Hüterin der Juwelen (Keeper of the Jewels)
von Cúthalion


Kapitel 5
Freunde und Feinde

Der König stand auf der Schwelle des Audienzzimmers; die Brauen zu einem Stirnrunzeln zusammen gezogen. Dann atmete er tief durch.

„Frau Artanis, ich würde Euch meinen Freund sehr gern ordentlich vorstellen, aber wir sollten uns zuerst an einen etwas… privateren Ort begeben.” Er warf dem Halbling einen durchbohrenden Blick zu, und Artanis registrierte selbst in ihrer Panik, wie das Gesicht des Ringträgers vor Verlegenheit rot anlief.

„Folgt mir,” grollte Aragorn, „und rasch, wenn ich bitten darf.”

Er setzte sich in Bewegung und eilte ihnen mit langen Schritten voraus. Die Dame und der Hobbit hasteten beide hinter ihm her, bis sie – von niemandem bemerkt - den Ostflügel des Palastes erreicht hatten. Zwei hoch gewachsene Wachen flankierten die Tür zu den privaten Räumen des Königs, und erst, als sie die beiden passiert hatten, fand Artanis die erste Gelegenheit, einen Moment inne zu halten und ihre Gedanken zu ordnen.

Ihr gefiel, was sie sah: feine Teppiche in warmen Farben bedeckten den Marmorboden, die Möbel waren schlicht, aber wunderschön, und der König schien ihre Vorliebe für Buntglasfenster zu teilen... ein hohes, ostwärts blickendes Fenster zeigte ein meisterhaft gearbeitetes Abbild des Weißen Baumes in voller Blüte. Still, dachte sie, von ihrer Umgebung eigentümlich beruhigt und gestärkt, ich muss so still wie möglich sein. Ich muss warten und hören, was er zu sagen hat, dieser Waldläufer aus dem Norden. Dies ist wie eine gefährliche Schachpartie, und es ist meine Pflicht, ein Schachmatt gegen den schwarzen König zu erreichen.

„Estel?“ Eine Stimme aus dem Nebenzimmer, warm und klar. „Estel, Melethron, bist du das?“

Eine Frau erschien auf der Türschwelle, in schlichtes Grau gekleidet, und sie trug – wie Artanis’ geübtes Auge sofort registrierte – fast gar keine Juwelen. Ein einzelner Smaragd lag auf ihrer Brust, in einen zarten Kranz aus silbernen Blättern gefasst; er schimmerte auf der weißen Haut mit kühlem, grünen Feuer. Aber der auffälligste Schmuck dieser weiblichen Erscheinung war ihr Haar – eine Kaskade tiefster Nacht, die über ihre Schultern und ihren Rücken hinab flutete wie ein kostbarer, lebendiger Mantel.

Für einen Sekundenbruchteil wurde Aragorns Gesicht von einer Liebe erleuchtet, die in ihrer Intensität fast blendete. Er machte eine Geste in Artanis’ Richtung.

„Meleth-nin, darf ich dir meine Hüterin der Juwelen vorstellen? Das ist Frau Artanis von Lebennin,“ sagte er, und die Samt-und-Stahl-Stimme erwärmte sich einmal mehr unter der Tiefe seiner Gefühle. „Und dies, Herrin, ist Arwen Undómiel, meine Königin.“

Artanis stand da und starrte, benommen und verzaubert wie ein Kind beim Anblick einer Fee; aber dann begegneten sich ihre Augen, und tief in ihrem Herzen erstarrte sie in heftiger Furcht. Der Blick der Elbenfürstin zeigte nichts als sanfte Neugier und freundliches Interesse, aber Artanis fühlte sich, als wären zwei scharfe, stählerne Lanzen auf sie gerichtet, die selbst die geheimsten Stellen ihrer Seele durchbohrten. Ich bin verloren, dachte sie, von Kopf bis Fuß zitternd, sie wird mich in dem Moment durchschauen, in dem ich den Mund aufmache. Dies war eine Frau, die Zeitalter hatte wachsen, welken und vergehen sehen, die Zeugin gewesen war beim Aufstieg und Fall elbischer und menschlicher Völker, während sie inmitten des Stromes der Zeit stand, einer Weide mit immerblühender Krone gleich. Und die Tatsache, dass sie ihr Geburtsrecht geopfert hatte, minderte ihr ehrfurchtgebietendes Strahlen nicht im mindesten.

„Artanis?“ Die Königin lachte; es klang wie der erste, morgendliche Vogelgesang nach einem langen harten Winter. „Dann habt Ihr etwas mit meiner Großmutter gemeinsam, Galadriel von Lothlórien. Als sie geboren wurde, das letzte Kind Finarfins, da gab ihr ihr Vater diesen Namen.“

Artanis verneigte sich tief und zwang ihre Züge wieder in die stille Maske blasser Höflichkeit, die sie jahrelang gelernt hatte, als Schild zu tragen... gegen den gnadenlosen Spott derer, die nichts weiter sahen als ihre glanzlose Erscheinung, gegen den lieblosen Hohn und die kalte Gleichgültigkeit ihres Vaters.

„Ich hatte das Glück, Frau Galadriel zu sehen, als der König gekrönt wurde, und ich fühle mich höchst geehrt, dass ich wenigstens den Namen mit einer so lieblichen und mächtigen Frau teile,“ sagte sie. „Eure edle Großmutter besucht augenblicklich Ithilien, nicht wahr?“

„In der Tat,“ erwiderte Arwen, „nachdem sie so viele wundersame Dinge über eine Landschaft gehört hat, in der neues Leben und eine Fülle von Pflanzen und Blumen neu erblüht – während Laurelindórenan dazu bestimmt ist, zu vergehen.“ Das Lächeln auf dem Gesicht der Königin verging ebenfalls, aber selbst ihre Traurigkeit war herzzerreißend schön. „Ich hoffe, Ihr werdet die Gelegenheit haben, sie persönlich zu treffen.“

„Ich wäre entzückt.“ Artanis verneigte sich erneut und verbarg die Lüge sorgsam hinter gesenkten Lidern und einem ausdruckslosen Gesicht.

Der König räusperte sich.

„Wärst du so gut, uns allein zu lassen, Meleth-nin?“ sagte er zu seiner Gemahlin. „Ich bin gleich bei dir.“ Arwen warf ihm einen leicht überraschten Blick zu, aber dann schien ein stiller Gedankenaustausch zwischen den beiden stattzufinden, und ohne weiteres Zaudern nickte die Königin und ging; seltsamerweise nahm sie einiges von der Helligkeit im Raum mit sich. Eine Weile herrschte Schweigen, aber dann ergriff der Ringträger – der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte – das Wort.

„Es tut mir Leid, Aragorn,“ sagte er langsam. „ich hatte nicht die Absicht, dich mit noch mehr Sorgen zu belasten, als du sie sowieso schon hast.“

Der König seufzte.

„Schon gut, Frodo.“ Er ging zu einem Sessel hinüber, der neben dem Buntglasfenster stand und setzte sich; er rieb sich die Stirn, als wollte er lästige Kopfschmerzen vertreiben. „Ich bin ganz sicher, dass wir uns auf Frau Artanis’ Loyalität verlassen können – und auf ihre Verschwiegenheit.“

Artanis verbeugte sich einmal mehr. Die Gedanken überstürzten sich in ihrem Kopf. Dies war genau die Gelegenheit, auf die sie gewartet hatte... die Information, die sie sich wünschte, das Wissen, das sie dringend brauchte, um ihrem Vater zufrieden zu stellen und ihm zu helfen, seine geheimnisvollen Pläne zu verwirklichen.

„Gewiss, Eure Majestät,“ sagte sie laut, froh darüber, dass der größte Teil von des Königs Aufmerksamkeit auf den Halbling gerichtet war. „Und es wäre sehr hilfreich, wenn Ihr mir die Lage erklären könntet.“

Der König wandte sich ihr zu.

„Vor zwei Nächten schlich sich jemand in das Gästehaus, wo der Ringträger, seine Vettern und sein Freund während ihres Aufenthaltes in Minas Tirith leben,“ sagte er in leicht schroffem Ton. „Ich – wir – denken,“ ein scharfer Seitenblick auf den Halbling, „dass Frodo ihr ursprünglich vorgesehenes Opfer war.“

„Ich vermute, dass die Entführer etwas über dies hier wussten,“ fügte der Ringträger hinzu und hob seine verbundene Hand. „Und mein Freund Sam Gamdschie hat sich vorgestern seine Hand verletzt. Sie musste in den Häusern der Heilung genäht werden... und sie ist ebenfalls verbunden.“

Artanis nickte langsam. „Und so haben sie den Gärtner für Euch gehalten.“ Ihre Augen trafen die des Hobbits, und sie sah das flackernde Durcheinander der Gefühle unter der ruhigen, tiefblauen Oberfläche – Furcht, zornige Unruhe und ein bitteres, qualvolles Gefühl der Schuld. Sie wurde von dem eigenartigen Gefühl überwältigt, dass etwas in diesem kleinen, ungewöhnlichen Geschöpf sich nach ihr ausstreckte und den Ort in ihrem Herzen berührte, den sie vor jedem verbarg, außer vor sich selbst. Unwillkürlich schüttelte sie den Kopf, biss sich auf die Lippen und rang um Fassung. „Ihr... ähm... wo wart Ihr in dieser Nacht?“

„Im Garten.“ Der Ringträger warf ihr ein schräges Lächeln zu. „Das ist wirklich das erste Mal, dass meine ständige Schlaflosigkeit mich davor bewahrt hat, in Schwierigkeiten zu geraten.“

„Seitdem hat es weder einen Brief oder irgendeine Nachricht gegeben,“ fuhr Aragorn fort. „Wir haben keine Ahnung, wieso diese Männer herkamen, um unseren Freund zu verschleppen. Sie haben wahrscheinlich keine Ahnung, dass sie nicht die Beute erwischt haben, auf die sie aus waren – wenigstens hoffen wir das. Ihr versteht, dass Ihr nichts von dem , was ich Euch gesagt habe, an irgend jemanden weitergeben dürft, Herrin?“

„Ich verstehe vollkommen, Eure Majestät.“

Ich nehme an, ich sollte mein Glück preisen, dachte sie, die Bürde ihres Wissens ein eisiger Klumpen in ihrem Magen, aber ich habe mich noch nie unglücklicher gefühlt. Und ich habe mich noch nie so sehr gefürchtet.

*****

Die Sonne sank langsam hinter den Mindolluin, als Artanis ihr Haus im sechsten Kreis erreichte. Die Amme erwartete sie mit einem Bad. Artanis versank erschöpft in der riesigen Marmorwanne und seufzte erleichtert. Sie überließ sich der sanften Massage von Eilinels Händen und versuchte, die wachsende Anspannung zu vergessen, die ihren Nacken versteifte und ihre Muskeln zu schmerzhaften Knoten verhärtete. Sie registrierte das Geplauder der älteren Frau nur als beruhigendes, leises Geräusch im Hintergrund und nickte in dem lauwarmen, nach Rosen duftenden Wasser fast ein.

„... hat vor zwei Stunden einen Boten geschickt, um seine Ankunft anzukündigen. Ich habe eines Eurer besten Abendgewänder vorbereitet, kalter Braten, Salat und Obstkuchen warten unten in der Küche und ein Krug Weißwein kühlt bereits im Brunnen. Ich bin sicher, Ihr werdet das Essen mit Eurem Vater genießen.“

„Mein Vater?“ Artanis setzte sich in der Wanne auf und spürte, wie die friedevolle Entspannung auf der Stelle aus ihrem müden Körper wich. „Er wird heute Abend hier sein?“

„Ja, mein Lämmchen.“ Die Amme erhob sich mit einem Seufzer und wandte sich zur Tür. „Und ich habe noch ein halbes Dutzend Dinge zu erledigen. Ich bin gleich wieder da und helfe Euch mit Eurem Kleid.“

Artanis lächelte freudlos. Natürlich kommt er her, sagte die leise Stimme in ihrem Hinterkopf ihr mit einem Hauch Ironie. Er will seine Männer kontrollieren... und er will dich kontrollieren.

Sie klomm aus der Wanne und wickelte sich in ein großes Handtuch aus Leinen. Der hohe Spiegel zeigte ihr den vertrauten Anblick: ein eckiger Körper, dem die weichen Rundungen und die Fülle fehlten, die Männer üblicherweise für schön hielten, langes, wirres Haar von einem matten Aschblond und Augen, die sie zu groß fand für ihr herbes Gesicht mit dem festen Kinn und den hohen Wangenknochen. Die Bemerkung der Königin kam zu ihr zurück und gleichzeitig der Grund, warum sie Artanis genannt worden war; ihre Großmutter war zur Zeit von Truchsess Ecthelion II. eine berühmte Dame am Hof von Minas Tirith gewesen. Sowohl ihre Eleganz als auch ihre Schönheit waren legendär, und sie hatte mit ungläubiger Bestürzung den Unterschied zwischen ihrer Enkeltochter und ihrem eigenen strahlenden Selbst festgestellt. Die junge Frau zuckte unwillkürlich zusammen, als sie sich an die Worte ihrer Großmutter erinnerte, einst gesprochen, als sie keine Ahnung hatte, dass Artanis sich im Zimmer befand:

Es tut mir schrecklich Leid, es zuzugeben, mein Sohn, aber dieses Mädchen ist eine völlige Enttäuschung. Du wirst große Schwierigkeiten haben, einen Ehemann für sie zu finden, der sich mit einem derart reizlosen, krankhaft schüchternen Geschöpf abfindet, ungeachtet ihrer edlen Abkunft. Quer über ihre Stirn steht Alte Jungfer geschrieben, ohne jeden Zweifel.

Artanis holte tief Atem und schüttelte die Erinnerung ab. Sie zog sich das dünne Gewand über den Kopf. Es war von einem tiefen Granatrot, mit schlichtem, viereckigen Ausschnitt und langen, weiten Ärmeln. Obwohl jeden Tag zahllose, kostbare Juwelen durch ihre Hände gingen, trug sie selbst nur sehr wenig Schmuck. An diesem Abend wählte sie ein Halsband, das sie einst von ihrer Mutter geerbt hatte... eine lange Kette mit Rosenblüten aus feinem, dünn gehämmertem Gold, besetzt mit Granat-Blütenblättern und Mondsteinperlen in einem sanften Aprikosenton. Sie liebkoste die Edelsteine zart mit der Fingerspitze und segnete im Stillen ihre Mutter, die ihr ihre Liebe immer ganz offen gezeigt hatte. Du hast uns zu früh verlassen, dachte sie, und jetzt ist dir Maedhron in die Dunkelheit gefolgt, und das Herz meines Vaters ist versteinert.

Die Amme stand auf der Türschwelle.

„Herr Ardhenon ist soeben eingetroffen, Herrin,“ sagte sie. „Er hat sich zurückgezogen, um sich zu erfrischen und kurz auszuruhen; er erwartet das Abendessen in einer halben Stunde. Lasst mich Euer Haar flechten, mein Lämmchen.“ -----

Artanis betrat das Speisezimmer, als der Himmel im Osten nur noch einen Hauch Rosa widerspiegelte. Dutzende von Kerzen brannten in Silberhaltern, und die Amme hatte den Tisch mit Silbertellern und kostbaren Kristallkelchen gedeckt. Aber die Aufmerksamkeit der Dame war auf die hoch gewachsene, dunkle Gestalt gerichtet, die am großen Fenster stand. Langes Haar, von Alter und Zeit zu reinem Weiß gebleicht, fiel über die Schultern herab. Als Zugeständnis an die sengende Hitze hatte der Fürst von Lebennin sein übliches Samtgewand gegen ein Kleidungsstück aus moosgrüner Seide eingetauscht. Als er sich umdrehte, sah Artanis die vertrauten, hageren Züge, die lange, adlergleiche Nase und die dunklen, scharfen Augen; unter Ardhenons Blick war sie sich immer vorgekommen wie mit einem Brennglas gebannt.

Er streckte die Hand aus, und Artanis versank in einem tiefen Knicks und küsste seine Finger.

„Seid Willkommen, Vater.“ sagte sie förmlich. „Es ist gut, Euch zu sehen. Hattet Ihr eine angenehme Reise?“

„Eine kurze Reise, sehr zu meiner Erleichterung,“ gab ihr Vater zurück, „diese andauernde Hitze ist eine Zumutung. Ich kann nur hoffen, dass es bald regnet.“ Er ging langsam zum Tisch hinüber und goss sich blassgelben Wein ein. Er war tatsächlich hervorragend gekühlt; das Glas beschlug sofort. „Lass uns speisen, und nachher möchte ich wissen, wie gut unsere Pläne voran geschritten sind.“

Sie aßen schweigend, und Artanis hatte ihre Mahlzeit viel rascher beendet als Ardhenon. Sie sah zu, wie ihr Vater sich mit einer zweiten Portion Braten und Salat bediente, und wie seine langen, weißen Finger einen rosigen Pfirsich in saubere Viertel schnitten. Sie wollte den Augenblick unerwarteten Friedens zwischen ihnen in die Länge ziehen, aber allzu bald legte er sein Messer nieder, wischte sich die Hände mit der Serviette ab und wandte ihr wieder seine volle Aufmerksamkeit zu.

„Nun, Tochter, erzähl mir, welche Fortschritte wir gemacht haben.“ sagte er, das Kinn auf eine Hand gestützt. „Hat der Thronräuber die erste Nachricht erhalten?“

Artanis spürte, wie sich ihr Magen vor Nervosität verkrampfte, aber es gelang ihr, ruhig zu bleiben.

„Nein, Vater,“ erwiderte sie, „nein, das hat er nicht. Ich habe den königlichen Taubenschlag heute Mittag aufgesucht, aber die fragliche Taube ist nicht zurück gekommen. Habt Ihr Euren Männern befohlen, sie heute morgen loszuschicken?“

Das Gesicht des Fürsten gefror zu einer starren Maske völliger Verblüffung. „Selbstverständlich,“ sagte er hochmütig, „und selbstverständlich haben sie gehorcht. Sie würden es nicht wagen, irgend etwas anderes zu tun.“

„Dann muss sie auf dem Weg getötet worden sein.“ Artanis senkte den Blick. „Es ist nur eine kurze Entfernung, deshalb gibt es keine andere Erklärung für die verloren gegangene Botschaft.“ Sie hielt inne und suchte nach Worten. „Zerstört das Eure.... Eure Pläne?“

„Nicht wirklich.“ Ihr Vater schüttelte den Kopf. „Es könnte sich sogar als unser Vorteil herausstellen. Sobald seine Sorge um diesen elenden, kleinen Kerl ihn unvorsichtig macht, wird der Thronräuber hoffentlich Risiken eingehen, um ihn zu retten.“

Dieser elende, kleine Kerl.

Plötzlich sah Artanis den hochgewachsenen Mann, den ihr Vater den Thronräuber nannte, vor ihrem inneren Auge – und den Ringträger. Sie erinnerte sich an die tiefe Freundschaft, die zwischen den beiden so spürbar gewesen war, und an den eigenartigen Moment, als sie das Gefühl hatte, es gäbe zwischen ihr und dem Halbling ein unerwartetes Band. Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder.

Der elende Kerl, den du gefangen hältst, ist nicht der Ringträger, dachte sie und betrachtete das gnadenlose Gesicht vor sich. Er ist sein Gärtner, und der König schätzt den Diener ebenso hoch wie den Herrn, auch wenn du dir ein solch närrisches Benehmen nicht vorstellen kannst. Und wenn ich dir sage, wen ich heute Nachmittag getroffen habe, was wirst du dann deiner Geisel antun? Wirst du versuchen, sie so zu benutzen, wie du Frodo Beutlin benutzen wolltest... oder wirst du sie wegwerfen wie ein Stück Abfall?

Sie schob ihren Stuhl zurück und erhob sich.

„Mit Eurer Erlaubnis würde ich mich gern zurückziehen,“ sagte sie, die Stimme farblos und müde. „Morgen werde ich in den Palast zurückkehren und mein Bestes tun, herauszufinden, was immer ich kann. Werdet Ihr hier bleiben oder morgen früh nach Lebennin zurückkehren?“

„Ich werde die nächste Botschaft selbst abschicken,“ erwiderte ihr Vater. „Wir sollten diesem so genannten König nicht zu viel Zeit geben, seine eigenen Pläne zu schmieden. Er mag sich den Thron widerrechtlich angeeignet haben, aber er ist noch immer ein gefährlicher Feind.“

Er streckte die Hand aus und sie beugte sich einmal mehr darüber, um sie zu küssen.

„Ich werde vermutlich keine Möglichkeit haben, mit dir Kontakt aufzunehmen, bis meine Pläne sich erfüllt haben,“ sagte Ardhenon, „Gibt es noch irgend etwas, das ich wissen sollte?“

Ihre Augen begegneten sich, der trügerische, silbrige Schimmer von Perlen gegen glühendes Onyxschwarz.

„Nein, Vater,“ sagte Artanis ruhig, „Es gibt nichts.“

*****

Für einen Moment dachte Sam tatsächlich, er wäre Saruman begegnet... was eine alberne Idee war. Er wusste über den legendären, gefallenen Zauberer nur das, was Merry ihm erzählt hatte: „Ein langer Bursche, mit Augen, die so stechend und scharf sind wie diese Morgulklinge, die wir damals in der Nacht an der Wetterspitze gesehen haben. Und eine Stimme, so weich wie warmer Honig, aber irgendwie... giftig, wenn du verstehst, was ich meine.“ Die Beschreibung passte irgendwie, aber er konnte sich nicht sicher sein... noch nicht.

Am ersten Tag war alles mehr oder weniger gut gegangen. Er hatte peinlich genau darauf geachtet, nicht zuviel zu sagen, abgesehen von einem gemurmelten Könnte ich bitte etwas Wasser haben? und Dankeschön; er hatte schreckliche Angst, seine Wachhunde könnten den klaren Unterschied zwischen der Sprechweise eines Edelhobbits und seiner eigenen, eher... bäuerlichen Zunge bemerken. Er verbarg auch seine verbundene Hand, so gut er konnte, aber die beiden beachteten ihn scheinbar ohnehin kaum. Die meiste Zeit saß er im schwachen Licht einer flackernden Kerze, noch immer an die Wand gekettet, und lauschte auf ihre leisen Stimmen hinter der geschlossenen Tür. Sie hatten ihm muffiges Brot und geschmacklose, zähe Bratenstreifen gebracht, und nach ein paar Stunden öffnete einer der beiden die Gittertür und stieß einen Holzeimer in seine Richtung; er benutzte in sofort und mit schamhafter Erleichterung. Bei sich nannte er die zwei den Pfeifer und den Grinser; ihre Stimmen waren nahezu das Einzige, woran er sie unterscheiden konnte.

Von Zeit zu Zeit nickte er ein, und seine Träume wurde immer lebhafter und merkwürdig bizarr. Kindheitserinnerungen mischten sich mit jüngeren, weit beängstigenderen Bildern, die einen üblen Geschmack in seinem Mund hinterließen, bitter wie die Asche des Schicksalsberges. Wenn er aufwachte, fühlte sich sein Kopf leicht und schwindelig an. Die Beule an seiner Schläfe schmerzte nicht mehr, aber jetzt begannen seine verletzten Finger zu pochen, eine bedrohliche Mahnung an die Wunden, die niemand mehr versorgt hatte, seit er in jener schicksalhaften Nacht entführt worden war. Aber er konnte nicht nach Salbe, Branntwein oder einem frischen Verband fragen, ohne zu offenbaren, dass keiner seiner Finger fehlte.

Dann hörte er irgendwann draußen den gedämpften Klang von Schritten; die Tür öffnete sich und spülte ein Rinnsal aus Licht in seinen einsamen Kerker. Ein Mann erschien auf der Türschwelle. Er war schlank wie ein Speer, hielt sich sehr aufrecht und die Fackeln hinter ihm umgaben ihn mit einer seltsamen Aureole. Dies war weder der Pfeifer noch der Grinser. Weißes Haar, dachte Sam, er hat weißes Haar.

Der Mann starrte auf ihn hinunter; sein Gesichtsausdruck war nicht zu erkennen. Dann wandte er sich zurück, und für einen Moment sah Sam ein scharfes, regelmäßiges Profil und ein dunkles, schwerlidriges Auge.

„Gebt ihm etwas zu essen,“ sagte er, „und zu trinken, wenn nötig. Er sollte noch für wenigstens zwei Tage vorzeigbar bleiben... ich bezweifle, dass wir ihn länger brauchen.“

Die Tür schlug wieder zu, und Sam spürte, wie ihm plötzlich kalter Schweiß über die Stirn und in den Nacken rieselte.

„Ach du Schande,“ murmelte er vor sich hin, „das klingt nicht gut, aber gar nicht. Ich dachte, die wären hinter einem saftigen Lösegeld her, aber was auch immer die wirklich wollen, sobald sie es in ihren gierigen, kleinen Pfoten haben, werden sie schauen, dass sie mich los werden, gar keine Frage. Dieser verflixte Schnitt – ich wünschte, ich hätte die blöde Schere nie angefasst!“

Er sank nach hinten gegen die Wand; Fieber vernebelte seinen Kopf und seinen Willen und eine schleichende, lähmende Furcht schloss ihre eisigen Hände um seine Kehle.

*****

Früh am nächsten Morgen kehrte eine kohlschwarze Brieftaube in den Taubenschlag zurück; sie trug eine eng zusammengerollte Botschaft in ihrem kleinen Metallröhrchen. Nur zehn Minuten später stand Ecthelion im Studierzimmer des Königs und reichte ihm das kleine Stück Pergament. Aragorn las es, gab einen scharfen Pfiff von sich, lehnte sich in seinem Sessel zurück und schüttelte langsam den Kopf.

Morgen erwarten wir, dass Aragorn aus dem Norden kommt und uns das Lösegeld bringt, das wir haben wollen. Er muss allein kommen; man wird ihn genau überwachen, um sicher zu stellen, dass er nicht etwa von Kriegern begleitet wird. Sollte er versuchen, uns zu hintergehen, stirbt der Ringträger auf der Stelle.


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