Hüterin der Juwelen (Keeper of the Jewels)
von Cúthalion


Kapitel 1:
Missgeschick im Garten

„Was zum – autsch!“

Da. Ein Moment der Unvorsichtigkeit mit diesen riesigen Scheren – obwohl der Aufseher der Palastgärten ihm versichert hatte, dass dies tatsächlich die kleinsten waren, die er hatte finden können – und er hatte es fertig gebracht, sich zu verletzen. Er wollte nicht einmal darüber nachdenken, was der Ohm dazu gesagt haben würde. Wo andere Hände haben, hast du Hufe, Samweis Gamdschie. So was in der Art, gar keine Frage.

Er schaute auf seine rechte Hand hinunter. Der zweite und dritte Finger wiesen hässliche, tiefe Schnitte auf, und der dumpfe Schmerz des ersten Augenblicks verwandelte sich langsam in ein heftiges, scharfes Brennen. Er seufzte, fummelte in seiner Hosentasche nach einem sauberen Tuch und wickelte es um die Wunden. Die Wirkung war enttäuschend; der weiße Stoff verfärbte sich zu einem nassen Purpurrot, und jetzt fing das Blut an, über sein Handgelenk hinunter zu rieseln.

Es machte keinen Sinn, den Helden zu spielen... er würde sich Hilfe suchen müssen. Er stand mitten im Palastgarten, direkt neben dem Rosenbusch, den er mit diesen übergroßen Scheren hatte beschneiden wollen, und versuchte verzweifelt, sich daran zu erinnern, wo sich die Häuser der Heilung befanden. Wenigstens war ich schon mal da, dachte er mit einem schrägen Grinsen, es wäre schrecklich einfach, in diesem feinen, weißen Steinhaufen verloren zu gehen. Nicht der richtige Platz für Hobbits, aber kein bisschen.

Er würde versuchen, diese freundliche, ältere Dame zu finden, der er in den Häusern begegnet war, als Herr Merry ihn vor einer Woche dorthin gebracht hatte, um ihm zu zeigen, wo der König nach der Schlacht auf den Pelennorfeldern seinen Geist zurück gerufen hatte – von welchem Ort auch immer. Iorwen? Nein... Ioreth. Sie würde es sicher schaffen, die Blutung aufzuhalten und die Finger zu verbinden, bevor Str... bevor Aragorn etwas von diesem dummen Missgeschick mitbekam. Von Herrn Merry gar nicht erst zu reden. Oder von Herrn Pippin.

Er öffnete das reich verzierte Tor zwischen den hohen Marmorsäulen und ging die gerade, gepflasterte Straße entlang, die vom Palast zum sechsten Kreis hinunter führte. Das Pochen in seiner verletzten Hand wunde stärker, während er zwischen sauber gestutzten Hecken hindurch wanderte, und als er sich umdrehte, entdeckte er eine lange Spur roter Flecken auf den weißen Steinen. Er brachte es fertig, die dumme, kindische Angst beim Anblick seines eigenen Blutes abzuschütteln, aber er begrüßte den Eingang zu den Kräutergärten der Häuser mit einem Seufzer ehrlicher Erleichterung. Der Duft nach sonnengewärmtem Rosmarin, Salbei und Lavendel hieß ihn willkommen, und einen Augenblick später erreichte er das hohe, schwere Tor zur Eingangshalle. Er brauchte beide Hände, um es aufzustoßen und wurde dafür mit einem durchdringenden Schmerz in den verletzten Fingern bestraft, der ihn nach Luft schnappen ließ.

Er stand noch immer blinzelnd in der dämmerigen Halle und versuchte, sich zu orientieren, als sich am anderen Ende eine Tür öffnete und ein hoch gewachsener Mann eintrat, in die graue Robe der Heiler gekleidet. Sein ernstes, von Falten durchzogenes Gesicht entspannte sich zu einem Lächeln und er verbeugte sich.

„Was kann ich tun, um Euch zu Diensten zu sein, Meister Per – oh, ich verstehe.“

Es gab tatsächlich nicht viel zu erklären. Das Tuch war nicht länger weiß, sondern völlig durchweicht, und Blut tropfte auf die sauberen Granitfliesen und bildete dort eine kleine Pfütze.

„Tut mir schrecklich Leid,“ murmelte Sam, „ich wollte nicht so eine Sauerei machen, wollte ich wirklich nicht.“

„Macht Euch keine Gedanken, Meister... Gamdschie?“ Mit ein paar schnellen Schritten war der Mann an seiner Seite, ließ eine große Hand um die Schultern des Hobbits und unter seinen Arm gleiten und hielt ihn aufrecht. Sam verspürte eine vage Mischung aus Verblüffung und Bestürzung, als er begriff, dass er eine starke, stützende Hand tatsächlich dringend nötig hatte. In seinem Kopf drehte es sich, und plötzlich wurde ihm schwindelig. „Wir werden uns darum kümmern,“ fügte der Mann in beruhigendem Ton hinzu. „Aber erst einmal kümmern wir uns um Euch. Darf ich mich vorstellen? Ich bin Oroher, Vorsteher der Häuser der Heilung. Hier entlang, bitte.“

*****

Eine halbe Stunde später saß Sam auf einem niedrigen Hocker in einem der sonnenhellen Räume auf der westlichen Seite. Die Wunden an beiden Fingern waren mit einem Dutzend winziger Stiche genäht worden, und er hielt einen Becher mit Glühwein in der heilen Hand und schlürfte dankbar das warme, würzige Getränk. Oroher kniete neben ihm und sicherte den weißen Verband mit einem kleinen Knoten, als sich plötzlich draußen Stimmen erhoben; Schritte näherten sich. Oroher warf einen Blick zur Tür, erhob sich rasch und verneigte sich.

„Ach du meine Güte,“ murmelte Sam; sein bleiches Gesicht lief in hilfloser Verlegenheit rot an. „Ach du meine Güte.“

Im allernächsten Moment platzte der König von Gondor in das Zimmer, die Stirn besorgt gerunzelt, die Lippen eine dünne, feste Linie. Er erblickte die kleine Gestalt mit der verbundenen Hand, kam abrupt zum Stehen und atmete hörbar aus; seine breiten Schultern entspannten sich, während er auf den Hobbit auf dem Hocker hinunter schaute.

„Also, jetzt sag mir nicht, du hättest es vorher gewusst,“ sagte Sam rasch, bevor Aragorn auch nur den Mund aufmachen konnte. „Das war bloß ein blöder Unfall. Diese Scheren sind ganz klar nicht für Hobbitfinger gemacht.“

„Ach, wirklich?“ Die warme, tiefe Samt-und-Stahl-Stimme enthielt mehr als nur einen Hauch von Ironie. „Mein lieber Sam... du solltest mich daran erinnern, mich nicht zu ängstigen, wenn ich das nächste Mal in meinen Palastgarten gehe, um einen Freund zum Mittagessen einzuladen - nur um eine weg geworfene, blutige Heckenschere zu finden und eine dramatische Blutspur, die mich den ganzen Weg hinunter in den sechsten Kreis und zu einer Blutlache in den Häusern der Heilung führt.“ Er schüttelte den Kopf. „Wenigstens hast du den richtigen Ort entdeckt, um dir die Hilfe zu holen, die du brauchst.“ Er nahm Sams Hand in die seine, überprüfte den Verband und lächelte. „Ich danke Euch, Oroher.“

„Eure Majestät.“ Der Vorsteher verbeugte sich noch einmal und wandte sich dann an Sam.

„Ihr solltet in den nächsten Tagen vorsichtig sein, Meister Gamdschie,“ sagte er. „Bitte haltet den Verband so trocken wie möglich, und ich würde Euch gern übermorgen wiedersehen, um sicher zu gehen, dass sich keine Entzündung entwickelt. Meister Beutlin könnte Euch ja vielleicht begleiten; dann kann ich seine und Eure Hand untersuchen.“

„Ich werde ebenfalls hier sein.“ sagte der König ruhig.

„Selbstverständlich, Eure Majestät. Es wird mir eine Ehre sein, Euch zur Hand zu gehen.“

Sam seufzte. Aus dem Regen in die Traufe, dachte er. Das wird noch mehr Aufstand geben als diese scheußlichen Risse in meinen Fußsohlen, die jetzt endlich verheilt sind. Na... ich kann sie wohl nicht davon abhalten, mich in Watte zu packen. Wenigstens geht es zur Abwechslung mal um mich. Ich bin sicher, Herr Frodo wird sich freuen, wenn er das hört.

Er stöhnte in sich hinein und leerte den Becher mit einem einzigen, langen Zug.

*****

Die Mittagszeit war vorüber, und die Sonne wanderte langsam dem Westen entgegen. Das Haus der Hobbits blickte nach Osten, über die weite Ausdehnung der noch immer vom Krieg gezeichneten Pellenorfelder hin, den Fluss und die verschwommene Bergkette, die Gondor von den Dunklen Landen trennte. Auf der linken Seite wurde das Grundstück von einer hohen, weißen Mauer abgeschlossen, die es vom Stadthaus des Königlichen Seneschalls trennte; seine Gärten waren zu dieser Jahreszeit ein absichtsvoll gezähmtes Durcheinander seltener Blumen und üppiger Fliederbüsche. Auf der rechten Seite war die Mauer niedriger, von Rosen und Efeu überwuchert, und unterbrochen von einem schönen Tor aus Schmiedeeisen, verziert mit dem Wappen des Hauses von Lebennin – ein stolzer Adler, der eine Kette aus Edelsteinen in den Klauen hielt. Das Haus hinter der Mauer war seit mehr als fünfzehn Generationen die Residenz des Hüters der Juwelen, und als der letzte Hüter, Ardhenon, sich nach dem schrecklichen Ende des letzten Truchsessen in den Ruhestand zurückzog, hatte seine Tochter Artanis sein nobles Amt übernommen. Sie lebte allein; ihre Dienerschaft bestand aus dem Stallmeister, einem Stallburschen, zwei Hausmädchen und ihrer alten Kinderfrau Eilinel, die ihrer Herrin gerade ein Stück Kuchen und ein Glas gekühlten Weißwein mit Wasser brachte.

„... und das sind freundliche Leute, wirklich freundliche Leute!“ sagte sie und stellte das Tablett vor der jungen Edelfrau ab, die in dem sonnigen Alkoven im kleinen Frühstücksraum saß. „Sie lachen immer und sind sehr höflich. Stellt Euch vor, der Gärtner – der, der mit dem Ringträger nach Mordor gegangen ist, Samweis Gamdschie heißt er – er hat sogar nach meinem Rezept für Erdbeerkuchen gefragt. Er hat mir gesagt, dass sie jede Menge Erdbeeren haben in diesem Land, wo die Periannath leben... und Ihr hättet sein Gesicht sehen sollen, als er das gesagt hat. Ich wette, er hat großes Heimweh. Vielleicht wartet dort ja ein Mädel auf ihn. Und Ihr solltet Euren Erdbeerkuchen essen, mein Lämmchen... Euer Vater wird mir das eine oder andere zu sagen haben, wenn ich zulasse, dass Ihr zu dünn werdet.“

Artanis nahm einen kleinen Schluck von dem kalten Wein. „Sind ihre Freunde im Augenblick auch in dem Haus? Der Prinz von Grünwald und der Zwerg? Und wo ist der Weiße Zauberer? Hast du ihn gesehen?“

Die Kinderfrau lächelte auf sie herunter, hoch erfreut darüber, dass Artanis einmal Interesse an etwas anderem als an ihren Edelsteinen und Perlen zeigte.

„Nein, sind sie nicht,“ erwiderte sie, eifrig darauf bedacht, ihrer Herrin all die Information zu geben, die sie haben wollte. „Mithrandir ist nach Minas Morgul und noch weiter bis nach Cirith Ungol gegangen, um zu sehen, ob dort noch irgendwelche bösen Flüche übrig sind, die zu vernichten er vielleicht die Macht hat.“ Sie erschauerte. „Er hat eine Truppe von dreihundert Männern mitgenommen, und Prinz Legolas und Gimli der Zwerg haben darauf bestanden, ihn zu begleiten – um jeden seiner Schritte zu bewachen, nehme ich an, genau wie Meister Gamdschie, der mir davon erzählt hat. Und Zauberer oder nicht, ich glaube, es fühlt sich gut an, so beschützt zu werden.“ Jetzt errötete sie; sie hatte die Gelegenheit gehabt, vor ein paar Tagen einen Blick auf den Elbenprinzen zu erhaschen, und seine seltsam jugendliche, strahlende Schönheit und Anmut hatte auf sie einen unauslöschlichen Eindruck gemacht.

„Sie werden also wenigstens zwei Wochen fort sein, nicht wahr?“ fragte die Dame mit einem Lächeln. „Ihre Freunde werden sie vermissen, nehme ich an.“

„Wisst Ihr, solange die Hobbits beieinander sind, fühlen sie sich wohl. Sie sind aus einer Familie – abgesehen von dem Gärtner, natürlich – und es ist so schön mit anzusehen, wie sehr sie sich umeinander kümmern! Einer hat in Herrn Denethors Wache gedient, und der andere kam mit den Pferdeherren, wie Ihr sicher wisst; sie nennen ihn Merry, und ich habe noch nie einen Namen gesehen, der besser passt!“*

„Und der Ringträger?“

Die Kinderfrau seufzte. „So eine sanfte Seele... immerzu so müde, und so still. Aber ich wäre wahrscheinlich auch so still, nach all dem, was in diesem verfluchten Land passiert ist, wo er seinen armen Finger verloren hat und alles. Die rechte Hand ist noch nicht geheilt und jeden zweiten Tag wechselt der König selbst im Palast die Verbände. Das ist ein Fürst unter den Halblingen, aber wirklich – aber wenn ich auf der Straße an ihm vorbei komme, dann verbeugt er sich und begrüßt mich, wie es jeder gute Nachbar tun sollte, und es kümmert ihn kein bisschen, dass ich bloß eine Dienerin bin. – Oh, aber Ihr müsst etwas essen, Lämmchen!“

„Ein Unterhändler aus Harad ist eingetroffen, mit Smaragden aus den Minen tief im Süden,“ bemerkte die Dame abwesend, „und von mir wird erwartet, ihren Wert zu schätzen. Ich werde innerhalb der nächsten Stunde in den Palast zurück kehren, und ich werde mich zuerst ein wenig hinlegen und ausruhen. Letzte Nacht musste ich sehr lange auf den Perlenhändler von Dol Amroth warten.“

Die Kinderfrau räumte mit einem missbilligenden Blick den unberührten Teller und das leere Glas ab und verschwand nach unten in die Küche; Artanis stand vom Tisch auf und ging in ihre Räume hinüber.

Schlafzimmer und Wohnzimmer waren beide von ungewöhnlicher Schlichtheit, wenn man die Edelfrau bedachte, die den größten Teil des Jahres darin lebte. Der Familiensitz in Lebennin war viel luxuriöser, aber Artanis hatte den Geschmack und die Sammelwut ihres Vaters immer mehr als nur ein wenig erstickend gefunden. Die Wände in ihrem persönlichen Reich waren von einem weichen Weiß; die hohen Fenster waren vor ein paar Jahren erneuert und das größte davon nach den eigenen Entwürfen der Dame geschaffen worden. Ein feines Mosaik aus regenbogenfarbigen Glasblumen blühte auf der Scheibe und verwandelten die Strahlen der Sonne in Edelsteine, die auf dem kühlen Marmorboden schimmerten. Zwei tiefe, bequeme Sessel standen auf beiden Seiten des großen, leeren Kamins, und ein hohes Regal war mit Büchern gefüllt, in Leder und dickes Pergament gebunden. Eine alte Eichentruhe, in einer Nische hinter dem Bett verborgen, wartete darauf, die fünfundsiebzig grauen Perlen aufzunehmen, die Artanis bereits für das kostbare Halsband gesammelt hatte, auf das der König wartete. Eine alte, schön geschnitzte Bank war mit Postern in warmen, kräftigen Farben übersät... rubinrot, saphirblau und ein üppiges, prachtvolles Smaragdgrün. Artanis setzte sich und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Ihr Blick fiel auf die vergoldete Lampe auf ihrem Schreibtisch; der zarte Schirm war aus hauchdünnem Achat gemacht. Artanis nahm die Zunderbüchse vom Kaminsims und entzündete eine kleine Flamme; warme Helligkeit erfüllte den dämmerigen Winkel des Raumes.

Erzähl mir eine Geschichte, Maedhron. Über Mardil, den Guten Truchsessen. Und lass die Achatlampe brennen. Ich habe Angst im Dunkeln.

Es gibt keinen Grund, sich zu fürchten, Kleines. Eines Tages wirst du die Hüterin der Juwelen sein, und zahllose Schätze werden durch deine Hände wandern. Du wirst eine berühmte, reiche Dame unter lauter Edelleuten sein, meine süße Perle.

Nein, du wirst der Hüter sein. Vater ist so stolz auf dich... und ich auch.

Aber Maedhron hatte Recht gehabt, wie immer. Als die Finsternis des Krieges sich über Minas Tirith herab gesenkt hatte, weigerte er sich, dem Befehl ihres Vater zu folgen und zog in die Schlacht auf den Pelennorfeldern. Und dort starb er – ihr Bruder, golden und strahlend wie Bernstein und feuriger Topas, und sie war zurückgeblieben, ein armseliger Ersatz für seine glanzvolle Wärme.

Zeig mir deinen Wert, Tochter, wenigstens einmal. Es gibt sonst niemanden mehr, auf den ich mich verlassen kann.

Die Stimme ihres Vaters, bitter und trocken; die Worte waren erst vor knapp drei Tagen ausgesprochen worden. Und sie würde versuchen, ihn nicht zu enttäuschen.

*****

Eine halbe Stunde später stieg eine Brieftaube von den Ställen des Hauses auf; sie kreiste über dem weißen Dach und wandte sich westwärts, wo die Sonne hinter dem Mindolluin versank. Das kleine Röhrchen an ihrem Fuß enthielt eine kurze Notiz:

Der Ringträger hat ein eigenes Schlafzimmer. Er geht früh zu Bett. Und seine rechte Hand ist verbunden.


*„Merry“ (die Abkürzung von Meriadoc) bedeutet im Englischen „fröhlich“.


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