehalten, dich zu.... zu verletzen, denn die Herrin hat befohlen, dass sie das tun sollen. Sie setzt mich jetzt nicht so schwer unter Druck, aber sie ist auch woanders beschäftigt. Sie hat sich vor einer Stunde erhoben und ihren Jägern die Erlaubnis erteilt, alle Verwundeten zu töten, die sich noch in der Stadt befinden.“

Éowyn spürte, wie ein Schrei der Wut und des Kummers in ihrer Kehle aufstieg.

„Oh Éowyn!“ sagte Legolas. „Sie hat Estel gefangen genommen! Es ist nur noch so viel übrig von dem, was ich wirklich bin, weil sie die volle Macht ihres Willens dazu einsetzt, seinen Willen zu brechen!“ Er schluchzte leise. „Ich werde dich schützen, so lange ich es kann.... bis sie zurück kommt. Es ist das Beste, was ich tun kann. Es tut mir Leid, Éowyn! Es tut mir Leid!“

Sie hob ihre gefesselten Hände, berührte sein Gesicht und wischte seine Tränen weg. „Wann hast du das Wasser getrunken? Ich dachte, Elben könnten die Fäulnis ihres schmutzigen Blutes spüren!“

„Ich habe nicht getrunken,“ sagte er. „Ich denke – ich denke, als Aragorn unser Blut gereinigt hat, da hat er auch deinen Schutz ausgetrieben. Und nachdem wir uns letzte Nacht an den Wahnsinn der Schlacht verloren haben, war sie imstande, sich wieder in meinen Geist zu drängen. Der arme Gimli hat nie dein Blut gehabt, um ihn zu schützen, also erlag er ihrem Willen zuerst. Dann ergriff sie mich.“ Seine Stimme sank zu einem dumpfen Flüstern herab. „Es war solch ein schrecklicher Schmerz, Éowyn. Es war schlimmer als beim ersten Mal, denn ich wusste, was geschieht und konnte es nicht aufhalten. Sie befahl Gimli und mir, darauf zu sehen, dass jedermann in Rhunballa aus den verschmutzten Brunnen trank, und dann unter falschen Vorspiegelungen alle Scherben einzusammeln. Wir haben es auf sehr kluge Weise angefangen, den ganzen Tag über. Ich habe dich, Estel und meinen Vater gemieden, weil ich wusste, dass einer von euch sehen würde, dass etwas mit mir nicht stimmt.“

„Trink noch einmal!“ sagte sie drängend. „Wenn du---“

„Ich kann nicht,“ sagte er leise. „Sie hat es mir ausdrücklich verboten, und selbst jetzt kann ich ihr nicht zuwider handeln. Bitte! Bitte versuch nicht, deine Ketten zu zerbrechen! Wenn du es tust, dann hat sie mir befohlen, dass ich dir weh tue.“

Éowyn erzitterte, als sie den Stich der Spitze seines langen Messers spürte. Er hielt es gegen ihren Bauch gepresst. Wenn sie sich bewegte, um zu entkommen, dann würde ihr seine Hand durch den Schwung den Unterleib aufschlitzen.

„Was kannst du tun?“ fragte eine Stimme ruhig.

Éowyn drehte den Kopf ein wenig, um etwas zu sehen. Thranduil war drei, vielleicht vier Meter weit entfernt. Er war in sitzender Haltung mit den Händen nach hinten an einen Zaunpfahl gekettet. Einer von Simiashas Untoten musste den Pfosten zwischen die Steine des Platzes getrieben haben. Hier und da, überall um den Platz herum, war der Rest von Thranduils Leuten auf die selbe Weise gebunden. Zweifellos hatte die Jägerin vor, sich mit ihrem Blut vollzusaufen, sobald sie zurück kehrte. Legolas starrte seinen Vater an, sein Gesicht leer und ausdruckslos.

„Du hast gesagt, was du nicht tun kannst,“ sagte Thranduil langsam; seine Augen bohrten sich in die seines Sohnes. „Finde heraus, was du tun kannst. Stelle die Grenzen des Bannes fest, die dieser Dämon dir auferlegt hat, und hilf deiner Braut!“

„Wo sind meine Waffen?“ fragte Éowyn verzweifelt. Oh Eru, wenn sie in irgend ein dunkles, bodenloses Loch in der Erde geworfen worden waren, dann war alle Hoffnung verloren.

„Ich---“ sagte Legolas unter Schmerzen. „Sie – sie sind---“ Er schien zu versuchen, seine Worte an einer verschlossenen Tür in seinem Geist vorbei zu zwingen.

„Die Bestie hat dir ausdrücklich befohlen, Éowyns Entkommen zu verhindern,“ sagte Thranduil eindringlich. „Dass du sie verwundest, wenn sie versucht zu fliehen. Hat Thuringwethil gesagt: ,Sag deiner Liebsten nicht, wo du ihre Waffen hingelegt hast?’“

Legolas bebte neben ihr; sein Atem ging mühsam.

„Bitte, Legolas,“ sagte sie leise. Oh Elbereth, sie hatten fast keine Zeit mehr – sie konnte es in ihren Knochen fühlen, und in ihrem Blut! „Kämpf gegen sie!“

„Du bist stärker als dies, mein Sohn,“ sagte Thranduil. „All die, die du in Mittelerde am meisten liebst, werden bald tot sein – oder schlimmer als tot – wenn du ihr nicht hilfst! Denk daran, was die Jägerin Gimli zufügen wird, was sie Aragorn antun wird und deiner Éowyn, wenn sie siegt!“

„Ich habe sie dort drüben hingeworfen,“ keuchte Legolas und nickte zu dem Haufen aus schimmerndem Metall und Leder hinüber, der auf ihrem zerrissenen, schlammigen Umhang verstreut lag, gleich seitlich von dort, wo sie saßen.

Oh gnädige Elbereth! Oh Herrin des Lichts, ich danke dir! sang Éowyns Herz.

„Bring sie zu mir,“ sagte Éowyn ruhig und hielt seinen Blick mit dem ihren fest. Sein Gesicht war eine Maske der Qual, seine gesamte Gestalt zitterte von innerem Kampf, wie ein junger Baum in einem heftigen Unwetter. „Bring sie zu mir und leg sie mir in die Hände. Wenn ich versuche zu entkommen, dann musst du mich aufhalten, aber sie hat nichts darüber gesagt---“

„Legolas!“ sagte eine grobe, tiefe Stimme scharf.

Gimli, Sohn des Glóin stakste zu Legolas hinüber, sein Gesicht eine Mischung aus Zorn und Furcht. „Die Herrin wird dich bei lebendigem Leibe zerreißen, wenn du auch nur über solchen Ungehorsam nachdenkst, du idiotischer Elb! Hör nicht auf sie. Oder noch besser, schlag sie wieder bewusstlos und halte sie davon ab, dir den Geist zu vernebeln. Lasst dich nicht von ihr dazu überlisten, mit deinem---“

„Faulmäuliger, niedrig geborener, schlammwühlender Naugrim!“ sang eine volle, wunderschöne Stimme. Thranduil verzog seine Lippen zu einem arroganten, höhnischen Lächeln. „Ich wusste, eines Tages würdest du meinen Sohn verraten! Ich hätte dich in dem Moment in Eisen schlagen lassen sollen, als du zuerst den Fuß in mein Reich gesetzt hast... genau, wie ich es mit deinem feigen, faulen Vater und seinen diebischen, verräterischen Spießgesellen getan habe!“

Gimli drehte sich zu dem Elbenkönig herum, sein Gesicht eine hässliche, verzerrte Maske der Wut. Für einen Sekundenbruchteil begegnete Éowyn dem Blick von Legolas’ Vater und sah die kalte Berechnung hinter all den Kränkungen. Er lockte Gimli fort und schenkte ihr ein paar weitere, kostbare Momente, um Legolas ins Schwanken zu bringen. Gimli stampfte vorwärts, mit der erklärten Absicht, Thranduil einen krachenden Schlag auf das Kinn zu versetzen. Der König von Düsterwald grinste bösartig und wartete, bis der Zwerg dicht heran gekommen war. Dann schoss sein Fuß nach oben und nach vorne, und Thranduil trat Gimli mit brutaler Präzision in den Schritt. Das süße musikalische Gelächter des Elbenkönigs schallte über den Platz, als Gimli einen röhrenden Schmerzensschrei von sich gab und sich zusammenkrümmte. Die Leute begannen, zu ihnen herüber zu kommen, die Züge bei der Aussicht auf eine grausame Unterhaltung in eiferndem Vergnügen verzerrt. Die Gesichter von Éomer, von Fallah und Suni und von Dutzenden anderer schienen im roten Flackern des Fackellichtes voller Blut zu sein.

„Ich hätte gedacht, dass gerade ein Zwerg besser auf seine Familienjuwelen Acht geben würde!“ lachte Éomer.

„Dafür wirst du leiden, Elb!“ murmelte Gimli schwerfällig.

Eine Menge, dem Kreis der Jäger schrecklich ähnlich, die Gimli bis zu seinem selbstmörderischen Sprung von den Klippen gequält hatten, drängten sich um den Pfosten zusammen, wo Thranduil angekettet war und versperrte Éowyn den Blick auf Gimli und Legolas’ Vater. Und jetzt sah Éowyn, dass einige in dem Pulk tatsächlich Jäger waren, die sich frei unter die Lebenden mischten. Und warum auch nicht? Jetzt waren sie alle Simiashas Kinder.

„Vertraust du mir, Legolas?“ fragte sie leise.

„Ja,“ hauchte er.

„Vertrau mir, wenn ich dir sage, dass ich sie besiegen kann,“ sagte Éowyn. Sie schaute hinauf in sein wunderschönes Gesicht, das so erfüllt war von schrecklichem Schmerz. „Tu es jetzt. Bitte, Legolas! Dein Vater kann ihre Aufmerksamkeit nicht lange festhalten. Bitte!“

„Was---?“ Sein Gesicht war bleich vor Anstrengung. „Was brauchst du?“

„Zieh einfach den Mantel über mich,“ sagte Éowyn; ihre Stimme zitterte. „Und berühr nichts direkt, was sich darunter befindet.“

Langsam und vorsichtig hob er ihren gefesselten Körper ein wenig sicherer in seinen Schoß und begann sich verstohlen zur Seite zu bewegen, auf den Stapel ihrer Ausrüstung zu. Er hätte sich nicht um Tarnung zu kümmern brauchen. Niemand schenkte ihnen auch nur die geringste Aufmerksamkeit. Erneuter, spöttischer Jubel stieg auf, als Gimli noch einmal vor Zorn und Schmerz aufschrie. Langsam, die Augen, überströmend von Tränen der Anstrengung, zerrte Legolas den Umgang und alles, was sich darauf häufte, in Reichweite.

Er setzte sie sanft vor sich auf ihren Knien ab; ihr Harnisch und ihre Waffen lagen jetzt sämtlich zwischen ihnen verstreut.

Er beugte sich vor und berührte mit den Lippen die ihren, eine rasche, verzweifelte Geste, die die ganze Macht seiner Liebe ausdrückte. „Mein Vater irrt sich, wenn er auch nur vermutet, dass unsere Liebe ein Ding ist, das aus unserem geteilten Blut geboren wurde!“ sagte er heftig. „Ich wusste, dass ich dich liebte, als du mich in dem Nest zum ersten Mal geküsst hast... noch bevor ich Simiashas Blut gekostet hatte, oder das deine. Wenn wir heute Nacht sterben, dann stirb mit dem Wissen, dass meine Liebe zu dir wirklich und wahr gewesen ist, geboren aus allem Guten, Tapferen und Schönen an dir!“

Sie schluchzte, völlig außerstande, irgend etwas zu sagen. Also küsste sie ihn einfach.

Er legte seine Hände auf ihr Gesicht und zog sich ein wenig zurück. „Ich weiß, du kannst deine Fesseln leicht zerbrechen. Schlag hart zu, und rasch, Éowyn, denn in dem Moment, in dem du dich befreist, muss ich angreifen---“ Er erstarrte; sein Gesicht erblasste vor Schmerz und seine Augen wurden glasig. „Éowyn, rasch! Sie kommt!“

Éowyn zerriss ihre Ketten, schwang sich mit einer einzigen, fließenden Bewegung herum und schlug ihm das zerbrochene Kettenende gegen die Schläfe. Er wich schneller nach hinten aus, als sie gedacht hatte, und – die Götter mochten ihr helfen! – binnen des Bruchteils einer Sekunde wusste sie, dass er besser, stärker und schneller war als sie. Sie warf sich nach vorne und langte nach dem hellen Ding auf dem Haufen aus Harnisch und Waffen, ein hoffnungsloser Sprung hin zur Errettung. Er traf sie mit einem Hieb von hinten und sie wirbelte herum und fiel auf ihr Gesicht. Sie spürte, wie sich sein Knie hart in ihr Kreuz bohrte, fühlte, wie er ihre Arme mit brutaler Macht hinter dem Rücken zusammenhielt.

„Die Herrin kommt! Du wirst ihr diese Nacht nicht verderben!“ zischte er ihr ins Ohr, sein Atem heiß in ihrem Nacken. Er zerrte ihre Arme hinter ihr nach oben, so hoch, dass sie dachte, sie könnte die Knochen und Sehnen in den Ellbogen-Gelenken laut aufstöhnen hören, und auf diese Weise zwang er sie in eine knieende Haltung. Er kniete hinter ihr, die Schenkel auf beiden Seiten ihres Körpers, und zog sie zurück und an sich. Eine Hand umklammerte noch immer ihre Handgelenke hoch hinter ihrem Rücken, die andere lag um ihre Taille und hielt sie fest.

Überall konnte sie das Krakeelen einer hysterischen Freude hören, das in die heiße Nachtluft aufstieg; menschliche Stimmen schrieen auf, gemeinsam mit dem atemlosen Kreischen der Untoten, eine schrille Hymne finsterer Ekstase.

Simiasha stieg auf, ihre Schwingen wie der schwarze Stoff endloser Nacht zwischen den Sternen; sie flatterte aus dem Trichter nach oben, wo einmal der Springbrunnen gestanden hatte. Sie war vollkommen heil und ganz, nach dem sie sich an dem Blut von Thranduils fehlenden Kriegern genährt hatte. Éowyn spürte, wie Legolas hinter ihr einen Seufzer der Anbetung ausstieß, während er zu der Königin der Toten aufblickte.

Aragorn baumelte in ihrem Griff; sie hielt ihn im Nacken gepackt.

Simiasha ließ sich mitten in der Menge ihrer bewundernden Abkömmlinge auf die Erde herab, blind und taub für die Schreie der Verehrung. Ihr wunderschönes Gesicht war gewitterdunkel vor Raserei. Und als sie Aragorn mit einem wütenden Knurren zu Boden schleuderte, sah Éowyn plötzlich, warum. Er war leichenblass, halb zu Tode ausgesaugt. Aber seine Augen waren noch immer hell und klar. Sein Geist gehörte noch immer ihm, ungebeugt und ungebrochen nach dem geistigen Überfall der Jägerin.

Wie lange hatte Legolas widerstanden, als Simiasha ihren Geist einsetzte, um seinen Willen zu brechen? Es waren sicher weniger als zehn Minuten gewesen. Und Aragorn war noch immer frei, noch immer unversehrt von der Verseuchung ihres Geistes in seinem - nach einem Sperrfeuer, das Stunden gedauert haben musste.

„Schweigt!“ zischte Simiasha leise.

Totenstille senkte sich auf die Menge nieder.

Nicht weit entfernt von sich sah Éowyn Éomer und Gimli, die Gesichter leuchtend vor Liebe, während sie die Kreatur anschauten, die sie versklavt hatte. Thranduil hing in seinen Ketten, das Gesicht zerschrammt und blutend, ganz und gar vergessen. Wohin Éowyn auch blickte, sah sie die Gesichter derer, die sie kannte; sie standen oder knieten, überwältigt wie die Elben in Valinor, die sich vor dem Thron Manwës niederwarfen. Legolas murmelte den Namen der Jägerin in ihr Ohr, ein Seufzer, in dem sich Liebe und Drohung mischten.

Simiasha starrte unheilvoll auf Aragorn hinunter. Der König von Gondor erhob sich auf die Knie; sein Blick hing an ihrem, sein bleiches Gesicht war kalt und voller Abscheu. Langsam und geschwächt begann er, sich auf die Beine zu mühen.

Simiasha schlug mit einer zierlichen Faust zu und warf ihn einmal mehr auf die Knie. Aragorn schwankte unsicher und schüttelte unter Schmerzen den dröhnenden Kopf. Dann spuckte er Blut und versuchte erneut, aufzustehen. Die mit Stacheln bewehrte Spitze der ebenholzschwarzen Schwinge der Jägerin rollte sich nach innen und schwang nach unten, und die stumpfe Kante versetzte ihm einen Hieb quer über den Schenkel. Éowyn krümmte sich innerlich angesichts des Übelkeit erregenden Knackens ... das Geräusch, als Aragorns Bein brach. Er schrie auf und stürzte; er zitterte wie trunken, während er darum rang, bei Bewusstsein zu bleiben.

Éowyn regte sich und spannte den Körper, um sich nach vorn zu werfen – und spürte den scharfen Stich von Legolas’ langem Messer in ihrer Seite. „Verdirb meiner geliebten Herrin nicht das Spiel,“ sagte er leise. „Du wirst all zu bald an der Reihe sein!“

„Sie ist nicht deine Geliebte!“ sagte sie, die Zähne aufeinander gepresst.

„Jedes Mal, wenn ich dich berührt habe, war es ihr Gesicht, das ich sah!“ seufzte Legolas in ihren Hals hinein und lachte unterdrückt, während sie aufschluchzte und sich in seinen Armen wand. „Jedes Mal, wenn mein Vergnügen den Gipfel erreichte, war es ihr Name, den mein Herz herausschrie!“

„Das ist eine Lüge!“ weinte Éowyn. „Es ist ihre schmutzige Lüge!“

Aragorn fiel zu Boden, als Simiasha erneut mit der Flügelspitze nach ihm schlug. Die Menge schrie ihre anbetende Zustimmung heraus.

„Dummes, menschliches Tier!“ kicherte die Jägerin leise.

„Du magst mir jeden Knochen im Leib einzeln brechen, wenn es dir Freude bereitet,“ krächzte Aragorn, „aber das wird dir nicht helfen, meinen Geist zu überwältigen!“

Simiasha schoss in einer blitzartigen Bewegung nach vorne und riss Aragorn am Hals. Sie bohrte ihren gebirgsschweren Blick in ihn hinein, das Gesicht bleich. „Sag mir,“ fragte sie gleich darauf mit liebender Stimme, während sie sanft seine Wange liebkoste. „Wie kann ein schmutziger, schwacher Sterblicher wie du meiner Macht widerstehen?“

„Ich würde es dir vielleicht sagen, wenn es dir irgendwie gelänge, mich zu brechen,“ sagte Aragorn unter Schmerzen. „Aber so, wie die Dinge liegen, wirst du es wohl niemals wissen.“

Simiashas Augen weiteten sich und sie fletschte die Zähne: ihre Züge verloren ihren sorgsamen Zauber menschlicher Schönheit, als sie in ihrem Zorn vergaß, die Illusion herzustellen. Sie knurrte Aragorn ins Gesicht, eine Hand erhoben, einen Herzschlag davon entfernt, ihrem Gefangenen einen zornigen Hieb zu versetzen, der ihm den Kopf von den Schultern gerissen hätte. Dann erstarrte sie plötzlich. Sie lachte, hoch und süß, und schüttelte den Kopf in widerwilliger Bewunderung.

„Fast hättest du mich dazu verleitet, dich zu töten, mein kluger Liebling,“ gluckste sie. „Aber es gibt andere Methoden, deine Knie zu beugen. Du wirst mir deinen Geist öffnen, König von Gondor, oder ich werde jedes einzelne Kind in diesem Land herbringen und es vor deinen Augen abschlachten.“ Ihre Augen irrten mit schlauem Blick zu Éowyn ab. Die Jägerin lächelte süßlich, als sie sah, dass Legolas sie festhielt, und dass sie hilflos war. „Aber zuerst... wollen wir sehen, was für ein Spiel wir ersinnen können, damit die Kommandantin der Wache von Rhunballa um Gnade schreit?“

Éowyn spürte, wie Legolas’ Körper dicht an ihrem erzitterte, der bloße Hauch eines Schauderns. Selbst zermalmt unter dem Gewicht von Simiashas voller Macht gehörte er noch nicht ganz ihr.

„Oh, ich denke, ich habe dieses kleine Rätsel gelöst,“ sagte die Jägerin, und das Lächeln, das sie Éowyn schenkte, war süßes Gift. „Du hast Elessar dein Blut gegeben, nicht wahr? Du hast meinen Morsul ruiniert und mir den süßen Legolas geradewegs von der Brust weg gestohlen. Und nun willst du auch diesen feinen, starken Hengst für dich alleine haben? Gierige Schlampe!“

„Deine Einbildung ist so faul und krank wie dein Blut!“ schrie Éowyn, und die tausendköpfige Menge brüllte vor Wut angesichts ihrer Gotteslästerung.

„Es kommt mir vor,“ sagte Simiasha gedankenvoll, „dass ich, wenn die Quelle von Elessars Widerstand dein Blut ist, dich nur töten muss, damit er nicht mehr imstande ist, sich gegen mich zu wehren. Wie traurig! Ich hatte so gehofft, dich noch ein Weilchen warm und atmend zu lassen, damit du die Art und Weise besser auskosten kannst, wie ich vorhabe, dich zu quälen!“ Sie entblößte ihre Klauen.

„Ihr Tod wird dir überhaupt nichts nützen, Blutkönigin!“ rief eine klare Stimme.

Simiasha lächelte beim Anblick von Thranduil, der gefesselt in seinen Ketten hing, in bösartigem Entzücken. „Wie das, Lieblicher? Hast du ein Geheimnis, das du mir mitteilen möchtest? Oder versuchst du einfach, mich abzulenken?“

„Thranduils Gesicht war starr von arrogantem Zorn. Er spie voller Abscheu aus. „Du wirst den König von Gondor nicht zerbrechen! Er entstammt der Linie von Lúthien, die die Tochter war von Melian von den Maiar. Lúthien, die Sauron mit Gesängen der Macht besiegte. Lúthien, die Morgoth selbst verzauberte, um ihm einen Silmaril zu stehlen, und die ihn mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden der Hölle zurück ließ, in einer Pfütze aus seinem eigenen Speichel. Lúthien, Thuringwethil, die dich durch die Künste ihres Gesanges abgehäutet hat wie ein fettes Herbstkaninchen, und die deinen Balg als Verkleidung umlegte, um in Angband einzudringen. Von Zeit zu Zeit trägt der sterbliche Zweig dieser Linie eine wahre Frucht, die sich bis zu Lúthien und zu Melian vor ihr zurück verfolgen lässt. Aragorns Leib ist sterblich, und er wird nicht die vielen Jahrhunderte lang leben, die es dauern würde, um das volle Ausmaß seiner Fähigkeiten zu begreifen. Er weiß nichts von Zauberkunst und den Künsten der Weisen außer der Heilung. Aber das volle Ausmaß der Macht seiner Ahnfrau lodert in seinem Geist. Mein Sohn hat mir erzählt, dass Aragorn Sauron in einem Ringen des Willens übertraf, als sie um Kontrolle über den Palantír von Orthanc kämpften. Wie kannst du hoffen, Elessar zu zermalmen, wenn du selbst dies niemals vermocht hättest?“

„Du lügst!“ spie Simiasha und stakste zu dem Elbenkönig hinüber; für den Moment ließ sie Aragorn und Éowyn vergessen hinter sich. „Ich war Sauron ebenbürtig, und mehr!“

„Was du nicht sagst!“ meinte Thranduil mit einem spöttischen Grinsen. „Unter den Elben erzählt man sich, dass du, nachdem Morgoth deiner Hexereien müde war, verärgert nachTol-N’Gauroth geflohen seist und Sauron als Laufbursche gedient hättest – obwohl du, nach allem, was ich weiß, genauso gut seine Spülmagd und seine Dirne gewesen sein könntest!“ Er warf seinen goldenen Kopf zurück und lachte wie eine Silberglocke, als Simiasha in unartikulierter Wut aufschrie. „Du warst Lúthien nicht gewachsen. Du warst Sauron nicht gewachsen. Und du bist dem König von Gondor nicht gewachsen.“

Während er sprach, jedes Wort triefend vor Verachtung, näherte sich ihm die Jägerin immer weiter, und jeder Schritt brachte sie ein kostbares Stück mehr weg von Aragorn und Éowyn, jede Schmähung lenkte noch mehr von ihrer Aufmerksamkeit auf Thranduil.

„Was wirst du tun, Thuringwethil, wenn er vollständig verwandelt ist und du zu der Erkenntnis erwachst, dass du dir statt einem Untertanen einen König der Untoten eingesetzt hast, um über dich zu herrschen?“

„Es gibt viele Wege, um ein lebendes Ding zu brechen, Oropherion,“ sagte Simiasha, die Lippen listig geschürzt. „Und es wird mir ein großes Vergnügen sein, sie dir alle zu zeigen. Und was Elessar angeht – wenn ich seinen Willen nicht mit brutaler Gewalt brechen kann, dann werde ich alles und jedes töten, was er liebt, während er dabei zuschaut. Ich werden ihn reiten, bis er in Stücke fällt, das versichere ich dir!“

„Sie wird deinen Vater töten, Legolas!“ zischte Éowyn verzweifelt.

„Er wird sie anstacheln, bis sie die Beherrschung verliert und ihn umbringt!“ Legolas spannte sich hinter ihr an, aber das Messer, das gegen ihre Nieren gepresst wurde, rührte sich nicht.

Simiasha befand sich jetzt direkt vor Thranduil. Langsam kniete sie sich vor ihn und zog eine gekrümmte Kralle über die Wange des Elbenkönigs hinunter. Thranduil begegnete ihrem Blick mit kalter Abneigung, aber als ihre Augen sich trafen und lange Sekunden vergingen, begann sich sein Gesicht von Blut zu verdunkeln, als würde sein Herz hinter seinem Brustbein angestrengt um jeden Schlag ringen. Und sehr langsam weiteten sich Thranduils Augen in schrecklicher Angst. Er schluckte, als würde er einen Aufschrei zurückhalten. Er presste den Kopf gegen das unnachgiebige Holz des Pfostens, an den er gekettet war, als wollte er vor der sanften Zärtlichkeit zurückweichen, mit der die Jägerin sein Gesicht von oben bis unten liebkoste.

„Hör auf damit!“ wisperte Thranduil mit bebender Stimme und erhitztem Gesicht.

„Nicht alle meine Foltern haben Schmerz zum Inhalt,“ sagte Simiasha leise. „Es gibt nichts, was mich so in Hitze bringt wie stolzer Widerstand. Und wie du siehst, kann ich deinen Körper für mich brennen machen, mit nicht mehr als einer Berührung.“

Thranduil drängte ein Schluchzen zurück. Seine Hände drehten sich in den Fesseln, aber der Rest seines Körpers war so starr vor Anstrengung, dass er aussah wie eingefroren. Simiasha lachte leichthin und beugte sich vor, die Lippen halb geöffnet. Thranduil gab ein Grollen von sich, das eine gequälte Mischung war aus Qual und Begierde. Er lehnte sich vor, zog seine Ketten straff und küsste sie hart auf den Mund.

„Adar...“ flüsterte Legolas in Éowyns Ohr, eine leise Note des Entsetzens.

Die Jägerin zog sich zurück; sie sah sehr erfreut aus. „Du bist köstlich, Oropherion.“

Legolas Vater sackte in sich zusammen und schüttelte den Bann in dem Moment ab, als die Jägerin ihn nicht mehr berührte; Éowyn sah, dass sein Gesicht tränenüberströmt war. Langsam hob er den Kopf, straffte den Rücken und schob trotzig das Kinn vor. Dann spuckte er der Bestie mit einem heiseren Schluchzen von Entsetzen und Abscheu ins Gesicht. Simiasha gaffte ihn in erstarrter Wut an.

„Ich,“ sagte Thranduil kurz und bündig, „würde eher mit Sauron selbst ins Bett gehen, du verrottende, verschrumpelte, knochenärschige, reizlose Hure!“

„Schlag zu, Éowyn, jetzt!“ keuchte Legolas unter Schmerzen und nahm die Messerspitze von ihrem Rücken.

Und dann geschahen drei Dinge gleichzeitig, in der Zeitspanne zwischen zwei Herzschlägen. Simiasha hob mit einem Heulen wahnwitziger Wut die Hand, bereit, dem Elbenkönig die Kehle bis zum Halswirbel aufzuschlitzen. Éowyn wand sich aus Legolas’ erschlafftem Griff frei und schwang ihren Ellbogen nach hinten. Sie ließ ihn mit aller Kraft gegen die Schläfe des Elben krachen und traf ihm eine halbe Sekunde später mit der Faust gegen das Brustbein. Legolas hustete und krümmte sich nach vorn, als der Schlag ihm die Luft aus den Lungen trieb. Und Aragorn schleuderte mit tödlicher Genauigkeit einen Stein gegen Simiashas Hinterkopf.

Éowyn sprang nach vorne und tauchte zu dem Umhang ab, in den ihre Waffen gewickelt waren. Ihre Hand schloss sich um das Ding, das sie suchte; sie rollte sich zurück auf die Beine und schoss vorwärts.

Sie blieb stehen und brachte sich genau zwischen Simiasha und Aragorn.

Sie spürte, wie Legolas unter Schmerzen auf die Füße kam, sah Éomer, Suni und Moussah, die sie auf beiden Seiten flankierten und wusste, dass Gimli sich hinter sie bewegt hatte. Rings um sie herum drängten die Jäger in einem weiten Kreis dichter heran und schnitten ihr jeden möglichen Fluchtweg ab. Als die Jägerin Éowyn erblickte, die ihr allein gegenüber stand, gab sie ein abscheuliches, brüllendes Gelächter von sich.

„Hände weg, meine Schoßtiere,“ sagte sie zu ihren Sklaven, tot und lebendig. „So... denkt die tapfere Heldin, dass sie ohne jede Hilfe eine Tochter der Ainur überwinden kann?“

Legolas bewegte sich noch immer; er schlug einen Kreis um Éowyn und blieb rechts von Simiasha stehen. Oh Elbereth, sie wird ihn als Schild benutzen!

„Du bist nicht länger eine der Ainur!“ sagte Éowyn. „Du bist nichts mehr als ein Monstrum. Und ich werde dich töten.“

„Ach, wirst du das?“ Simiasha strich mit langsamer, belustigter Arroganz vorwärts, und Legolas hielt mit ihr Schritt. Sein Gesicht war vollkommen ausdruckslos, aber seine Hände zitterten, und er hielt sie zu Fäusten geballt. Die Jägerin lächelte wie ein Mädchen, das eine heimliche Liebschaft hat. Ihre Zähne waren blutbefleckt. Vielleicht war es ein Teil der Verwandlung, der bei Éowyn wirkte, aber aus solcher Nähe kam ihr die Vorspiegelung der lächelnden, wunderschönen Frau wie ein durchsichtiger, fadenscheiniger Schleier vor, der nur ungenügend das Entsetzen verdeckte, das dahinter lag.

Simiasha stellte sich hinter Legolas und strich ihm mit ihren langen Fingernägeln durch das Haar, so dass er sichtlich zusammen schauderte. „Noch immer widerspenstig, mein Liebster?“ murmelte sie ihm ins Ohr. Dann richtete sie ihren Blick zurück auf Éowyn und ihre Lippen kräuselten sich reizend und verbargen ihre blutigen, wolfsartigen Fänge. „Ich habe lange darüber gegrübelt, Éowyn von Rohan, welche Art von Folter ich mir für dich ausdenken soll.“ Sie schüttelte bedauernd den Kopf. „Ich habe so viele köstliche Spiele im Sinn, und wenige davon werden noch amüsant sein, sobald du tot bist.“

Éowyn stand angespannt da, in qualvoller Unentschlossenheit. Sie sollte angreifen, sie sollte nicht zögern. Aber sie konnte es nicht, sie würde es nicht, so lange das Monstrum so dicht bei Legolas stand.

Simiasha beobachtete ihre Augen, sah, wie sie jedes Mal erstarrte, wenn Legolas unter der Berührung der Jägerin zusammenfuhr. Ihr Lächeln wurde breiter und entblößte einmal mehr ihre langen, tödlichen Eckzähne; sie stieß Legolas sachte beiseite. „Aber es scheint mir, dass ich nun gnädig sein und dich umbringen muss, wenn ich Elessar oder den Prinzen von Düsterwald zu Dienern haben will.“

„Komm,“ sagte Éowyn kalt. „Komm und töte mich selbst, wenn du nicht zu schwach und zu feige bist, deine eigene Schlächterei zu erledigen!“

Mit einem tiefen, gutturalen Glucksen sprang die Königin der Jäger vorwärts, die Krallenhände ausgestreckt, um Éowyns Fleisch in blutige Fetzen zu reißen, Éowyn behielt festen Stand und sah sie kommen, die Fänge entblößt, mit schlagenden Schwingen. In Éowyns verzerrter Wahrnehmung schien die Jägerin nichts mehr zu ähneln als einer ertrunkenen Fledermaus, die durch tiefe Wasser auf sie zu schwamm. Simiasha stieß ohne jede Vorsicht auf sie herab, ungeschützt, ohne einen Hauch von Furcht. Éowyn wartete, bis die Jägerin fast über ihr war.

Und dann zog sie ihr Schwert und befreite seine helle Klinge aus der stumpfen, schwarzen Scheide, die fertig zu stellen Ikako gestorben war, der bergende Schleier, geschaffen aus dem Daegond-Stein, den Moussah ihr gegeben hatte.

Legolas und Gimli hatten die Scherben von Elwings Kugel eingesammelt und verborgen – alle, außer den dreien, die Ikako von Éowyns Nachttisch genommen und mit dem Stahl verschmolzen hatte, aus dem sie ihr Meisterstück schmiedete.

Scherbe hatte Éowyn es genannt. Obwohl – vielleicht hatte das Schwert sich selbst seinen Namen gegeben. Es schien, dass die leuchtende Klinge zu Éowyns Herzen gesprochen hatte, als sie es zum ersten Mal in die Hand nahm, und dass es seinen eigenen Namen in dem flüsternden Klirren von Stahl gesungen hatte, als sie sein Gewicht und seine Balance prüfte. Eingeschlossen in der Scheide aus Daegond-Eisen, war seine Macht unsichtbar geblieben. Der Daegond war das letzte Stück der Waffe gewesen, der Schild, der es erlaubte, dass Éowyn Scherbe dicht genug an Simiasha heranbrachte, damit es für die Jägerin kein Entkommen gab.

Das Licht flammte in einer kristallenen Aureole auf, von den Fesseln des Daegond erlöst, zehn Mal heller, weil es auf die Gegenwart des Bösen beschränkt gewesen war. Überall erklangen Schreie, die Stimmen von Tausenden, während befleckte Menschen und Jäger gleichsam von dem reinigenden Leuchten überspült wurden.

Simiashas Augen weiteten sich vor Entsetzen, als ihr Schwung sie vorwärts in das Herz des heiligen Strahlens trug. Éowyn trat vor, um ihr zu begegnen, als sie kam. Sie trieb die Klinge aus massivem Licht tief in Simiashas Leib und schnitt mit einem langen Streich aufwärts. Scherbe riss sich einen Weg durch Sensen und Knochen und schlitzte die Jägerin vom Bauch bis zum Brustbein auf wie ein fadenscheiniges Stück Stoff. Ein mächtiger Arm schwang herum und warf Éowyn rückwärts durch die Luft. Éowyn prallte auf den Boden, rollte sich herum und kam wieder auf die Beine; ihr Kopf summte von dem Schlag. Scherbe war immer noch in ihrer Hand. Simiasha warf den Kopf zurück und brüllte. Die Klauen der Jägerin waren länger geworden, ihre Arme und Beine verwandelten sich in etwas Dickes, Sehniges und Gestrecktes, wie bei einem Reptil. Aus ihrem Rücken wuchsen eine Reihe grauer Kämme mit scharfen Stacheln. Ihr Kiefer dehnte sich zur Breite eines Raubfischmaules, und Wangen und Nase wölbten sich vor und formten sich zu einer fuchsartigen Schnauze. Ihr schimmerndes Gewand zerfiel zu Asche und ihre elfenbeinhelle Haut zerschmolz zu einer pockennarbigen Struktur von graugrüner, gesprenkelter Farbe, so hässlich wie die Seele, die sie einschloss.

Die ganze Zeit über brannte sie, während ihre Fassade von Scherbes Licht weg gesengt wurde. Sie schrie vor Schmerz und vor Verblüffung, sie schwankte und starrte hinunter auf den unregelmäßigen, qualmenden Riss in ihrer Mitte. Sie hätte vielleicht noch immer die Kraft besessen, fort zu fliegen, sie hätte vielleicht in diesem Moment entkommen können. Aber zuallererst und auf ewig waren es Hass und Tücke, die jedes andere Gefühl und jeden anderen Impuls beherrschten. Simiasha stürzte sich auf ihre Feindin und schoss in spuckender Raserei abwärts, lodernd wie ein ölgetränkter Baum, ungeachtet der Gefahr für sich selbst.

Éowyn sprang zurück, gerade noch rechtzeitig, um zu vermeiden, dass sie von der massiven, flammenden Klaue in zwei Hälften gehauen wurde. Sie umkreisten und belauerten einander und schätzten die jeweils andere so gut ab, wie sie konnten. Und als Simiasha einmal mehr auf sie zuschoss, als Éowyn behände beiseite sprang und den Rand einer schwarzen Schwinge aufschlitzte, da machte ihr Herz einen Satz. Théodens Stimme erklang in ihrem Geist. Oft ist es nicht der stärkere Krieger, hatte ihr Onkel gesagt, sondern der geschicktere Kämpfer, der den Tag gewinnt. Simiasha war stärker und schneller, aber wie die meisten Raufbolde, groß und klein, hatte sie sich immer auf ihre größere Kraft verlassen, ohne ihren Fähigkeiten im Gefecht wirklichen Schliff zu verleihen.

Rings um ihr angespanntes, bitterböses Duell hatte sich der Platz in ein höllisches Chaos aufgelöst. Die Jäger standen allesamt in Flammen und kreischten, während Scherbes silberner Glanz sie zu Asche verbrannte. Jede lebendige Seele, die durch die Jägerin vergiftet worden war, schrie ebenfalls, stürzte und wand sich auf der Erde. Durch das Blut spürten sie den Schmerz ihrer Herrin und brannten gemeinsam mit ihr, wenn auch nur im Geist. Aber die Qualen und die Ablenkung der Jägerin, die Wunden, die sie schwächten und das heilige Feuer, das ihren Leib langsam zu verkohlter, lebendiger Schlacke reduzierte, hatte eine andere, nicht so allgemeine Wirkung auf die, die sie versklavt hatte. Einige der Stärkeren hatten sich von ihrem Zauber befreit. Aus den Augenwinkeln sah Éowyn, dass ihr Bruder zu den Holzpfählen hinüber gekrochen war, wo Thranduil und die anderen Elben in ihren Ketten hingen. Er hackte schwach mit seinem Schwert auf die Fesseln des Elbenkönigs ein.

Éowyn zwang ihren Sinn fort davon; sie konzentrierte sich einzig und allein auf ihre Gegnerin, suchte nach einer Öffnung, einem Zwischenraum, um durch den verschwommenen Wirbel der flammenden Klauen hindurch anzugreifen.

Sie sprang vor und wieder zurück und entging um Haaresbreite dem reißenden Schwung eines riesigen Flügels. Simiasha spie Blut und zischte sie an wie eine Viper. Ihre äußere Hülle war vollständig fort gebrannt und offenbarte das flache Grauen, das dahinter lag. Simiasha war verwundet und litt schreckliche Schmerzen, aber in ihren wütenden Augen lag geplanter Mord.

Éowyn sah nie die Steine, die aus der Menge geflogen kamen, sah nie die unglücklichen Seelen, die Simiasha noch immer unter der Fuchtel hielt, als sie ihr auf Befehl der Jägerin fast zwanzig Steine in den Rücken schleuderten. Éowyn stolperte, als sie an einem Dutzend Stellen gleichzeitig getroffen wurde. Sie hatte den einzigen, halb betäubten Gedanken, was für eine Närrin sie gewesen war anzunehmen, dass ihre Feindin nicht versuchen würde, sie zu betrügen, selbst in einem Zweikampf, von dem Simiasha noch immer glaubte, dass sie ihn gewinnen konnte. Dann kam die Flügelspitze der Jägerin herab und die spitze Kralle bohrte sich in den Boden, als es Éowyn gerade noch gelang, zur Seite zu springen. Bevor sie sich wieder bewegen konnte, drehte sich Simiasha und der andere Flügel schwang herunter. Er erreichte sein Ziel und schlitzte Éowyns linke Schulter bis auf die Knochen auf. Éowyn schwankte und taumelte unter dem Schock der Verletzung, aber sie fiel nicht, und sie ließ auch ihr Schwert nicht fallen.

Simiashas Lippen dehnten sich zu einem langzähnigen Lächeln. Sie umrundete Éowyn mühelos und bückte sich, um die schwarze Daegond-Scheide aufzuheben. Als sie sie hochhob, flackerten die Flammen, die ihren Körper verbrannten, ohne ihn einzuhüllen, und gingen aus. Der Mund der Jägerin öffnete sich in weichem Staunen; ihre Augen waren erfüllt von anbetender Liebe.

„Dies wurde von Ihm berührt, meiner liebsten, dunkelsten Liebe und meinem Gott!“ Sie küsste die Scheide, wie eine junge Braut ihre Hochzeitsschärpe küssen würde. Sie wandte den Blick zu Éowyn zurück und feixte. „Es hat die Macht der Scherben auf dein kleines Schwert beschränkt, aber es ist auch der Grund, warum sie noch immer zu schwach sind, um mir mehr zuzufügen als diesen scheußlichen Sonnenbrand. Die Kleinode des Dunklen Herrn finden immer einen Weg, seinen Dienern beizustehen!“ Sie packte die Scheide mit ihrer linken Klaue und näherte sich Éowyn. „Dein Schwert wird seine Kraft nicht schnell genug zurück gewinnen, um dich zu retten, Mädchen.“ Ein heiseren Glucksen tief in ihrer Kehle. „Jede Seele in diesem verfluchten Tal ist mein! Alle sollen sich verwandeln und unter den Schatten meiner Flügel fallen!“

Éowyn sprang gerade noch rechtzeitig rückwärts; ihr Atem fing sich in ihrer Kehle, während bei jeder Bewegung noch mehr von ihrem eigenen Blut über ihre Brust hinab strömte. Ihr Haar flatterte in der feuchten Brise, als die Schwingen der Jägerin an ihrem Gesicht vorbei zischten.

Durch den unregelmäßige Riss in ihrer Schulter sickerte ihre Stärke wie durch ein Sieb davon.

Simiasha türmte sich über ihr auf; sie kicherte fröhlich. Ihre Flügelspannweite maß von Spitze zu Spitze fast dreizehn Meter. Éowyn würde sich ihren Weg zwischen diesen bedrohlichen Schwingen hindurch suchen müssen, um einen tödlichen Streich zu tun. Sie begriff mit kalter, pragmatischer Klarheit, dass ein solcher Angriff sie wahrscheinlich das Leben kosten würde.

Lass es so sein, dachte sie. Sie musste dieser Sache ein Ende machen, so lange sie noch Kraft genug hatte, um zu stehen.

Sie schoss vorwärts, zwischen den Flügeln der Jägerin hindurch, und hackte nach der ausgestreckten Kralle, die sich hob, um sie zu empfangen. Sie wirbelte Scherbe herum, als Simiasha vor Schmerz knurrte und hob das Schwert, um es ihrer Feindin in die Brust zu stoßen. Simiasha schwang die Daegond-Scheide und schmetterte sie gegen Éowyns Schulterwunde. Éowyn schrie auf und fiel rückwärts. Sie hatte gerade genug Kraft, um Scherbe fest zu halten; sie reichte nicht, um auf den Beinen zu bleiben. Sie fiel auf den Rücken. Ein ledrig verbrannter Fuß presste sich gegen ihre Brust und nagelte sie am Boden fest.

„Das ist nicht das Ende, meine Liebe,“ brüstete sich Simiasha. „Du bist schon zu weit verwandelt, um einfach zu sterben. Wenn ich dir das Herz aus der Brust reiße, dann wirst du wieder auferstehen. Stirb, Menschenfrau, und wisse, dass deine Qualen in meinem Dienst gerade erst beginnen!“

Eine Bogensehne sang und Simiasha krächzte wie ein verwundeter Rabe; sie stolperte rückwärts und hackte mit der Klaue nach dem Bolzen, der in ihrem linken Auge eingebettet war. Während Éowyn versuchte, sich aufzusetzen, während sie sich mit aller Kraft mühte, aufzustehen, sah sie einen zerschlagenen Aragorn neben Moussah sitzen. Irgendwie hatten die beiden es trotz des geistigen Sperrfeuers, dass die Jägerin in alle Richtungen sandte, fertig gebracht, eine Armbrust zwischen sich zu spannen und abzuschießen.

„Ein Auge ist noch übrig, oh Westron-Hund!“ Moussah lachte schwächlich.

Aragorn versuchte, mit bebenden Händen einen zweiten Bolzen in die Armbrust einzulegen. „Ja – lass uns sehen, ob wir sie blenden können!“

Éowyn kam kriechend auf die Knie und sah Fallah auf der anderen Seite des Platzes; sie hockte neben Éomer und Thranduil und stocherte mit einer Haarnadeln in den Ketten des Elbenkönigs herum.

Mit einem heiseren Grunzen riss sich Simiasha den Bolzen aus dem Augen und wirbelte herum; sie umrundete Aragorn und den jungen Shah und schleuderte die beiden mit den Schwung eines mächtigen Flügels zu Boden. Éowyn versuchte aufzustehen und fiel auf das Gesicht; die Welt kippte zur Seite. Sie bildete sich ein, die Erde unter den Füßen der Jägerin erschauern zu hören, während sie auf Éowyn zukam, bereit, ihr den Todesstoß zu versetzen, den sie ihr versprochen hatte.

Und dann erhoben sich Gimli und Legolas, die langen Messer und die Axt ein Zwillingsnebel an Geschwindigkeit. Gimli schrie in seiner eigenen Sprache, ein basstiefer Schlachtruf. Er stieß auf die Jägerin herab und rasierte ihr mit einem einzigen, machtvollen Schlag einen Flügel vom Leib. Im selben Augenblick trennte Legolas den anderen Flügel mit der bösartigen Genauigkeit eines Heilers ab; seine Augen brannten wild, und er war einmal mehr von Simiashas Macht befreit. Das Monstrum schwankte trunken und erwischte Gimli mit einem kräftigen Schlag. Der Zwerg flog über Éowyns Kopf hinweg und sie kämpfte sich wieder auf die Knie.

„Feuer frei!“ schrie Thranduil scharf auf Sindarin. Éomer und Fallah war es gelungen, den König von Düsterwald und vier seiner Krieger zu befreien. Seine klingende Stimme ertönte im Chor gemeinsam mit der von Suni, die ihren Bogenschützen befahl, zu schießen. Aber die Pfeile trafen nie ins Ziel.

Simiasha warf den Kopf zurück und brüllte.

Es war kein Laut, wie ihn Stimmbänder formen konnten, oder irgend etwas anderes, das so vergänglich war wie menschliches Fleisch. Es war ein geistiger Schrei, eine sich auftürmende Woge aus Macht, die sich in alle Richtungen wälzte. Was sie nur Augenblicke zuvor im Schmerz getan hatte, tat sie nun mit kalter Absicht. Die Woge fällte alles, was ihr im Weg stand, sie warf die Elben mit ihrer schieren, rohen Macht auf die Knie und bombardierte die vergifteten Sterblichen durch die Verbindung des Blutes. Obwohl das Licht von Scherbe und Simiashas geschwächter Zustand den Geist einiger weniger unter dem lebenden Menschen, die sich unter ihrem Bann befanden, befreit hatte, waren sie nicht vor diesem geistigen Angriff abgeschirmt. Überall auf dem Platz, überall quer durch die Stadt stürzte jedes lebende Geschöpf, das durch Simiashas Blut an sie gefesselt war, zu Boden und kreischte unter Qualen.

Éowyn stemmte sich hoch und erhob sich unsicher auf die Beine; sie stand allein vor der Kreatur, die die Haradrim die Königin von Blut und Finsternis nannten. Éowyn konnte spüren, wie ihre Wunden sich selbst heilten und schlossen. Sie wusste, dass Morsuls Blut noch immer in ihren Adern floss. Sie wusste, dass Gandalfs Zauber ihren Geist vor Simiashas Einfluss schützte, so lange sie noch atmete. Aber eigenartigerweise war das Gewicht des Willens der Jägerin, das sie im Nest erdrückt hatte wie ein einstürzender Berg, nur noch ein schmerzhaftes Summen in ihrem Kopf. Hätte die Verwandlung Éowyn vollständig in ihre eisige Umarmung gezogen, Simiasha hätte alle Macht verloren, ihr auf irgend eine Weise Schaden zuzufügen. Es soll nur eine Königin in diesem kleinen Bienenstock leben, hatte die Jägerin gesagt, und ich werde keine Rivalinnen dulden. Hatte Simiasha schon damals begriffen, dass die Verwandlung ihr mit Éowyn anstatt einer Sklavin eine untote Rivalin mit freiem Willen erschaffen würde?

Éowyn lächelte grimmig und packte Scherbe mit ihren blutigen Händen. Sie strich vorwärts. Simiashas Lippen teilten sich mit einem Knurren, und sie bückte sich, hob etwas vom Boden auf und hielt es vor sich wie einen Schild. Zu spät sah Éowyn, dass es Legolas’ Körper war. Er war halb bewusstlos; er war Simiasha fast direkt vor die Füße gefallen, als sie ihre Macht auf die schleuderte, die sie umgaben.

Éowyn kam zum Stehen, ihren Herzschlag im Mund. Ihre Augen hingen an Legolas’ bleichem Gesicht, während die Jägerin ihn hochhob, die Hand so um seinen Hals gelegt, dass er Éowyn ansah. Er schüttelte kaum merklich den Kopf in dem stillen Flehen, dass sie um seinetwillen nicht innehalten sollte. Aber Éowyn war vor Angst außerstande, sich zu bewegen. Sie stand starr und hilflos da, sie vergaß die Gefahr und all die Leben, die auf dem Spiel standen.

„Ich werde dich lange Jahrhunderte hindurch strafen, Frau von Rohan,“ sagte Simiasha leise. „Aber ich glaube, im Augenblick weiß ich, was dir am meisten wehtun wird.“

Legolas schnappte nach Luft und seine Augen weiteten sich vor Schmerz und Überraschung, als die Jägerin einen klauenbewehrten Arm wie einen Speer nach vorne stieß, durch den Rücken des Elben hindurch und vorne aus seiner Brust heraus. Eine Ewigkeit lang, die sicher nur ein paar Sekunden dauerte, hing er auf der mächtigen Klaue aufgespießt zwischen Leben und Tod, während sein zerfetztes Herz sein Leben auf den gleichgültigen Boden strömen ließ. Sein Blick ließ den von Éowyn niemals los. Tränen von Schmerz und Schock schwammen in den seegrauen Tiefen seiner Augen, aber auch von einer unermesslichen Trauer... über eine Trennung, die unendlich fortdauern würde, bis zum Ende der Zeit.

Éowyn sah stumm und gelähmt zu, wie Simiasha lächelte und mit dem Arm ausholte; sie schnippte Legolas mit lässiger Brutalität von ihrer Klaue herunter. Er fiel vor Éowyns Füßen auf das Gesicht und lag still und reglos da, während sich unter seinem Körper eine rote Lache immer weiter ausbreitete.

„Du siehst so betrübt aus, mein Mädchen!“ kicherte Simiasha; ihre Worte schnitten durch die betäubte Kälte, die Éowyn gefangen hielt wie ein Kerker aus Eis.

Éowyn kniete nieder, ohne auf die Gefahr zu achten, die ihr durch Simiasha drohte. Die Jägerin würde nicht angreifen, dachte sie abwesend, sie würde Éowyns Schmerz genießen wollen. Sanft rollte sie Legolas auf den Rücken, und ein leiser, kleiner Seufzer kam ihr über die Lippen, als sie die Endgültigkeit der Wunde sah, die ihre Feindin ihm beigebracht hatte. Seine Augen waren geschlossen, aber der Atem rasselte noch immer feucht in seiner zerstörten Brust, und er wurde mit jeder Sekunde schwächer. Sie berührte sein Gesicht, innerlich taub, äußerlich kalt und scheinbar unbewegt. Einmal mehr war sie zu Eis erstarrt. Und niemals wieder werde ich auftauen, flüsterte es in ihrem Geist. Wie konnte sie wieder im Sonnenschein wandeln, wenn er, der Licht und Wärme in ihrem Leib und in ihrem Herzen neu entzündet hatte, kalt und leblos dalag? Oh, sie würde den Fesseln des Fleisches und der Welt der Lebenden in diesem Moment entfliehen und an seine Seite fliegen, wenn sie könnte! Aber es würde ihr nichts nützen. Er ging fort, an einen Ort, wohin sie ihm nicht folgen konnte, dem Schicksal entgegen, das den Erstgeborenen bereitet war. Und dort, bei Mandos oder in Elbenheim, würde er weit außerhalb ihres Gesichtskreises wohnen, außerhalb ihrer Reichweite. Für immer, für immer und ewig.

„Keine Angst, Kind!“ sagte Simiasha mit gut gelaunter Bosheit. „Er ist durch mein Blut an sein Fleisch gebunden und kann Mandos nicht suchen. Binnen einer Stunde wird er wieder auferstehen, und dann wird es für euch vielleicht eine süße Wiedervereinigung geben.“ Sie kicherte. „Obwohl du seine Umarmung möglicherweise ein klein wenig kalt finden könntest.“

Éowyn blinzelte. Ihr Kopf fuhr hoch, und ihre blauen Augen begegneten dem gelb geschlitzten Blick der Jägerin. Sie war noch immer in einer Welt aus kalter, trostloser Trauer eingefroren, aber sie war nicht länger unbeweglich. Sie beugte sich hinunter und küsste Legolas auf die blutigen Lippen. Dann stand sie auf, Scherbe in der Hand. Die gefühllose, traumartige Betäubung, in der sie untergegangen war, flüchtete und war dahin. Sie stand vor ihrer Feindin und betrachtete die Jägerin mit eiskalter, unerbittlicher Entschlossenheit. Simiasha würde Legolas’ Seele nicht bekommen, dachte Éowyn. Nicht die von Aragorn, nicht die von Éomer und auch nicht die irgend eines anderen in diesem Land.

Éowyn kämpfte um einen festen Stand, überspült von einem schrecklichen Gefühl der Vertrautheit. Zum zweiten Mal in ihrem Leben stand sie allein und hielt das Grauen vor sich von den geliebten Gefallenen hinter sich fern. Die Geliebten, die zu retten sie wieder zu langsam gewesen war. Sie nannten sie furchtlos, eine Töterin von Dämonen, die den Mut geringerer Krieger zerschmetterten. Narren! Es brauchte überhaupt keinen Mut, in das Maul der Hölle zu fliegen, wenn das, was man am meisten auf der Welt liebte, als blutiges Wrack auf dem Felde lag. Es brauchte kein tapferes Herz, sich den Fängen von Alpträumen entgegen zu werfen, wenn die Seelen ihrer Lieben, von allen, die sie kannte, sich in tödlicher Gefahr befanden. Dummes Vieh, dachte Éowyn gefühllos – dumm genug, sie einmal mehr an diesen kalten, stillen Ort zu stoßen, wo nichts anderes zählte als der Tod ihres Widersachers.

Éowyn schoss in einem weißglühenen Bogen aus Schnelligkeit vorwärts, ohne auf die gezückten Klauen der Jägerin zu achten. Wieder flammte Scherbe auf, strahlend und wunderschön, während sie sich ihrer Beute näherte; es erfüllte die Welt mit seinem heiligen Licht und löschte alles andere aus. Simiasha schlug wild um sich, blind in der Aureole von Scherbes Leuchten, und Éowyn tauchte mühelos zwischen ihren Klauen hindurch. Sie schwang das Schwert in einem sauberen, gleichmäßigen Streich; sie spürte, wie die Klinge durch Fleisch und Knochen glitt, so leicht, als wäre ihr Ziel eine trockene Strohpuppe. Simiashas Kopf flog von ihrem Körper, prallte ohne viel Federlesens vom Boden ab und rollte über das unebene Pflaster wie der Ball eines Kindes.

Éowyn sah zu, wie der enthauptete Leib schwankte und stürzte. Sie hinkte auf den Kopf der Jägerin zu, blieb stehen und starrte leidenschaftslos auf das missgestaltete Gesicht hinunter. Alles in allem zog sie Simiashas Fledermausgestalt entschieden vor. Sie zeigte sie, wie sie wirklich war. Simiashas Augen waren geweitet und noch immer bewusst, die Lippen hatte sie sich in ihrer wahnwitzigen Wut durchgebissen. Noch immer versuchte sie zu sprechen... sie hatte bis zum letzten Atemzug und darüber hinaus Hass und Tücke gespieen. Éowyn hob Scherbe und schlug den Kopf von Simiasha, der Jägerin, der Königin von Blut und Finsternis, von Thuringwethil aus der alten Zeit, entzwei. Der Kopf des Monsters zerfiel in saubere Hälften, wie eine reife Melone. Einen Augenblick später zerkrümelte all das, was vom Kadaver der Jägerin übrig war, zu brauner, schmutziger Asche.

Éowyn wandte sich ab, freudlos und grau, taub für die schwachen Schreie der Erleichterung von allen Seiten. Sie stolperte und fiel neben Legolas auf die Knie. Sie beugte sich hinunter, strich die blutigen Strähnen seines goldenen Haares zurück und küsste sachte seine Lippen. Und während sie das tat, spürte sie, wie sein letzter Atem davon seufzte. Sein Mund war noch immer warm, aber kein Wind regte sich mehr in seinen leeren Lungen. Sie schenkte dem Geschrei rings um sich her keine Beachtung, den rennenden Füßen und den Stimmen, die ihren Namen zu sagen schienen. Sie hob seinen schlaffen Leib hoch und hielt ihn fest, ihre Wange gegen seine gedrückt.

„Flieg zur Ruhe, mein Liebster,“ flüsterte sie. „Du bist frei von ihr, und frei von allen Dingen, die böse sind, für immer.”

Gedämpft, wie aus weiter Entfernung, mochte es Gimlis tiefe Stimme sein, die sie in tränenvoller Verweigerung brechen hörte, Aragorns heftiges Ringen nach Atem, Thranduils wunderschönen Bariton, heiser von gebrochenem Schluchzen. Sie hielt Legolas fest. Sein Herz, der starke Trommelschlag seines Lebens, den sie immer so heftig an ihrer Brust gehört hatte, während sie einander in den Armen lagen, war jetzt still, zerrissen und für immer verstummt. Sie hielt die schöne, leere Schale fest, die die Seele ihres Liebsten beherbergt hatte und versuchte, sich ihn vorzustellen, wunderbar und heil, wie er der Umarmung seiner lang verstorbenen Mutter jenseits des wogenden Meeres entgegen flog, den Geraden Weg entlang. Aber so weit konnte sie nicht sehen, selbst in ihrer Einbildung. In diesem Moment gab es nichts in dieser eisigen, frosterstarrten Welt als die kalte Bitterkeit ihres Verlustes.

Jemand versuchte, sanft ihre Hand zu nehmen, aber sie schüttelte den Kopf in stiller, unnachgiebiger Zurückweisung aller schwachen Versuche, sie zu trösten. Die Leute schrieen jetzt, manche sangen, und alle waren sie verloren im Rausch der Freiheit, im Rausch eines Sieges, der kam, als alles hoffnungslos gewesen war. Éowyn kümmerte es nicht. Sie begriff jetzt, dass sie den Verlust jeder anderen Seele in diesem Tal hätte ertragen können, sogar der von Éomer, und dass sie sich mit der Zeit erholt hätte. Jeder Seele – mit Ausnahme von Legolas. Denn mit ihm würde es keine Wiedervereinigung in einem unbekannten Jenseits geben. Er war fort, und niemals würde sie ihn wiedersehen.

„Es ist nicht gerecht,“ flüsterte sie. Sie hob den Kopf und schaute auf zum sternenübersäten Himmel. Die Lichter am gleichgültigen Firmament schienen allen Strahlens beraubt zu sein.

Alle, bis auf eines.

Eärendil schien wie ein weit entfernter Leuchtturm, übermäßig hell in dieser Nacht. Vielleicht konnte der Seefahrer sie von seinem mächtigen Schiff aus sehen, und weinte um den Tod von Thranduils Sohn. Sie fragte sich dumpf, ob Thranduil den halbelbischen Prinzen des alten Gondolin wohl gekannt hatte, den Mann, der ein Stern geworden war, und ob er ihn Freund genannt hatte.

Was machte es schon aus. Sie senkte die Augen, taub für Aragorns leise Worte.

„Éowyn,“ sagte Aragorn. Seine große Hand, die ihre bedeckte, fühlte sich warm an. Sie wünschte sich, er würde sie nicht berühren. Sie wollte keine Wärme. „Éowyn, Ihr müsst ihn loslassen. Sein Vater und Gimli werden sich um ihn kümmern.“

„Lasst seinen Vater ihn halten, Éowyn. Er wird für Legolas sorgen, während ich nach Euren Wunden sehe.“ Sie wusste, dass sie sich unverzeihlich aufführte Sie wusste, Thranduils Kummer war so groß wie der ihre, wenn nicht größer. Aber sie schien sich nicht rühren zu können. Wenn sie Legolas losließ, wenn sie zuließ, dass sein Vater und sein Volk ihn herrichteten, ihn badeten, das Blut und den Staub aus seinem Gesicht und seinen Haaren wuschen, dann würde er wirklich fort sein.

„Bitte,“ sagte sie wieder, obwohl sie keine Ahnung hatte, wer es war, den sie anflehte. „Bitte, es ist nicht gerecht!“

„Éowyn---“ begann Aragorn.

„Lasst sie einen Moment in Ruhe.“ sagte Thranduil leise. Er weinte. Aber es war nicht die Trauer um jemanden, der für immer verloren war… die Trennung war nur unzeitig. Und irgendwie, selbst mitten in seines tiefen, schrecklichen Kummer, verstand er den Unterschied zwischen ihrem Verlust und dem seinen. Seine Hand schloss sich um ihre, und er neigte seinen blonden Kopf über das stille Gesicht seines Sohnes und weinte die Tränen, die sie nicht weinen konnte.

Das Stimmengewirr rings um sie her war merklich leiser geworden. Ein schwaches Glühen, ein silbriges, gedämpftes Strahlen, erblühte am Rande ihrer Wahrnehmung. Neben ihr, fast vergessen, hatte Scherbe einmal mehr begonnen, leise zu leuchten. Éowyn runzelte in müder Verwirrung die Stirn und zog ihre Finger aus Thranduils Hand, um Scherbes Knauf mit festem Griff zu umfassen. Wie um Ardas Willen konnte Simiasha noch einen winzigen Funken Leben in ihrer faulen Asche übrig haben, um die Macht des Schwertes zu erwecken? Éowyn hatte keine Willenskraft mehr, es sei denn für Rache, aber das würde hier mehr als ausreichend sein.

Niemand sonst schien es bemerkt zu haben; nicht Thranduil, nicht Gimli, nicht Aragorn. Das gedämpfte Stimmengemurmel um sie her war zu Totenstille herab gesunken. Verspätet sah Éowyn, dass der Platz sich merklich erhellt hatte. Der schimmernde, bleiche Nimbus von Scherbes Macht, die jede Sekunde stärker zu werden schien, war nicht die einzige Quelle des Leuchtens. Jedermann auf dem Platz saß in atemlosen Staunen und in nicht geringer Angst reglos da und schaute nach oben.

Der Stern der Hoffnung wurde stetig heller. Er schwebte am Himmel, direkt über ihren Köpfen. Irgendwie war er zur Größe einer zweiten Sonne gewachsen. Aber diese Sonne war nicht golden. Sie wusch alle Dinge in einem bleichen, silbrigen Blau, wie in der zauberische Stunde des Zwielichts, die sich in den vergissmeinichtgetönten Wassern der Seen im Sommer spiegelte.

„Wie niedrig er fliegt!“ sagte Aragorn leise, fast furchtsam.

„Er fliegt nicht,“ sagte Thranduil mit gedämpfter Stimme. „Er steigt herab! Bei der Strahlenden Herrin, Elessar! Ich glaube, dein Verwandter will uns einen Besuch abstatten!“

Sie sahen zu, wie vom Donner gerührt und in stummer Ehrfurcht, wie der Stern, der nicht wirklich ein Stern war, am Nachthimmel immer heller wurde. Das blasse, blaue Licht nahm an Stärke zu, aber es tat den Augen nicht weh, es direkt anzuschauen. Es hatte die anderen Sterne verdunkelt und beanspruchte jetzt ein Viertel des Himmels ein. Éowyn blickte staunend auf ihr Schwert hinunter, denn nun schien es, dass sie einen zweiten, kleineren Stern in der Hand hielt. Es war…

Scherbe strebte der Quelle seines Lichtes entgegen, dem Silmaril, der zuerst das, was einst schlichtes Kristallglas gewesen war, mit seiner heiligen Macht durchtränkt hatte. Jede Sekunde, in der dieser Silmaril sich Mittelerde weiter näherte, schien Scherbe umso heller zu leuchten, wie ein Kind, das Freudensprünge macht, wenn es seine Mutter kommen sieht. Weit, weit über ihnen, noch immer höher als der höchste Gipfel der Nebelberge, meinte Éowyn gerade so eben das Blitzen von Gold ausmachen zu können, den glitzernden Bug von Vingilot, und das schimmernde Elfenbein geisterhafter Segel aus massivem Licht, die darüber flammten.

Nimm das Schwert auf, mein Sohn.

Die Stimme war der von Aragorn sehr ähnlich, und doch war sie es nicht. Sie war tiefer, stärker, wie das Läuten einer weit entfernten Glocke auf dem Meer. Jede Note war wie das süßeste Lied, das Éowyn jemals gehört hatte. Sie klang wunderschön und klar in der Stille ihres Geistes wieder, und jedes Wort schien die schmerzhafte Kälte in ihrer müden, zerschlagenen Seele zu wärmen und zu lindern.

„Das werde ich, Herr,“ sagte Aragorn. Es klang, als sei sein Mund völlig trocken. „Éowyn,“ seine Augen begegneten den ihren, und sie war sich sicher, dass er so überwältigt war wie sie. „Wollt Ihr mir Euer Schwert leihen?“

Tu, worum er dich ersucht, Kind, sang Éärendils Stimme wieder in Éowyns Geist. Der, den du liebst, ist noch nicht jenseits aller Errettung, aber die Macht, ihn zu heilen, ist nicht dein.

Éowyn stieß Aragorn das Schwert geradezu in die Hände. Hoffnung und Furcht erwachten in ihr zu neuem Leben, so plötzlich und heftig und unerwartet, dass ihr Herz unter dem Schock ins Stottern geriet. Sie begegnete Gimlis und Thranduils Augen und sah darin den selben Schwindel aus schmerzhafter Angst aufblitzen. Furchtsame Hoffnung, die verzweifelter Hoffnungslosigkeit so dicht auf den Fersen folgte, war qualvoll, aber sie war der Hoffnungslosigkeit unendlich vorzuziehen.

Leg das Schwert nieder auf seine Brust, Sohn des Elros, vibrierte die Stimme von oben in ihrem Geist. Eine Verbindung ist er zu dem Stern auf meiner Stirn. Daraus sollst du ziehen, was du brauchst, ihn zu heilen, und nicht mehr, denn sonst wird seine Macht dein sterbliches Fleisch verzehren.

„Grausame und fruchtlose Narretei ist dies, du arroganter Noldoli-Bastard!“ rief Thranduil plötzlich und glitt unbewusst in die selbe, archaische Sprechweise hinein. Er hob eine Faust gen Himmel und wandte sein tränenüberströmtes Gesicht nach oben. „Große Macht besitzt jener heilige Tand auf deiner Stirn, doch vermag er die Toten nicht zu erwecken!“

Reizend wie immer, alter Freund, kam die ironische Antwort, aber sie hatte einen sanften, liebevollen Beiklang.

Aragorn hatte nicht inne gehalten, um diesem Austausch zu folgen, genauso wenig wie Éowyn. Er legte die Klinge von Scherbe über Legolas’ zerrissene Brust, und Éowyn und Gimli hielten ihn fest. Es waren keine zwei Paar Hände nötig, um Legolas’ schlaffe Gestalt abzustützen, aber Éowyn missgönnte Gimli die zusätzliche Hilfe nicht im geringsten. Sie spürte seine raue, warme Hand über der ihren, während sie zuschauten und nicht zu atmen wagten. Aragorns Gesicht war von angespannter Konzentration gezeichnet, während er jede Unze seiner Stärke für die Aufgabe aufwandte, die er vor sich hatte. Scherbe verwandelte sich in ein flammendes, strahlendes Feuer, eine Welt aus Licht und pochender Macht. Es schloss alle Dinge über ihnen und unter ihnen ein, und es verging nicht. Éowyn sah zu, während der Herzschlag in ihrer Brust durch einen ungleichmäßigen Rhythmus stolperte; sie betete, wie sie nicht mehr gebetet hatte seit der langen Wache am Krankenbett ihrer Mutter, in jenem Winter vor zwanzig Jahren.

Es ist vollbracht, sagte die Stimme von Eärendil endlich mit sanfter Befriedigung. Zieh deine Hand zurück, Aragorn, gleichermaßen wie deinen Willen, sonst mag dein eigenes Herz zu Asche verbrennen. Deine Stärke ist größer als dein sterblicher Leib es ertragen kann.

Langsam begann das Licht innerhalb der Klinge fort zu gleiten; es verblasste nicht, sondern verteilte sich und strömte nach außen, um den Platz und die verdunkelten Straßen und Häuser dahinter mit einem leuchtenden Schimmern zu erfüllen, das noch viele Wochen nicht vergehen sollte.

Éowyn schenkte dem keine Beachtung. Sie schaute auf Legolas’ Gesicht hinunter. Seine Tunika war zerrissen, wo die Wunde gewesen war, und er war noch immer von seinem eigenen Blut überströmt, aber das Fleisch unter dem zerfetzten Loch in seinem Baumwollhemd war wieder heil und zeigte keinerlei Verletzung. Seine Haut war warm, seine Farbe gesund. Aber noch atmete er nicht. Aragorn sah dies ebenfalls; er beugte sich vor und legte zwei Finger auf Legolas’ Hals.

„Sein Herz schlägt stark,“ murmelte Aragorn. „Aber seine Lungen sind leer – als hätte man ihn halb ertrunken aus einem Fluss gezogen!“ Er warf Thranduil einen scharfen Blick zu. „Er braucht Cuilthul!“

„Ich kenne die Methode!“ schnappte Thranduil rasch. Er drängte sich nach vorne, rüde in seiner Hast, und riss seinen Sohn geradezu aus Éowyns und Gimlis Armen. Er legte Legolas flach auf den Rücken und kniete sich neben ihn, während Aragorn sich mit einem schmerzerfüllten Zischen bewegte, sein gebrochenes Bein drehte und sich über den Kopf des Elben beugte. „Ich werde auf seine Brust drücken, Elessar! Du musst den Wind zurück in seinen Körper blasen!“

Éowyn wich zurück, die Hand noch immer fest in der von Gimli, ihre eigenen Wunden vergessen. Aragorn und der Elbenkönig zählten bis vier, und Thranduil drückte rhythmisch auf die Brust seines Sohnes, währen Aragorn seinen Mund über den von Legolas legte und die Luft zurück in seine leeren Lungen blies.

„Atme, Junge!“ murmelte Gimli und umklammerte Éowyns Finger so fest, dass sie taub wurden. „Atme!“

Qualvolle Momente krochen auf diese Weise dahin. Éowyn bemerkte kaum, dass Fallah nun neben ihr kniete und ihre freie Hand hielt, dass ihr Bruder, Shaeri und Suni und ein Dutzend anderer in einem stillen Kreis um sie versammelt waren. Neben sich hörte Éowyn Fallah sehr leise in ihrer eigenen Sprache beten.

Plötzlich bäumte sich Legolas auf; sein Rücken bog sich durch, als er tief und keuchend nach Luft rang und schwach zu husten begann. Éowyn stöhnte leise und fing an zu weinen. Die Welt drehte sich trunken rings um sie her, aber sie klammerte sich mit freudiger Hartnäckigkeit an das Bewusstsein. Thranduil kniete über seinen Sohn gebeugt; er küsste sein Gesicht, und sprach leise mit ihm, die Worte tränenerstickt. Aragorn hielt Legolas’ andere Hand, aber seine Augen waren aufwärts gewandt in erschöpftem Staunen.

„Elrond hat mir gesagt, dass es ein Schattenland gibt zwischen dem Leben und dem Tod des Leibes, ein Punkt, an dem das Herz nicht mehr schlägt und der Atem aufhört, an dem das Leben aber noch im Gehirn zurück bleibt. Und so muss der Féa erst noch sein Haus verlassen. Er sagte, dass ein Patient noch gerettet werden kann – selbst unter diesen extremen Umständen – wenn die Heilung mit ausreichender Stärke bewirkt wird.“ Er schluckte, und die Hand, die Scherbe hielt, zitterte kaum merklich. „Ist es – ist es das, was wir heute Nacht getan haben, Herr?“

So ist es, erwiderte sein Vorfahr. Fürchte dich nicht, mein Sohn. Du hast nicht die Toten erweckt, noch hast du auf irgend eine Weise die Gesetze der Schöpfung missachtet. Ein großes Werk hat das Kind Thranduils noch vor sich. Sein Kehrvers im Lied von Arda ist weit davon entfernt, beendet zu sein. Eine Wahl liegt auf ihm, die beides ist, gesegnet und bitter. Aber kein Pfad wird an seinem Schicksal vorbei führen, ebenso wenig wie an dem seiner Braut. Bei diesen Worten verspürte Éowyn einen kalten, ahnungsvollen Schauder, der sie durchrann, obwohl sie nicht hätte sagen können, warum das so war.

Mehr werde ich nicht sagen, ertönte die Stimme von Eärendil. Es ist an ihm, zu euch über das zu sprechen, was noch bleibt. Während er noch redete, begann der Stern über ihnen zurück zu weichen und erhob sich rasch in den Himmel. Gehab dich wohl, Thranduil! Wir werden uns mit der Zeit wiedersehen. Leb wohl, Aragorn. Elrond bittet dich, das Gesicht deines Weibes und deines Sohnes zu küssen, in seinem Namen. Und ich bitte um die selbe Gunst, für meine Herrin und für mich. Leb wohl, Moussah von Harad. Und bei diesen Worten fuhr Moussah, der gleich hinter Shaeri stand, zusammen; er sah bleich und erschüttert aus. Ein Sohn meiner Linie bist auch du. Lausche auf die Weisheit deines eigenen Herzens, mein Sohn, über die Lehren deiner Väter hinaus, und ein großer König sollst du sein. Eärendils Worte wurden schwächer, ein entferntes Echo, wie eine Stimme, die über die weite, gläserne Fläche eines riesigen Sees hinweg rief. Gehab dich wohl, Éowyn von Rohan. Große Taten sind es, die hinter dir liegen, aber größere liegen noch vor dir. Sei tapfer und fürchte dich nicht, zu lieben. Am Ende ist es die Liebe, die am meisten zählt...

Er war fort.

Das blinzelnde Glimmen von Gil-Estel reiste vorwärts durch den Bogen der Nacht. Éowyn legte den Kopf in den Nacken und schaute in betäubtem Staunen nach oben. Sie merkte nicht, dass sie fiel, bis Gimli sie auffing, als sie nach hinten taumelte.

*****

Sie verlor das Bewusstsein nie ganz, obwohl ein paar Momente der Stunde, die nun folgte, in ihrer Erinnerung immer undeutlicher sein würden als andere. Sie erinnerte sich verschwommen daran, dass sie in Éomers starken Armen davon getragen wurde, fort von dem leisen, ehrfürchtigen Gemurmel, das rasch zu einem Gebrüll jubelnder Stimmen anschwoll. Sie erhaschte einen kurzen Blick auf Legolas’ schlafendes Gesicht, als Thranduil seinen Sohn ebenfalls in die relative Abgeschiedenheit des Hauses der Königlichen Wache trug. Es schien, als wäre sie für die paar Sekunden zwischen der Vordertür und dem Gemeinschaftsraum in den hinteren Baracken davon gedriftet. Ihr eigenes Quartier war zu verraucht und beschädigt, aber wunderbarerweise hatte der größte Teil der Königlichen Wache die Feuer der vergangenen Nacht unbeschadet überstanden. Sie erinnerte sich an kleine Teile der Momente, die danach kamen: sie konnte sich ins Gedächtnis rufen, wie ihr Bruder und Fallah ihr den mitgenommenen Harnisch und die zerfetzte Lederkleidung abstreiften, wie sie sie wuschen und sich um ihre Wunden kümmerten. Sie erinnerte sich an Aragorns scharfen Aufschrei, als Gimli und Thranduil sein Bein einrichteten. Sie trieb in den Schlaf hinein und wieder hinaus, während sie dabei zuhörte, wie Fallah und Thranduil über die beste Weise stritten, ein Bein oberhalb des Knies zu schienen.

Aber die deutlichste Erinnerung, der Eindruck, der sie voll und ganz zu Bewusstsein kommen ließ, war das von Legolas’ glatten, sanften Fingern, die sich mit ihren verschränkten und der süße, grüne Duft seiner Haut, als er die Lippen auf ihre Stirn presste. Sie richtete sich auf, um seinen Kuss zu erwidern. Er saß halb, halb lag er neben ihr auf einer improvisierten Bahre und lächelte auf sie hinunter.

„Guten Morgen,“ sagte er leise.

Sie zuckte zusammen, setzte sich auf und vergrub sich in seiner Umarmung. Er war warm und solide und segensreich, wundersam lebendig und gesund. Sie zog sich zurück, unter zu vielen Gefühlen verstummt, als dass sie sie hätte ausdrücken können. Ihre Finger pressten sich durch das Gewebe seines saubere, weichen Hemdes auf seine Brust; sie war ohne jede Narbe, als sei er niemals verwundet worden. Alle Gespräche in dem kleinen Kaminzimmer in den Baracken hatten aufgehört - und dann fingen alle gleichzeitig zu reden an und strömten von allen Seiten zusammen, die Gesichter strahlend vor Freude. Thranduil legte seinem Sohn eine Hand auf die Wange und schaute ihm tief in die Augen. Der König sah glücklich aus, aber irgend etwas, das er im Blick seines Sohnes entdeckte, ließ ihn innehalten. Er zog sich ein wenig zurück, sein schönes Gesicht besorgt und voller Bedenken. Gimli und Aragorn drängten vorwärts und nahmen Legolas’ Hände, während Éomer und Fallah sich zurück hielten; sie wirkten schwindelig vor Freude, aber da war noch etwas anderes, das nicht dazu passen wollte. Éowyn brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sie von Ehrfurcht überwältigt waren. Und ein wenig verängstigt.

Aber wie immer brauchte Fallahs Neugier weniger als eine Minute, um stärker zu werden als ihre Furcht.

„Wie fühlt Ihr euch?“ fragte sie eifrig.

Éowyn sah mit einer eigenartigen Mischung aus Zuneigung und Verärgerung, dass der Kern der Frage ihrer Freundin wenig mit ihrer Freundschaft zu tun hatte, oder mit ihrer Sorge um Legolas.

Legolas sah es auch, aber es schien ihn zu belustigen. Éowyn zog sich um ein weniges aus seinen Armen zurück und starrte ihm ins Gesicht. Er schien unverändert, aber...

„Fragt Ihr, wie ich mich jetzt fühle?“ sagte er, während sich einer seiner Mundwinkel aufwärts kräuselte. „Oder wie es sich angefühlt hat, tot zu sein?“ Und angesichts des entsetzten Ausdrucks auf Fallahs Gesicht lachte er leise. „Ich kann es nicht sagen. Ich bin nicht gestorben. Obwohl ich...“ Er hielt inne und bedachte seine Worte, „... eine Zeitlang woanders war. Ich habe eine Weile mit ihm gesprochen. Mit Eärendil.“ Er sah seinen Vater an; Mutwillen flackerte in seinen strahlenden Augen. „Er sagte mir, er sei verblüfft, dass die Linie von Oropher einen so ausgeglichenen Jüngling wie mich zustande gebracht hätte.“

Thranduil grunzte etwas, das wie „Pompöses Noldoli-Prinzchen!“ klang.

Legolas Augen wurden ernst. „Er hat mir in der kurzen Zeitspanne, in der ich zwischen Leben und Tod schwebte, viele Dinge gesagt. Er sagte---“ Er brach ab; ein unlesbarer Ausdruck überzog sein Gesicht. Für eine kleine Weile breitete sich Schweigen aus. Nach einem Moment wandte er seinen Blick Éowyn zu. Er schien aus dem bloßen Anblick ihres Gesichtes Kraft zu schöpfen. „Ich glaube, ich bin vielleicht gerade ein wenig überwältigt.“

Éowyn nickte, während sie die Gefühle beobachtete, die über seine Züge spielten. „Das ist wirklich kein Wunder.“

Er sah sie genau an. „Wie fühlst du dich? Du warst schwer verwundet!“

„Wie ich mich fühle?“ Sie lächelte über die Widersinnigkeit einer solchen Frage ausgerechnet von ihm, dann dehnte sie ihre verletzte Schulter und spürte nur einen scharfen, schmerzhaften Stich. Aber die Schulter war bis fast auf den Knochen aufgeschlitzt worden – und nun war da kaum mehr als ein kurzes Gefühl des Unbehagens, wenn sie sich bewegte. Entweder waren die heilenden Strahlen von Scherbe irgendwie auf sie übergegangen, oder---

„Oh nein...“ Sie schlug eine Hand vor den Mund, und ein zorniger Knoten der Verzweiflung formte sich in ihrer Brust. Ihr seid im Blut für immer an meine Finsternis gebunden, hatte Simiasha ihnen gesagt. „Wir sind noch immer unrein!“ stöhnte sie, die Stimme tränenschwer. „Wir – wir sind nicht frei - “

„So ist es nicht!“ sagte Thranduil scharf. „Sie ist tot, Glorfinniel! Die Quelle eurer Krankheit ist nicht mehr. – Vor langer Zeit war ich ein Teil der Kriegertruppe, die die Nester von Thuringwethils Nachkommen ausräucherten; sie waren am Rande unserer Siedlungen an der Sirionmünde entstanden. Bei einer Gelegenheit fanden wir lebende Edain, Verwandte von Herrn Tuor, die wir davor bewahrten, verbrannt zu werden. Sie waren am Leben, doch halb verwandelt. Als ihr Meister erschlagen wurde, kehrten sie langsam zur Normalität zurück, wenn auch nicht auf der Stelle. Es brauchte ein wenig Zeit, bis ihre Körper das Gift vollständig ausgeschieden hatten.“

„Würde Athelas den Prozess beschleunigen?“ fragte Aragorn.

„Nicht, soweit Galadriel und die Herrin Elwing es feststellen konnten.“ erwiderte Thranduil.

„Wie lange?“ fragte Éowyn angespannt. „Wie lange, bis wir – bis wir wieder gesund sind?“

„Ich denke – oder jedenfalls sagt mir das mein Herz – dass der Silmaril die Befleckung von Legolas’ Körper abgewaschen hat, als er ihn heilte.“ Thranduil sah sie prüfend an; sein Gesichtsausdruck war undeutbar.

„Wie lange für Gimli und Éowyn?“ wiederholte Aragorn stirnrunzelnd ihre Frage.

„Zwei von den vieren, die wir gerettet hatten, wurden bei der Verteidigung der Häfen abgeschlachtet, als der Sohn von Fëanor---“ Er hielt inne, das Gesicht grau von altem Entsetzen und altem Zorn. „Von den beiden, die das Massaker überlebten, war die eine eine junge Frau, die andere ein Mädchen von zehn Jahren.“ Wieder betrachtete Thranduil mit diesem eigenartigen, unergründlichen Starren. „Während das Gift noch immer in ihren Adern floss, alterten sie nicht, sondern blieben, wie sie waren, unverändert von dem Moment an, in dem sie zuerst von der Finsternis geschmeckt hatten. Das Kind, Gilian, blieb ein Kind – wenigstens körperlich – bis sie nach hundert Jahren wieder zu wachsen begann. Die Frau empfing und gebar hundertzwanzig Jahre, nachdem sie vergiftet worden war. Auf diese Weise wusste sie, dass sie endlich von der Krankheit befreit war.“

Éowyn erwiderte fassungslos sein Starren. Hundert Jahre. Hundert Jahre oder mehr zu leben, mit diesem schwarzen Übel in sich. Sie fing an, den Kopf zu schütteln; sie wollte verzweifelt, dass es eine Lüge war. Ihre Augen füllten sich mit Tränen von hilfloser Trauer und Zorn. Legolas’ Hand ergriff die ihre, warm und kraftvoll.

„Ich – ich glaube nicht, dass ich das ertragen kann!“ schluchzte sie.

„Du kannst,“ sagte Thranduil flach. „Du kannst und du wirst es ertragen, Tochter. Um meines Sohnes willen, wenn schon nicht um deinetwillen!“

„Adar---“ begann Legolas, und sein Gesicht wurde dunkel vor Zorn.

„Werden wir uns im Blutrausch verlieren, wie wir es in der Schlacht vor zwei Nächten getan haben?“ fragte Gimli plötzlich. „Werden wir nach Blut dürsten? Werden wir von Finsternis und Mord träumen? Oder werden wir einfach unverändert weiterleben, bis das Gift sich seinen Weg aus unserem Körper gebahnt hat?“

Thranduil war einen Moment lang still. „Die Frau und das Kind waren stärker, schneller und ausdauernder als Menschen oder Elben. Nachdem sie schwer verletzt wurden, heilten ihre Wunden innerhalb eines Tages. Sie – sie hatten von Zeit zu Zeit mit einer Art heftigem Hang zur Gewalttätigkeit zu kämpfen, wenn man sie zum Zorn reizte, aber ich weiß nicht, wie viel davon ihr eigener Zorn auf das Übel rings um sie her war, gepaart mit ihrer zusätzlichen Stärke. Die Frau fand heraus, dass sie spüren konnte, wenn dunkle Dinge nahe waren, und sie wurde eine Jägerin übler Geschöpfe. Aber ansonsten waren sie beide ihrer ursprünglichen Natur treu.“

Gimli dachte einen Moment lang darüber nach. Dann endlich schnaubte er. „Na schön! Es macht keinen Sinn, sich aufzuregen, wenn es dagegen keine Hilfe gibt. Ich hatte mir sowieso schon Sorgen darüber gemacht, ob ich lange genug lebe, um Aglarond fertig gestellt zu sehen. Es scheint, als ob ich mehr Zeit habe, an meinem Lebenswerk zu arbeiten, als ich dachte!“

Éowyn betrachtete ihn mit milder Verwunderung, wie er die Angelegenheit im Geiste beiseite schob, als wäre es ein leichtes Ärgernis, an dem er soeben einen glücklichen Nutzen entdeckt hatte.

„Du hast meinen Vater gehört,“ sagte Legolas eindringlich zu ihr. „Du wirst dich nicht in der Finsternis verlieren, während die Nachwirkungen unseres Leidensweges noch anhalten. Du wirst einfach ein wenig länger leben, als es für einen Sterblichen deiner Abkunft natürlich wäre.“

„Du wirst wissen, dass das letzte bisschen Gift verschwunden ist, wenn dein monatlicher Zyklus wiederkehrt,“ sagte Thranduil; er sprach jetzt sanfter als zuvor. „Bis dahin wirst du keinen Tag altern. Aber empfangen wirst du ebenfalls nicht.“

„Das---“ sagte Éomer mit einem peinlich berührten Stottern. „Das ist ein unziemliches Thema, um es in der Gesellschaft einer Jungfer anzusprechen, mein Herr!“

Thranduil beäugte ihn mit Missvergnügen und leichtem Mitleid. „Eure Schwester ist die Braut meines Sohnes und damit eindeutig nicht als Jungfer anzusehen. Frau Fallah ist bei ihrem Volk eine Heilerin, kein behütetes Kind. Mehr noch: ich kann mir vorstellen, dass beide als Frauen mit diesen Angelegenheiten mehr als nur flüchtig vertraut sind.“ Fallah gab einen Laut von sich, der wie ein unterdrücktes Kichern klang. „Aber ich bitte Euch um Vergebung, mein Herr von Rohan, wenn ich auf Euren zarten Empfindlichkeiten herumgetrampelt sein sollte.“

Éomer lief rot an, aber bevor er eine zornige Antwort von sich geben konnte, hatte sich Thranduil wieder zu Éowyn zurück gewandt und betrachtete sie mit Wärme. Sie fragte sich, ob sie in seinem Geist eine Art abschließender Prüfung bestanden hatte, als es ihr nicht möglich gewesen war, sich über die Aussicht verlängerter Lebensjahre - koste es, was es wolle - zu freuen.

„Wenn – wenn Gimli und ich imstande sind, unser Leben ohne den Druck der Finsternis auf unseren Geist und unsere Herzen zu fristen, dann---“ Sie seufzte; sie fühlte sich so müde, dass sie glaubte, ein Jahr lang schlafen zu können. „Dann will ich es aushalten. Ich nehme an, ich habe keine Wahl.“ Aber noch immer verspürte sie in ihrem Herzen einen kleinen Stich der Traurigkeit. „Aber – aber Ihr habt gesagt, dass ich, bis ich völlig gereinigt bin – unfruchtbar sein werde?“

„Doch nicht für immer,“ sagte Legolas leise.

Thranduil schnaubte und betrachtete abwechselnd Éowyn und seinen Sohn. „Solch betrübte Gesichter! Die meisten frisch verheirateten Paare ziehen es vor, ein Jahrzehnt oder sogar zehn für sich zu sein, ohne über Nachwuchs zu stolpern.“ Seine Lippen kräuselten sich kurz. „Ich nehme an, die Hoffnung auf dunkelhaarige Enkelkinder muss ich wohl ganz und gar aufgeben.“

„Adar,“ sagte Legolas unvermittelt, „Maniel und die anderen könnten verletzt sein, oder noch schlimmer, denn sie wurden genau wie du angekettet und geschlagen.“

„Und ich sollte mich um sie kümmern,“ sagte Thranduil. Er strich mit einer Hand über das Gesicht seines Sohnes, als wollte er sich noch einmal versichern, dass er nicht träumte. Er lächelte, aber ein Schatten nagender Sorge verdunkelte nach wie vor seine strahlenden Augen.

„Ich komme mit dir, oh König,“ sagte Fallah kurz. Sie packte bereits ihre Arzttasche zusammen. „Ihr könntet ein zweites Paar Heilerhände brauchen.“

„Ja,“ sagte Éomer ebenso kurz und erhob sich. „Ich sollte nach meinen eigenen Männern sehen.“

„Ich danke Euch, Harwen*,“ sagte Thranduil mit einem höflichen Nicken Seine Augen ließen die seines Sohnes nicht los. „Du solltest ruhen, mein Sohn. Ich bin sicher, wir werden später über viele Dinge sprechen.“ Er stand auf und ging, ohne noch einmal zurück zu blicken.

„Was bedeutet ,Harwen', mein Herr?“ Fallahs Stimme wurde schwächer, während sie dem Elbenkönig hinaus in das Licht des frühen Morgens folgte. Thranduils volles Glucksen hallte durch die leeren, vorderen Baracken zu ihnen zurück.

Éomer beugte sich hinunter und küsste Éowyn auf die Wange. „Ich sehe dich, nachdem du dich erholt hast, Schwester. Schlaf gut. Eru weiß, dass du es verdient hast!“ Dann ging er hinaus. ---

Die Abschiedsworte deines Vaters klangen beinahe wie eine Drohung, mein Freund!“ schnaubte Gimli.

„Wohl eher ein Versprechen,“ sagte Legolas ernsthaft, seine hellen Augen besorgt.

Aragorn betrachtete ihn neugierig. „Jawohl, und er hat sich durch deine wenig raffinierten List, ihn zum Fortgehen zu bewegen, damit er sich um seine Krieger kümmert, nicht narren lassen. Er ist vor lauter Wissbegier förmlich von einem Fuß auf den anderen getänzelt. Mir geht es genauso, muss ich gestehen.“

„Er wird mich so lange drängen, bis ich ihm alles erzähle,“ sagte Legolas leise. „Und das werde ich. Aber nicht jetzt, und nicht, während andere Augen dabei zusehen.“

„Ihm was erzählen?“ fragte Gimli stirnrunzelnd; er sah gründlich verwirrt aus.

„Eärendil hat dir mehr gesagt, als er uns offenbart hat,“ sagte Éowyn. Während die Erinnerung zu ihr zurück flutete, begann sie Thranduils Besorgnisse besser zu begreifen. „Er sprach von einer Wahl, und von einem Schicksal, von dem du dich nicht abwenden kannst.“

Legolas schwieg, den Blick nach innen gerichtet.

„Mein Freund,“ begann Gimli, „du musst nichts sagen, wenn du---“

„Nein, Gimli,“ Legolas hob eine Hand. „ich muss sprechen. Ich fürchte, dass es mich zerreißt, wenn ich es nicht tue.“ Er seufzte. „Oh, aber mein Vater wird so betrübt sein...“

„Ist es so schrecklich?" fragte Aragorn zögernd. Er klang beinahe, als hätter er nicht den Wunsch, die Antwort zu hören.

„Schrecklich und wundervoll,“ erwiderte Legolas. „Und beängstigend. Aber ich nehme an, wahre Prophezeiungen sind das immer.“

Und bei diesen Worten bemerkte Éowyn einen spürbaren Schauer, der alle durchfuhr, die anwesend waren. Legolas legte seine Hand in die ihre und hielt einen Moment inne, ehe er fortfuhr.

„Lasst mich zuerst von den dringlichsten Neuigkeiten sprechen. Eärendil und Mithrandir haben sich höchstpersönlich an die Valar gewandt und die Erlaubnis erwirkt, uns vor der Gefahr zu warnen, in der wir schweben. Sauron ist überwunden, hat der Seefahrer mir gesagt, aber eine andere Macht – ihm an List gleich, wenn auch nicht an roher Kraft – wird bald versuchen, sich an seiner Stelle zu erheben. Er bat uns, im Gedächtnis zu behalten, dass die Ainur Macht und Geschick weit über unser Fassungsvermögen hinaus besitzen und in anderer Gestalt wieder auferstehen können, wenn man ihren Leib vernichtet. Mithrandir bat Eärendil, folgende Botschaft zu uns zu tragen: ,Seid wachsam, meine jungen Freunde, aber stürzt euch nicht auf bloße Schatten. Ich kann es nicht mit völliger Sicherheit sagen, aber ich glaube, die dunkle Macht, von der wir gespürt haben, dass sie sich in Mittelerde regt, ist euch bereits bekannt, wenigstens teilweise. Er wird in angenehmer Gestalt auftreten. Er wird nicht mit brutaler Gewalt zuschlagen, denn noch ist er schwach. Er wird versuchen, Gondor und all seine Gegner auf feinsinnigere Weise zu zerstören. Gebt Acht und traut euren Herzen, wenn es darum geht, Freund und Feind voneinander zu unterscheiden. Weist die Hand derer nicht zurück, die nach Erlösung suchen. Eile zurück nach Gondor, Aragorn, denn dieser Feind wird sich innerhalb des kommenden Jahres zu erkennen geben. Fürchte nicht um Arwen und das Kind. Obwohl sie es nicht wissen, befinden sie sich bereits unter den Schwingen eines starken Beschützers. Lebt wohl! Ich sende meinen Segen und meine Liebe! Ich würde zurückkehren und euch helfen, aber meine Zeit in Mittelerde ist vorüber.’“

Legolas hielt inne.

„Ich werde in dieser Angelegenheit eine entscheidende Rolle spielen; was für eine oder wie, hat Mandos nicht offenbart.“

„Also, das ist ja großartig!“ grollte Gimli in das lange Schweigen hinein, das darauf folgte. „Wie viele Male muss man einen von den Ainur eigentlich erschlagen, bis er anständig tot ist?!“

„Mehr als einmal, wie es scheint,“ murmelte Aragorn finster. „Dies sind schwere Nachrichten. Ich erinnere mich an etwas, das Bilbo Beutlin am Vorabend des Krieges gesagt hat: ,Haben die Abenteuer jemals ein Ende?’“ Er seufzte und klang so müde, wie Éowyn sich fühlte. „Hängt dies mit er Wahl zusammen, von der Eärendil gesprochen hat?!“

„Nein,“ sagte Legolas. „Das ist eine ganz andere Sache, und ganz allein meine Bürde.“ Er hielt inne und atmete langsam und tief ein, als wollte er sich beruhigen. Der Griff seiner Hand in der ihren wurde fester, aber Éowyn konnte das kurze Beben spüren, das ihn durchrieselte. „Ich weiß kaum, wo ich anfangen soll.“

„Lass mich dir helfen,“ meinte Aragorn. „Betrifft dies den Vater deiner Mutter? Den, den man Taurion nannte?“

Wenn Aragorn plötzlich ein Paar Hörner aus der Stirn gewachsen wären, Legolas hätte wohl weniger überrascht ausgesehen. Aber der Schock verwandelte sich langsam in ein eigenartiges, verletztes Stirnrunzeln. „Du hast es gewusst?“ fragte Legolas leise. Es klang beinahe wie eine Anklage. „Wie lange hast du es gewusst, Estel?“

„Ich wusste nichts,“ erwiderte Aragorn. „In dem Jahr, als wir uns begegnet sind, als du zum ersten Mal den Sommer in Imladris verbracht hast, da habe ich ein Gespräch von Elrond und Glorfindel belauscht.“

Obwohl sein Körper ein fassungsloses, verletztes Gefühl des Betrogenseins ausstrahlte, zuckten Legolas’ Lippen. „In der Tat, du warst ein ausgezeichneter, kleiner Lauscher.“

„Ich bin den Fußboden entlang gekrochen und habe so getan, als würde ich den Rat des Feindes ausspionieren,“ sagte Aragorn. „Elrond selbst wusste nichts mit Sicherheit. Er hatte nur Vermutungen, die er niemals bestätigen konnte. Vor langer Zeit, noch vor dem Letzten Bündnis, fragte er deine Mutter über ihren Vater aus, aber da sie sich nicht an ihn erinnern konnte und ihre eigene Mutter ebenfalls tot war, gab es nichts, was sie ihm sagen konnte. Und er beschwerte ihr nicht den Geist mit halb ausgegorenen Vermutungen.“

Legolas nickte zustimmend, aber die Spannung verließ seinen Körper nicht, während er den Freund ansah. Er drehte sich um und lächelte, als er die offensichtliche Verwirrung in den Gesichtern von Gimli und Éowyn sah.

„Der Vater meiner Mutter wurde Taurion genannt. Er war gewissermaßen ein Findelkind. Silvan-Jäger stießen in der Tiefe der Wälder auf ihn... einen halbwüchsigen Jungen, fast völlig verwildert. Das war vor langer Zeit, vor dem Krieg des Zorns, als Morgoth Arda noch ungehindert verwüstete. Die Silvan hielten ihn für eine Waise des Krieges und der vielen Übel des Großen Feindes. Sie lehrten ihn erneut sprechen und mit der Zeit lernte er wieder, ein Elb zu sein. Aber er wusste fast nichts über seine Herkunft, außer dass er einmal einen Bruder gehabt hatte, der von Wölfen getötet worden war. Die, die ihn kannten, sagten, dass er dem Aussehen nach ein Sindar gewesen sei, und dass er der größte Bogenschütze seit Beleg Langbogen war. Er heiratete jung, ein Silvan-Mädchen, das ihm eine Tochter gebar – meine Mutter Alothas. Er starb, ehe das Kind laufen lernte; er wurde erschlagen, während er gegen Orks kämpfte.“

Er wandte sich zu Aragorn zurück, das Gesicht ausdruckslos, ein Schleier, der dem Zorn verhüllte, den er für sich behalten wollte. „Sag mir, wenn du es weißt, Estel – was war es, das Elronds Aufmerksamkeit auf sich zog? Was hast du mit angehört?“

„Er sagte Herrn Glorfindel, dass er, als er deine Mutter zum ersten Mal an Orophers Hof zu Gesicht bekam, vor Schreck fast aufgeschrieen hätte. Er sagte, sie war das lebende Abbild seiner Mutter.“ Aragorn blickte düster drein; sein Gesicht war schmerzhaft verzogen. „Du bist zornig auf mich, mein Freund. Es tut mir Leid, aber da ich ein Kind war, erschien mir die Sache über lange Jahre hinweg nicht gewichtig genug, um sie zu enträtseln. Und dann – was hätte ich sagen sollen, selbst, wenn es an mir gewesen wäre, zu sprechen? Wenn du auf die Suche nach den Antworten auf die Fragen gegangen wärst, die Elronds Worte aufgeworfen hätten, wo hättest du sie gefunden? Es hätte an dir genagt, ein Geheimnis von vor drei Zeitaltern, ohne eine Lösung, die es unter den Lebenden zu finden gab.“ Aragorn beugte sein stolzes Haupt unter der unbewussten Vorwurf, der noch immer in Legolas’ Augen anhielt. „Und ich dachte auch, dass, wenn es wahr wäre... wäre dann nicht Nachricht von den Valar gekommen? Wenn nicht vor, dann doch sicherlich nach dem Krieg des Zorns? Hätten sie denn nicht gewusst, dass dein Großvater noch lebte, und hätten sie ihm und seiner Tochter nicht die selbe Wahl angeboten, die Elros und Elrond gehabt haben?“

„Was?!“ Gimli explodierte förmlich. „Was sagst du da, Aragorn? Ihr beide redet über diese Sache, während ihr gleichzeitig darum herum tanzt, und ohne dass ihr ein einziges direktes Wort darüber wechselt! Aragorn! Hör auf, so elbisch zu sein – denn ich weiß, Legolas kann es nicht – und sag uns klipp und klar, was ihr herausgefunden habt!“

Legolas wandte seinem Freund die strahlenden, besorgten Augen zu und lächelte wieder, ein wenig traurig. „Ich bin weniger elbisch, als du denkst, mein lieber Gimli.“ Und als Gimli in verwirrtem Ärger laut aufstöhnte, hob Legolas die Hand. „Frieden, mein Freund. Ich werde dir alles erzählen, ich schwöre es.“

Er wandte sich wieder zu Aragorn und betrachtete ihn mit plötzlicher, stiller Bestürzung. Der König von Gondor saß ein wenig von ihnen entfernt, den Kopf leicht gesenkt; Bedauern und Kummer verdunkelten das Licht seines großen Geistes. Sein Ausdruck ließ Éowyn an Éomer als Jungen denken, wenn er etwas getan hatte, das Théodred missfiel. „Vergib mir, Legolas, wenn du kannst. Ich wollte nicht---“

„Es gibt nichts zu vergeben, Estel,“ sagte Legolas zu ihm. „Es tut mir Leid! Ich verstehe die Gründe für dein Stillschweigen. Ich bin nicht zornig auf dich – nur insgesamt ein wenig überreizt, glaube ich. Ich kann mich nicht erinnern, jemals so unruhig gewesen zu sein, so voller Angst und großer Freude und Traurigkeit, alles auf einmal.“ Er schwieg einen Moment, als würde er seine Gedanken sammeln. „Gimli, Éowyn – der Seefahrer hat mir den wahren Namen meines Großvaters gegeben. Sein Name war Elured, und er war der Sohn von Díor Eluchil, der König war von Doriath. Díor, der das einzige Kind war von Beren und Lúthien.“ Er betrachtete Aragorn mit leicht wehmütig gekräuselten Lippen. „Zuerst war ich nur voller Freude, dass ich dich Vetter nennen konnte, Estel, und dass Arwen meine Base ist.“ Bei diesen Worten legte ihm Aragorn eine Hand auf den Arm, eine wortlose Geste der Liebe, wie Männer sie austauschen, wenn Worte nicht ausreichend sind.

„Na schön!“ sagte Gimli mit einem verdutzten Stirnrunzeln. „Das sind ganz sicher Neuigkeiten! Jetzt, wo ich darüber nachdenke... dein Vater sagte einmal etwas darüber, als wir das letzte Mal nach Düsterwald gereist sind.“

Legolas starrte ihn an. „Was hat er gesagt?“

„Es war spät und du warst mit deinem alten Freund Ambaril abgezogen, um dir seinen neugeborenen Jungen anzuschauen – das erste Kind, das seit dem Großen Krieg in Düsterwald auf die Welt gekommen war. Dein Vater hatte zu der Zeit ein bisschen was über den Durst getrunken, und viel gesprächiger als bei meinem ersten Besuch. Er erzählte mir, dass die verlorene Abkunft deines Großvaters wirklich eine hohe gewesen sein muss, denn deine Mutter sei schöner, strahlender und edler gewesen als irgend eine Tochter der Silvan, oder von seinen eigenen Sindar-Leuten.“

„Das sagt er immer, wenn er von ihr spricht,“ murmelte Legolas mit einem schwachen Lächeln.

„Ich sehe immer noch nicht, wieso dies eine so große und erderschütternde Offenbarung sein soll,“ fuhr Gimli fort „Sicher, es ist eine feine Sache, herauszufinden, dass du aus der Linie von Beren und Lúthien abstammst, aber---“ Plötzlich hörte Gimli auf zu reden. Sein Mund öffnete sich langsam, als der Schock ihn einholte. „Diese Wahl, von der du gesprochen hast...“

„Jawohl, Gimli,“ sagte Legolas. „Mittelerde zu verlassen und für immer in Elbenheim zu leben. Oder zu bleiben und mich für ein sterbliches Leben zu entscheiden. Eärendil sagte mir, dass die Sehnsucht nach der See, die in Pelargir Besitz von mir ergriffen hat, für mich beiseite gelegt werden soll, damit ich mit einem freien Herzen wählen kann.“

Éowyn starrte ihm ins Gesicht und senkte den Blick; sie fühlte sich wie eine schwerfällige Närrin, dass sie erst jetzt begriff, was Legolas meinte. Ihr Herz schien in ihrer Brust schaudernd zum Stehen gekommen zu sein, ihr Atem stockte. Ihre ganze Welt stand bewegungslos auf der Waagschale. Alles hing davon ab, was Legolas als nächstes sagen würde.

„Ich habe bereits gewählt,“ sagte Legolas. Er nahm ihr Kinn in die Hand, hob sanft ihren Kopf und lächelte ihr in die Augen. „Ich wähle diese Welt, die ich liebe, diese Zeit, diesen Ort. Ich wähle dich, Éowyn. Ich wähle Gimli und Estel und Arwen und Sam und Merry und Pippin und---“ Er küsste sie, ohne sich um geringsten darum zu kümmern, dass Gimli und Aragorn zuschauten. Er wischte die Tränen ab, die angefangen hatten, aus ihren Augen überzufließen. Sie hatte das Gefühl, als würde die Freude sie zerreißen. „Schsch! Ganz ruhig, Meleth-nin!

„Ich kann nicht!“ schluchzte sie in tränenvoller Verlegenheit; sie lachte und weinte gleichzeitig. „Ich kann nicht aufhören!“

Gimli betrachtete Legolas ganz genau; sein eigenes Gesicht und sein Bart sahen verdächtig feucht aus. „Du kommst mir nicht im geringsten anders vor. Und du siehst ganz sicher kein bisschen weniger elbisch aus.“

„Ich werde mich nicht durch Zauberei in einen Menschen verwandeln, Gimli,“ Legolas grinste. „Ich werde niemals ein Mensch sein – ich werde ein Elb sein, der sterblich ist. Aber du hast Recht – ich habe meine Wahl getroffen und noch hat sich nichts geändert. Die Zeit strömt an mir vorüber und lässt mich unberührt, wie sie es tut, seit ich meine Kindheit hinter mir gelassen habe.“

„Arwen traf ihre Wahl vor dreißig Jahren, als wir uns in Lothlórien miteinander verbunden haben,“ sagte Aragorn still. „Aber sie konnte ihr unsterbliches Geburtsrecht nicht preisgeben, ehe nicht der letzte Rest Zweifel in ihrem Herzen geschwunden war. Ich denke, dass es – genau wie bei ihr – nicht Zögerlichkeit ist, die die Veränderung aufhält, sondern Liebe. Du fürchtest dich – wie Arwen sich fürchtete – deinem Vater, den du liebst, einen solch schrecklichen Schmerz zuzufügen.“

Legolas betrachtete ihn mit geweiteten, entsetzten Augen, und es schien, als ob die volle Erkenntnis, was dieser Entschluss seinem Vater antun würde, ihn erneut traf wie ein Hammerschlag gegen die Brust. Er nickte und schloss die Augen gegen die Tränen, die sich darin sammelten.

„Das ist die wahre Wahl der Peredhel, glaube ich.“ sagte Aragorn. „Diese bittersüße Wahl, die dir für immer jemanden raubt, den du liebst, egal, welche Entscheidung du triffst. Bis dein Herz Frieden geschlossen hat mit deinem Entschluss, Legolas, wirst du zwischen beiden Welten in der Schwebe bleiben, so wie Arwen.“

„Ja,“ sagte Legolas sehr leise, eine seufzende Note des Kummers.

Noch viel mehr wurde danach besprochen. Worte der Liebe wurden gewechselt, Worte des Dankes und der unsterblichen Freundschaft. Sie redeten über die Vergangenheit und die unsichere Zukunft, und über Gandalfs und Eärendils Warnung. An irgend einem Punkt beschloss Éowyn, ihren Augen Ruhe zu gönnen, während sie mit dem Kopf auf Legolas’ Schulter da saß und zuhörte, wie der Elb und der Zwerg darüber zankten, wie viel Jäger jeder von ihnen umgebracht hatte, seit sie nach Rhunballa gekommen waren. Gimli argumentierte felsenfest, dass die Verbrennung des Nestes auf Legolas Liste nicht angerechnet werden könne, da Éowyn bei dieser Unternehmung höchst wahrscheinlich mehr als die Hälfte der Arbeit erledigt hatte. Éowyn lächelte, als sie einschlief.

Sie erwachte kurz zu einer unbestimbaren Stunde; sie hörte das Geräusch von Aragorns leisem Schnarchen, und fühlte, dass es wieder Nacht geworden war. Sie hatte den gesamten Tag verschlafen. Legolas lag neben ihr und sang ganz leise vor sich hin. Sein Blick schien an ihr zu hängen, während er ihr das Haar streichelte, aber sein Gesicht zeigte einen eigentümlichen Ausdruck, als sei er in einem süßen Tagtraum versunken.

„Du solltest schlafen,“wisperte sie.

„Ich schlafe ja,“ sagte er, und küsste sie flüchtig.

Sie war wieder eingeschlummert, bevor sie lange über diese Worte nachrätseln konnte.

Als sie wieder aufwachte, war es Morgen. Legolas war fort, aber Aragorn saß neben ihr, das geschiente Bein vor sich ausgestreckt. Er nippte zimperlich an einem Becher mit etwas, das wie Fallahs Weidenrindentee roch.

„Letzte Nacht habe ich mich mit Eurem Bruder verschworen,“ sagte er mit einem schiefen Lächeln, „damit ich mich eine Weile fortstehlen und nach meinen Leuten sehen konnte. Aber jetzt hat Frau Fallah mich hier bis zum Mittag eingesperrt.“

„Selbst ein König kann einem Heiler nicht widersprechen,“ sagte Éowyn mit einem kleinen Grinsen.

„Hmmm,“ meinte Aragorn nachdenklich, „Da ich beides bin, hatte ich auf besondere Nachsicht gehofft. Fallah ließ sich von meinem Flehen nicht erweichen.“ Er wurde wieder ernst und betrachtete sie einen langen Augenblick, als würde er sorgsam seine nächsten Worte abwägen. „Eärendil sagte, dass weder Legolas noch seine Braut sich von der Aufgabe abwenden können, die das Schicksal ihnen bestimmt hat.“

„Ich bin der Aufgaben des Schicksals sehr müde,“ sagte Éowyn leise, fast wütend.

„Damit seid Ihr nicht allein, meine Freundin.“ Aragorn gab ein freudloses Glucksen von sich. „Gandalf sagte, dass dieser Feind Gondor von innen treffen wird, und bald. Ich werde morgen früh fortgehen, und wenn ich auf einem Fuhrmannskarren oder auf einer Bahre reisen muss. Sagt mir, Éowyn – was sind Eure Pläne?“

„Ich...“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Ich muss dabei helfen, Rhunballa wieder aufzubauen, wenigstens für einen Monat oder zwei. Aber... ich kann diese Warnung nicht beiseite schieben, oder meine Verpflichtungen der Sicherheit und Gondor gegenüber. Und ich muss jetzt an Legolas denken. Es ist, als wären die einzelnen Teile meines Lebens durcheinander geworfen worden, und ich kann noch nicht sagen, wo oder wie sie liegen bleiben werden.“

„Werdet Ihr nach Gondor kommen?“ fragte Aragorn einfach.

Éowyn betrachtete ihn prüfend. Und langsam holte sie tief Atem und ließ das Gefühl der Zugehörigkeit und Heimat, das sie in diesem Land empfunden hatte, los. Rhunballa würde weitergehen in eine bessere Zukunft, aber Éowyn würde nicht da sein, um es zu sehen. Sie musste fort. Aus einer Unmenge verschiedener Gründe musste sie fortgehen und in den Westen zurückkehren.

„Ich nehme an, ich muss.“ erwiderte sie zögernd.

Aragorn nickte grimmig. „Was immer auch kommt, es wird in Minas Tirith beginnen. Eärendil hat prophezeit, dass du und Legolas Werkzeuge sein werdet, dieses Übel zu besiegen.“

„Und wir sollten dort sein, um ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu treten.“ sagte Éowyn leise und zustimmend. „Auf welche Weise sollte ich nach Minas Tirith kommen, mein Herr? Mit welcher Befugnis?“ Sie sah die Verwirrung in seinen freundlichen, grauen Augen und seufzte. „Ich kann nicht einmal darüber nachdenken, wie ich das Starren und das Geflüster meiner eigenen Landsleute ertragen soll, wenn ich in den Westen zurückkehre... von dem stolzen Volk in Eurem Reich ganz zu schweigen. Die Gerüchte sind doch sicher an Eure Ohren gedrungen. Aragorn. Wenn ich auf Eure Einladung hin nach Gondor komme, eine unvermählte Frau in den Augen der Menschen---“ Sie schauderte leicht. „Selbst wenn ich mit Legolas an meiner Seite käme, würde das noch einen Sturm aus Tratsch auslösen, der die Veste bis auf ihre Grundfesten erschüttert. Ich möchte nicht der Grund für einen Skandal sein, der Kummer über Euch bringt oder die, die Euch lieben, denn all das ist eine bösartige Lüge.“

„Ich kümmere mich nicht um das Geschwätz eitler Narren, noch fürchte ich mich davor.“ sagte Aragorn ruhig. „Arwen tut es auch nicht, und Ihr solltet es ebenso wenig – obwohl ich weiß, dass es für Euch schwieriger ist, es zu überhören. Es ist eine Schande der menschlichen Rasse, dass ich nicht mehr als ein einfältiges Glucksen oder Zwinkern meiner Höflinge ertragen sollte, wenn Euer Name erwähnt wird, während Ihr---“ Er seufzte, schüttelte den Kopf und sprach fast mit sich selbst. „Manchmal ist es schwer, unter den Menschen zu leben. Selbst nach vier Jahren fühle ich mich unter meiner eigenen Art zuweilen wie ein Fremder. Obwohl wir es in uns tragen, zum Himmel aufzusteigen, stolpern wir doch allzuoft in den Unrat. Éowyn, ich kann Euch nicht sagen, was Ihr tun sollt, oder wie Ihr zuerst von meinem Volk empfangen werdet. Aber ich kann mit Sicherheit sagen, dass alle, die Euch kennen lernen, nichts in Euch sehen werden als eine edle, tapfere und tugendhafte Frau, der sie ihr Leben nun schon zweimal schulden. Ich sage Euch als jemand, der dreimal so alt ist wie Ihr, dass von dieser Art Dingen davonzulaufen ihnen nur erlaubt, in Eurer Abwesenheit zu wachsen. Ich glaube, wenn mein Volk Euch kennen würde, würde es Euch lieben. Und alle Gerüchte würden sich als himmelschreiende Falschheit herausstellen.“

Éowyn schwieg und dachte nach.

„Es gibt ein altes Gesetz in Gondor,“ sagte Aragorn. „Eine Sonderregelung in der Verfassung. Sie wurde im Hinblick auf die Prinzen des Hauses Eorl geschrieben. Man nennt sie den Eid des Pfleglings.“

„Ich weiß davon.“ sagte Éowyn. „Théoden hat diesen Eid in seiner Jugend geschworen.“

„Es ist ein Eid der Ritterschaft im Dienste von Gondor für die Zeitspanne von drei Jahren,“ erklärte Aragorn. „Um nach dem Ermessen des Königs oder Truchsessen vorzeitig aus dem Dienst entlassen zu werden, falls der Thron von Rohan zur Unzeit an den Knaben fiele. Der Titel als Ritter des Reiches besteht für immer, obwohl Euer Dienst nur zeitweilig wäre. Auf diese Weise würde ich Euch rechtmäßig Ehre erweisen, während ich Euch vor den Fallstricken der Unziemlichkeit bewahre.“

„Dies würde mich vor dem Klatsch schützen, sagt Ihr?“ Éowyn schüttelte den Kopf. „Aragon, schlagt Ihr vor, eine Frau zum Ritter zu machen, die allgemein angesehen wird als Eure---“ Sie machte den Mund zu, ehe sie etwas sagen konnte, das wirklich unziemlich war.

„Zuerst wird es noch mehr Gerede auslösen, ich weiß,“ sagte Aragorn. „Aber es wird Euch eine Position in der Gesellschaft der Gondorhim geben, die keinen Mann an Eurer Seite erfordert. Es ist noch nie zuvor getan worden, aber wie der junge Herrscher von Harad vor einigen Tagen bemerkt hat, kann ein König jederzeit neue Gesetze machen. Als Ritter von Gondor hättet Ihr einen ordentlichen Platz an meinem Hof.“ Er hielt inne. „Und ein gewisses Maß an Unabhängigkeit von Eurem Bruder, der nach den Gesetzen von Gondor und Rohan noch immer Euer rechtmäßiger Vormund ist.“

„Bis ich anständig verheiratet bin,“ sagte Éowyn leise; ihre Hände ballten sich in fruchtlosen Ärger darüber, dass die Welt war, wie sie war, zu Fäusten. Am Ende des Tages waren Osten und Westen nicht so unterschiedlich darin, wie sie den Wert einer Frau betrachteten.

„Ich werde kommen, mein Herr,“ sagte sie einen Moment später förmlich. „und Eurer Weisheit in dieser Sache vertrauen... obwohl ich weniger zuversichtlich bin als Ihr, was meine Fähigkeit angeht, die Herzen Eures Volkes zu gewinnen. Vier Jahre Freiheit haben mich unduldsam gemacht gegenüber den Beschränkungen, die die Welt den Frauen auferlegt. Ihr habt Recht. Ich kann mich nicht befreien, es sei denn, ich kehre in den Westen zurück. Aber nichts davon spielt in dem großen Muster eine Rolle. Ich werde kommen, weil Ihr mich darum bittet, Aragorn. Ich werde kommen, weil man mich braucht. Ich werde mir einen Weg durch sämtliche Dämonen der Äußeren Nacht hindurch kämpfen, um Legolas zur Seite zu stehen und ihm bei seiner Aufgabe zu helfen. Ich werde alles tun, was in meiner Macht liegt, um Euer Reich und diese Welt vor dem zu bewahren, was kommt. Ob es den Gondorhim gefällt oder nicht.“

Aragorn antwortete darauf mit einem liebevollen Lächeln und einem Nicken der Zustimmung. Und so war ihre Abmachung getroffen.

Éowyn stand zwei Stunden nach dem Mittag auf und machte sich auf die Suche nach Legolas. Aragorn war fort und Fallah hatte keine Wache aufgestellt, um sie in der Königlichen Wache fest zu halten. Sie wanderte durch die Straßen und bemerkte den eigenartigen Schimmer, der noch immer in der Luft hing und jeden Schatten vertrieb. Die Stadt schien irgendwie heller und sauberer zu sein, obwohl ein Viertel ihrer Gebäude durch Rauch beschädigt oder verbrannt war. Überall waren Musik und Liedfetzen zu hören, sowohl freudige Feiergesänge als auch trauervolle Klagelieder für die Toten. Die Leute bewegten sich durch den seltsamen, geisterhaften Schimmer, den der Silmaril hinterlassen hatte, und sahen aus, als wären sie sich nicht sicher, ob sie sich in einem leuchtenden Traum verloren hatten oder in der wirklichen Welt wandelten.

Éowyn kam an einer Gruppe von Reitern vorbei, die sich vor ihr verneigten, als sei sie eine große Königin, und ihre Gesichter---

Oh gute Götter, sie sehen aus wie Menschen, die zu Füßen von Elbereth selbst beten, dachte Éowyn und zuckte innerlich zusammen.

Sie fand Suni, die in den Ruinen der Königlichen Villa stand, ihren jüngsten Sohn auf der Hüfte. Als sie näher kam, sah sie die traurigen Augen der neuen Königin von Rhunballa. Éowyn bemerkte, dass sie Ikakos Schwert, Shin-kun, am Gürtel trug.

„Wir haben viel verloren, meine Schwester,“ sagte Suni leise. Sie starrte auf ihre Stiefel hinunter, die bis zu den Knöcheln in Ruß und Asche standen. „Ich weiß nicht, wie wir wieder von vorne anfangen sollen.“

„Wir hätten auch alles verlieren können,“ sagte Éowyn. Aber dieser Gedanke hat es nie leichter gemacht, die Trauer um die, die verloren sind, zu ertragen.“

„Ja,“ meinte Suni zustimmend. „Die Weisen würden sagen, dass die größte Ehre, die wir den Gefallenen erweisen können, die ist, ein gutes Leben zu leben, damit ihr Tod nicht umsonst war. Ich weiß, das ist wahr. Aber trotzdem trauere ich.“ Der Blick, mit dem sie Éowyn ansah, war fragend. „Dein Bruder und dein König werden morgen abreisen, sagt Elessar. Was wirst du tun, mein Hauptmann?“

„Auch ich muss gehen,“ sagte Éowyn. „Wenn auch nicht morgen, und auch nur mit deinem Einverständnis. Ich werde noch einen oder zwei Monate bleiben.“

„Du hast meine Liebe, und mein Einverständnis brauchst du nicht.“ Suni lächelte betrübt. „Du hast mir keinerlei Eid geschworen. Aber wenn du zurückkommen solltest, dann ist dies dein Zuhause, für alle Zeiten.“

Sie umarmten einander wie engste Verwandte. Éowyn ließ Suni hinter sich zurück, während sie gerade und hochgewachsen dastand wie ein Speer und darüber nachdachte, was für eine Art Königreich wohl aus der Asche rings um sie her aufsteigen mochte.

Éowyn fand ihren Bruder zusammen mit einer Gruppe seiner Reiter, unten auf den brach liegenden Sojafeldern, wo seit ihrer Ankunft in Rhunballa ihr Lager aufgeschlagen war. Er begrüßte sie sehr erfreut und geleitete sie zu seinem eigenen Zelt, denn er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie die an Anbetung grenzende Bewunderung ihrer Landsleute unerträglich finden würde.

„Wenn du nicht möchtest, dass sie dich so anstarren,“ bemerkte er leichthin, „dann solltest du beim nächsten Mal davon Abstand nehmen, die Welt zu retten, wenn du die Gelegenheit dazu hast.“

„Das ist nicht komisch,“ sagte sie und nahm den Becher mit kaltem Met, den er ihr anbot.

„Ich scherze nicht, Schwester,“ sagte er. „Du hattest nicht dieses...“ Sein Mund verzog sich, als müsste er würgen, „—dieses Ding in deinem Geist, so wie der Rest von uns. Meine Erinnerung ist gnädigerweise vernebelt. Aber Strahlende Herrin, Éowyn! Ich habe keine Worte, das krankhafte Übel zu beschreiben, dass sie in meinem Geist und meinem Herzen erweckte. In diesen wenigen Stunden hätte ich mein süßes Weib und mein ungeborenes Kind abgeschlachtet und dabei gelacht, wenn sie es befohlen hätte!“ Er erschauderte, und plötzlich wurde sein Gesicht fahl, als eine andere Erinnerung in ihm aufstieg. „Sie machte, dass ich wünschte --- Oh Éowyn, ich weiß jetzt wieder, dass sie mir befahl, dir weh zu tun, dass ich – ich---“Er brach ab; sein Atem kam in kurzen Stößen.

„Du hast mir nicht weh getan.“ sagte Éowyn sanft und nahm seine Hände in die ihren.

Er erschlaffte, schwach vor Erleichterung. Einen Moment später runzelte er die Stirn und schob die dunklen Erinnerungen beiseite. Das war immer schon seine Art gewesen, mit schrecklichen Erfahrungen umzugehen – indem er sich einfach nicht mit ihnen befasste. Er tat sie ab und dachte nicht mehr daran. Éowyn hatte ihn immer um diese Fähigkeit beneidet.

„Sie hätte die Erde mit ihrer schrecklichen Art bevölkert und jedes lebende Ding zu Vieh gemacht. Du hast sie aufgehalten, Éowyn. Stell die Wahrheit meiner Worte nicht in Zweifel, wenn ich sage, dass du uns alle gerettet hast.“ Sein Stirnrunzeln vertiefte sich und er hielt inne. „Aragorn und ich, wir haben miteinander geredet.“

„Und?“ Sie wappnete sich für einen Streit, aber er überraschte sie.

„Und ich stimme mit seiner Entscheidung, dich nach Gondor zu holen, nicht überein, aber ich werde ihm in dieser Sache vertrauen, wie in anderen Dingen. Es wäre einfacher, wenn Legolas mit dir käme.“ Er schaute düster und unglücklich drein. „Es wäre noch besser, wenn ihr beide verheiratet wärt.“ Er studierte ihr verschlossenes Gesicht und grollte leise und verärgert. „Woran krankt es, Éowyn? Er liebt dich, und du bist völlig betört von ihm. Wieso zögert ihr?“

Sie schwieg einen Augenblick. „Teilweise wegen der Worte von Eärendil. Aragorn hat dir zweifellos alles erzählt, was wir über die gegenwärtige Gefahr wissen. Der Seefahrer hat uns eine Warnung und eine Prophezeiung übermittelt. Und Legolas hat er ein zweischneidiges Geschenk gegeben. Mehr werde ich nicht sagen. Es ist an Legolas, dir den Rest zu erzählen, wenn er das will. Vetrau mir, dass es Gründe für diese Verzögerung gibt, und sie sind nicht leichtfertig.“

Er nickte langsam. „Kommst du morgen mit uns?“

„Ich muss noch eine Weile bleiben,“ sagte Éowyn, „Pflicht und Freundschaft verlangen es.“

„Dann muss es wohl sein,“ sagte er schicksalsergeben. „Aber bald, eines Tages, musst du zurück kommen in die Riddermark. Zu der Zeit, wenn die Blätter fallen, werde ich Vater sein. Wenn die – was immer es auch ist – vorüber ist, dann möchte ich mit dir über die Grasebenen unserer Heimat reiten, wie wir es taten, bevor Saruman unser Land verdunkelt hat.“

„Das würde mir auch gefallen“, sagte sie; ihre Augen brannten.

Sie verabschiedete sich von ihm und suchte Legolas unter den Gondorhim und den Elben von Düsterwald. Sie fand den König von Eryn Lasgalen, der neben Fallah in der Neuen Bäckerei saß. Sie war anscheinend wieder in ein Haus der Heilung verwandelt worden. Die Schwerstverletzten, diejenigen, die man nicht auf die Reisfelder hinaus hatte bringen können, waren auf der Stelle von den Jägern erschlagen worden. Aber es gab noch immer Hunderte von verwundeten Soldaten und Zivilisten, die während des vergangenen Tages von den Lagerhäusern in den Reisfeldern her gebracht worden waren. Neben Fallah und dem Elbenkönig saß ein Elbenheiler, vertieft in die Liste von Rhunballani- und Somalani-Kräuterheilmitteln, die die Tochter des Apothekers ihm vorgelegt hatte. Der Elb, der wie ein Gelehrter wirkte und an dessen Namen sich Éowyn beim besten Willen nicht erinnern konnte, beugte sich aufgeregt vor und stieß seinen Herrn in seiner Begeisterung beinahe mit dem Ellbogen beiseite.

„... und nicht eines dieser Kräuter habe ich gesehen, seit die Welt zerbrochen wurde!“ rief der Heiler aus. „Ich hatte gedacht, sie wären für immer verloren gegangen, als Beleriand versank. Und dieses eine hier wuchs ausschließlich auf der Insel von Númenor – und doch sagt Ihr, dass sie alle wild in diesem Tal wachsen, Frau Fallah?“

Fallah nickte; die Helligkeit ihres freundlichen Lächelns war von Trauer gedämpft. „Ich werde sie Euch alle zeigen, Meister Gaernell. Wenn Ihr es wünscht, werde ich Setzlinge mit Euren Leuten mitschicken, wenn Ihr abreist.“

Thranduil beobachtet Éowyn, während sie näher kam; er blieb still, als sie und Fallah sich begrüßten. „Legolas ist mit dem Sohn des Glóin unterwegs, mit dem er ohne Zweifel irgendwelchen Unfug vorbereitet, denn er wollte mir nicht sagen, wohin er geht und was er vorhat.“ Er erhob sich, einen ganzen Kopf größer als Éowyn, sein Gesicht eine merkwürdige Mischung aus Zuneigung und der selben, schrecklichen, nagenden Vorahnung, die er gezeigt hatte, nachdem Legolas im Haus der Königlichen Wache aufgewacht war. Elbereth, er sah zu tief mit diesen bohrenden Zwillingsspeeren, die er Augen nannte! Sie senkte den Blick, aus Angst, dass er irgendwie das Geheimnis erspüren könnte, das nur Legolas allein ihm sagen sollte... das Geheimnis, das sein großes Herz sicherlich über alle Heilung hinaus brechen würde.

„Willst du ein wenig mit mir gehen, meine Herrin?“ fragte er schlicht.

„Wie du möchtest, mein Herr,“ sagte sie so beiläufig sie es vermochte.

Sie bewegten sich durch die Reihen der Ruhelager und kamen an dem Bett vorbei, wo Shaeri neben Insis saß; sie hielt die Hand ihrer besinnungslosen Schwester. Moussah von Harad stand an Shaeris Seite, stolz, kühl und zurückhaltend. Aber irgend etwas in seiner Haltung vermittelte Trost und Fürsorge, obwohl er Shaeri überhaupt nicht berührte. Insis’ Farbe war gut. Sie schien tief und fest zu schlafen.

„Sie wird mit der Zeit wieder ganz gesund,“ sagte Shaeri zu Éowyn. „Insis war eine von denen, die man für zu schwer verletzt hielt, als wir die Stadt geräumt haben. Als Finsternis über uns alle fiel, packte mich Moussah und schüttelte mich so heftig, dass ich dachte, mir bricht das Genick, und für kurze Zeit brachte er mich wieder zu mir. Wir blieben gerade lange genug bei Verstand, um Insis zu verstecken, bevor – bevor die Jäger anfingen, die Verwundeten umzubringen.“

Éowyn löste die schwarze Scheide, die sie an der Hüfte trug, vom Gürtel und zog Scherbe aus seiner schattigen Hülle. Sie legte die Scheide in Moussahs Hände. „Ich danke Euch für den Gebrauch des Daegond, Moussah von Harad,“ sagte sie förmlich. „Ich gebe ihn Euch und Eurem Volk zurück.“

Moussah verneigte sich tief. „Mak-Liazg,“ sagte er. „Denn so sollt Ihr in Harad genannt werden, so lange ich lebe, Herrin. Die Goldene Löwin. Ich hatte Recht. Ihr seid es.“

Sie schaute ihm neugierig in die dunkelbraunen Augen und sah zum ersten Mal die kleinen Flecken von Gold und Grün darin, ein anhaltendes Überbleibsel seiner númenorischen Blutes. Er erwiderte ihren Blick gerade heraus und lächelte. „Sie, die meine Erste Frau ist, nennt Euch Schwester,“ erklärte er. „Und so seid Ihr und ich miteinander verwandt. Ganz Harad hat Euch gegenüber eine Blutschuld, Herrin von Rohan. Ihr müsst nur fragen, und ich werde sie zurück zahlen.“

„Ich muss erst noch kundtun, dass ich Eure Erste Frau sein werde, Vermessener!“ hörte Éowyn Shaeri von oben herab zu ihm sagen, als sie sich entfernten. „Und es wird ,Einzige Frau’ sein, wenn Ihr wisst, was gut für Euch ist!“

Moussah gluckste nur. „Das Gleiche gilt für Euch, meine Katze. Streunt aus meinem Bett und ich werde mich auf die selbe Weise rächen!“

„Entweder wird das eine leidenschaftliche, liebevolle Ehe, oder sie bringen sich gegenseitig um,“ bemerkte Thranduil. „Wenn es darum geht, wer sich durchsetzt, würde ich auf das Mädchen wetten.“

„Wenn Shaeri über irgend etwas Bescheid weiß, dann, wie man mit Haradrim-Männern umgeht,“ sagte Éowyn.

Sie gingen durch die Pforte und Éowyn überließ sich wortlos seiner Führung, während er sie die Ladenstraße und zu den Wäschern geleitete. Thranduil blieb knapp vor den großen Waschbecken stehen und atmete den sauberen Duft der Sinisi-Blüten ein. Er drehte sich um, und betrachtete sie eindringlich, und sie erwiderte einen durchbohrenden Blick ein wenig traurig.

„Ich fürchte mich davor, herauszufinden, was deine jungen Augen mit solchem Mitleid erfüllt, wenn du mich anschaust, Glorfinniel,“ sagte er leise. „Nein, sag nichts. Ich will nicht, dass du mir etwas offenbarst, was du mir nicht sagen sollst. Ich werde es allzu bald wissen.“ Er seufzte schwer. „Es wäre ein wundersames, unmögliches Ding, wenigstens einmal in meinem langen Leben einen Sieg zu erringen, der sich nicht wie eine Niederlage anfühlt... der nicht befleckt ist von dem Blut derer, die ich liebe.“

„Ich glaube nicht, dass es so etwas gibt in Mittelerde, mein Herr,“ sagte Éowyn betrübt.

„Du sprichst die Wahrheit,“ sagte er. Seine Augen waren dunkel und kummervoll. „Mein Herz ist erfüllt von prophetischer Furcht. Legolas und ich, wir haben miteinander gesprochen. Er hat mir einen Teil von dem erzählt, was der Seefahrer ihm offenbart hat, über die Gefahr, die Mithrandir und die Valar höchstselbst vor uns aufziehen sehen. Er wurde von der Schwelle zu Mandos’ Hallen zurück gerufen, um einem schrecklichen Schicksal zu begegnen, einer Bedrohung, der entgegen zu treten er anscheinend geboren wurde.“ Er schüttelte niedergeschlagen den blonden Kopf. „Ich wusste, er ist etwas Besonderes... schon sein ganzes Leben. Er ist schöner, stärker und irgendwie... höher. Ich bin immer allzu stolz gewesen; ich fürchtete nicht, dass es einen Preis zu zahlen gäbe dafür, mit einem solchen Sohn gesegnet zu sein. Nun stelle ich fest, dass ich mir wünsche, er wäre gewöhnlicher. Es ist etwas Schreckliches, mit anzusehen, wenn die Götter dein Kind an der Schulter berühren. Denn wie bei Frodo Beutlin werden diejenigen, die die Valar sich zum Werkzeug wählen, oft von ihrer Bestimmung verschlungen.“

Éowyns Haut kribbelte vor Furcht. Es war, als hätte er soeben die schreckliche Angst verdeutlicht und verdichtet, die den ganzen Tag in ihrem Magen gelastet hatte wie ein kalter Stein.

„Was wünscht Ihr, dass ich tue?“ fragte sie. Sie war sich sicher, dass sie, hätte sie in diesem Moment in einen Spiegel geblickt, Thranduils angespannten, ängstlichen Ausdruck auch in ihrem eigenen Gesicht gesehen hätte.

„Nach Eärendils Worten wirst du in diesen Kampf ebenso verwickelt sein wie Legolas,“ sagte Thranduil ruhig. „Er hat gesagt, er wird mit mir nach Eryn Lasgalen zurückkehren, für eine kleine Weile, vielleicht eine Jahreszeit.“ Er sah, wie ihr Gesicht verfiel, sah den Schmerz in ihren Augen, allein bei dem Gedanken an Legolas’ Abwesenheit, und schenkte ihr ein knappes, bitteres Lächeln. „Bekümmere dich nicht, Kind. Die Jägerin ist erschlagen und Legolas’ Blut ist durch den Silmaril von ihrer Finsternis gereinigt. Seine Liebe zu dir ist so stark und wahrhaftig, wie sie es gestern war und am Tag zuvor, und sie ist nicht mit Thuringwethils Macht vergangen. Er mag für eine gewisse Zeitspanne mit mir heimkehren, aber über kurz oder lang wird er an deine Seite fliegen, denn ich denke nicht, dass sein Herz eine längere Trennung erträgt. Ich werde ihn mit Brautgaben beladen zu dir schicken, auch wenn sie verspätet kommen. Solltet ihr beide ein Datum für eine sterbliche Hochzeitszeremonie festlegen, dann werde ich daran teilnehmen... obwohl ich nicht verstehe, wie ihr noch vermählter sein könnt, als ihr es bereits seid.“

Er nahm ihre Hände und sah ihr tief in die Augen, und sein Blick schien selbst noch die dunkelsten Nischen ihrer Seele, jeden selbstsüchtigen, kleinlichen Gedanken und Impuls bloß zu legen. Sie ertrug die Prüfung und wich nicht zurück, obwohl sie nichts mehr wollte als vor diesem allsehenden, uralten Starren schreiend die Flucht zu ergreifen.

Am Ende war es allerdings Thranduil, der seine stolzen, strahlenden Augen abwandte.

„Es tut mir leid – dies war ein unverzeihliches Eindringen. Wie ein selbstsüchtiger, bitterer Schurke hatte ich gehofft, etwas in deinem Herzen zu finden, das meines Sohnes unwürdig wäre. Aber du---“ Und wieder seufzte er. „Wenn ich die vollkommene Braut für ihn hätte erschaffen können, dann wärst du es gewesen.“

„Abgesehen davon, dass ich sterblich bin,“ sagte sie.

„Ja,“ erwiderte er. Seine Stimme war wie das sanfte Grollen, das einen Regenguss ankündigt.

„Um dir die nackte Wahrheit zu sagen – ich wünschte bei den Valar, dass ihr euch nie begegnet wärt, Glorfinniel. Denn ich empfinde eine kalte, schreckliche Furcht, dass er, was auch immer vor uns liegt, für immer für mich verloren ist.“

Es gab keine Antwort, die jene gewichtige Wahl, der Legolas entgegen sah, nicht verraten würde. Ihr Herz schmerzte wie ein gebrochenes Glied um dieses guten Mannes, dieses guten Vaters willen. Er hatte jeden verloren, den er jemals geliebt hatte, mit Ausnahme seines einzigen, teuren Sohnes. Nun würde er Legolas auch noch verlieren. Und er wusste es, spürte es, obwohl er noch nicht wusste warum, oder wie es geschehen würde. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange.

„Die Valar schaffen einen Weg, mein Herr,“ sagte sie sanft. „Für alle guten Seelen. Wir müssen auf diese Wahrheit vertrauen.“

„Weises Kind,“ murmelte er. „Ich habe bereits mit Elessar und Gimli gesprochen. Steht ihm bei, Tochter. Gebt ihm all eure Kraft und all eure Liebe. Ihr seid alle vier in diese Drohung eingebunden, die schon jetzt über Gondor hängt wie eine Schwertklinge. Aber ich sehe voraus, dass er, wenn er euch drei hat, um ihm den Rücken und beide Seiten zu decken, das Unheil vielleicht überleben wird, das das Schicksal für ihn bestimmt hat.”

„Nichts könnte mich dazu bringen, weniger zu tun, mein Herr,“ sagte Éowyn. Ein weiterer Schwall der Schuldgefühle rollte über sie hinweg. Thranduil würde sie sehr wahrscheinlich mehr hassen als Morgoth selbst, wenn alles offenbart worden war. Aber für den Augenblick lächelte er sie an.

„Komm,“ sagte er und wechselte mit einem hörbaren Seufzer der Erleichterung das Thema. Er nahm väterlich ihren Arm und führte sie durch die Wäschereien. „Die Frauen in meinem Gefolge haben ein Bad und frische Kleidung für dich vorbereitet. Elessar bat darum, dich für deinen Ritterschlag vorzeigbar zu machen. Es gibt niemand anderen, der nach dem Feuer und den Kämpfen der letzten zwei Nächte passende Kleidung besitzt.“ Er schnüffelte hochmütig. „Meine Schwiegertochter soll nicht in blutigen Lumpen vor dem König von Gondor stehen, oder im Gewand eines heidnischen Ostlings.“

„Vorzeigbar?“ fragte sie, die Stirn gerunzelt angesichts der Art, wie er das Volk von Rhunballa leichthin abtat.

Als Antwort lächelte er nur von oben herab und scheuchte sie in die Obhut zweier elbischer Frauen, die aus dem Innenhof der Wäschereien zum Vorschein kamen. Sie führten sie zu den Freiluftbecken und machten sich ans Werk.

Es war länger her, als sie sich erinnern konnte, seit man sie bedient oder auf irgend eine Weise verwöhnt hatte. Rohan verwarf die Idee von Kammerfrauen, und das Nächste an einer Kammerzofe, was sie je gehabt hatte, war die Kinderfrau, die nach dem Tod kaum mehr tat, als sich darum zu kümmern, dass sie sauber und satt war. Man würde so etwas vor fremden Ohren niemals aussprechen, aber die Frauen des Nordens waren der Meinung, dass ein Rudel Kammerzofen, die sich um jedes ihrer Bedürfnisse kümmerte, eine Dame reichlich nutzlos machte. Lasst die Damen von Gondor die Frauen von Rohan ruhig wild und ungehobelt nennen, erinnerte sich Éowyn an eine Bemerkung ihrer Mutter. Wenigstens wissen die Edeldamen der Rohirrim, wie man sich ohne Hilfe anzieht.

Die beiden elbischen Frauen gaben Éowyn bald ein neues Verständnis für das Wort „verwöhnt“. Und das Wort „sauber“. Und das Wort „vorzeigbar“. Sie entkleideten sie mit freundlicher, unaufdringlicher Wirksamkeit und bugsierten sie in ein großes Becken, das sie mit blubberndem Seifenwasser und Sinisi-Blütenblättern gefüllt hatten. Sie badeten sie, wie sich nicht mehr gebadet worden war, seit ihre Kinderfrau in Éowyns dreizehntem Winter gestorben war; sie schrubbten sogar heikel und sorgfältig die Stellen unter ihren Finger- und Zehennägeln. Erst spülten sie ihr Haar mit heißem Öl, dann mit weicher Seife und dann mit einer anderen Sorte Öl, die auf zauberische Weise alle verwirrten Stellen zu glätten schien. Vielleicht hatte sie deshalb kaum jemals einen Elb mit zerrauften Haaren zu Gesicht bekommen – bessere Pflegewässerchen und Seifen. Aber nein – das war nicht wahr. Legolas Haar war im Nest verklebt und äußerst zerrauft gewesen, aber sie hatte es nicht weniger schön gefunden.

Ein weiches, weibliches, singendes Glucksen in ihrem Ohr. „Euer Lächeln sagt, dass Ihr von dem Prinzen träumt, Base.“ Und sie lachten fröhlich im Chor, als sie bis an die Wurzeln ihrer feuchten Haare errötete.

Sie rieben ihr das Haar und die Glieder trocken und fingen damit an, ihr beim Anlegen von dem zu helfen, was Thranduil als „vorzeigbare“ Kleidung bezeichnet hatte. Sie schnappte in weichem Staunen nach Luft, als sie sah, was sie anziehen sollte.

„Euer Ostlingsharnisch wird sich nie so gut tragen,“ sagte eine der Elbenfrauen. „Er wurde für die Gestalt eines Mannes gemacht. Dies hier wurde für den Körper einer Frau geschaffen.“

Éowyn starrte das glitzernde Gewand an, überwältigt von diesem Geschenk; sie war sicher, dass wenige Königinnen von Rohan oder sogar von Gondor jemals irgend etwas getragen hatte, das so schön - und so wertvoll war. Über eine Bluse und Hosen aus weißer Seide ließen die Frauen ein Kettenhemd aus Mithril gleiten, das sich um ihren Körper legte, als wäre es genau auf ihre Formen zugeschnitten worden. Dazu gehörten passende Armschienen, reich verziert mit Mustern aus Herbstblättern und elbischen Runen.

Sie stand reglos wie eine Puppe da, während sie ihr Haar in verschlungene Flechten legten und silberne Bände durch jede Locke woben. Als sie fertig waren, starrte sie schockiert die Fremde im Spiegel an. Sie sah wie das sterbliche Ziehkind eines uralten, elbischen Reiches aus, von ätherischer Schönheit und so tödlich wie das glänzende Schwert an ihrer Hüfte. Für Scherbe hatte man eine neue Scheide angefertigt, ein Heim aus funkelndem Mithril.

Ein kleines Schluchzen fing sich in ihrer Kehle, und ihre Augen füllten sich mit Tränen, als ihr endlich klar wurde, was Aragorn gemeint haben musste, als er darum bat, dass man ihr passende Kleidung gab. Dies würde nicht einfach eine Eideszeremonie werden. Er wollte sie ehren, wie man es mit einem großen Helden täte, wahrscheinlich vor der ganzen Stadt. Und allein dieser Gedanke reichte schon, um sie in die Flucht zu schlagen.

„Oh, mein tapferes Mädchen! Nicht weinen!“ sagte eine der Frauen in einem freundlichen, mütterlichen Ton, obwohl ihr Gesicht um Jahre jünger wirkte als das von Éowyn. Sie betupfte Éowyns Augen mit einem feuchten Tuch. „Wir haben den Tag gewonnen, und wenn noch nicht alles gut ist, dann wird es das doch noch werden!“

Éowyn schüttelte nur den Kopf, unfähig, die Gefühle, die in ihr tobten, in Worte zu fassen. Einen Moment später brachte ein leises Klopfen an der Tür zum Hof Gimli zum Vorschein. Die beiden Elbenfrauen verabschiedeten sich und verließen sie mit einem leichten Kuss auf die Wange.

„Meine Güte!“ sagte Gimli, nachdem er sie einen Moment schweigend begutachtet hatte. „Du schaust ja glänzend aus!“

„Bring mich nicht zum Lachen!“ sagte Éowyn, den Tränen nahe. Aber sie stellte fest, dass sie beim bloßen Anblick seines lieben Gesichtes trotzdem lächelte.

„Was macht dir Kummer, Mädel?“ fragte er liebevoll.

„Ich kann das nicht tun, Gimli!“ sagte sie verzweifelt. „Ich kann mich nicht vor diese guten Leute hinstellen, die ihr Zuhause und ihre Familien verloren haben, und die Heldin spielen! Ich will mich nicht – ehren und preisen lassen, wenn die halbe Stadt in Ruinen liegt und die Hälfte der Verwundeten von dem Angriff in der ersten Nacht ermordet worden sind. Ich will keine Lobreden hören, wenn Fallah ihre ganze Familie auf dieser Welt verloren hat, wenn Indassa begraben liegt, und Herr Hurin und Ikako und Somal und – und--“Sie brach mit einem erstickten, kleinen Schluchzen ab.

„Aber, aber...“ sagte Gimli mit bärbeißiger Freundlichkeit. Er half ihr, sich auf eine der Bänke aus schwarzem Holz zu setzen, die den Vorhof einfassten. „Da wird’s nichts Großes zu tun geben, Mädel... keine Feier. Es werden kaum mehr als zwei Dutzend Leute dabei sein, und nur die, die du am liebsten hast.“

„Wirklich?“ Sie schniefte. Plötzlich kam sie sich vor wie eine Närrin. Sie wünschte sich, sie könnte dasitzen und für eine sehr lange Zeit weinen, aber Aragorn wartete höchstwahrscheinlich auf ihre Ankunft. Er musste Gimli geschickt haben, um sie abzuholen. Sie wischte sich die Augen mit dem Handrücken ab.

„Wirklich!“ sagte er mit Nachdruck. „Du hast dich mit deinem Bruder versöhnt, Mädel. Der König ist am Leben und dieses Land ist von dem Übel befreit, das es ein Jahrtausend lang heimgesucht hat. Der Elb ist am Leben, es geht ihm gut und er wird nicht über das Meer fort segeln. Er wird ein langes, sterbliches Leben an deiner Seite leben, und ihr beide werdet ein Dutzend kleiner, flachsköpfiger Lausebengel haben, die ,Onkel’ zu mir sagen.“ Er schmunzelte, als sie ein schwächliches Lachen von sich gab und drückte ihre Hände. „Wir haben die verloren, die wir lieben, und so sind die Wege des Krieges. Eine neue Gefahr liegt vor uns, und so sind die Wege der Welt. Alles, was wir tun können, ist die Liebe und das Glück zu nehmen, die uns zu dieser Zeit und an diesem Ort geschenkt werden, und sie als den Segen zu schätzen, der sie sind.“

Sie umarmte ihn impulsiv und seufzte, als er ihr das Haar tätschelte. „Ich kenne den Eid des Pfleglings nicht,“ sagte sie besorgt.

„Aragorn sagt, das macht nichts.“ meinte er.

Sie stand auf und holte tief Atem, während der Zwerg von der Bank herunter kletterte, die gerade um ein Weniges zu hoch für ihn war, um leicht hinunter zu kommen. „Lass uns gehen.“ sagte sie schlicht.

Er führte sie durch die Dämpfräume, die auf die Helle Straße hinaus sahen und wieder um die Seifenmacherei zurück, hoch über den blühenden Sommerwiesen in Tal der Tausend Quellen. Die Seifenmacher hatten den Kindern immer einen halben Schekel für jeden Scheffel Wildblumen bezahlt, den sie pflückten, deshalb gab es einen alten, ausgetretenen Pfad, der aus dem Tal zu den Wäschereien hinauf führte. Der Arbeitssaal der Seifenmacher war vom Feuer unberührt und roch nach einem Jahrhundert gesottener Blumen.

Sie hatten sich versammelt wie Gäste auf einer Hochzeit oder einer Namensgebung. Jeder überlebende Hauptmann von jedem Wachhaus stand in voller Uniform und flankierte den Weg, den sie gehen musste, wie eine Ehrengarde. Auf jeder Seite sah sie die Gesichter von vielen anderen, obwohl es alles in allem sicherlich nicht mehr als drei Dutzend waren. Fallah und Thranduil standen Seite an Seite zu ihrer Linken, Éomer und Gambold zu ihrer Rechten. Moussah und die Handvoll Männer, die die Schlacht am Südpass überlebt hatten, waren anwesend. Das Gesicht des jungen Herrschers war kalt und hochmütig, aber seine Augen waren voller Wärme, als sie an ihm vorbei ging. Suni stand hochgewachsen da, mit müheloser Königlichkeit, Shaeri neben sich. Und Legolas – Legolas war nirgendwo zu sehen.

Aber dann war keine Zeit mehr, sich darüber Sorgen zu machen, denn sie hatte das Ende des menschlichen Korridors erreicht und Aragorn stand vor ihr. Er lächelte auf sie herab, als sie niederkniete; sie fühlte sich unbeholfen wie ein Gaukler, in ein Schauspiel gestoßen, das sie nicht eingeübt hatte.

„Éowyn, Tochter des Eorl,“ sagte Aragorn förmlich, und seine Seide-und-Branntwein-Stimme trug mühelos und drang an jedes Ohr, obwohl er leise sprach. „Zum zweiten Mal habt Ihr mit Euren eigenen Händen das erschlagen, was unser Königreich entzwei gerissen hätte. Gondor verspätet sich darin, Euch Dank zu sagen. Mit dem Segen Eures Herrn und Bruders möchte ich Euch bitten, den Titel eines Ritters und Verteidigers von Gondor zu akzeptieren, nach den Regeln des Pfleglings-Eides. Was sagt Ihr, meine Herrin?“

„Das will ich,“ sagte Éowyn; sie hoffte mit aller Macht, dass ihre Stimme nicht zitterte.

„Wollt Ihr, Éowyn Éomundstochter, Gondor Lehenstreue und Dienst schwören, für eine Spanne für drei Jahren, um entlassen zu werden, wenn es dem König beliebt, oder wenn der Thron von Rohan durch unzeitigen Tod an Euch fällt?“

„Das will ich,“ hauchte Éowyn.

Der König zog Andúril aus der Scheide und hielt es vor sie hin, die Klinge in der Hand. „Legt Eure Hände auf den Griff und sprecht mir nach,“ flüsterte er.

Sie musste sich ständig daran erinnern, zu atmen, während sie die Eidesformel wiederholte, während jede Zeile sich in ihr Herz grub und zu einem lebendigen, spürbaren Ding wurde. Zu sprechen und zu schweigen, zu kommen und zu gehen, in Frieden und im Krieg, im Leben und im Sterben...

Ein Lichtstrahl traf Andúril und es gleißte wie flüssiges Silber, als Aragorn das Schwert umdrehte und die Klinge auf ihre Schulter legte. „Dann erhebt Euch, Éowyn, Ritter von Gondor.“

Die Worte hallten unheimlich in ihrem Kopf wieder, als wäre das lebenswichtige Stück eines komplizierten Puzzles gerade an die richtige Stelle gefallen. Dies war ein weiteres Glied in der Kette von Eärendils Prophezeiung, in die sie jetzt unwiderruflich eingebunden war. Und doch erhob sie sich und lächelte tapfer; sie sah das Flackern der Unruhe in Aragorns Augen, das ihr Antwort gab. Was immer gerade vorgegangen war, er hatte es auch gespürt.

*****

Nimm die Liebe und das Glück, das dir zu dieser Zeit und an diesem Ort geschenkt worden ist, hatte Gimli gesagt. Ganz sicher war niemals ein weiserer Zwerg auf Erden gewandelt. Also lächelte sie, ergriff die Hände ihrer Freunde und erwiderte jede einzelne Umarmung. Sie würde all das Glück mitnehmen, das sie aus jedem Moment ziehen konnte und den Gefahren vor sich entgegen treten, wenn die Stunde der Abrechnung gekommen war. Als all die, die sich versammelt hatten, anfingen, sich zu zerstreuen, um die eine oder andere Aufgabe wahrzunehmen oder um den morgigen Tag vorzubereiten, zog Shaeri Éowyn beiseite, die Augen strahlend vor Mutwillen.

„Erinnerst du dich an die luxuriöse kleine Jagdhütte, die mein Vater an der Gabelung der Springkitzquelle gebaut hat? Sie ist einen Halbstundenritt von der Stadt entfernt.“

„Ich erinnere mich.“ sagte Éowyn.

„Dein Elbenprinz wartet dort auf dich,“ sagte Shaeri und lächelte durchtrieben. Éowyn lächelte zurück, und ihr Herz setzte einen Schlag aus.

Jetzt ließ sie alle Fürsorge und das Gewicht der tausend Dinge hinter sich, die getan werden mussten. Kurz darauf ritt sie durch das schräg einfallende Licht der Nachmittagssonne, und es schien ihr, als ob der Wind unter den Hufen ihres Pferdes sang. Sie fand die Hütte ohne große Mühe, trat auf die Türschwelle und fragte sich widersinnigerweise, ob sie anklopfen sollte.

Sie hob den Riegel und betrat die Hütte fast zögerlich. Sie beherbergte einen einzelnen Raum mit vier großen Fenstern in alle vier Himmelsrichtungen; sie standen jetzt dem Wald offen, der sie umgab. Und warum nicht? Es gab keinen Grund mehr, die Nacht in Rhunballa zu fürchten. Mitten im Raum befand sich eine steinerne Feuerstelle. Etwas, das himmlisch duftete, köchelte über den niedrigen Flammen... ein berauschender Geruch, süß und pikant, wie von Zucker und Gewürzen. Legolas kniete daneben auf den weichen Fellen und Polstern, die auf dem Boden verstreut lagen. Er zog einen Humpen vom Feuer und schaute zu ihr auf, als sie näher kam.

„Hast du jemals elbischen Glühwein gekostet, Éowyn?“ fragte er mit dem Hauch eines Lächelns.

„Nein,“ sagte sie. Sie setzte sich neben ihn und nahm gehorsam den Becher Wein entgegen, den er ihr eingoss. Er war süß und sinnverwirrend, und er schmeckte nach roten, mit Honig versetzten Beeren. Sie sah in nachdenklichem Schweigen zu, wie er den Kessel mit Essen vom Rost zog und ihn zum Abkühlen auf den steinernen Rand stellte.

„Ich dachte, wir könnten früh zu Abend essen,“ sagte er und rührte den Eintopf noch einmal um, bevor er ihr seine volle Aufmerksamkeit zuwandte.

Sie saßen einen Moment still da und sahen einander an. „Ich muss morgen früh mit meinem Vater abreisen,“ sagte er ruhig.

„Er hat es mir gesagt.“ erwiderte sie.

Er runzelte leicht die Stirn. „Es tut mir Leid, dass du das nicht von mir gehört hast. Es war nicht die Sache meines Vaters, es dir zu erzählen, aber ich bitte dich, ihm zu vergeben. Er leidet gerade fürchterlich. Und – und wenn wir im Düsterwald sind, dann muss ich seinen Schmerz vertausendfachen.“ Er seufzte und senkte den Kopf. „Ich muss mit ihm nach Hause zurückkehren und ihm alles sagen. Und nachdem ich ihm diesen schrecklichen Schlag versetzt habe, muss ich bei ihm bleiben, um sicher zu sein, dass sein Kummer ihn nicht überwältigt.“

„Du musst mir nichts davon erklären, Legolas!“ sagte sie. Ihr Herz krampfte sich zusammen, als sie sich unwillkürlich vorstellte, wie Thranduils Reaktion ausfallen würde, wenn er von Legolas’ Entscheidung erfuhr. „Ich bereue nichts von dem, was zwischen uns geschehen ist. Aber es tut mir Leid, dass ich der Grund bin---“

„Du bist nicht der Grund!“ sagte er mit Nachdruck. „Ich werde nicht zulassen, dass du dir die Schuld gibst und die Verantwortung für den Schmerz meines Vaters auf dein Haupt lädst. Diese Bürde ist mein allein. Wären wir, du und ich, uns niemals begegnet, Meleth-nin, ich hätte trotzdem den sterblichen Weg gewählt. Als die Sehnsucht nach der See zuerst Besitz von mir ergriff, kurz vor dem Ende des Krieges, da wurde ich zuerst von der Begeisterung über den Ruf nach Valinor mitgerissen. Doch binnen weniger Monate kam mir diese Sehnsucht wie ein Entführer vor, der mich allem raubte, das ich je geliebt hatte. Mir wurde klar, dass ich mit aller Macht darum gekämpft hatte, um Mittelerde vor Sauron zu retten... und dass es für mich selbst verloren sei. Ich wollte nicht von dieser Welt getrennt sein, und von den Freunden, die mir teuer waren. Und die harte, kalte Wahrheit, die meinem Vater nicht entgehen wird, ist die, dass ich diese Welt und meine Freunde ihm – ihm vorgezogen habe.“ Seine Augen standen plötzlich voller Tränen. „Ich kann keine Worte finden, die es weniger grausam klingen lassen.“

Sie beugte sich vor und zog ihn an sich. Die rohe Qual in seiner Stimme riss an ihrem Herzen, und es gab keinen Weg, es für ihn besser zu machen. Dieses Geschenk der Götter war in der Tat bittersüß, denn jedes Gran seiner Freude wurde durch das selbe Gewicht an Kummer aufgewogen. Er legte den Kopf auf ihre Schulter und fand stillen Trost in ihrer Umarmung. „Wann wirst du Rhunballa verlassen?“ fragte er nach einem kurzen Schweigen.

„Vor der Erntezeit.“ sagte sie. „Ich muss noch eine Weile bleiben und ihnen beim Wiederaufbau helfen, und bei der Vorbereitung für den Winter.“

„Bis zum Mittwinter komme ich zu dir nach Minas Tirith.“ schwor er. Er zog sich zurück und lächelte, auch wenn seine Augen noch immer feucht waren. „Wenn du mich haben willst, dann werde ich dich nach sterblicher Sitte heiraten, so schnell du deine Verwandten um dich sammeln kannst.“

„Ja,“ sagte sie leise und lächelte zurück. Ihre Brust fühlte sich an, als sei sie übervoll und würde allein aus Freude bersten. Fort war das verkrüppelnde Zögern des Zweifels, fort war ihre Angst vor der plötzlichen, überwältigenden Geburt ihrer Liebe. Es war wirklich. Es war wahr. Sie würde ihn lieben und die Furcht den Furchtsamen überlassen. Was auch immer für eine Bedrohung vor ihnen lag, sie würden ihr entgegen treten, sie besiegen und danach viele glückliche Jahre erleben. Die Götter konnten nicht so grausam sein, ihr das Geschenk seiner Liebe zu machen und es ihr dann wieder zu entreißen. „Ja!“ sagte sie noch einmal und küsste ihn.

Sie aßen in entspannter Kameradschaft und irgendwie brachte er es fertig, sie bis zum Ende ihrer Mahlzeit Stück für Stück aus ihrem Harnisch und all ihren Insignien zu schälen. Bevor der Wein verschwunden war, fand sie sich selbst so nackt und bloß wieder wie an Tag ihrer Geburt, obwohl sie nicht sagen konnte, wie er das angestellt hatte. Elbenzauber, kein Zweifel... obwohl der Glühwein seinen kleinen Beitrag dazu geleistet haben mochte. Lächelnd, den Kopf von freudigem Summen erfüllt, entkleidete sie ihn mit köstlicher, langsamer Entschlossenheit, bis es kein Hindernis mehr gab zwischen seiner nackten Haut und der ihren.

„Keine drei Tage ist es her, dass ich dich zuletzt in den Armen gehalten habe,“ murmelte Legolas, als sie Seite an Seite dalagen, für den Augenblick damit zufrieden, einander einfach zu halten und gehalten zu werden. „Aber bereits jetzt sehne ich mich schmerzhaft nach dir, Meleth-nin – mit meinem Herz und meinem Leib. Ich weiß nicht, wie ich die langen Monate ohne dich ertragen soll.“

Ihre Lippen bebten wie die eines Kindes bei diesem Gedanken, aber sie stieß ihn beiseite. Sie würde nicht zulassen, dass sich Trauer in diese Nacht drängte. „Um so süßer wird es sein, wenn wir wieder vereint sind.“

„Ja,“ sagte er leise und streichelte ihr Haar. Seine Hand hielt inne, als hätte ein verirrter Gedanke ihn erstarren lassen. „Dein Bruder wird morgen früh wütend auf mich sein. Er hat mir heute gesagt, wenn ich wieder bei dir läge, bevor wir anständig vermählt sind – obwohl ,liegen’ nicht ganz genau das Wort war, das er benutzt hat – dann würde er mir meinen hübschen, elbischen Hals umdrehen.“ Éowyn spürte, wie ihr Lächeln in ein zorniges Stirnrunzeln abzugleiten drohte, aber er küsste sie sachte auf den Mund. „Ich habe nicht den Wunsch, ihn zu kränken oder in den Augen deines Volkes deine Ehre zu besudeln. Wenn ich nach Minas Tirith komme, dann lass uns die Liebe bis zur Hochzeitsnacht aufheben. Wie du sagst... ein wenig Warten wird unsere nächste Wiedervereinigung umso süßer machen. Und danach müssen wir uns für den Rest unseres Lebens nie wieder trennen.“

Etwas an dieser Redewendung kam ihr merkwürdig vor, und ihr weiches, glückliches Lächeln schwankte einmal mehr. „Erscheint sie dir sehr kurz – die Aussicht auf ein sterbliches Leben? Kommt sie dir so vor, wie sie mir vorkäme, wenn ich wüsste, dass ich innerhalb eines Jahres altern und sterben muss?“

Er schwieg und überdachte ihre Frage. „Ja und nein,“ sagte er endlich. „Erinnerst du dich daran, wie du klein warst... als eine Woche ein Zeitalter zu dauern schien, und ein Jahr eine Ewigkeit?“ Sie nickte. „In jedem Jahr ändert sich deine Wahrnehmung des Verrinnens der Zeit im Verhältnis zu der Zeitspanne, die du bereits durchlebt hast. Deshalb erscheint auf der einen Seite die Idee von nur einhundertfünfzig Jahren – oder vielleicht zweihundert – herzzerbrechend kurz. Aber die andere Seite der Münze ist, dass ich ganze Jahrhunderte erlebt habe, in denen absolut nichts Bemerkenswertes geschah.“

Sie starrte ihn an und er lachte über ihren zweifelnden Gesichtsausdruck.

„Unter meinem Volk,“ sagte er, „übte ich mit Bogen und Klinge, ich lachte und sang unter den Bäumen, ich aß, badete und träumte, ich kämpfte und schützte unsere Grenzen vor dem Schatten von Dol Guldur und dem Schrecken, der im Bauch des Einsamen Berges schlief. Aber ganze Jahrzehnte verschwimmen auf diese Weise in meinem Gedächtnis. Wir können rasch handeln, wenn Gefahr sich nähert, aber abgesehen von dringlichen Momenten bewegt sich das Leben von Elben sehr langsam. Unsere Rede, unsere Gesten, unser... alles, was wir tun, geschieht fast so gemächlich wie beim Wandeln im Schlaf. Unsere Debatten über solch banale Dinge wie das Aufstellen eines Bienenstocks auf einer Seite des Tales oder der anderen können ein Vierteljahrhundert dauern. Denn welchen Grund gibt es zur Eile? Ich will dir den tiefsten Grund sagen, weshalb ich sterblich sein möchte, Éowyn. Als ich zum zweiten Mal mit Aragorn Freundschaft schloss, ritt ich ein Jahr lang oder mehr mit ihm und seiner Sippe, durch Städte, Dörfer und Täler, tatsächlich den ganzen Weg zu den Feldern von Rohan. Der Anlass für unsere Reise und die Geschichte darüber sind lang, und ich werde sie heute Nacht nicht erzählen. Aber am Ende unserer Fahrt hatte ich mich hilf- und hoffnungslos in die menschliche Rasse verliebt. Unter deinem Volk zählt jeder Tag, jeder Atemzug wird ausgekostet. Und wenn ich unter euch gewesen bin, ändert sich meine Wahrnehmung der Zeit und ich kann in gewissem Sinne jede Sekunde genießen, jeden Schlag meines Herzens, genau wie ihr. Ich möchte mein Leben mit dir auf diese Weise leben, leidenschaftlich und freudig und umso süßer, weil es enden wird.“

Sie lächelte ihn an und schaute in seine Augen, älter als das Haus von Eorl, im Gesicht eines zwanzigjährigen, jungen Mannes. Sie küsste ihn, als könnte sie ihm das seufzende Lied der Liebe zum Geschenk machen, das sie durchflutete. Irgendwie schien er es zu hören, es zu spüren, obwohl es vielleicht nur sein Herzschlag war, der zum Echo von ihrem wurde. Sie schmolzen in die Arme des anderen hinein, sie verehrten einander mit Händen und Mund und Leib, und ihre Liebe, die den körperlichen Käfig ihrer Seele sprengen wollte, fand ihren süßesten Ausdruck im Fleisch. Am Ende schrie sie auf, als würde ihr Herz bersten; sie schaute auf in seine Augen, als die Woge des Vergnügens ihn einen Augenblick später auf ihrem Kamm mit sich fort riss. Er seufzte atemlos ihren Namen, während er über und in ihr ruhte, und sein starkes Herz hämmerte gegen das ihre. Nach einem langen Moment schien er den Atem zum Sprechen wiedergefunden zu haben und lachte leise.

„Habe ich lange genug gewartet?“

„Auf was?“ fragte sie; sie zog mit den Fingern die glatte Linie seines bloßen Rückens nach. Er erschauerte glücklich und regte sich einmal mehr gegen sie; sie schnappte vor Entzücken nach Luft.

„Es – ich---“ Und unglaublicherweise wurde er rot. „Ich bin unter Menschen gewesen und habe ihre Gespräche mit angehört. Ich weiß, dass Sterbliche zwischen einem Akt der Liebe und dem nächsten eine Zeitlang warten müssen, aber ich weiß nicht, wie lange ich---“

Er brach ab, als sie auf eine Weise zu lachen begann, die sich selbst für ihre eigenen Ohren verdächtig nach Kichern anhörte. „Es sind sterbliche Männer, die eine Zeitlang warten müssen,“ sagte Éowyn. „Um ihre Kraft zurück zu gewinnen, nehme ich an. Frauen kennen solche Beschränkungen nicht.“

Er grinste betreten, aber seine Augen erwärmten sich von erneutem Begehren.

„Elben auch nicht,“ sagte er. Dann begann er leise zu lachen. „Jetzt komme ich mir vor wie ein Narr.“

„Nie im Leben.“ sagte sie und küsste ihn ausführlich.

„So viel zu lernen,“ murmelte er gedankenvoll; seine Finger wanderten an ihrer Körperkontur entlang, um durch ihr schweißfeuchtes Haar zu streichen. „Wenn ich daheim bin, werde ich für uns eine Abschrift des Melmaenas in Auftrag geben. Das ist ein Lehrtext für einander versprochene Paare.“

Sie runzelte die Stirn, ein wenig verstimmt. „Du denkst, dass wir Lehrstunden brauchen?“

„Ich denke,“ sagte er mit einem langsamen Lächeln, „dass es viel gibt, was ich nicht weiß und bis jetzt niemals lernen wollte. Jungen Elben wird Unterricht erteilt in den grundlegenden Mechanismen und den Formen der Liebe, bevor sie die körperliche Reife erreichen. Ich erinnere mich vage daran, dass die Lektion von mir und den Jungen meines Alters mit einem gewissen Kichern begrüßt wurde, aber es wurde auch reichlich gegähnt.

Wir finden dieses Fach öde und uninteressant, bis die Liebe des Herzens das Verlangen unseres Leibes erweckt. Der Melmaenas ist eine Sammlung von in Jahrtausenden und Jahrtausenden zusammen getragenen Wissens über jede vorstellbare Art, seinem Liebsten Vergnügen zu bereiten. Ich dachte, wir könnten uns gemeinsam in den Text vertiefen, wenn ich nach Gondor komme.“ Jetzt bewegte er sich in ihr, langsam, sehr langsam, während er sprach; jede zusammen hängende Antwort, die sie ihm vielleicht hätte geben können, verwandelte sich in ein wirres Durcheinander lustvoller Gedanken. „Es ist ein langer, komplizierter Wälzer,“ hauchte er. „Wir würden sehr gründlich sein müssen in unseren Studien.“

„Und vielleicht müssen wir diese – diese Lektionen in Übungen umsetzen, damit wir sicher sind, dass wir sie richtig verstehen?“ Sie lachte durch den glücklichen Nebel, der sich rasch in ihrem armen, sterblichen Hirn zusammenzog. „Was ist eine Form?“ keuchte sie.

Er lächelte und seine Augen erforschten eifrig ihr Gesicht, während sie tapfer versuchte, sich auf seine Worte zu konzentrieren. „Dies ist eine Form. Mit mir oben und dir unten. Ich denke, bei den Sterblichen ist sie am häufigsten.“ Sie gab einen hohen, höchst unkriegerischen Laut der Überraschung von sich, als er sie hochhob und sie beide herumrollte, so dass sie sich jetzt über ihm befand. „Und dies ist eine Form,“ er grinste zu ihr hoch, „und sie ist am häufigsten unter meinem Volk. Wir haben ein, zwei andere ausprobiert, du und ich, aber es gibt viel, viel mehr. Es gibt auch Dutzende von Techniken, wie man berührt und Druck ausübt und---“ Sie beugte sich hinunter und brachte seine Worte mit dem Mund zum Schweigen. Bis viel später in dieser Nacht sprachen sie nicht mehr.

Sie erwachte in der kühlen Stunde vor der Dämmerung, eiskalt bis auf die Knochen. Irgend etwas, irgend ein schwarz geflügelter Geist des Verhängnisses hatte sie gestreift, während sie schlief und die bewachten Grenzen ihres Geistes mit eisigen Fingern liebkost. Legolas fing sie auf, als sie mit einem rauen Schrei hochschoss. Er legte seine warmen Arme um sie, als sie mit einem nur halb wachen Stöhnen der Furcht zitternd zurückweichen wollte.

„Es ist fort, Meleth-nin!“ sagte er sanft. „Es ist jetzt fort! Was hast du in deinem Traum gesehen?“

„Hast du---?“ Sie schüttelte den Kopf und erschauerte leicht. Was immer es gewesen war, die Erinnerung daran verblasste bereits rasch. „Hast du auch etwas gespürt?“

„Ja,“ sagte er leise, sein Gesicht im Dämmerlicht der Glut von der Feuerstelle voller Sorge. „Etwas... etwas Dunkles hat aus der Entfernung nach uns gesucht. Es ist jetzt fort.“

Sie legte den Kopf an seine Brust; plötzlich war sie kurz davor, den Himmel zu schmähen. „Ich will nicht, dass du – dass du tust, was auch immer Eärendil sagt, dass es von dir erwartet wird! Ich will, dass es fortgeht und uns in Frieden lässt!“ Sie wusste, dass sie sich anhörte wie ein Kind, aber es kümmerte sich nicht. „Ich will dich nicht verlieren!“ sagte sie leise, ihre Stimme hohl vor Furcht.

„Das wirst du nicht!“sagte er heftig. „Was immer auch geschieht, ob wir getötet werden oder glücklich bis ins hohe Alter leben, umgeben von Dutzenden von Enkeln, wir werden in dem Sommerland zusammen sein, wo menschliche Seelen---“

„Nein!“ rief sie wütend. „Ich will nicht erst im Jenseits wieder mit dir vereinigt sein! Ich will dich in diesem Leben!“ Und dann weinte sie. Sie vergoss all die aufgestauten Tränen der Angst, die sie während des Alptraums der letzten paar Tage zurückgehalten hatte, und sie presste die Augen fest zusammen gegen das Bild von Legolas, der aufgespießt auf der Klaue der Jägerin hing.

Eine ganze Weile später lag sie in seinen Armen, ausgeweint, wie ihre Mutter gesagt haben würde. Er malte unsichtbare Muster auf ihre bloße Brust.

„Wir müssen bald in die Stadt zurück,“ sagte er unnötigerweise. „Mein Vater wird beim ersten Licht abreisen wollen.“

„Ich werde dir hier Lebwohl sagen,“ sagte sie leise. „Ich will nicht dabei zusehen, wie du fort reitest.“

Er vergrub sein Gesicht in ihrem Haar und atmete seinen Duft ein, als wollte er eine Erinnerung daraus machen, die bis zum Mittwinter anhielt. „Ich liebe dich, Éowyn. Ich weiß, ich klinge wie eine Singvogel, der die selbe Weise wieder und wieder anstimmt. Aber ich kann es nicht oft genug aussprechen, um das auszudrücken, was ich fühle. Glaub mir das. Glaub, dass die Valar liebend sind , und gerecht, und dass sie nicht zulassen werden, dass wir in diesem Leben zur Unzeit getrennt werden.“

„Das will ich.“ sagte sie. Sie lächelte und sein trauervolles Gesicht hellte sich auf. Sie konnte wieder weinen , wenn er fort war, aber sie würde nicht zulassen, dass er das Bild ihrer Tränen mit sich in den Düsterwald nahm. „Ich liebe dich,“ sagte sie, und ihr Lächeln verbarg den Schmerz in ihrem Herzen. „Und ich werde dich bald sehen.“

Nachdem er fort war, weinte sie wieder, diesmal sehr lange. Nachdem die Sonne sich zu einem neuen Tag erhoben hatte, saß sie lange in Gedanken da. Mittags erhob sie sich, wusch sich das Gesicht und ließ sich von Windfola über die wasserumspülten Felder zurück tragen. Als sie sich der Stadt näherte, hörte sie allmählich ein Poch-Poch, das wie Hunderte von Spechten bei der Arbeit klang. Hämmer, dachte sie mit einem kleinen Lächeln. Sie spornte ihr Reittier an und ritt weiter, um ihren Freunden zu helfen, ihre Stadt wieder aufzubauen. Es gab viel zu tun.

Epilog

Einmal mehr lasse ich mein Heim zurück und reite in eine unsichere Zukunft. Aber diesmal ist es ganz und gar anders. Ich kehre zu allem zurück, das ich gekannt habe, anstatt davor zu fliehen. Ich werde den inneren und äußeren Dämonen entgegentreten und sie durch die Gnade der Valar besiegen. Auch dem Flüstern und dem wissenden Grinsen der Gondorhim werde ich entgegen treten, und für mich ist dies abschreckender als ein Heer von Jägern. Aber wie die Bestien wird es mich verfolgen, bis ich ihm ins Auge sehe.

Ich fühle ein ständiges Ziehen in meinem Herzen, an dem hellen Ort in meiner Seele, an dem jetzt Legolas lebt. Ich stelle mir vor, dass ich sein Lächeln spüren kann, während sich seine Gedanken mir zuwenden, selbst über zweihundert Meilen hinweg.

Die Tage sind kühler geworden und der Herbstmond hängt hell und voll am Nachthimmel. Wie ein Sommervogel bin ich von den rastlosen, instinktiven Sinn dafür erfüllt, dass es Zeit ist, zu gehen. Aber ich werde nicht allein reisen. Gimli, Sohn des Gloin ist zurück geblieben, als Aragorn und Legolas gingen, vorgeblich, um den Rhunballani beim Wiederaufbau zu helfen. Er hat sich als unschätzbar erwiesen, während er die Wiedererrichtung von Gebäuden beaufsichtigte, die zu beenden ohne seine Fähigkeiten dreimal so lange gedauert hätte. Aber ich glaube, dass er in Wahrheit auf Legolas’ Bitte hin geblieben ist, um mir Mut zu machen. Wenn das sein Auftrag war, dann hat er Erfolg gehabt, denn sein warmer, guter Witz und seine stetige Gegenwart sind ein dauernder Trost für mich gewesen, und auch für Fallah.

Fallah wird morgen mit uns kommen. Zuerst sagte sie mir, dass sie Aragorn gebeten habe, in den Häusern der Heilung in Minas Tirith studieren zu dürfen, und dass er es gestattet habe... obwohl ich denke, dass sie in Wahrheit nur das lernen möchte, was Aragorn sie lehren kann. Ich stelle mir vor, dass sie den Heilern von Gondor ein zwei Kniffe zeigen wird, die sie noch nie zuvor gesehen haben. Oder, wie Gimli es ausdrückte: „Denen werden vor Angst die Haare zu Berge stehen!“ Sie wird alles lernen, was sie kann und zum Ausgleich neues Wissen zurück geben. Aber sie hat mir erzählt, dass sie noch andere Gründe hat, fort zu gehen. Fallah hat ihren Eid Herrn Hurin gegenüber nicht vergessen, und sie sagt, sie wird dem Volk von Minas Tirith dienen, bis sie so viele Leben gerettet hat wie ihre Raketen bei der Katastrophe am Südpass genommen haben.

„Rhunballa,“ meinte sie letzte Nacht zu mir, ist für mich zur Geisterstadt geworden, auch wenn alle Monster erschlagen sind. Wohin ich mich auch wende, sehe ich ein Gespenst. Meine Familie ist dahin, Éowyn, und zu viele von meinen Freunden. Ich muss dieses Land verlassen, wenigstens für eine Weile, oder vor Trauer sterben.“

Und dafür habe ich keinen anderen Trost zu bieten als den meiner Freundschaft. Manche Wunden heilt nur die Zeit und die Entfernung - ich weiß das besser als die Meisten. Wir drei werden zusammen reisen. Oder vielleicht sollte ich sagen: wir vier. Ich bin nicht sicher.

Letzte Nacht habe ich noch spät mit meinen Freunden zusammen gesessen. Ich trank reichlich Wein, etwas, was ich kaum einmal tue. Suni sprach von der neuen Abneigung ihres ältesten Sohnes gegen das Wort „Prinz“. Es hat dafür gesorgt, dass die Mütter von manchen seiner rauen und wilden Spielgefährten es ihren Söhnen verboten haben, sich mit Aram zu raufen, aus Angst, dass sie dem Thronerben einen Kratzer oder eine Beule zufügen.

Shaeri war nur unter der Bedingung damit einverstanden, Moussahs Erste Frau zu werden, dass sie in Rhunballa bleibt. Sie wird nicht nach Harad gehen, und das wird die Rettung ihrer Ehe sein, denke ich. Sie vollzogen ihre Verbindung öffentlich nach einem lauten, trunkenen Fest, während dem Harads neuer Herrscher mir ziemlich beschwipst mitteilte, dass er und Aragorn stillschweigend übereingekommen wären, dass keiner von beiden Rhunballa beanspruchen wird. Es würde, mit Sunis Erlaubnis, zu neutralem Boden werden, um Staatsangelegenheiten zwischen Gondor und Harad zu besprechen, wenn Verhandlungen mit der Schwertspitze nicht in Frage kämen.

„Immerhin ist es ein ,herrenloses' Land**“, sagte Moussah mit vollkommen ernstem Gesicht.

Zwar fiel mir nicht das Kinn herunter, aber es war knapp. Der Shah von Vorder- und Hinter-Harad, Herr der Diener von Mordor, Hoher Priester des Ordens von Morgoth, hatte nicht bloß einen Witz gerissen. Er hatte gerade ein sehr, sehr übles Wortspiel gemacht. Ich werde nie wieder behaupten, dass irgend etwas unmöglich ist.

Als die Unterhaltung erstarb, lehnte ich mich neben dem Feuer im Gemeinschaftsraum der Königlichen Wache zurück und träumte. Oder jedenfalls denke ich, dass ich geträumt habe. Ich bin nicht sicher.

In meinem Traum saß Morsul neben mir und bediente sich mit dem Rest des Weines aus dem roten Beeren. Er sah solide und wirklich aus, den durchscheinenden Schatten ganz unähnlich, die die Menschen in Geistergeschichten immer beschreiben. Aber als ich mich aufsetzte und ihm dabei zusah, wie er langsam und genussvoll an dem Wein nippte, beleuchtete ihn das Feuer auf eine Weise, dass ich sehen konnte, dass er keinen Schatten warf.

Er war wieder ein Elb. Selbst tot noch schimmerte er in dem schwachen Licht. Sein kohlschwarzes Haar war aus seiner Stirn zurückgenommen und zu einem einzelnen Kriegerzopf gebunden, der ihm über den Rücken hinab fiel. Er nahm noch einen braunen Tonbecher von der Feuerstelle und goss den letzten Wein aus dem Krug hinein. Dann wandte er sich zurück und schenkte mir ein verruchtes Lächeln.

„Man hat mich kurz und bündig aus Mandos’ Hallen gejagt,“ sagte er. Er reichte mir den Weinbecher und ich nahm ihn; ich fragte mich, wie ein Schatten es überhaupt fertig bringen mochte, einen festen Gegenstand hoch zu heben. „Anscheinend hat Er schon seit einiger Zeit keinen Umgang mehr mit einer Seele gehabt, die so befleckt ist wie die meine.“

„Wie konnte der Gott des Todes eine tote Seele hinauswerfen?“ fragte ich leise, „Besonders eine, die am Ende Erlösung gesucht hat?“

„Er hatte keinen Elb mehr gesehen, der sich willentlich der Finsternis überließ, seit Maeglin von Gondolin seine Türschwelle verdunkelte,“ murmelte Morsul. „Ich bin ungeeignet zum Dienst. Ich bin ungeeignet, um wiedergeboren zu werden. Und doch, um meiner Reue willen, bin ich ebenfalls ungeeignet, in die Äußere Dunkelheit hinaus gestoßen zu werden. Sein Urteil war, dass ich unbehaust nach Arda zurückkehren soll, um mit dem Hass und dem Zorn Frieden zu machen, die noch immer meine Seele verfinstern. Und um Buße zu tun für Jahrtausende an Mord und Gräueltaten. Ich bin hier, um dir und dem Urenkel meines Herrn Dior in eurem Kampf gegen den Sturmbringer zu helfen.“

„Den Sturmbringer,“ wiederholte ich und erschauerte. Und plötzlich traf mich die volle Bedeutung seiner Worte wie ein Schlag. „Du bist hier, um – nein! NEIN! Du wirst mich nicht---“ ich suchte nach einem freundlicheren Wort, aber ich konnte keines finden, „--- du wirst mich nicht heimsuchen! Das werde ich nicht zulassen!“

Aber er lachte nur. Das Geräusch hallte merkwürdig in meinem Kopf wieder, wie in den Gängen einer riesigen Höhle. „Ist das die Art, mit einem Krieger zu sprechen, der für dich edelmütig sein Leben geopfert hat?“

„Du warst bereits tot!“ Jetzt schrie ich beinahe. Es war eine Sache, sich voller Mitleid an ihn zu erinnern und traurig um all das zu seufzen, was er verloren hatte, und was durch Simiashas Übel ruiniert worden war. Es war schwieriger, freundlich an ihn zu denken und sein tragisches Schicksal zu betrauern, während er grinsend vor mir saß, irgendwie gleichzeitig solide und unwirklich.

„Schau nicht so finster drein, Geliebte!“ sagte er und beobachtete belustigt, wie ich mit den Zähnen knirschte. „Wir befinden uns auf einem großen Abenteuer, du und ich! Ich werde dich beschützen und für immer über dich wachen. Das habe ich seit dem Augenblick getan, als du Thuringwethil erschlagen hast.“ Er lächelte liebevoll und sah mit dunklem Mutwillen in seinen Silberaugen zu, wie mein Gesicht so rot anlief wie eine blühende Rose.

„Du...“ zischte ich in äußerstem Entsetzen. „Du bist ohne Unterlass an meiner Seite gewesen seit---“

„Ja, in der Tat,“ sagte er listig. Er runzelte gedankenvoll die Stirn. „Ich dachte, dass ihr Euch ziemlich bewunderungswürdig geschlagen habt, du und dein Legolas, selbst ohne die Hilfe des Malmaenas in---“ Ich stieß eine unverständliche Verwünschung aus und warf meinen Weinbecher nach ihm. Er ging durch ihn hindurch und zerschellte an der Feuerstelle.

Dann verblasste seine Belustigung, als wäre sie von einem plötzlichen Wind fort geblasen worden. Er betrachtete mich so nüchtern und so ernst wie ein Henker, streckte die Hand aus und ergriff die meine. Sein Fleisch war jetzt fest, weder warm noch kalt. Ich erstarrte, zu erschrocken, um irgendwie zu reagieren.

„Höre mich,“ sagte er feierlich. „Mein wahrer Name ist Laersul, Sohn des Olwe. Ich werde dir und Elureds Enkel dienen bis ans Ende meiner Kraft und darüber hinaus. Du musst nur meinen Namen rufen, Liebste, und ich werde kommen.“

Und er war verschwunden.

Ich erwachte kurz vor der Dämmerung, belustigt über den eigenartigen Weg, den meine Träume genommen hatten. Als ich im Dunkeln nach meinen Stiefeln suchte, stach ich mir den Finger an einer scharfen Tonscherbe. Der Becher, den ich nach Morsul geschleudert hatte, lag in zerbrochenen Stücken um den Rand der Feuerstelle verstreut.

Ich habe entschieden, nicht an die Möglichkeit göttlich gestatteter Heimsuchungen zu glauben, es sei denn, Morsul – oder Laersul – zeigt sich mir selbst bei Tageslicht. Wenn ich es tue, könnte es sein, dass ich nie wieder bade, als Angst vor den wachsamen, lachenden Augen eines geisterhaften, elbischen Zuschauers.

Die Dämmerung ist vorüber. Windfola ist gesattelt und die Maultierstuten sind mit allem beladen, was wir nach Gondor mitnehmen wollen. Ich habe denen Lebwohl gesagt, die ich liebe. Ich höre sogar jetzt noch, wie Meister Gimli Fallah fragt, ob sich irgend etwas in ihren Taschen befindet, „das uns in die Luft jagt, wenn man es heute Nacht dicht ans Feuer legt.“

Es ist Zeit zu gehen. ich werde dieser neuen Gefahr und dem edlen Volk von Gondor mit so viel Mut ins Auge sehen, wie ich aufbringen kann, obwohl ich lieber einem Heer von schwertschwingenden Feinden gegenüber träte als einem einzigen, kichernden Hofschranzen. Ich werde meinem Geliebten in jeder Weise gegen diese unbekannte Bedrohung helfen, die seine Bürde zu sein scheint. Ich werde alles in meiner Macht stehende tun, um meinen König und sein Reich vor dem neuen Widersacher zu beschützen. Ich werde von Legolas träumen und mich dem Mittwinter-Abend entgegen sehnen wie eine seufzende, liebeskranke Jungfer. Mein Körper ist noch von der Finsternis befleckt, aber mein Herz ist wieder heil und ganz. Ich werde vorwärts gehen, nicht ohne Angst, aber ungebeugt von Furcht, um allem, was die Zukunft bereithält, zu begegnen.

ENDE

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*Harwen - Frau des Südens

** fast unübersetzbares Wortspiel. Im Englischen heißt es „no man's land", und das deutsche Wort „Niemandsland" funktioniert nicht ganz. Meine persönliche Lösung verdanke ich meinem Mann. *handkuss*

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Irgendwann 2003 beendete erin lasgalen „Der Preis der Freiheit“ und kündigte eine Fortsetzung an, auf die sich die zweite Hälfte des letzten Kapitels bereits bezieht. Sie meinte, dass es eine Weile dauern könnte; bisher ist leider noch nichts passiert. Sollte „Ritter von Gondor“ (Knight of Gondor) doch noch geschrieben werden, dann werde ich auch diese Geschichte selbstverständlich übersetzen - versprochen!


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