Hüterin der Juwelen (Keeper of the Jewels)
von Cúthalion


Kapitel 4:
Fallende Perlen

„Was meinst du damit: das Haus ist leer?”

Die Herrin Artanis saß in dem kleinen, schattigen Frühstücksraum; jeder einzelne Fensterladen war gegen die sengende Mittagshitze geschlossen. Ihr war gerade eine kleinen Mahlzeit aus frisch gebackenem Brot, Käse und blassen Muskattrauben aus Lebennin vorgesetzt worden. Aber die Herrin aß nicht. Sie blickte zu ihrer Amme Eilinel auf; der Blick ihrer perlgrauen Augen hatte all seine täuschende Gelassenheit verloren und war scharf wie eine gezogene Klinge.

„Genau, was ich sage, mein Lämmchen,” erwiderte die Amme geduldig. „Als ich heute Morgen zum Tor ging, um dem netten kleinen Gärtner mein Rezept zu bringen – für den Erdbeerkuchen, wenn Ihr Euch erinnert – da war niemand zu Hause. Und mehr noch… plötzlich trat eine der königlichen Wachen aus der Tür, kam herüber und fragte mich in einem sehr misstrauischen Tonfall, was ich mit den Gästen des Königs zu schaffen hätte. Ich habe keine Ahnung, wieso er das getan hat – das sind so freundliche Leute, und ich habe es doch nie böse gemeint!”

„Natürlich hast du das nicht.” Die Herrin tätschelte beruhigend Eilinels Arm. Ihr bohrender, erregter Blick war nun sorgsam hinter ihren schweren Lidern verborgen. „Du hast mir gesagt, der Ringträger sei noch immer verwundet; vielleicht haben sich seine Verletzungen ja wieder verschlimmert.”

„Aber… aber er hat gestern so gut ausgesehen!” protestierte die Amme. „Das kann ich mir nicht vorstellen…”

„Wir wissen nichts mit Sicherheit,” sagte Artanis und aß endlich ihre erste Traube. „Aber wenn du möchtest, werde ich versuchen, mehr herauszufinden, wenn ich heute Nachmittag in den Palast gehe. Und ich hätte gern etwas zu Trinken zu dem Obst. Wärst du so freundlich, mir einen Krug gekühlten Wein zu holen?”

Die Amme eilte die Treppe hinunter in Richtung Küche. Artanis pflückte eine weitere Traube, streckte sie in den Mund und schmeckte den süßen, würzigen Saft auf der Zunge. Sie war dankbar für die kurze Atempause... das war die Gelegenheit, ihre Gedanken zu ordnen und den nächsten Schritt zu überdenken. Die Tatsache, dass sämtliche Hobbits das Gästehaus verlassen hatten, gemeinsam mit der Anwesenheit der Wache, konnte nur eines bedeuten – die Entführung war gelungen und der König hatte offensichtlich entschieden, die anderen Halblinge schnellstmöglich in Sicherheit zu bringen. Nun musste sie herausfinden, ob die erste gestohlene Taube mit der Botschaft für Aragorn den königlichen Taubenschlag erreicht hatte. Und das würde wohl kaum ein Problem darstellen.

Der Taubenschlag gehörte zu ihren kostbarsten Kindheitserinnerungen; während der Zeit von ihrem sechsten bis elften Lebensjahr hatte ihre Familie hauptsächlich in Minas Tirith gelebt, und als ihre Mutter in einem Sommer plötzlich krank wurde und die Häuser der Heilung wochenlang nicht verlassen konnte, musste Eilinel den Haushalt (der zu jener Zeit weit aufwändiger war) mehr oder weniger allein führen. Maedhron war vollauf damit beschäftigt, mit dem ältesten Sohn des Truchsessen Unterricht im Schwertkampf zu nehmen, und seine kleine Schwester blieb meist sich selbst überlassen. Eines Tages verlief sie sich im fünften Kreis, und bevor sie in Panik verfallen konnte, kauerte sich ein älterer Mann mit ergrauendem, braunen Haar, freundlichen Augen und einer sanften Stimme vor ihr nieder.

„Den Weg verloren, kleines Fräulein?“ fragte er. Sie unterdrückte ein ängstliches Schniefen, klaubte die gesamte Würde ihrer acht Jahre zusammen und brachte es fertig, ihm ihren Namen und die Straße zu nennen, wo sich ihr Haus befand. Er lachte, schenkte ihr ein Stück kandierten Apfel aus der Tasche seiner Lederweste und erklärte ihr, dass er Ecthelion sei, der Aufseher des Taubenschlages. Dann nahm er sie bei der Hand und geleitete sie in sein Reich, wo sie mit den besten Brieftauben des Truchsessen bekannt gemacht wurde. Es war Liebe auf den ersten Blick; Artanis war bezaubert von den daunenweichen Federn und den sanften Stimmen dieser anmutigen Vögel und hellauf begeistert von ihrer geheimnisvollen Fähigkeit, immer den Weg nach Hause zu finden.

Von diesem Tag an wurde sie ein häufiger und hoch willkommener Gast im Taubenschlag, und selbst jetzt, da ihre Pflichten bei Hof viel von ihrer Zeit in Anspruch nahmen, besuchte sie die Vögel und den Aufseher noch immer regelmäßig. Artanis spürte einen kurzen Gewissensbiss, als sie sich daran erinnerte, wie leicht es vor einer Woche gewesen war, ihn zu hintergehen. Sie hatte ihm spät abends ein kleines Picknick mit kaltem Braten und Bier gebracht, sich eine Weile zu ihm gesetzt und sich dann hinter seinem Rücken in den dämmerigen Raum mit den Käfigen geschlichen, um fünf seiner besten Brieftauben zu stehlen. Die Tiere kannten sie und vertrauten ihr – ebenso wie Ecthelion – und sie gaben keinen Laut von sich, als sie sie in ihrem großen Korb verbarg. Eine halbe Stunde später war sie wieder zu Hause; sein unschuldiges, ahnungsloses: „Gute Nacht, mein Fräulen, und danke für Eure Freundlichkeit einem alten Mann gegenüber!“ klang ihr wie eine stille, hartnäckige Anklage in den Ohren.

Sie starrte auf ihren Teller hinunter, und die letzte Traube lag ihr bitter und scharf im Mund. Dann straffte sie den Rücken und verschloss ihren Geist einmal mehr gegen die Stimme des Gewissens.

Einfache Menschen klammern sich an kleine Einzelheiten wie die Kinder. Wir haben die Pflicht, anders zu sein.... Entscheidungen zu treffen und die Folgen durchzusetzen. Mitgefühl ist ein Luxus, den wir uns nicht leisten können.

Die Worte ihres Vaters; bei der Erinnerung zuckte sie zusammen. Manchmal erschien ihr Ardhenon von Lebennin wie ein Felsen, unbewegt und unberührt von den Elementen. Ihre Träume und Gefühle, ihre Sehnsüchte und Kümmernisse waren bereits ihr ganzes Leben an diesem Felsen zerschellt, und sie war sich der Tatsache wohl bewusst, dass der einzige Grund, der ihn seine Tochter überhaupt wahrnehmen ließ, der Verlust von Maedhron war. Während der ersten Wochen nach dem Tod ihres Bruders war die Bürde ihrer erstarrten Einsamkeit und Trauer fast mehr gewesen, als sie ertragen konnte. Als ihr Vater plötzlich damit begann, ihre Nähe zu suchen, erwachten all ihre lang begrabenen Hoffnungen zu neuem Leben.

Vielleicht hatten sie doch noch eine Chance, nach all den Jahren. Vielleicht würde der Tag kommen, an dem er lernte, sie zu lieben... auch wenn er sie im Augenblick nur als Ersatz für seinen Sohn nötig hatte.

Aber hätte Maedhron eingewilligt, bei dieser Sache als williges Werkzeug zu dienen?

Eine Hand flog hoch und wurde hastig gegen ihren Mund gepresst... als müsste sie das leise, drängende Flüstern in ihrem Inneren davon abhalten, laut zu werden. Artanis erhob sich mit weißem Gesicht von ihrem Stuhl. Es war gefährlich, zu denken und zu zweifeln, und viel zu gefährlich, die Pläne ihres Vaters in Frage zu stellen.

Als die Amme ein paar Minuten später mit einem Krug Wein zurückkam, war das Frühstückszimmer leer.

*****

Es war lächerlich einfach, an das Flugbuch von Ecthelion zu kommen. Artanis hatte ihm über die Jahre hinweg immer wieder dabei zugesehen, wie er die Namen der Brieftauben, die mit Botschaften zurück kamen, nieder schrieb, jeden Buchstaben sorgsam mit einer säuberlich gespitzten Feder gemalt. Sie wusste, dass er die Käfige zweimal täglich kontrollierte, am Mittag und noch einmal in den späten Abendstunden, bevor er nach Hause ging und sich ins Bett legte. Diese Regelmäßigkeit seiner Gewohnheiten war ein wichtiger Teil ihres Plans. Sie hatte den Männern ihres Vaters ganz genau erklärt, welchen Vogel sie zuerst schicken sollten – Schneebrust – um sicher zu stellen, dass sie genau wusste, wann der König die erste Nachricht erhielt. Den Weg dieser ersten Nachricht nachzuvollziehen würde einfach sein. Aber Artanis war sich völlig darüber im Klaren, dass die Dinge zunehmend schwieriger werden würden, sobald Aragorn begriff, dass die Entführer des Ringträgers Brieftauben benutzten, um ihre Nachrichten zu übermitteln.

Aber das tägliche Journal war eine böse Überraschung: der Name von Schneebrust war nirgends zu finden, und neben der Nummer ihres Käfigs war sie noch immer als „vermisst“ aufgeführt. Artanis konnte sich Ecthelions schiere Fassungslosigkeit bei dem Gedanken, dass jemand mit seinen geliebten Vögeln Schindluder trieb, gut vorstellen; er zog es vermutlich vor, zu hoffen, dass er irgend einen unerklärlichen Fehler gemacht hatte.

Und jetzt fragte sich Artanis, ob statt dessen die Bewacher des Ringträgers irgend einen Fehler gemacht hatten; nach einigem Nachdenken entschied sie, dass das unmöglich war. Die Diener ihres Vaters hatten viel zu viel Angst, zur Zielscheibe seines Zornes zu werden. Sie wagten es nicht, seine Befehle anders als buchstäblich zu befolgen... und in diesem Fall war sie der verlängerte Arm seines eisernen Willens. Die einzige Möglichkeit, die noch blieb, war, dass dem Vogel etwas zugestoßen war. Ecthelion verlor nur selten eine seiner Brieftauben an den Hunger von Falken oder Habichten, aber von Zeit zu Zeit kam es doch vor.

Die Herrin klappte das Buch zu und legte es zurück in die Schublade; Stimmen näherten sich von draußen, und mit wenigen, lautlosen Schritten verließ sie den Taubenschlag durch die Hintertür. Während sie langsam in den sechsten Kreis zurückkehrte, wirbelten die Gedanken in ihrem Kopf; war der vermisste Vogel ein zusätzliches Risiko für die Pläne ihres Vaters? Wahrscheinlich nicht – der König würde schlicht und einfach einen Tag später herausfinden, was für einen Preis er für die Freiheit seines Freundes zu zahlen hatte.

Nun tauchte Artanis in den Frieden und Schatten ihres Hauses ein. Sie wünschte sich, dass ihr Vater ihr mehr über seine Absichten verraten hätte; alles, was sie bisher wusste, war, dass er etwas vom neuen Herrscher von Gondor wollte, etwas Seltenes und Besonderes. Sie hatte keine Ahnung, was es war, und Ardhenon hatte sich nicht damit aufgehalten, ihr sein Geheimnis zu offenbaren. Vielleicht würde er es niemals tun.

Sie schob den unwillkommenen Gedanken beiseite und ging in ihr Schlafzimmer. Wie konnte sie mehr über die Hobbits herausfinden? Sie war sich sicher, dass Ardhenon von ihr erwartete, ihm so viele Einzelheiten wie möglich zu liefern, aber sie war ebenfalls sicher, dass der König seine übrig gebliebenen Gäste verstecken würde, um sie vor Schaden zu bewahren, jetzt, da der Kostbarste von ihnen einem geheinisvollen Verbrechen zum Opfer gefallen war.

Ihr Blick fiel auf die Truhe, wo sie die grauen Perlen für das Halsband der Königin verstaut hatte, und ihr Gesicht erhellte sich spürbar. Der König erwartete noch immer, dass sie ihm von den Fortschritten berichtete, die sie bei seinem besonderen Wunsch machte, und das verschaffte ihr die perfekte Entschuldigung, ihn aufzusuchen. Sie öffnete die Truhe und zog die Samtbeutel heraus. Es gab etwas, was sie ihm zeigen konnte... und vielleicht würde er ihr, ohne es zu wissen, im Austausch ebenfalls etwas zeigen.

*****

Artanis erreichte den königlichen Palast gerade rechtzeitig vor dem Ende der Nachmittagsaudienz. Diese Angewohnheit des neuen Königs hatte dafür gesorgt, dass am Hof manche Augenbrauen ungläubig hochgezogen wurden. Nachdem er in den Morgenstunden gearbeitet hatte – manchmal seit der Dämmerung – und sich mit seinem neu gebildeten Hof besprach, zog sich Aragorn mit seiner Königin zu einem Mittagsimbiss zurück. Danach empfing er ausländische Gesandte. All dies war nichts Ungewöhnliches; Herrn Denethors Arbeitsmethoden waren nicht wesentlich anders gewesen. Aber zweimal in der Woche war eine gänzliche neue Art der Audienz eingeführt worden. Die Leute von Minas Tirith hatten das Recht, sich an ihren König zu wenden und ihm von ihren Schwierigkeiten und Wünschen zu berichten.

Eine billige Art, sich beliebt zu machen. Der letzte Truchsess hätte das noble Erbe seines Amtes nie auf diese Weise herabgewürdigt.

Wieder die Stimme ihres Vaters, ein kaltes Flüstern in ihrem Kopf. Artanis hatte ihm oft zugehört und seine Verachtung und seine kaum verhohlene Wut wie einen Übelkeit erregenden Nebel empfunden, der ihr die Kehle zuschnürte. „Den Thronräuber“ nannte ihr Vater den König, und sie hatte sich daran gewöhnt, es ihm gleich zu tun; auf diese Weise waren die Dinge weitaus leichter und weniger schmerzhaft. Aber ihr verzweifelter Eifer, ihm zu gefallen, hatte sie davon abgehalten, sich über ihren neuen Herrn eine eigene Meinung zu bilden. Der hochgewachsene, dunkelhaarige Mann war nicht viel mehr als das Bild, das ihr Vater von ihm zeichnete... ein Waldläufer aus dem Norden, der die meisten seiner Jahre in der Wildnis verbracht hatte und sich jetzt die Macht widerrechtlich von den wahren Herrschern über Gondor aneignete. Der Fürst von Lebennin hatte Aragorns Recht, König zu sein, niemals akzeptiert, auch wenn niemand außerhalb seiner Familie irgendeine Ahnung von seinem sturen Widerwillen hatte. Nach außen hin hatte er sich einfach nach Herrn Denethors Tod zurück gezogen , tief erschüttert von den schrecklichen Umständen und gebeugt von der Trauer um einen Truchsessen, dem er sein ganzes Leben hindurch treu gedient hatte. Aber nun saß er wie eine Spinne in einem fein gewobenen Netz und suchte im Stillen nach einem Weg, den „Thronräuber“ für seine schockierende Anmaßung zu strafen. ---

Artanis ging durch kühle Flure in Richtung des öffentlichen Audienzzimmers; der König benutzte nicht die riesige Halle mit der langen Reihe von Statuen seiner Vorfahren, weil er dachte, dass diese allzu eindrucksvolle Umgebung diejenigen unter seinen Untertanen einschüchtern mochte, die an solche Art Glanz nicht gewöhnt waren. Der Raum, den er statt dessen gewählt hatte, war sonnig und hell, mit großen Fenstern und einem schlichten, schön geschnitzten Sessel, wo er saß und seinen Besuchern lauschte.

Die Tür zum Audienzzimmer war geschlossen, aber sie konnte erhobene Stimmen hören, selbst durch das massive Eichenholz hindurch. Sie schaute sich um und bemerkte, dass sie durch einen glücklichen Zufall ganz allein war; der Flur war vollkommen leer und kein Diener zu sehen. Ohne zu zögern presste sie das Ohr gegen die Tür.

„... machst du hier, um Erus Willen?“

Das war der König. Die dunkle, leicht heisere Stimme war unverwechselbar.

„Es tut mir Leid, Aragorn.“Ein warmer, heller Bariton mit kaum unterdrückten, nervösen Untertönen. „Aber ich halte es einfach nicht aus, in diesen Räumen herum zu sitzen, ohne dass ich irgend etwas über sein Wohlergehen weiß!“ Eine kurze Pause. „Er könnte verletzt sein – vielleicht haben sie ihn inzwischen schon umgebracht! Haben sie dir einen Brief geschickt... eine Notiz... eine Nachricht... irgend etwas?“

„Noch nicht.“ Der König seufzte. „Es gibt nichts Neues, das ich dir erzählen könnte, ebenso wenig wie vor einer Stunde. Und vor zwei Stunden. Und...“

„Danke. Ich hab’s begriffen.“ Nun war der Ton der Baritonstimme eine Mischung aus Verlegenheit, schwachem Humor und Gereiztheit. Eine weitere Pause folgte, diesmal wesentlich länger. Dann sagte der unbekannte Besucher des Königs – zweifellos einer der Hobbits – endlich wieder etwas.

„Der Gedanke, dass er sein Leben verlieren könnte, nach all dem, was wir durchgemacht haben, um diesen Hafen der Sicherheit und des Friedens zu erreichen – nur, um herauszufinden, dass uns ein unerwartetes Übel sogar bis hierher gefolgt ist! Es wäre die finsterste Ironie, dass er ermordet werden sollte, nachdem ein Dunkler Herrscher, neun Nazgûl und riesige Orkarmee es nicht fertig gebracht haben, ihn zu vernichten!“

„Ich bin ebenso besorgt wie du, mein Freund.“ Einmal mehr die Stimme des Königs, die rauen Ecken und Kanten von einer liebevollen Zuneigung geglättet, die – zu Artanis’ völliger Verblüffung – ihr Herz berührte. Wie tief er für diese Halblinge empfand!

„Ich werde tun, was immer ich kann, um ihn zu retten und die zu bestrafen, die es gewagt haben, mich zu entehren, indem sie meine Gastfreundschaft missbrauchen und einen meiner meistgeliebten Freunde entführen.“ sagte der König. Die Worte, so einfach sie auch waren, hatten den eindeutigen Klang eines nüchternen Schwures. „Er wird heil und gesund zurück kommen, und ihr werdet gemeinsam ins Auenland heimkehren.“

Der andere lachte... überraschend rau und bitter.

„Wenn ich auf dem Weg zum Berg und wieder zurück irgend etwas gelernt habe, dann dies: selbst der ehrenvollste Mann – selbst der König von Gondor! – kann nicht all seine Versprechen halten. Versprich mir lieber, mir die Wahrheit zu sagen, anstatt mich wie ein unvernünftiges Kind zu beschützen und in Watte zu packen. Ich bin allzu lang beeinflusst und missbraucht worden... von etwas, dass meinen Geist überwältigt, meine Augen geblendet und meine Seele verdreht hat, bis ich mich kaum noch an meinen Namen erinnern konnte. Ich werde mir das von niemandem mehr bieten lassen – nicht einmal von dir.“

In plötzlichem Schrecken begriff Artanis, dass die Stimme näher kam; Aragorns Besucher wollte offenbar gerade gehen. Sie trat gerade noch rechzeitig zurück, dass die Tür sie nicht traf, als sie aufflog; eine kleine Gestalt schoss im Sturmschritt aus dem Zimmer. Der scharfe Ruf des Königs folgte ihm nach draußen.

„Halt! Frodo, warte!“

Der Halbling, nach dem Schattendämmer des verdunkelten Raumes geblendet vom Licht im Marmorkorridor, krachte in die Frau hinein, die vor ihm stand. Artanis stolperte rückwärts; die Samttasche mit den Perlen wurde von ihrer Schulter gerissen, flog in hohem Bogen durch die Luft und fiel zu Boden. Jetzt riss die Kordel, die die Tasche zusammenhielt, ebenfalls, und die kleineren Beutel mit den Perlen rutschten heraus und schlitterten über die polierten Fliesen. Ihr Gegenüber gab einen gedämpften Laut der Bestürzung von sich, kniete nieder und fing an, die Beutel einzusammeln.

Artanis stand da, ohne sich zu rühren. Sie betrachtete den dunklen, lockigen Kopf, der sich über seine selbstauferlegte, demütige Tätigkeit neigte. Dann erhob er sich und zum ersten Mal sah sie sein Gesicht; bleich und müde und sorgenvoll, mit Augen von einem seltenen, fast purpurnen Blau, das sie bisher nur einmal in ihrem Leben gesehen hatte... als ihr Vater eine Lieferung kostbarster Saphire erhielt, die aus einer Mine im tiefsten Süd-Harad herausgeschmuggelt worden waren.

Er reichte ihr die Tasche und ihre Finger berührten sich. Stoff streifte an ihrer Handfläche entlang. Sie blickte hinunter und sah den Verband... und die Lücke, wo der Mittelfinger gewesen war.

Frodo. Der König hatte ihn Frodo genannt.

Die Nachricht, die sie vor drei Tagen an ihren Vater geschickt hatte, kam ihr wieder in den Sinn und verspottete nun ihre Dummheit. Das Blut wich ihr aus dem Gesicht und sie spürte, wie ihr die Knie weich wurden, als sie das ganze, schreckliche Ausmaß ihres Irrtums begriff. Denn hier stand der Hobbit, den ihr Vater wirklich als Geisel hatte nehmen wollen, während jemand, der nie hätte entführt werden sollen, in ein unsicheres Schicksal verschleppt worden war.

Und all das war ihre Schuld, ihre Schuld ganz allein.


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