Hüterin der Juwelen (Keeper of the Jewels)
von Cúthalion


Kapitel 2:
Diebe in der Nacht

Er brach durch die Oberfläche eines unruhigen Schlafes wie ein ertrinkender Schwimmer, der panisch nach Luft ringt. Wenigstens lag er dieses Mal still, bis sich sein Atem beruhigt und sein Herzschlag einen langsamen, gleichmäßigen Rhythmus wiedergefunden hatte. In früheren Nächten war er in seinem Bett hoch geschossen und zu seiner großen Bestürzung von müden Gesichtern mit besorgten Augen umringt gewesen.

Sie schliefen alle tief und fest – Merry und Pippin, deren vereinigtes Schnarchen er selbst durch die geschlossene Tür hören konnte; die beiden teilten sich ein großes Zimmer auf der anderen Seite des Flures. Sam schlief ebenfalls... allerdings nicht in der Kammer neben dem von Frodo, sondern hier, in seinem Bett. Er konnte die Gegenwart des Gärtners dicht neben sich spüren, eine gesunde Wärme, die von seinem kräftigen Körper ausstrahlte wie von frisch gebackenem Brot.

Frodo seufzte.

Alles, was er von seinem Freund und Gefährten sehen konnte, war ein Schopf sonnengebleichten, zerzausten Haares, der im schwachen Mondlicht schimmerte, das durch einen schmalen Spalt zwischen den roten Samtvorhängen fiel, und den sauberen Verband an seiner rechten Hand, schneeweiß in der fast völligen Dunkelheit. Armer Sam! Er hatte mehr als seinen Anteil an Witzen über das Gamdschie-Ungeschick und die dramatischen Risiken der Gartenarbeit ab bekommen, aber er nahm es mit Humor. Nach einem ganzen Tag erbarmungslosen Spottes – vor allem von Merry – hatte Frodo versucht, einzugreifen, aber Sam lachte bloß und schüttelte den Kopf. Alles meine Schuld, sagte er mit einem ein wenig wehmütigen Lächeln, ich hätte es halt besser wissen sollen. Höchste Zeit, dass ich wieder meine eigenen Scheren nehmen kann... obwohl, und jetzt wurde das Lächeln zunehmend betrübter, ich fürchte, inzwischen sind sie wohl ziemlich rostig. Herr Lotho ist nicht gerade der Hobbit, der gut damit umgeht. Ich werd’ mir für den Garten in Krickloch neue kaufen müssen. Frodo klopfte ihm auf den Rücken und sie verspeisten im Garten ein üppiges Abendessen mit würzigem, tiefroten Wein aus Gondor, ehe sie ins Bett gingen.

Und irgendwann während dieser erstickend heißen Nacht musste Sam beschlossen haben, dass er es vorzog, näher bei seinem Herrn zu schlafen, für den Fall, dass der wieder üble Träume hatte... oder vielleicht auch nur, weil er so gewöhnt daran war, seinen Schlummer zu bewachen. Frodo nahm es ihm nicht übel, ganz im Gegenteil. Er fand Sams ergebene, selbstlose Haltung gleichzeitig rührend und tröstlich. Und trotzdem – sie waren so vorsichtig, so sanft, so... überaus bemüht, ihn zu beschützen, sie alle miteinander. Er wusste, sie meinten es gut. Er wusste, sie waren unruhig und ängstlich, er spürte, wo immer er auch hinging, ihre Blicke im Rücken, er hörte ihre leisen Stimmen, wenn sie ihm ihre Begleitung anboten, obwohl sie ihn sowieso nie allein ließen. Plötzlich schien diese lebendige Wärme neben ihm alles zu verkörpern, was sich verändert hatte und nun zu seinem Elend beitrug... all diese kleinen Einzelheiten, die den unabhängigen, selbstbewussten Herrn von Beutelsend in eine zerbrechliche, gehetzte Kreatur verwandelt hatten, der nicht gestattet war, auch nur einen Schritt allein zu tun, damit sie sich nicht selbst Schaden zufügte.

Er war ihnen für ihre Besorgnis und Fürsorge dankbar. Aber es gab Augenblicke, in denen er es kaum noch länger aushalten konnte... obwohl die Idee, mit den Füßen zu stampfen wie ein trotziger Dreikäsehoch und zu brüllen: Lasst mich um Himmels Willen alle in Ruhe! sicher nicht helfen würde, die Lage zu verbessern.

Und jetzt war es schon seit fast zwei Wochen viel zu warm – die Marmormauern der Weißen Stadt speicherten die unzeitige Hitze der Sonne und strahlten sie noch lange aus, nachdem die Abenddämmerung sich bereits herab gesenkt hatte. Dies waren erst die letzten Tage im Mai, und der Juni stand kurz bevor. Die Sommer in Gondor waren ganz offensichtlich anders als die im Auenland.

Daheim hatte es auch warme Wochen gegeben – natürlich – aber er erinnerte sich auch an wolkige Frühsommertage mit feinem Sprühregen vor dem Fenster seines Studierzimmers und dem beruhigenden Trommeln schwerer Tropfen auf dem Grasdach von Beutelsend.... Der süße Duft von feuchtem Geißblatt, das Platschen bloßer Füße nach einem erfrischenden Schauer in den silbrigen Pfützen auf den Weg nach Wasserau, üppig grüne Hügel und Narzissen mit sanft nickenden Köpfen... Er lag in der stickigen Dunkelheit, die Augen weit offen, und die Bilder überspülten ihn mit bittersüßer, atemberaubender Macht und legten sich wie geisterhafte Finger um sein Herz.

Zuhause.

Er war so lange blind und taub gewesen... blind und taub für alles außer diesem mörderischen, goldenen Reif, der von seinem Hals herabhing, für alles außer diesem wirbelnden Rad aus Feuer in seinem Kopf und seinem Geist. Jetzt kehrten ältere Erinnerungen langsam zu ihm zurück, farbenfroh und lebhaft wie ein kostbarer Wandteppich, und das warme Braun und Grün, das üppige Gelb und Blau waren die Schattierungen des Auenlandes, eingegraben in seine Seele. Er wollte nach Hause gehen, und zwar bald... die Hochachtung und kaum verhohlene Ehrfurcht all dieser fremden Leute hier entnervte ihn, er war übellaunig und krank vor Heimweh. Und jetzt lag er in seinem luxuriösen Zimmer, Sam im Tiefschlaf neben sich, und er wusste mit gnadenloser Klarheit, dass ihm nach nur zwei Stunden unruhigen Schlummers eine weitere schlaflose Nacht drohte.

Vielleicht mochte ein kleiner Spaziergang im Garten helfen... ein bisschen frische Luft und der Anblick der Sterne. Und plötzlich dachte er an die Hängematte.

Faramir hatte sie vor ein paar Wochen mitgebracht, als ein unförmiges Bündel unter dem Arm. Er trug sie über den Rasen, blieb vor zwei Eichen gleich neben der Mauer zum Garten des Seneschalls stehen und entrollte sie auf dem Gras. Die Hobbits schauten neugierig auf etwas herunter, das aussah wie ein riesiges Fischernetz, aus feinem Seil geflochten; Frodo erinnerte sich vage an so etwas aus Bockland, wo seine Tante Esmeralda manchmal Brasse und Barsch auf die Festtafel brachte.

„Was ist denn das?“ fragte Merry.

„Es ist eine Hängematte,“ erwiderte Faramir; er war bereits damit beschäftigt, das seltsame Netz zwischen den Eichen zu befestigen. „Die Seeleute aus Gondor benutzen sie auf den Schiffen der Händler, und mein Onkel, der Fürst von Dol Amroth, hat einige davon in den Gärten des Schwanenpalastes. Wenn ich ihn als Kind besucht habe, dann wollte ich nie in meinem Bett schlafen und habe die Nächte statt dessen in einer Hängematte verbracht – zum Entzücken meiner Mutter und zur Bestürzung meiner Amme.“ Er lächelte. „Ich dachte, ihr hättet vielleicht Freude an einer ganz neuen Erfahrung.“

Sam beäugte die Hängematte mit dem selben herzhaften Misstrauen, das er beim Anblick der grazilen Elbenboote in Lórien gezeigt hatte. Er konnte nicht dazu überredet werden, sie auszuprobieren, und als Peregrin von seinem Dienst in der Wache zurück kam und über diesen seltsamen, neuen Gegenstand in Kenntnis gesetzt wurde, hielt er sich in sicherer Entfernung und beobachtete, wie der Ritter von Gondor vorsichtig sein Gewicht hinein senkte. Pippin war wesentlich wagemutiger als der Gärtner, aber selbst er benutzte die Hängematte nur wie eine Art großer Schaukel, und es wurde für ihn und Merry zu einem Spaß, Seite an Seite darin zu sitzen und die Beine zu beugen und zu strecken, bis sie durch die warme Sommerluft vor- und zurück schwangen; binnen Minuten verwandelten sie sich von abgehärteten Helden in ausgelassene Kinder, während ihr gemeinsames Gelächter durch den Garten schallte.

Der Einzige, der am Ende den eigentlichen Zweck von Faramirs Geschenk zu würdigen wusste, war Frodo selbst. Eines Tages wartete er, bis Merry und Pippin sich zu ihren verschiedenen Pflichten aufgemacht hatten und Sam damit beschäftigt war, den Aufseher der königlichen Gärten mit einer Flut von Fragen zu belagern, dann schlüpfte er mit einem Kissen und einer Decke ins Freie und wagte seinen ersten Versuch. Es erforderte einigen Mut, in das große, elastische Geflecht zu klettern, aber als er es einmal fertig gebracht hatte und vorsichtig die Beine ausstreckte, erwies es sich als verblüffend bequem. Er stopfte sich das Kissen unter den Kopf, wickelte sich in die Decke und spürte die weiche, schaukelnde Bewegung der Hängematte unter seinem Körper. Keine dicke, schwere Matratze, keine hohen Steinmauern, die ihn einschlossen... statt dessen eine sanfte Brise, die ihm das Haar zerzauste und der klare Himmel über sich, das strahlende Blau durch einen Schleier grün-goldenen Eichenlaubes gefiltert.

„Nicht übel,“ murmelte er, „gar nicht übel.“

Nur Minuten später duselte er ein, und als die anderen Hobbits am Spätnachmittag zurück kamen, entdeckten sie ihn erst nach einer fast halbstündigen Suche im Garten. Er erwachte von Merrys und Pippins Gelächter, und von Sams entsetztem Ausruf: „Wie um Himmels Willen bringt er es fertig, nicht aus diesem... Ding... heraus zu plumpsen und sich den Hals zu brechen?!“

Er schlüpfte aus dem riesigen Bett und vermied es sorgsam, Sam aufzuwecken. Er ließ das Kissen liegen, nahm eine zusammen gefaltete Decke vom Deckel einer Truhe und schlich sich hinaus. Sobald er die Tür erreicht und sie geöffnet hatte, spürte er die Nachtluft wie eine Liebkosung auf dem Gesicht und tat einen tiefen, unwillkürlich erleichterten Atemzug. Er trat ins Freie, verließ den Kiesweg und lief über das taufeuchte Gras, jeder einzelne Schritt ein stilles Entzücken, kühl und belebend. Dann tauchte er in den Schatten unter den Bäumen und schwang sich in die Hängematte. Genau wie beim allerersten Mal fühlte er sich friedlich und seltsam geborgen, als er sich den Bewegungen dieser zerbrechlichen, übergroßen Wiege überließ. Und langsam wirkte die Hängematte ihren Zauber; sie überlistete seine ständige Schlaflosigkeit und schaukelte ihn in einen tiefen Schlummer hinein, wundersamerweise von keinem Alptraum gestört.

*****

Er öffnete seine Augen zu den ersten, schläfrigen Noten einer Amsel über seinem Kopf. Der Himmel war noch grau, aber rosige Finger streckten sich vom Osten her aus, sanfte Vorboten des Sonnenaufganges. Sein Gesicht und seine Haare fühlten sich ein wenig klamm an, aber die Decke hatte ihn vollkommen warm gehalten, und er entschied, noch ein bisschen liegen zu bleiben. Vielleicht konnte er etwas später aus der Hängematte steigen und zusehen, wie sich die Sonne über dem Ephel Dúath erhob.

„Bist du verrückt? Was machst du als nächstes – ihn auf die Straße fallen lassen wie einen verfaulten Apfel?“

Ein hoher, pfeifender Tenor, scharf und laut in der träumerischen Stille des dämmernden Tages. Frodo setzte sich jäh auf und blickte sich um.

„Wir müssen ihn so schnell wie möglich in den Karren schaffen und die Stadt verlassen, bevor sie aufwachen und es herausfinden!“

„Sei still, du Narr. Der Karren wartet gleich um die nächste Ecke, mit einem großen Fass. Nichts wird passieren, solange du nicht die Nerven verlierst.“

Eine tiefere Stimme, heiser und mit einem Anhauch grimmigen Lachens. Schritte entfernten sich, und dann war alles still. Frodo befreite einen Arm aus dem Deckenkokon und rieb sich die Augen; er versuchte, seinen Kopf ausreichend klar zu bekommen um zu verstehen, was gerade passiert war.

Wer immer da auch gesprochen hatte, war nicht im Garten gewesen, sondern außerhalb, auf der anderen Seite der Mauer. Plötzlich erinnerte er sich an etwas, was Aragorn ihm während ihrer Fahrt in den Elbenbooten erzählt hatte, in einer jener endlosen Stunden, die sie in nervöser Unruhe zubrachten, die kalte Strömung des Flusses dicht unter sich. „Stimmen tragen weit auf dem Wasser,“ hatte Aragorn gesagt, „genau wie in der Nacht oder der Morgendämmerung, wenn alle lebende Geschöpfe im Schlaf liegen. Wenn du sprechen musst und nicht belauscht werden willst, dann solltest du nicht flüstern. Senk einfach ein wenig die Stimme und sprich in ruhigem Tonfall; niemand wird verstehen, was du sagst, und du kannst deine Geheimnisse für dich behalten.“ Der Mann mit der schrillen Stimme war sich dieser Tatsache offenbar nicht bewusst gewesen.

Er versuchte immer noch, herauszufinden, worum es in dem kurzen Wortwechsel gegangen war. Wer war das, den sie da fort getragen hatten? Wo wollten sie hin? War er Zeuge eines Verbrechens gewesen oder nur von einem harmlosen Gespräch zweier Freunde, die einem dritten nach einer bierseligen Nacht beistehen wollten? Und wofür brauchten sie dieses Fass?

Er kletterte aus der Hängematte und ging zur östlichen Mauer hinüber. Von dort aus hatte er einen freien Blick auf die unteren Kreise von Aragorns Weißer Stadt, und der Himmel wurde heller, mit einem breiten Saum aus leuchtendem Gold am Horizont. Er schaute prüfend auf die Serpentinenstrasse hinab, die zu den großen Toren hinunter führte. Es waren schon ein paar Karren unterwegs, mehr als einer davon mit Fässern beladen; man hatte ihm erzählt, dass jedes Glas Wein und jeder Humpen Bier aus dem südlichen Regionen von Gondor nach Minas Tirith gebracht werden musste. Während der Nacht blieben die Stadttore geschlossen; die Händler konnten sich erst bei Tageslicht auf den Weg machen.

Frodo schüttelte den Kopf und beschloss, wieder hinein zu gehen; der Tau und die kühle Morgenluft ließen ihn frösteln, und die Aussicht auf eine gute Tasse Tee, eine Pfanne Rührei und Röstbrot wurde immer verheißungsvoller. Er konnte zur Abwechslung einmal alles selbst machen – auch wenn er auf einen Hocker steigen musste, um an den Rost des Herdes zu gelangen – und er konnte seine Gefährten mit einem herzhaften Frühstück überraschen.

Er schlenderte über den Pfad zurück und trat ins Haus, dann ging er den Flur hinunter und schaute in Sams Zimmer. Die Decke war sauber zusammen gefaltet, das Kissen aufgeschüttelt, aber niemand lag im Bett. Sam hatte offensichtlich seinen Ausflug in den Garten überhaupt nicht bemerkt und schlief immer noch tief und fest im Bett seines Herrn.

Frodo lächelte und ging weiter zu seinem eigenen Zimmer. Er öffnete die Tür; drinnen war es dunkel und erstickend heiß. Nur ein schmaler Lichtstrahl fiel auf die Matratze, auf der aber niemand lag. Als er stirnrunzelnd näher trat, knirschte etwas unter seinem rechten Fuß und ein plötzlicher Schmerz brachte ihn zum Stolpern. Er humpelte hastig zum Fenster hinüber und riss den Vorhang beiseite. Jetzt hatte er freie Sicht, und er starrte mit großer Bestürzung auf die Szene vor seinen Augen.

Das Kissen lag auf dem Boden und die Decke hing halb aus dem Bett, Die Wasserkaraffe und das Glas auf dem Nachttisch waren offenbar herunter gefegt worden; Scherben glitzerten auf den weißen Marmorfliesen, und als er auf seinen schmerzhaft pochenden Fuß hinunter schaute, sah er, dass ein langer Splitter aus seiner großen Zehe ragte. Er bückte sich mit einer Grimasse und zog sie heraus, ohne auf das Blut zu achten, das ihm die Finger befleckte. Denn plötzlich entdeckte er einen dunklen Abdruck auf der Decke: jemand war darauf getreten... jemand, der Stiefel trug.

Er holte tief Atem, biss die Zähne zusammen und kämpfte gegen die Panik an, die ihn zu überwältigen drohte.

Wir müssen ihn so schnell wie möglich in den Karren schaffen und die Stadt verlassen, bevor sie aufwachen und es herausfinden!

Jetzt machte die Bemerkung auf schreckliche Weise Sinn... zwei Männer, die heimlich ein Bündel aus dem Haus schleppten und versuchten, es außer Sichtweite zu bringen, bevor irgendjemand merkte, was sie da taten.

Und ich bin da gestanden wie ein hirnloser Narr und habe ihnen zugeschaut, wie sie entkommen sind! dachte er, betäubt und starr vor Entsetzen. Süßer Eru, sie haben Sam entführt!


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