Der Ork der Königin (The Queen's Orc)
von jodancingtree, übersetzt von Cúthalion


Kapitel Dreiunddreißig
Unsicherheit

„Was wirst du tun, wenn sie nicht gehen will?“

Die Frage blieb Canohando in den Ohren hängen, und er schüttelte den Kopf, als könnte er sie verscheuchen wie ein lästiges Insekt. Einer seiner Zöpfe peitschte ihm über das Gesicht.

Sie werden zu lang, dachte er. Ein Feind könnte mich am Haar packen und festhalten. Noch im Gehen zog er sein Messer und hackte die ärgerliche Flechte ab. Er tastete nach den anderen und verfuhr damit auf die selbe Weise, dann steckte er die abgeschnittenen Zöpfe in seinen Gürtel. Ich verbrenne sie später. Selbst In Bruchtal will ich sie nicht zurücklassen, damit sie irgend jemand findet und irgend ein Übel gegen mich wirkt.

Selbst in Bruchtal. Wo in Bruchtal? Celeborn hatte seine Ansprache kaum beendet, als Malawen aufsprang und flüchtete. Ihr kleines, ersticktes Quietschen, wie der Todesschrei eines kleinen Tieres, stak dem Ork im Gedächtnis, gemeinsam mit der Frage des Zauberers. Wenn ich sie nicht finde, dann wird mich dieser Schrei zu Fall bringen, wie eine Pfeilspitze mit Widerhaken, die innerlich wirkt...

Erneut explodierte der strahlende Jubel in seinem Geist: Ich bin nach Valinor gerufen worden! Er lachte leise. Was wird der Bruder der Königin sagen? Und die Valar: mit meinen eigenen Augen soll ich sie sehen... Das war kein Gedanke, zum Lachen geeignet; es war furchterregend. Eine reine Furcht, ein reinigendes Feuer: auch wenn sie mich schmelzen wie Eisen, es wäre gesegnete Schmiedearbeit.

Und wenn sie nicht gehen will? Er schauderte. Die Sonne war untergegangen, und unter den Bäumen war es kalt. Er war ihr nicht sofort gefolgt; er hatte gedacht, sie würde in der Nähe sein, zusammen gekauert und in Tränen; er hatte sich die Zeit genommen, von Celeborn zu erfahren, wann genau er vorhatte zu segeln, und wie die Anfurten zu finden waren.

„Ich muss ins Auenland gehen,“ hatte er gesagt. „Ich habe es der Herrin versprochen, und ich werde diese Küsten sowieso nicht verlassen, ehe ich das Land meines Bruders nicht gesehen habe. Dann...“ Er hatte den Satz nicht beendet, aber er dachte, dass sein Gesicht für ihn sprach. Er hatte sich gefühlt, als könnte er über die Baumwipfel hinweg springen und die schneebedeckten Berggipfel entlang rennen, rascher als die Sonne, ein lebendiges Freudenfeuer.

Doch jetzt war ihm kalt. Nachdem er eine Weile gesucht und sie nicht gefunden hatte, war er in Elronds Refugium zurück gekehrt, um ihre Fährte wieder aufzunehmen, aber sie war so leichtfüßig wie eine Motte und hinterließ nur wenige Anzeichen ihrer Anwesenheit.

Ich habe das Können verloren, das ich mal hatte, dachte er. Ich wünschte, ich hätte Lash hier, um mir zu helfen; er konnte eine Ameise über einen Felsgrat hinweg aufspüren. Er machte weiter, während das Licht nachließ, fast bis zu seinen Füßen hinunter gebeugt, und suchte nach irgend einer Spur von ihr. Elbchen, versteck dich nicht vor mir, flehte er im Stillen. Selbst das Strahlende Land wäre eine Wüste ohne dich.

„Wenn du dein Gesicht noch dichter an den Boden hältst, dann schrammst du dir die Stirn auf,“ sagte eine Stimme hinter ihm. Er wirbelte herum, und da war sie, auf einem Ast über seinem Kopf zusammen gekauert.

„Elbchen - !“ Ehe er sich in den Baum hinauf schwingen konnte, hatte sie sich daraus hinab geworfen, hinein in seine Arme. Ihr Sprung erwischte ihn unvorbereitet und er stolperte; er wahrte kaum das Gleichgewicht, doch er ließ sie nicht aus seinem Griff.

„Melethril...“ Er setzte sich vorsichtig hin, zitternd wie im Fieber, und zog sie auf seinen Schoß. „Elbchen, lauf nicht vor mir davon, was immer dir auch Kummer macht. Als ich dich nicht finden konnte...“ Er ließ seine Hände über ihre Arme und Schultern gleiten und küsste sie auf Augen und Stirn, bevor er ihren Mund erreichte.

„Was hast du mit deinem Haar gemacht?“ sagte sie, als sie sprechen konnte. Dann fügte sie ohne Pause bitter hinzu: „Wieso bist du hinter mir her gekommen? Du wirst fortgehen, nach Valinor, mit all diesen Großen.“

Sein Herz was ein Klumpen aus Stein, und zweimal so groß, wie es sein sollte. „Wirst du nicht mit mir kommen, Elbchen? Zusammen werden wir an den weißen Ufern des Hellen Landes entlang wandern, zusammen dort leben, wo alles Frieden und Licht ist. Die ,Großen' kümmern mich nicht, Melethril, aber ich würde dieses Glück kennen, gemeinsam mit dir.“

„Ich könnte es nicht aushalten.“ Sie langte nach oben und fuhr ihm mit den Händen ins Haar; sie entwirrte die Knoten und zog die Strähnen auseinander, so dass sie sich eng um ihre Finger legten. „Es ist lockig – das habe ich nicht gewusst. Du siehst, wie sie mich anschauen, Melethron, sie alle hier. Es waren nicht nur die dunklen Elben von Eryn Lasgalen. Selbst Galadriel, als sie wusste, was ich getan hatte - “

„Celeborn nennt dich Sonnenschein, und er singt, während du tanzt,“ unterbrach sie der Ork.

„In Valinor würde ich nicht tanzen. Ich würde mich unter eine Stein verstecken! Es wäre besser gewesen, wenn diese Räuber mich umgebracht hätten, anstatt mich schwanger und verkrüppelt zurück zu lassen – jetzt bin ich selbst ein halber Ork! Du hast selbst gesagt, dass ich getan habe, was Orkmütter tun.“

Er beugte seinen Kopf ihren forschenden Fingern entgegen, die noch immer mit seinem Haar spielten; er küsste die weiße Schulter, wo ihr Kleidungsstück verrutscht war und legte die Arme fester um sie. Sie rang nach Luft, und er lockerte hastig seinen Griff.

„Elbchen, das ist Wahnwitz. Du hast eine böse Tat getan, nur diese eine, weil du mehr gelitten hast, als du ertragen konntest. Und dieses Baby, das du ertränkt hast...“ Er rang darum, seine Stimme zu kontrollieren; sogar damals, als sie die Geschichte erzählt hatte, hatte er den Tod des Kindes in seinem eigenen Leib gespürt – das Wasser, das schwarz und kalt in Lungen strömte, denen die Luft geraubt worden war.

"Du hast es nicht als Gnade gemeint, aber vielleicht war es eine. Wenn er unter Elben aufgewachsen wäre, verhasst für das, was er war, verabscheut für seine graue Haut...“ In Valinor werden wir unter Elben leben, dachte er plötzlich. Werden wir dort Kinder haben?

„Es war keine Gnade; ich habe meine Schmach verborgen. Es war Mord, und er war mein Baby - “

Er zog sie dichter an sich. „Also schön, es war Mord. Aber ich habe das Gleiche getan, zahllose Male, angefangen mit meinem Bruder! Du trägst eine kleine Narbe, Elbchen, aber mein halber Leib ist von Peitsche und Feuer mit Narben gezeichnet, und in unseren Herzen ist es das selbe; wir beide kennen den Schatten, aber du hast seine Berührung gespürt, nicht mehr als das, und ich habe ihn in mir getragen. Erst, als mein Kümmerling mit beistand, war ich imstande, ihn auszutreiben, und selbst jetzt wage ich es noch nicht, in meiner Wachsamkeit nachzulassen, damit er sich nicht wieder an mich hängt. Wenn sie Valinor für mich auftun, wieviel mehr noch für dich, die dafür geboren wurde! Für mich ist es ein unschätzbares Geschenk, aber dir steht es rechtmäßig zu.“

Sie seufzte und lehnte sich in seine Arme zurück. „Du bist ihnen ein Trost, sie sehen einen Ork, der heimkehrt. Ich bin eine Schande. Ich bin durch mein eigenes Zutun gefallen, nicht durch irgendetwas, das der Dunkle Herrscher tat. Ich wäre nicht gefangen genommen worden... nur wollte ich nicht gehorchen. Wir waren sicher in Caras Galadhon, und ich bin davon geschlüpft, um ein Kleinod zu finden, das ich fallen gelassen hatte, als wir von zu Hause flohen...“

„Was war es denn?“

Sie zuckte ungeduldig die Achseln. „Ein kleines Schmuckstück, es hat nichts zu bedeuten. Ich habe es nie gefunden, aber sie fanden mich, diese Orks, und mein Vater starb bei meiner Rettung, und er war nicht allein. Wir verloren vier starke Krieger, um einen undankbaren Kobold zurück zu bringen, der ein Monster in seinem Bauch trug.“

Plötzlich hielt sie inne und schlang ihre Arme fest um seine Mitte. „Es tut mir Leid, Liebster! Aber das ist, wie ich es sah, und es gab die, die mir sagten, dass ich Recht hätte. Meine schlimme Eitelkeit kostete vier Leben. Danach hatte ich keinen Grund mehr, eitel zu sein, vernarbt und verkrüppelt, wie ich war. Und sie waren froh, mein Kind los zu sein, und trotzdem entsetzt darüber, was ich getan hatte.“

Canohando sagte nichts.

„Und jetzt füge ich allem noch hinzu, dass dir die Überfahrt in den Westen gewährt wird, und dass ich dich allein gehen lasse,“ sagte sie, und er stöhnte.

„Wie kann ich ohne dich segeln, Elbchen? Celeborn hat dir einen guten Namen gegeben: du bist mein Licht.“

„Nein!“ rief sie. „Wer hätte je von einem Ork gehört, dem der Eintritt nach Valinor geschenkt wurde – das kannst du nicht aufgeben, wenn es dich so sehr danach verlangt!“

Doch er rang mit einer Frage, die er nicht laut aussprechen wollte: was würde aus ihr werden, wenn er sie zurück ließ? Der Schatten wird sie nicht ergreifen, wenn sie bei mir ist: ich werde ihn vertreiben! Nein, das war Hochmut: eine solche Macht besaß er nicht. Doch sie liebte ihn, und diese Liebe war ihr Schutz. Wenn sie allein wäre...

Verloren und zornig, wie sie es gewesen war, als er sie zuerst gesehen hatte. Selbst in Valinor würde ich bei dem Gedanken an sie trauern. Ich würde darum betteln, zurückzukehren, um sie zu trösten.

Er schob sie von seinen Knien, kam auf die Beine und zog sie mit sich hoch. „Auch wenn wir tausend Jahre heimatlos wandern, werden wir zusammen sein. Doch heute Nacht gehen wir zurück in Elronds Haus und schlafen in einem Bett, während wir eins haben. Komm, Melethril."


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