Der Ork der Königin (The Queen's Orc)
von jodancingtree, übersetzt von Cúthalion


Kapitel Vierunddreißig
Der Weg ins Auenland

Sie verließen Bruchtal zwei oder drei Tage später. Dartha vergoss ein paar Tränen, umarmte Malawen und flüsterte ihr ins Ohr: „Zwing ihn nicht, sich zwischen dir und dem Westen zu entscheiden, Liebchen. Du wirst ihn in Stücke reißen.“

Malawen zog sich mit einem Ruck aus den Armen der Köchin zurück und wollte ihren Augen nicht begegnen.

Für den Ork hatte Dartha wenige Abschiedsworte, doch sie sah ihn lange Zeit an und nickte endlich leicht, aber entschieden. „Celeborn hat Recht; du bist Valinors würdig.“ Sie küsste ihn leicht auf die Stirn. „Eine sichere Reise für dich und deine Kleine, und triff uns an den Anfurten,“ sagte sie.

Er antwortete nicht; er hob nur seine Hand zum Abschied.

Sie sahen niemand anderen, während sie aufbrachen, denn es war sehr früh. Nebel hing schwer über dem Tal und verhüllte es, doch als sie die Hügel hinauf stiegen, die es umgaben, brach die Sonne durch und verwandelte die Tropfen auf Gras und Bäumen in funkelnde Diamanten.

Malawen lachte und erhob ihre Arme zu einem Gruß an die Sonne. „Willkommen in der Welt!“ rief sie. „Elronds Haus ist gut genug, aber es klingt wider von den Liedern und Geschichten aus tausend Jahren. Ich möchte lieber die offene Straße haben, und die Sonne auf unseren Schultern – wir werden unsere eigene Musik machen!“

Der Ork war dahin getrottet, das Kinn auf die Brust gesunken, und sie trat dicht an ihn heran, um ihm neckend ins Gesicht zu spähen; sie hoffte, dass sie seine Stimmung aufhellen konnte. Darthas Warnung machte ihr Sorgen. Er muss sich nicht entscheiden, dachte sie rebellisch. Er ist frei, ohne mich zu gehen! Doch sie wusste, dass er nicht gehen würde, und ihr Gewissen war nicht beruhigt.

Canohando lächelte auf sie hinunter.

„Sing für mich, Elbchen,“ sagte er. Er zog seine Trommel um sich herum nach vorne und nahm den Rhythmus ihrer Schritte damit auf. Im Gegentakt schnalzte er mit der Zunge, bückte sich rasch und hob einen schlanken Stock vom Boden auf. Er schlug damit seitlich auf die Trommel, als Kontrapunkt zum Klopfen seiner Finger.

Malawens Stimme erfüllte den stillen Morgen.

Gib mir den Weg und gib mir die Luft, im Haar den Wind aus dem Westen
Die Trommel schlägt laut zu meinem Tanz, so gefällt es mir am besten
Frei zu kommen und frei zu geh'n, lauf ich langsam oder schnell
Sprech' mir niemals jemand von falschen Wegen, der Horizont ist hell
Weit ist die Wildnis, weit das Himmelszelt
So, wie es mir und meinem Melethron gefällt!

Sie schlug sich mit den Händen gegen die Schenkel, während sie lief und bewegte sich mit dem Rhythmus des Liedes, und Canohando fing wieder mit der Strophe an. Gib mir den Weg und gib mir die Luft ---

Sie machten sich auf den Weg die Hügel hinunter, fort von Bruchtal und auf den Fluss zu, wo Frodo vor langer Zeit angehalten und sich umgedreht hatte, um den Reitern entgegen zu treten, die ihn verfolgten. Doch keine finstere Bedrohung erwartete sie an der Furt. Die Sonne stand riesig und golden am westlichen Himmel, als sie das Wasser erreichten und hindurch auf die andere Seite plantschten; sie hielten sich an den Händen, um sich im schlüpfrigen Flussbett gegenseitig zu stützen.

Während der Abend herein brach, fing Canohando an, prüfend die Bäume zu betrachten, an denen sie vorüber kamen, auf der Suche nach einem Platz, wo sie ihre Hängematten festmachen konnten.

„Wir sind nicht mehr in Bruchtal,“ sagte er, als Malawen protestierte, dass sie lieber auf dem Boden schliefe. „Die Wildnis ist nicht nur frei für mich und für dich, Melethril, sondern auch für die, die uns nichts Gutes wünschen. Erinnere dich an Itaril.“

„Ein ausgezeichneter Rat, und das ist der Grund, weshalb ich mit euch reisen werde, wenigstens bis zur Grenze des Auenlandes.“

Sie wirbelten herum, und Canohandos Hand flog augenblicklich zu seinem Bogen, bevor er erkannte, wer hinter ihnen her kam.

„Radagast!“ Malawen war sich nicht sicher, ob sie erfreut war oder nicht. Der Zauberer war ihnen ein Freund gewesen, aber sie war mit Canohando allein am glücklichsten.

Er schien ihren inneren Widerspruch zu spüren. „Ich würde euch zwei Turteltauben meine Gesellschaft nicht aufdrängen,“ sagte er, „abgesehen davon, dass auch ich mich an Itaril erinnere. Ich habe gesehen, wie er nach Eryn Lasgalen aufbrach, aber ich hatte nicht genügend Zeit übrig, um ihn den ganzen Weg zu eskortieren, und er mag sich seitwärts gewandt haben, nachdem er mich verließ. Ich hoffe, er wird wieder zum Elb werden, aber gegenwärtig ist er ein Wiesel.“

Canohandos Gesichtsausdruck war undurchdringlich. „Du hast mich in Fesseln wiedergesehen, an ein Pferd gebunden, und jetzt denkst du, dass ich mich und meine Gefährtin nicht verteidigen kann.“

„Nein,“ sagte Radagast. „Ich weiß, dass du es kannst, wenn du nicht gerade von einem Trupp Bogenschützen überrascht wirst. Doch ich traue diesem Spross von Düsterwald nicht, und es täte mir Leid, wenn du gezwungen wärst, Itaril zu töten, nachdem du ihm Gnade erwiesen hast: es ist bitter, wenn einem ein Geschenk zurück ins Gesicht geschleudert wird! Allerdings ist er jetzt allein, und ich bezweifle, dass er den Zweikampf mit dir wagt. Viel eher könnte er – falls er gehört hat, dass du auf dem Weg ins Auenland warst – dir voraus eilen zu den Menschen, die dieses Land bewachen, um sie zu davon zu überzeugen, dass Arwens Nachricht, die du bei die trägst, eine Fälschung ist. In diesem Fall wäre ich gerne zur Hand, um für dich zu sprechen.“

Der Ork öffnete seine Fäuste, und Malawen nahm ihn bei der Hand.

„Wagen wir es, auf dem Boden zu schlafen, nachdem du jetzt bei uns bist?“ fragte sie, und Radagast blickte belustigt drein.

„Frag deinen Gefährten, Sonnenschein. Ich bin nicht hier, um euren Streit zu schlichten.“

Doch Canohando dachte an Mordor zurück, als er den Zauberer zuerst kennen gelernt hatte. Als er selbst brutal und rasch bereit gewesen war zum Töten – doch gegen den Braunen hatte er die Hand nicht erhoben. Ich hätte es nicht gewagt, begriff er, und er grinste reumütig. „Wir schlafen auf festem Boden, Melethril, nachdem es dir soviel ausmacht,“ sagte er.

Sie reisten viele Tage auf angenehme Weise. Malawen sang, während sie wanderten, oder sie tanzte ihnen voran. Sie hatte das mürrische Wesen verloren, das sie seit Lothlórien an sich trug, und sie flatterte hell und rasch wie ein Schmetterling vor ihnen her. Canohando schlug die Trommel für sie, doch manchmal, wenn er fand, dass sie sich zu weit von ihnen fort wagte, rannte er hinter ihr her, hob sie hoch und trug sie über seiner Schulter zurück, während sie lachte und nach ihm trat.

„Bleib bei uns, Elbchen. Das hier ist nicht Bruchtal.“

Doch er sprach wenig, und Radagast beobachtete ihn genau; er versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, ob er immer schon so schweigsam gewesen war. Da war etwas Flaches in den Augen des Orks, das dem Zauberer Sorgen machte; er erinnerte sich an seine strahlende Freude, als Celeborn ihm die Überfahrt in den Westen anbot.

Eines Abends sagte Canohando: „Morgen gehe ich auf die Jagd. Bleib in der Nähe des alten Mannes, Elbchen, und am Abend bin ich wieder bei euch.“

„Wieso?“ rief sie aus. „Radagast hat Essen für uns in seinem Beutel, und wir haben außerdem unsere Lembas. Warum hast du es nötig, zu jagen?“

Canohando starrte hinaus in die Dunkelheit jenseits des Ringes aus Feuerschein. „Jagen ist das, was Orks tun, Melethril. Und wir werden nicht immer den Beutel des alten Mannes haben, und Lembas auch nicht. Ich darf meine Geschicklichkeit nicht verlieren.“

Am nächsten Tag führte Radagast, während sie wanderten, ein ernstes Gespräch mit Malawen, und die, die ihn kannten, wären verblüfft gewesen über seine Strenge. Doch sie wollte sich seinen Argumenten nicht fügen, obwohl sie am Ende in Tränen aufgelöst war. Sie saß weinend auf dem Boden, die Hände vor dem Gesicht, aber er war unerbittlich.

„Es wird noch mehr Tränen geben, später, wenn es zu spät ist. Von Valinor willst du nichts wissen, aber welches Land wird euch willkommen heißen? Du verdammst deinen Gefährten, und deine Kinder – wenn du sie hast – zu einem Leben von Vagabunden.“

Sie blickte aus geröteten Augen zu ihm auf. „Canohando mag die Wildnis. Und vielleicht haben wir ja keine Kinder.“

Radagast schnaubte. „Oh, ihr werdet sie haben! Hast du nie davon gehört, wie Orks sich vermehren? Doch wie willst du ihnen eine Mutter sein? Kannst du eine Stunde lang von dem lassen, was du begehrst, um an jemand anderen zu denken? Von allen Orks, die je geboren wurden, ist nur Canohando allein die Zuflucht in Valinor angeboten worden. Und er wird sie zurückweisen, um bei dir zu bleiben! Ich denke, wenn du das zulässt, wirst du tatsächlich Grund haben, dich zu schämen!“

„Dann soll ich ihn verlassen? Ist es das, was du willst?“

Der Zauberer kauerte sich hin und packte sie an beiden Handgelenken. „Liebst du ihn, Malawen? Du nennst ihn Geliebter, aber was bedeutet das für dich?“

Sie fühlte sich aufgespießt von den Augen des Zauberers, dunkel und alt wie eine Nacht ohne Sterne. „In Valinor würde ich sterben,“ flüsterte sie.

„Dann stirb, und werde neu geboren. Und doch ist alles, was dort sterben wird, dein Stolz.“

„Ich kann ihn nicht verlassen. Ich liebe ihn wirklich.“

„Habe ich dich gebeten, ihn zu verlassen? Segel gemeinsam mit ihm!“

Sie sprang auf und flüchtete; Hals über Kopf rannte sie die Straße hinunter, doch bei der ersten Öffnung zwischen den Bäumen schlug sie einen Haken in die Wälder, ohne auf die Dornen und die niedrigen Zweige zu achten, in denen sie sich verfing wie in kratzenden Krallen. Sie stolperte durch das Dickicht und kam so plötzlich am Rand eines kleinen Flusses heraus, das sie stolperte und hinein fiel. Er war flach und sie tat sich nicht weh, aber als sie sich wieder auf die Beine mühte, schmutzig und nass, da sorgte eine Stimme vom anderen Ufer dafür, dass ihr beinahe das Herz stehen blieb.

„Ist jemand hinter dir her, Herrin? Hier, nimm meine Hand.“ Der Besitzer der Stimme platschte in den Fluss, um sie zu stützen, und sie gaffte ihn verblüfft an, selbst dann noch, als sie sich von ihm aus dem Wasser helfen ließ.

Er reichte ihr kaum bis zur Schulter, aber er war ein kräftig aussehender Bursche, und der Arm, mit dem er sie hielt, war unter einem aufgerollten Ärmel muskulös und gebräunt. Er sah mit einem Lächeln zu, während sie versuchte, sich zu säubern, während sie ihr Kleid auswrang und sich mit den Fingern durch das Haar fuhr; sie kämmte Blätterstückchen und Zweige heraus, die sich darin verfangen hatten.

„ Dann müssen wir also nicht weglaufen?“ fragte er. „Keine Trolle oder Orks oder sowas, die dir auf den Fersen sind?“

Er war eine so einnehmende, kleine Person, dass sie unwillkürlich lächelte. „Keine Trolle,“ versicherte sie ihm, „aber da ist ein Ork – nein,“ fügte sie hastig hinzu, als die Furcht in seine Augen sprang. „Hab keine Angst; er ist mein Gefährte, er wird dir kein Leid antun! Er ist auf der Jagd, nicht weit von hier, hoffe ich.“

Er betrachtete sie mit offener Neugier von oben bis unten. „Du hast einen Ork als Mann? Aber du bist doch eine Elbin, oder nicht? Immerhin habe ich noch nie irgendwelche Elben gesehen, und Orks auch nicht, dem Himmel sei Dank! Aber du siehst aus wie die Elben in den Geschichten.“

„Ist das so? Das hätte ich nicht gedacht. Doch von welcher Art bist denn du? Und was tust du hier, ganz allein in der Wildnis?“

Er richtete sich stolz auf. „Ich bin ein Hobbit aus dem Auenland, Herrin, und ich bin nicht allein. Meine Freunde schlagen dahinten unser Lager auf,“ er nickte über seine Schulter, „und ich bin gekommen, um Wasser zu holen, für unseren Tee.“ Mit diesen Worten hob er einen Zinneimer vom Boden auf und tauchte ihn in den Fluss.

„Die werden sich wundern, wo ich abgeblieben bin,“ sagte er. „Willst du nicht mitkommen und sie kennen lernen, und ein bisschen was essen? Die werden mir nie glauben, dass ich einen Elb getroffen habe, wenn sie es nicht selber sehen.“

Malawen stellte fest, dass sie gluckste – anscheinend war die entspannte, gute Laune des Hobbits ansteckend. „Ich denke, Canohando wird mich schon finden; er wird sowieso neugierig sein, wer da ein Feuer in den Wäldern macht. Ja, ich komme mit.“

Doch der Hobbit drehte sich so jäh um, dass das Wasser ihm aus seinem Eimer über die Füße schwappte.

„Canohando?“ wiederholte er. Seine Augen waren rund vor Staunen. „Canohando, der Ork?“


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