Harthad Uluithiad
von Aratlithiel, übersetzt von Cúthalion


1.Kapitel
Firith

Pippin zerrte den Hocker über den polierten Steinfußboden des Wohnzimmers und stellte ihn unter das Fenster, das auf die Straße hinaussah. Er zog sich hoch und stützte die Ellbogen auf das Fensterbrett; seine Augen wurden schmal, während er die Straße entlang spähte, die Gandalf und Aragorn vor Stunden hinunter gegangen waren. Sie sollten jetzt schon wieder zurück sein.

Er knabberte abwesend an einem Daumennagel, während sein Blick über die vielen verschiedenen Einwohner der Stadt hinweghuschte, die sich auf der Straße tummelten. Er wusste, dass Frodo seinen grauen Mantel trug, und Gandalf kleidete sich dieser Tage immer in Weiß, also hielt er die Augen nach diesen beiden Farben offen, während er von einem Fuß auf den anderen trat. Eine ziemlich schwierige Sache in dieser Stadt aus Stein, wo alles eine Abwandlung von genau den beiden Schattierungen war, nach denen er jetzt suchte.

Frodo war in großer Not gewesen, als er, wie es Pippin nun vorkam, vor einer Ewigkeit zur Tür hinaus und die Straße hinunter flüchtete. Er hatte versucht, Pippin anzulächeln, als er an ihm vorbei den Korridor hinunter zur Tür hastete und hinauseilte, aber Pippin war es mehr wie eine Grimasse vorgekommen. Mehr noch, Pippin hatte seine Augen gesehen und plötzlich gewusst, was sein Vetter so viele Wochen hinter seinem verschlossenen Blick verborgen gehalten hatte. Die Maske abwesender Gemütsruhe, die Frodo getragen hatte, war plötzlich heruntergezogen und offenbarte die Seelenqual und den Tumult, die sein Herz bedrängten. Pippin dachte bei sich, dass er noch nie solche Abgründe gesehen hätte, und er erschauderte bei dem Gedanken, dass sein Vetter all diese Zeit dabei war, darin zu ertrinken.

Merry war auf dem Sprung gewesen, ihm zu folgen, aber Pippin fing ihn ab und bestand darauf, dass er ihm sagte, was Frodo in einen solchen Zustand versetzt hatte. Ich weiß es nicht, Pip! hatte Merry gesagt. Ich hab bloß versucht, ihm zu sagen, dass er keine Schuld hat und er... er wurde einfach weiß und murmelte irgendwelchen Blödsinn, bevor er sich umdrehte und... na ja, ,wegrannte’ ist wahrscheinlich das beste Wort dafür.

Eine kurze Diskussion darüber, wer ihm folgen sollte, würde unterbrochen, als Gandalf mit Aragorn auf der Fersen durch die Tür polterte. Nachdem Erklärungen und allgemeine besorgte Blicke gewechselt worden waren, wurde entschieden, dass der Zauberer und der König die Verfolgung übernehmen sollten, während es dem Soldaten und dem Knappen überlassen blieb, zu warten.

„Verflixt und zugenäht!” murmelte Pippin. Man hatte die Tuks während ihrer langen und farbigen Geschichte manches genannt, aber soweit Pippin wusste, gehörte „geduldig“ nicht dazu. Er stützte sein Kinn auf die Fäuste, starrte weiter in die Richtung, in die sie davongeeilt waren und zwang sich zur Ruhe. Wieso war er in einer solchen Verfassung? Frodo war kein Kind, das allein in der Wildnis verloren ging. Er war immerhin ein ausgewachsener Hobbit, und er machte einfach einen Spaziergang... wieder einmal. Allein.

Nein, erinnerte Pippin sich selbst. Frodo hatte sich nicht einfach allein zu einen seiner regelmäßigeren Spaziergänge aufgemacht, wie es in diesen Tagen seine Gewohnheit war. Frodo war geflüchtet. Merry hatte etwas gesagt, was er für eine tröstliche Bemerkung hielt, und Frodo war tatsächlich vor ihm weggelaufen... vor ihnen. Er rutschte ihnen durch die Finger und zur Tür hinaus, bevor einer von ihnen die Möglichkeit hatte, ihn aufzuhalten. Warum?

Durch die Finger rutschen. Das war ein Ausdruck, den Pippin über die Jahre oft mit seinem älteren Vetter in Verbindung gebracht hatte... ein ausgeprägtes Gefühl, wenn Frodos Augen sich mit diesem Nebel aus Zauberei und Wunder füllte, der manchmal aus seinem Herzen in sein Gesicht wehte.

Als Pippin noch ein kleiner Junge war, hatte er gedacht, dies sei der allerschönste Ausdruck, den er jemals auf dem Gesicht von irgend jemandem sehen würde. Er ließ ihn an Sternenlicht und Feen denken, an Elben und Drachen. Pippin wünschte sich oft, dass Frodo ihn in diese Träume mitnehmen könnte, die sein Gesicht so sehr veränderten – von einem geliebten, älteren Vetter zu einem himmlischen Geschöpf voller Magie.

Als Pippin älter wurde, sorgte dieser Ausdruck langsam dafür, dass er sich irgendwie unbehaglich fühlte. Nicht, dass er ihn nicht immer noch wunderschön fand, aber irgendwann während seiner Jugend fing es an, dass sein Mund davon trocken wurde, und dass Tränen heiß, schwer und pulsierend hinter seinen Augen brannten. Er verstand es nie ganz, aber er stellte fest, dass er sich ungeduldig räusperte, mit einem Buch in der Hand auf Frodos Schoß kletterte, oder dass er sich einfach auf ihn stürzte und seinen Vetter mit aller Gewalt fortzerrte von wo auch immer er sich befand, wenn er diesen Blick in den Augen hatte... er brachte ihn zurück und verlangte wortlos, dass Frodo hier bliebe, bei Pippin, anstatt fort zu gehen zu einem weit entfernten Ort, den er nicht finden konnte und wo er sich verirrte, wenn er es versuchte. Pippin hatte sich bei jeder Gelegenheit an Frodo geklammert und sich wie eine Klette an die drahtige Gestalt seines Vetters gehängt, wann immer der die Smials besuchte oder wenn Pippin das Glück hatte, dass er seine Eltern zu einem Besuch in Beutelsend begleiten durfte. Das schien Frodo nie etwas auszumachen, und er nahm alles hin, was der Junge verlangte. Ob Geschichte, Spiel oder Umarmung, der ältere Vetter versäumte es nie, dem jüngeren mit bereitwilligem Lächeln und sanfter Hand nachzugeben.

Pippin hatte alles getan, was er sich ausdenken konnte, um den Blick aus den Augen seines lieben Frodo fernzuhalten. Er wusste nie wirklich, was ihn daran so beunruhigte; Pippin wusste nur, dass er ihn gleichzeitig unerklärlich traurig und verängstigt machte. Sein Geist arbeitete unablässig an einfallsreichen Wegen, seinen Vetter immer in Reichweite zu halten und jedes Mal seine Aufmerksamkeit einzufordern, wenn es für Pippin so aussah, als könnte Frodo damit anfangen, von ihm fortzutreiben. Abschiede waren für den Jungen ganz besonders schmerzhaft; die Tränen strömten ungehindert, während er sich darum sorgte, wer seinen Vetter an Ort und Stelle halten würde, wenn Pippin nicht da war, um über ihn zu wachen.

Dann war das Fest zu Bilbos berühmt-berüchtigten einundelfzigsten Geburtstag gekommen, und inmitten der Rauchwolke und dem Schwefelgeruch hatte Pippin plötzlich begriffen, wovor er sich all die Jahre gefürchtet hatte.

Pippin ist erst elf und kaum imstande zu erfassen, dass sein Vetter heute ein ganzes Jahrhundert älter ist als er selbst. Es kommt ihm erstaunlich vor, dass es so lange vor seiner Geburt schon Leben gegeben hat, und er fühlt sich dadurch kleiner als jemals zuvor.

Er hat den Großteil des Abends damit verbracht, Kuchen und Leckereien von den üppig beladenen Platten zu stibitzen und auf Frodos Rücken zu springen, wann immer sein älterer Vetter gerade nicht höflich einen Gast begrüßt. Wenn Pippin ehrlich mit sich selbst wäre, dann müsste er zugeben, dass er eine Menge Zeit darauf verwendet hat, auf recht rüde und beharrliche Weise die Aufmerksamkeit seines Vetters auf sich zu ziehen. Aber Pippin ist elf, und es gibt wenige Jungen in seinem Alter, die in Bezug auf ihr eigenes Benehmen ehrlich sind. Also entzieht er sich bei jeder Gelegenheit der halbherzigen Wachsamkeit seiner Mutter und beansprucht seinen Platz auf Frodos Hüfte, bis er von seinem Vater eingefangen wird, eine Abreibung verpasst bekommt und einmal mehr weggezerrt wird.

Er ist trotzdem nie lange weg aus Frodos warmer Gegenwart; er bringt seine Fluchten immer geschickter zustande, was direkt etwas mit der Anzahl der Humpen zu tun hat, die sein Vater leert. Frodo erträgt seine Aufmerksamkeiten mit der selben guten Laune, die ihm seinen Platz als Lieblingsvetter in Pippins Herzen eingetragen hat; ein Status, den Frodo ein Leben lang behalten wird, und er wird wahrscheinlich nie verstehen, wieso.

Das Feuerwerk ist spektakulär. Er sitzt auf Frodos Schoß, die Hände über den Ohren und genug Gelächter im Bauch, dass er sich wünscht, er hätte doch nicht so viele Leckereien gegessen. Merry sitzt neben Frodo und die drei teilen das Entzücken über den Zauber, der sich am Himmel über ihnen entfaltet. Da ist ein Drache, und für endlose Augenblicke ist Pippin gefangen zwischen freudigem Staunen und überwältigendem Entsetzen – diese seltsame Heiterkeit, einzigartig für Kinder, die schlichtweg zu sehr von Staunen erfüllt sind, um sich ganz und gar vor etwas zu fürchten. Er spürt die warmen Arme, die ihn umschlingen und festhalten, und er ist sicher, dass – ob dies nun Ancalagon ist, der von den Toten zurückgekehrt ist, um Rache am Auenlandvolk zu nehmen oder ganz einfach die zauberhafteste Zurschaustellung, die er je gesehen hat – Frodos Arme um ihn ihm Schutz und Sicherheit geben werden. Der Drache explodiert in einem außergewöhnlichen Schauer glitzernder Edelsteine und Pippin klatscht und jubelt gemeinsam mit seinen beiden Vettern, obwohl es ziemlich klar ist, dass die Vorführung vorbei ist.

Das Abendessen wird serviert und irgendwie schafft Pippin Platz für die unterschiedlichen Köstlichkeiten, die seine Mutter vor ihn hinstellt; er isst, bis er sicher ist, dass er platzen wird, wenn er einen weiteren Bissen auch nur riecht. Nach dem Abendessen ist der Augenblick für die unvermeidliche Rede gekommen. Pippin verdreht die Augen und wappnet sich für die lange, öde Erwachsenensache und unzählbare Knuffe von seiner Mutter unter dem Tisch, wenn er es völlig unmöglich findet, nur noch einen Augenblick länger still zu sitzen, wie das sicherlich jeden Moment der Fall sein wird.

Er lässt den Blick über die Menge schweifen, sucht nach Frodo und wünscht sich, sein Vetter müsste nicht mit Bilbo an der Haupttafel sitzen und könnte statt dessen hier bei ihm sein. Frodo schafft es scheinbar immer, Pippin zu unterhalten, ohne seine Mutter zu irritieren – eine sehr wertvolle Gabe für jeden älteren Vetter.

Er hat nicht sehr auf die Ansprache geachtet. Er lässt die Augen im Zelt herumwandern; sie bleiben an Merry hängen (der ihm prompt die Zunge herausstreckt), und irren ab, um mit wachsendem Interesse den riesigen Geburtstagskuchen zu studieren. Er hat gerade angefangen, ernsthaft darüber nachzudenken, ob das letzte Stück Huhn auf dem Teller wohl in seinen Magen passt, als er von weit entfernt Bilbo hört.

„Ich verlasse Euch jetzt. Lebt wohl!“

Pippin schaut gerade rechtzeitig auf, um für einen Moment von einem Lichtblitz geblendet zu werden, der sich schnell in Rauchwolken auflöst. Grüne Flecken und bläulich-weiße Staubkörnchen tanzen in seinem Blickfeld.

Das allgemeine Nach-Luft-Ringen der Menge bekommt er kaum mit. Pippins Kopf fühlt sich plötzlich zu leicht an und er hat den lächerlichen Impuls, die Hände zu heben und ihn auf seinen Schultern festzuhalten, bevor er fort schwimmt. Das Blut weicht aus seinem Gesicht und aus seinen Gliedern in sein Herz zurück, dass heftig in seiner kleinen Brust schlägt. Sein Magen verknotet sich und droht, sich von all dem zu erleichtern, was er närrischerweise hineingestopft hat, und zwar sehr bald, wenn er es nicht innerhalb der nächsten ein, zwei Minuten schafft, ihn zu beruhigen. Er schluckt mehrmals und bringt es mit schierer Willenskraft fertig, seinen Mageninhalt bei sich zu behalten. Als er sicher ist, dass ihm das gelungen ist, bricht Pippin in Tränen aus.

Er ist auf den Beinen, stolpert über seinen Stuhl und fängt an, sich verzweifelt einen Weg fort vom Tisch zu bahnen, als seine Mutter ihn am Arm erwischt und seinen Kopf an ihre Brust zieht. Sie tröstet ihn und versucht, ihn zu beruhigen, während Pippin versucht, sich frei zu winden und während seine Augen über die Stelle dahinirren, wo Bilbo noch einen Moment zuvor gestanden hat.

„Bilbo hat den Jungen verängstigt, Paladin.“ sagt seine Mutter. „Vielleicht sollten wir gehen.“

Pippin setzt all seine Kraft ein, und es gelingt ihm mit einem kräftigen Ruck, sein verschwitztes, kleines Handgelenk aus dem Griff seiner Mutter zu befreien. Er hastet zu dem Ort, wo Bilbo gewesen ist und bleibt abrupt stehen. Er kann den Schwefel riechen, der dick und schwer in der Luft hängt, er schmeckt ihn bitter und scharf auf der Zunge.

Erleichterung überspült ihn und macht ihn fast schwindelig, als er Frodo entdeckt, der dicht neben dem Stuhl steht, auf dem Pippin ihn das letzte Mal gesehen hat, bevor Bilbo seine Welt genommen, sie leicht nach links gekippt und aus dem Gleichgewicht gebracht hat. Pippin beobachtet, wie Frodo sein Glas hebt und leert, und wie er langsam aus dem Ring aus Licht in die Schwärze der Nacht wandert, ein trauriges Lächeln auf den Lippen und Ferne in den Augen. Er will ihm folgen, als starke Hände ihn von hinten am Kragen packen; er wird auf die Hüfte seines Vaters gehoben, ein fleischiger Finger wedelt vor seiner Nase herum und eine strenge Stimme schilt ihn, dass er seiner Mutter davongelaufen ist.

Die fragliche Mutter holt zu dem Pärchen auf. „Lass den Jungen in Ruhe, Paladin, Er ist bloß erschrocken.“

Hätte Pippin schon die Bedeutung des Wortes „Untertreibung“ gelernt, jetzt wäre sie ihm sicher durch den Kopf gegangen.

Bilbo verschwinden zu sehen hat Pippin ordentlich erschreckt, soviel ist sicher, aber nicht auf die gleiche Weise wie die anderen Gäste. Pippin ist mehr als erschrocken – er ist wirklich und wahrhaftig verängstigt. Nicht, weil dies seine erste echte Demonstration wahrer Zauberei ist, worüber er zuvor nur Geschichten gehört und nur halb geglaubt hat. Nein – dies ist eine viel tiefere, beinahe primitive Angst, von einer so scharfen Panik durchzogen, dass er fast spürt, wie sie sich in sein Gehirn gräbt und in seine Sinne krallt. Denn Pippin hat eine Offenbarung gehabt, und sie hat ihn bis ins Mark entsetzt.

So jung er auch ist, hat Pippin doch plötzlich begriffen, dass dies der Grund ist, warum diese verschleierten und weit abwesenden Blicke ihn immer so verstört haben... das ist es, weshalb er sich immer so verzweifelt an seinen Vetter klammert. Da ist ein Ort tief in seinem kindlichen Herzen, wo Pippin plötzlich etwas offenbart wird: dass er halb und halb erwartet hat, dass sein geliebter Frodo eines Tages dem weit entfernten Pfad folgen wird, den seine Augen gesetzt haben, und dass er direkt vor ihm verschwinden wird, gerade so, wie Bilbo es getan hat. Dass, wenn er sich nicht an ihm festhält und dafür sorgt, dass sein Vetter in der Nähe bleibt, der Nebel aus seinen Augen entweichen und ihn einhüllen wird, und dass Frodo nicht greifbarer sein wird als die beißenden Rauchwolken, in denen Bilbo verschwunden ist. Dass der Nebel auf der sanftesten Brise verwehen wird und Pippin zurücklässt, der fruchtlos nach den Schleiern greift, die zwischen seinen verzweifelten Fingern hindurchtropfen wie Blut.

„Irgendwas Neues?“

Pippin erschrak und zuckte so heftig zusammen, dass er fast von seinem Sitzplatz auf der Fußbank herunterfiel. Er fand sein Gleichgewicht zurück, drehte sich um und sah Merry, der im Türrahmen stand, die Augen müde und sein Gesicht voller Traurigkeit und Sorge. Merry trottete zum Sofa hinüber und warf sich darauf.

„Nein“, erwiderte Pippin, „noch nicht.“ Er wandte sich zum Fenster zurück und nahm seine Wache wieder auf. „Merry“, sagte er, „was hast du zu Frodo gesagt, bevor er fort ging?“ Nicht als Schweigen hinter ihm, so dass Pippin sich noch einmal umdrehte, um seinen Vetter anzusehen.

Merry starrte zur Decke und knetete sich mit den Fingern die Stirn.

„Ich hab ihm gesagt, er wäre nicht daran schuld.“ sagte er einfach.

Pippin runzelte die Stirn. „An was?“

„Weiß ich nicht.“ sagte Merry. „An irgendwas. An allem. An was auch immer, wovon er glaubt, dass man ihn haftbar machen sollte. Dafür, dass er gelitten hat, während er den Fluch der Welt auf seiner Brust trug, dafür, dass er sich ihm Stück für Stück überließ, um ihn davon abzuhalten, dass er einen von uns erreichte, dafür...“ Merry hielt inne und legte die Hand über die Augen. „... dafür, dass er uns nicht in die Augen sehen konnte. Ich weiß nicht, Pippin! Was immer es auch ist, was er sich selbst nicht vergeben kann!“

Pippin kletterte von dem Stuhl hinunter und ging zu seinem Vetter hinüber. Er kniete sich neben ihn, wartete und betrachtete das schmerzerfüllte Gesicht.

„Und was noch?“ fragte er sanft.

Merry langte in seine Tasche und zog ein Taschentuch heraus. Er wischte sich die Stirn und seufzte schwer.

„Ich hab ihm gesagt, dass es nicht seine Schuld wäre, dass er ihn am Ende nicht besiegen konnte.“ Er sah Pippin an; Schuld und Trauer lagen in seinen Augen im Streit. „Ich dachte, wenn er wüsste, dass ich das verstanden habe, dann käme er vielleicht zu uns zurück. Ich dachte, ich könnte sein Herz zurückbringen, von wo auch immer er es zurückgelassen hat.“

Die Tür knarrte und sie zuckten beide zusammen. Pippin hielt still und lauschte aufmerksam der rauen Stimme, die durch das Haus rumpelte. Er sprang auf die Füße und ging schnell den Flur hinunter.

Aragorn stand neben der Tür und hielt sie auf, als Frodo langsam ins Haus kam, Gandalf hinter sich, die Hand auf seiner Schulter. Pippin ließ seinen Blick rasch prüfend über ihre Gesichter wandern und bemerkte mit Bestürzung den besorgten Ausdruck von Gandalf und Aragorn. Frodos Augen blieben niedergeschlagen; er fügte sich, als der Zauberer ihn ins Haus und den Flur hinunter in sein Zimmer führte.

Als sie an ihm vorbei kamen, streckte Pippin die Hand aus, packte Frodo am Ärmel und hielt ihren Weg auf. Frodo schaute auf die Hand auf seinem Arm hinunter, und dann blickte er zu Pippin hoch.

Pippin wollte aufschreien, aber er zwang sich, ruhig zu bleiben; sein Gesicht zeigte nichts von dem Aufruhr, der sein Herz erfasste. Oh Frodo, mein Lieber, wo bist du?

Er ließ seine Hand schlaff herunterfallen und Gandalf führte Frodo weiter auf dem Weg zu seinem Zimmer, steuerte ihn durch die Tür und schloss sie hinter ihnen. Pippin atmete zittrig aus und wirbelte zum König herum.

„Was habt ihr denn jetzt mit ihm angestellt?“ verlangte er zu wissen, mit mühsamer Stimme und flammenden Augen.

„Pippin!“ sagte Merry hinter ihm und legte ihm eine warme Hand auf die Schulter. Pippin schüttelte sie ab und drehte sich um.

„Was?“ fragte er mit wachsendem Zorn. „Sollten sie nicht verantwortlich sein für den Zustand, in dem sich mein Vetter befindet?“

„Es gibt nur einen, der für den Zustand deines Verwandten haftbar gemacht werden kann.“ stellte Gandalf gelassen fest, trat in auf den Gang hinaus und schloss die Tür leise hinter sich. „Aber da dieser eine nicht mehr ist, können wir nur Trost anbieten, wo es uns möglich ist und versuchen, den Schaden, der angerichtet wurde, in Ordnung zu bringen.“

„Und was hat dieses ,in Ordnung bringen’ zur Folge?“ fragte Pippin grob. „Habt ihr ihn noch weiter über das Bett aus Kohlen gezerrt, dass er sich selbst geschaffen hat?“

„Pippin“, begann Merry, „du kannst nicht...“

„So etwas haben wir nicht getan, Peregrin Tuk“, unterbrach ihn Gandalf „und ich darf dich daran erinnern, dass wir auf deine Bitte hin auf die Suche nach Frodo gegangen sind.“

„So etwas habt ihr nicht getan.“ gab Pippin zurück,„Du hast uns davon abgehalten, ihn zu suchen und uns gebeten, hier zu warten wie Kinder. Und dann habt ihr ihn in einem schlimmeren Zustand hierher zurück gebracht , als er es war, als er ging! Ich frage noch einmal: was habt ihr mit ihm angestellt?“

„Wir haben nichts getan.“ warf Aragorn ein; der strenge Tonfall seiner Stimme wurde von der Qual Lügen gestraft, die so deutlich in sein Gesicht eingegraben war. „Wir haben ihn gefunden, allein und voller Kummer, und wir haben getan, was wir konnten, um ihn zu trösten.“

„Ich habe ihn gesehen!“rief Pippin. „Ich hab seine Augen gesehen. Er ist nicht da!“

„Oh, er ist da, junger Peregrin“, sagte Gandalf traurig, „das kann ich dir versichern. Vielleicht braucht er einfach Beistand, einen Weg zurück zu sich selbst zu finden.“

Pippin rollte die Augen und wischte die Hand weg, die Merry ihm auf den Arm legte.

„Und was bedeutet das nun wieder?“ fragte er wütend. „Wieso musst du immer in Rätseln sprechen?“

„Es bedeutet“, sagte Aragorn, „das es nicht viel gibt, was wir tun können, um ihm gerade jetzt zu helfen...“

„Nicht viel, was ihr...“ spie Pippin, „Nicht... oh, tatsächlich! Sein Herz und seine Seele liegen im Gleichgewicht! Wie könnt ihr ihn blind und zerschmettert lassen nach allem, was er getan hat? Wie könnt ihr ihn allein im Dunkeln herumwandern lassen? Ihr müsst ihm helfen!“

„Wir haben die Hoffnung nicht aufgegeben, Meister Tuk“, sagte Gandalf. „Wir tun, was wir können, um...“

„Was ihr könnt? Sterne über uns, Gandalf, du bist ein Zauberer! Du kannst es doch sicher fertig bringen, ein Herz zu heilen und den Schaden, den du angerichtet hast!“

„Das reicht, Peregrin“, sagte Aragorn mit ruhiger Stimme. „Der Schaden wurde von der Hand eines einzigen angerichtet, und nur von diesem einen allein. Dies war weder Gandalfs Tat noch meine. Frodos auch nicht, was das angeht, aber es wird mehr brauchen als das, was wir anbieten können, um ihn davon zu überzeugen, und ich fürchte, dieser Schaden wird niemals ganz ungeschehen gemacht werden.“

„Was meinst du damit, niemals?“ fragte Pippin. „Du meinst doch sicher nicht...“

„Pippin.“ Merry sprach leise und legte seine Hand einmal mehr auf Pippins Arm. „Hör auf. Aragorn hat Recht. Es reicht.“

Pippin erschlaffte; er zitterte unter Merrys Griff, und Wut brannte hell in seinen Augen.

„Aber... aber niemals, Merry...“ würgte er.

Merry zog Pippins Kopf auf seine Schulter.

„Ich weiß, Pippin.“ sagte er beruhigend.„Aber Frodo ist ein Hobbit. Ein Brandybock und nebenbei auch noch ein Tuk. Wie viele Male haben die rings um ihn herum ihn unterschätzt?“ Er hob seine Augen zu denen von Gandalf. „Sogar Könige und Zauberer wissen nicht alle Dinge.“

Die Tür knarrte und alle Augen wandten sich ihr zu, als Sam schwungvoll hereinkam, dicht gefolgt von Legolas; beide hatten ein entspanntes Lächeln auf dem Gesicht. Sam bewegte sich zur Seite, um dem Elb Platz zu machen und schloss die Tür; während er das tat, wandte er sich halb der Menge zu.

„Aha, wie ich sehe, haben wir schon ein volles Haus!“ bemerkte er mit einem leichten Lächeln. „Was macht ihr denn alle im Flur?“ Er betrachtete die Gesichter vor sich genauer und seine Mundwinkel verzogen sich nach unten. „Was ist denn los?“ fragte er. Er schaute den Flur hinunter in Richtung der Schlafzimmer, dann zurück zu den besorgten Gesichtern. Ohne ein weiteres Wort drängte er sich an ihnen vorbei, ging eilig zum Zimmer seines Herrn und trat leise ein.

*****

Gandalf und Aragorn gingen schweigend; ihre Füße trugen sie auf einem blinden Kurs zur Veste, während sich ihr Geist den Ereignissen des Tages zuwandte. Beider Herzen waren erfüllt von einer Trauer und Furcht, die sie seit dem Dämmerungslosen Tag nicht mehr gekannt und von der sie gedacht hatten, sie nie wieder zu sehen. Sie stiegen die Steinstufen hinauf und betraten das massive Gebäude, wobei sie die Wachen und Adjutanten ignorierten, die stehen blieben und sich verbeugten, als sie an ihnen vorbei kamen. Sie nahmen den Weg zu den Gemächern des Königs und Aragorn sank in den nächsten Sessel, erschöpft und erschüttert. Gandalf ging zum Fenster hinüber und spähte hinaus in den Vorhof; er rieb sich gedankenvoll das Kinn und lehnte sich gegen den steinernen Fensterrahmen.

„Sie haben Recht, weißt du“, sagte Aragorn ein paar Augenblicke später. „Wir sind in dieser Sache beide schuldig.“

„Unsinn!“ entgegnete Gandalf. „Hast du keines der Worte gehört, die sich zu Frodo gesagt habe? Es gibt keine Schuld auf uns zu nehmen außer der, die wir den Mächten aufbürden müssen. In diesen Zeiten mögen wir groß erscheinen, mein Herr, aber im Muster der Mächte der Welt sind wir immer noch sehr klein.“

Aragorn schlug mit der Faust auf die Armlehne des Sessels. „Verdammt, Gandalf“, krächzte er gereizt, „können wir das mit den Titeln für heute bleiben lassen? Ich bin ihrer ganz und gar müde.“

Gandalf gluckste und drehte sich um. „Ich sehe, der Mantel sitzt nicht so bequem, wie du vorgeben willst, mein lieber Waldläufer. Müssen wir unsere abgetragene Reisekleidung anlegen, damit du dich wohler fühlst?“

Aragorn lächelte müde. „Ich finde die Verantwortung, die freien Völker der Welt zu führen, irgendwie weniger abschreckend als...“ Das Lächeln schwand aus seinem Gesicht. „... als die Aufgabe, eine Seele zu retten, die in noch immer in den Wüsteneien von Mordor gefangen liegt. Ich fürchte, wir sind beide hilflos, und Frodo ist für uns verloren.“

Gandalf wendet sich zum Fenster zurück. „Hilflos?“ sagt er nachdenklich und schaut auf den Ring an seinem Finger hinab. „Vielleicht ist das so. Aber es gibt andere Wege, die wir suchen können und andere, die wir um Rat fragen können.“

„Ja.“ sagte Aragorn zustimmend. „Ich habe beschlossen, mit Arwen über diese Angelegenheit zu sprechen, wenn sie eintrifft. Und vielleicht auch mit Elrond. Ihre Klarsicht mag sich als nützlich erweisen und vielleicht kann die Macht der Elben beruhigen, wo wir es nicht können.“

„Hmmmm. Ja, ja,“ sagte Gandalf abwesend. Er drehte sich um und ging zur Tür; auf dem Weg hielt er an, um dem König beschwichtigend eine Hand auf die Schulter zu legen. „Ich denke, das wäre weise.“ meinte er und verließ den Raum.

*****

Pippin schlich den verdunkelten Flur entlang in Richtung Küche; sein Nachthemd klebte ihm unbehaglich am Rücken. Im Auenland war es erst Vorlithe*, das wusste er, aber das Wetter neigte hier in Minas Tirith dazu, wärmer zu sein als in nördlichen Regionen, oder jedenfalls hatte man ihm das erzählt. Trotzdem waren die Abende noch ziemlich kalt und die Wetterumstände erklärten nicht unbedingt den Schweiß, der seinen schaudernden Körper bedeckte, als er nur Augenblicke zuvor mit einem Schrei auf den Lippen erwacht war.

Er suchte sich den Weg durch die Dunkelheit. Er hatte vor, aus der Küchenpumpe zu trinken. Auf der Türschwelle blieb er kurz stehen; sein Atem blieb ihm in der Brust stecken.

Frodo saß in den Schatten des Zimmers und starrte in die mit Asche bedeckte Glut des Feuers, die Ellbogen auf dem Tisch und das Kinn auf die Fäuste gestützt. Goldene Funken trieben langsam seine Wangen hinunter – Tränen, die das Licht des Feuers einfingen und Pippin an weit entfernte Sterne erinnerten, die hell und verzweifelt gegen die Kälte eines Novemberzwielichtes anbrannten.

Pippin trauerte innerlich und verfluchte still das Schicksal, das seinen tapferen Vetter zugestoßen war. Dieser sanfte Geist, der mehr ein Teil des Auenlandes war als irgendjemand sonst, den er je gekannt hatte, und zur gleichen Zeit irgendwie davon abgewandt... irgendwie davon abgehoben, wenn auch nicht auf eigenen Wunsch. Ein Hobbit, der mehr war als was jeder Hobbit anstreben konnte zu sein, und doch von seinen Artgenossen entfernt durch etwas tief in ihm, etwas, das an seinem Geist zog und zerrte und ihn gegen seinen Willen von dem trennte, was er am meisten liebte.

Er betrachtete Frodo, noch immer voll angekleidet, die Beine von dem Stuhl in Menschengröße herabbaumelnd, die Schultern herabgesunken und mit Tränen, die endlos über das geliebte Gesicht liefen und auf die polierte Tischplatte tropften. In all der Zeit, die er in der großen weiten Welt zwischen Menschen und Elben verbracht hatte, hatte sich Pippin nie zuvor so klein gefühlt wie er es jetzt tat, während er die Füße seines Vetter betrachtete, mehr als einen Meter vom Fußboden entfernt.

Pippin stand still und schaute seinen Vetter an, der für ihn immer ein geliebtes Rätsel gewesen war. Die sanfte Seele, die ihre Furcht hinuntergeschluckt und die Dunkelheit bezwungen hatte, um der Liebe zu seiner Heimat und seinem Volk willen. Und doch war er jetzt hier, weit fort von daheim und auf dem Weg, in einem sich selbst auferlegten Abstand von denen, die er liebte, zu ertrinken, bei dem Versuch, sie alle noch immer zu beschützen – er saß jetzt allein in der Finsternis, Sterne weinend, den Kopf unter die Schatten gebeugt, die ihn umgaben.

Pippin spürte, wie ihm seine eigenen Tränen heiß und nass über die Wangen liefen, und er unterdrückte ein Schluchzen. Die Distanz war in Frodos Augen zurückgekehrt und Pippin wusste nicht, ob er erleichtert oder entsetzt sein sollte. Sie war natürlich besser als das leere Starren, das sein Gesicht erfüllt hatte, als Gandalf ihn nach Hause brachte, und doch...

Jetzt war da etwas Neues, eine Art verwirrter Trauer, die mit der Traumartigkeit verschmolz und ihr einen qualvolleren Ton verlieh. Eine schweigende Tiefe, die nach Hilfe schrie, und eine betrübte Resignation, die diese Möglichkeit verneinte.

Pippin entschied, dass dieser Blick ihn genauso sehr verängstigte, wie er es immer getan hatte, oder vielleicht umso mehr – denn diese neue Facette fügte diesem Gesicht etwas Beklagenswertes und sogar noch stärker Herzzerbrechendes hinzu. Unwillig, den Beschützer seiner Kindheit, den Verwandten und Freund der Verzweiflung auszuliefern, die darum kämpfte, sich in ihm festzusetzen, straffte Pippjn die Schultern, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und räusperte sich leise.

Frodo fuhr zusammen, zuckte hoch, als hätte ihn jemand gezwickt und rieb sich rasch mit dem Ärmel das Gesicht trocken.

„Zur Hölle nochmal, Peregrin!“ würgte er, warf einen schnellen Blick zum Eingang und schaute dann weg. „Wiese schleichst du im diese nachtschlafene Zeit in der Gegend herum?“

Pippin beobachtete mit fasziniertem Staunen, wie sein Vetter seinen Blick mit einer Schnelligkeit verschloss, die von langer Übung zeugte. Der Schmerz und die Verwirrung, die nur Sekunden zuvor so offenkundig in dem geliebten Gesicht gelegen hatten, wurden sichtbar gedrosselt und verändert; eine Maske zerbrechlichen Friedens und guter Laune trat an ihre Stelle.

„Ich hatte Durst“, sagte Pippin leise und ging zur Pumpe. Er nahm sich zwei Becher, füllte sie mit kaltem Wasser, setzte sich gegenüber von Frodo an den Tisch und schob einen der Becher zu ihm hinüber.

Frodo nahm ihn und dankte ihm abwesend. Er nahm einen raschen Schluck, stellte den Becher vor sich hin und starrte hinein. Pippin fragte sich, ob der harte, knöchelweiße Griff um die Keramik das Zittern, das seine Schultern durchschüttelte, davon abhalten sollte, zu seinen Hände hinunter zu wandern.

Pippin nahm einen Schluck aus seinem eigenen Becher. „Wie hast du es geschafft, an Sams Tür vorbei zu schleichen, ohne dass er mit Tees und Schlaftränken über dich herfällt?“

Frodo gluckste. „Auf die selbe Weise, mit der du es geschafft hast, dich an mich heranzuschleichen, nehme ich an.“ sagte er. „Wir Hobbits sind ein heimlichtuerischer Haufen.“

„Ich bin nicht geschlichen, Frodo.“ sagte Pippin aufrichtig. „Ich war bloß durstig. Ich denke, ich bin einfach von Natur aus noch heimlichtuerischer als andere Hobbits.“

„Oh, denkst du das, ja?“ sagte Frodo, und ein schräges Lächeln stahl sich in sein Gesicht. „Ich meine mich an einen winzigen Hobbitjungen zu erinnern, der nicht aufhören konnte zu kichern und der über seine eigenen, ungeschickten Füße fiel, wann immer er versuchte, sich an seinen älteren Vetter anzuschleichen.“

„Bin ich nie!“ sagte Pippin gekränkt. „Frodo Beutlin, ich glaube, du denkst dir Sachen aus. Nebenbei bin ich sowieso nicht geschlichen, deshalb ist das Ganze ziemlich daneben, oder nicht?“ Pippin trank aus seiner Tasse. „Und ein winziger Hobbitjunge bin ich auch nicht mehr.“

Frodos Lächeln verblasste. Er hob den Blick von der Tasse und schaute an Pippin vorbei in die Überreste des Feuers.

„Nein,“ sagte er still, „das bist du nicht.“

Pippin spürte, wie sich die Stimmung plötzlich änderte; die Luft um ihn herum nahm an Gewicht zu, und er kämpfte dagegen an. Er fühlte sich sehr wie der kleine Junge, der zu sein er gerade erst abgestritten hatte, der Junge, der versuchte, seinen Vetter aus den Träumen zurückzuholen, die Pippin so fürchtete. Nur, dass die Träume jetzt eine echte Gefahr beinhalteten und nicht nur die unvernünftige Furcht des Jungen, der er gewesen war. Jetzt gab es eine wesentlich dringendere Notwenigkeit, Frodo zu sich selbst zurückzubringen, bevor Pippin ihn für immer verlor. Er erwog kurz, sich auf ihn zu stürzen, wie er es vor all den Jahren so oft getan hatte, aber er tat den Einfall auf der Stelle als lächerlich ab. Pippin war größer geworden, und Frodo war... nun ja, sich ausgerechnet jetzt auf ihn zu stürzen war nicht die beste Idee, die Pippin je gehabt hatte. Als streckte er statt dessen die Hand aus, langte über den Tisch und versetzte seinem Vetter einen deftigen Nasenstüber.

Frodo zuckte zusamen und fuhr zurück; er starrte Pippin an, den Mund weit offen. Langsam erschien ein Lächeln in seinen Mundwinkeln, und Pippin erwiderte es unschuldig.

„Unverschämter Rotzlöffel.“ sagte Frodo; in seinen Augen tanzte eine Fröhlichkeit, die Pippin nicht mehr gesehen hatte seit... er wusste nicht, wie lange es her war, seit er es gesehen hatte, was es jetzt und hier noch viel schöner machte.

Pippin tat beleidigt. „Ein Rotzlöffel bin ich?“ war die hochnäsige Antwort.

Frodo rieb sich die Nase. „Vergiss das unverschämt nicht. Du hättest mehr von deiner Jugend damit verbringen sollen, Respekt vor deinen Altvorderen zu lernen, anstatt deine Gabe zu verfeinern, sie zu entwaffnen.“

„Sag, was du willst über meine Unverschämtheit, Frodo, Lieber, aber ich wage zu sagen, dass ich meine Jugend ein klein wenig besser verbracht habe als gewisse Vettern, die ich nennen könnte.“

„Ah!“ konterte Frodo. „Die verschwendete Jugend eines Beutlin ist nicht mit der Frevelhaftigkeit einer gesamten Tuklinie zu vergleichen.“

„Frevelhaft?!“ stotterte Pippin. „Ich bitte dich... also gut, stattgegeben. Aber ich würde nicht so frei von der Leber weg reden, wenn ich du wäre. Ein Beutlin magst du sein, aber zufällig weiß ich, dass es mehr als genug Tukblut gibt, das in diesen Adern fließt.“

„Ja“, gab Frodo zu, ein schlaues Lächeln auf den Lippen. „Auf diese Weise erkläre ich meine verkorkste Jugend.“

„Wa...?!“ schnaufte Pippin und verlieh dem Ausruf weit mehr Silben als er eigentlich verdiente. „Mein lieber Vetter, ich würde mich soweit vorwagen zu sagen, dass du weit mehr als einen Hang zum Unfug von deiner Tukseite abgekriegt hast.“

„Oh?“ meinte Frodo gedankenvoll, „Soll ich das so verstehen, dass du drauf und dran bist, mir zu erzählen, was die Tuks sonst noch großzügig zu dem Temperament dieses armen, unwürdigen Beutlin beigetragen haben?“

„Ich dachte, du würdest nie fragen“, sagte Pippin und tippte sich mit dem Finger aufs Kinn. „Hmmm, schau’n wir mal. Neben dem Tuk-Einfluss können wir nicht vergessen, dass du auch einiges an Brandybock in dir hast. Ich denke, unser lieber Vetter Meriadoc beweist wunderschön, wie äußerst gefährlich es sein kann, wenn sich diese beiden Blutlinien vermischen. Ich wage zu behaupten, dass die Tuks und Brandybocks ihn als Beispiel betrachten und sich in Zukunft hübsch voneinander fernhalten sollten. Wir können nicht zulassen, dass sie einander heiraten und noch mehr von seiner Sorte produzieren, oder?“

„Oh, Pippin!“ gluckste Frodo. „ Ich frage mich, ob unser lieber Merry sich deiner mangelnden Wertschätzung der Brandybocks bewusst ist, die die Blätter deines Familien-Stammbaumes aufrollen.“

„Sicher nicht!“ erwiderte Pippin entsetzt. „Sie mögen ein geistreicher Zweig sein, aber nicht einer von ihnen kann einen Spaß vertragen, ohne schnelle Vergeltung zu planen. Und wenn du ihm das erzählst, dann hau ich dich einfach in den Boden wie einen Zaunpfahl. Für den Fall, dass du es nicht bemerkt haben solltest: ich bin jetzt größer als du.“

„Oh, ich habe es bemerkt“, versicherte Frodo ungeduldig mit einer abschätzigen Handbewegung. „Bitte sehr, Meister Tuk, fahr unbedingt fort.“

„Mmmm, wo war ich? Ach ja“, sagte Pippin. „Man kann den Beitrag der Beutlins zu dieser ungewöhnlichen Mischung nicht vergessen, oder? Ein feiner, respektabler Name, Beutlin. Natürlich nur, bis Bilbo fort rannte und ihn für den ganzen Rest verdorben hat. Eine Tatsache, die Lobelia Euch nie verzeihen wird, wage ich zu sagen – und sie war eine Straffgürtel, nicht mehr, bevor sie das Glück hatte, gut zu heiraten. Das heißt, wenn man es für eine gute Heirat hält, Otho zum Ehemann zu haben.“ Pippin schien einen Moment darüber nachzudenken, dann schauderte er.

Frodo lachte lauthals und schlug die Hand vor den Mund, um den Rest des Hauses nicht zu stören. Pippins Herz schmolz. Wann hatte er Frodo das letzte Mal lachen hören?

„Also“, fuhr er fort, „welchem Zweig hast du welche Eigenschaft zu verdanken? Natürlich ohne zu erwähnen, dass dein Witz und deine Weisheit von der Tuk-Seite stammen.“

„In der Tat“, stimmte Frodo mit einem Lächeln zu. „Wie viel Weisheit es auch immer sein mag. Und der Witz hängt davon ab, wie es gemeint ist.“

„Im Sinne beider Bedeutungen, lieber Vetter, das versichere ich dir.“ beteuerte Pippin. „Um fortzufahren“, fuhr er kurz angebunden fort, „ich nehme an, wir müssen deine Klugheit den Brandybocks zuschreiben. Und deinen Geist ebenfalls.“

„Du billigst den Brandybocks Klugheit zu?“ fragte Frodo überrascht. „Ich hätte gedacht, die würdest du geradewegs der Tukseite zuschreiben.“

Pippin wedelte abweisend mit der Hand. „Nun, ich habe nie gesagt, dass die Brandybocks nicht auch ein paar gute Punkte hätten“, erwiderte er. „ich habe bloß gesagt, die Tuks hätten mehr. Und wenn ich zwischen Weisheit und Klugheit wählen muss, dann wähle ich die Weisheit. Obwohl ich beides habe, also ist es in meinem Fall ein unwesentlicher Punkt.“

„Oh ja“. sagte Frodo ernsthaft. „Du bist immer für deine Weisheit bekannt gewesen. Peregrin Tuk, in allen Landen berühmt für seine Weisheit und seinen gesunden Menschenverstand.“

Pippins Augen wurden schmal. „Frodo Beutlin! Ich glaube tatsächlich, dass es ein wenig Sarkasmus war, der da von deinen Lippen getröpfelt ist.“

„Niemals!“ behauptete Frodo, so feierlich er es fertig brachte.

Pippin warf ihm einen wohlwollenden Blick zu. „Und ob“, sagte er mit einer erhobenen Augenbraue. „Aber du möchtest dir vielleicht das Kinn abwischen, bevor er Flecken auf deinem Hemd macht.“

Frodo schnaubte wieder. „Also“, sagte er, „wir haben Weisheit und Witz - in beiden Bedeutungen des Wortes natürlich – von den Tuks. Geist und Klugheit von den Brandybocks. Sag mir, oh weiser Peregrin, was habe ich von der Beutlinseite empfangen?“

Pippin stützte sein Kinn in die Hand und trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte.“Hmmmm“, sagte er und schaute gedankenvoll drein, „das ist eine sehr gute Frage. Ich gestehe, dass ich nie an dich als an einen Beutlin im strengsten Sinne gedacht habe.“

Frodos Lächeln verblasste langsam. „Oh?“

Pippin starrte abwesend auf seine trommelnden Finger herunter. „Nein, nicht wirklich“, überlegte er, „Du bist nicht so wie dieser ganze schwerfällige Haufen. Tatsächlich bis du ziemlich anders als irgend jemand, denn ich jemals gekannt habe.“

„Hmpf“, sagte Frodo. „Ich glaube, ,verdreht’ könnte das Wort sein, nach dem du suchst.“

„Oh, jetzt sei nicht so griesgrämig, Frodo. ,Verdreht’ ist kaum das Wort, dass ich gebrauchen würde, um dich zu beschreiben – oder Bilbo, was das angeht – obwohl er nicht so... munter ist, wie er einmal war, das kann ich dir versichern.“

Frodo schwieg. „Nein“, murmelte er nach einer Weile. „Nein, ich nehme an, er ist nicht so munter, wie er einmal war.“

„Ja, früher einmal“, sagte Pippin und starrte in seine Tasse. „Aber ich denke sowieso nicht, dass du ihm sehr ähnelst. Bilbo war trotz all seiner Abenteuer und abseitigen Interessen immer noch eher ein ganz normaler Hobbit. Ich denke, nicht einmal Bilbo hätte es fertig gebracht, das zu tun, was du getan hast. Du bist ziemlich außergewöhnlich, weißt du?“

„Ich fürchte, ich weiß nicht genau, was du meinst, Pippin“, sagte Frodo ruhig, „Ich bin wirklich ganz und gar gewöhnlich.“

„Gewöhnlich?“ spottete Pippin, „Ich sollte sagen, du bist alles andere als...“ Er brach ab, als er aufschaute und sah, dass Frodos Augen einmal mehr zur Glut des Herdfeuer abgeirrt waren. Dieser Blick war wieder da, und was immer Pippin auch gerade hatte sagen wollen, es war vergessen. Oh, Frodo, bitte geh nicht weg. Ich wollte nicht davon reden. Bleib hier bei mir.

Pippin war jetzt verängstigt; er zermarterte sich fieberhaft das Gehirn nach etwas – irgendetwas – das er sagen konnte, um seine Vetter zu ihm zurück zu bringen – und wenn es auch nur ein einziger Augenblick war. „Was glaubst du hast du von der Beutlin-Seite bekommen?“ Eine lahme Frage, wie er zugeben musste, aber wenigstens etwas.

Frodo schwieg lange und brütete in das verglimmende Feuer. Der Raum wurde still, die Luft schwer. Pippin hatte nicht wirklich eine Antwort erwartet, deshalb sprang er beinahe in die Höhe, als Frodo sprach.

„Mein Schicksal“, kam die leise Entgegnung.

Pippin spürte, wie ihn eine Gänsehaut überlief und unterdrückte ein Schaudern. Seine Zunge war ein trockener Klumpen in seinem Mund, und er hätte nicht antworten können, selbst wenn er es gewollt hätte. Was konnte man auf so etwas auch erwidern? Statt dessen langte er über den Tisch und packte Frodos Hand.

Frodos Hand erwiderte den Druck mit aller Kraft. Er senkte den Kopf. „Es tut mir leid“, flüsterte er. „Ich weiß nicht, wieso ich das gesagt habe.“

Pippin konnte auch darauf nicht antworten, also stand er auf und zog sanft an der Hand seines Vetters. „Komm“, sagte er. „Wir bringen dich wieder ins Bett, Lieber.“

Frodo ließ es zu, den Korridor hinunter zu seinem Zimmer geführt zu werden, und als Pippin neben ihn ins Bett kroch, rollte sich Frodo einfach in der Umarmung seines Vetters zusammen und sah zu, wie sich das gedämpfte Indigo der Nacht langsam in das Lavendel und Rosa der frühen Dämmerung verwandelte.

*****

Für einen alten Zauberer konnte er sich noch immer ziemlich rasch bewegen, wenn er das wollte. Geschwindigkeit war nicht wirklich nötig, was das betraf; die Nachricht fünf Minuten früher zu den Ställen der Boten zu bringen, würde im Ablauf der Dinge keinen Unterschied machen. Trotzdem eilte er schnell dahin; die Dringlichkeit seiner Gedanken trieb seine Beine zu schneller Gangart, ob er sie dazu zwang oder nicht.

Die Ställe summten vor Geschäftigkeit; die Boten von Minas Tirith hatten noch mehr Dienste zu versehen, weil Nachrichten zwischen den vielen Botschaftern und Diplomaten hin- und her gebracht werden mussten, die bei dem neuen König um Audienz ersuchten. Schwitzende, schaumbefleckte Pferde setzten ihre Reiter im Stallhof ab und folgten eifrig den Stallburschen um das Versprechen von wohlverdientem Hafer und Ruhe, während ihre Ersatztiere hinausgeführt wurde, frisch und ängstlich darauf bedacht, die Beine auf der Straße zu strecken, die auf sie wartete.

Gandalf ging über den Hof und durchsuchte den Strudel aus Männern nach dem einen, der vermutlich die Aufsicht hatte. Er entdeckte einen Mann, der verschiedenen Reitern, die aufgestiegen waren, Befehle zubrüllte; er reichte einigen von ihnen Tornister und empfing welche von anderen, während seine Stimme über den staubigen Hof schallte. Gandalf bahnte sich einen Weg zu dem Mann und ließ eine Hand auf seiner Schulter ruhen.

Der Mann wirbelte herum, einen groben Rüffel fix und fertig auf den Lippen, ehe er sah, wer etwas von ihm wollte. Er würgte rasch hinunter, was vermutlich eine sehr farbenfrohe Beschimpfung geworden wäre und verbeugte sich tief vor dem Zauberer.

„Mein Herr“, sagte er, während er sich wieder aufrichtete. „Ich bin Hasful, der Stallmeister des Königs. Wie kann ich zu Diensten sein?“

„Ich habe eine sehr dringende Botschaft, die weiter fort muss, als irgendeiner Eurer Männer je zuvor gereist ist.“ sagte Gandalf. „Sie muss weit in den Norden und nach Eriador hinein. Sie muss bis zum Mittjahrstag abgeliefert und beantwortet werden. Habt Ihr einen Mann, der dieser Aufgabe gewachsen ist?“

Hasful richtete sich auf. „Ja, Herr“, sagte er. „Ich habe mehrere Männer, die das wären.“

„An mehreren Männern bin ich nicht interessiert“, konterte der Zauberer gereizt, „ich interessiere mich nur für den einen, der es tun kann. Hier“, sagte er und stieß dem Stallmeister die Nachricht in die Hände. „Alle Information, die er braucht, ist darauf zu finden. Ich erwarte in dieser Angelegenheit die größtmögliche Diskretion. Er darf nur lesen, was auf der Außenseite des Päckchens steht. Lasst ihn auf der Stelle aufbrechen und schaut danach, dass er sich nicht aufhält.“ Damit wandte der Zauberer sich ab und ging davon.

Der Stallmeister starrte einen Moment hinter ihm her, während er das Pergament mit einer Hand umklammerte. Er schaute darauf nieder und las die Information, auf die der Zauberer sich bezogen hatte; seine Augen weiteten sich. Er drehte sich und schrie seinem Gehilfen zu, er solle ein Pferd satteln... sofort!

*****

Sam stand über dem Kessel und schob Kuchen auf einem Teller zurecht, während er darauf wartete, dass das Wasser kochte. Merry saß im Wohnzimmer; Frodo lag zusammengerollt auf dem Sofa, seinen Kopf in Merrys Schoß. Sie warteten alle darauf, dass Pippin mit seinen Pflichten fertig war und zurück kam, damit sie gemeinsam Tee trinken konnten.

Mehrere Wochen waren vergangen, seit Sam mit Legolas losgezogen war, um etwas über die Pflanzen und die Ernte dieses neuen, südlichen Landes zu lernen. Er war erstaunt gewesen über die neue Art von Früchten und Blumen, die er gesehen hatte, und umso mehr, wenn er etwas sah, das er wiedererkannte. Es kam ihm fast unglaublich vor, dass die Gänseblümchen und der Phlox, die so reichlich im Auenland wuchsen, auch hier gedeihen konnten, in diesem fremden, weit entfernten Land, das sich obendrein solch wundersamer Dinge wie Zitrusfrüchte und Magnolien rühmen konnte. Er war entzückt gewesen über die neuen Entdeckungen dieses Tages, und sogar noch mehr über die Gesellschaft des Elben. Legolas hatte ihn an Orte geführt, von denen er wusste, dass der Gärtner sie faszinierend finden würde, und er schien seinerseits entzückt zu sein über Sams Freude an den Wundern, die ihn umgaben. Trau einem Waldelben, dass er weiß, wo er einen Gärtner hinbringen muss. hatte er gedacht.

Legolas hatte ihn in den letzten zwei Wochen zweimal gebeten, ihn wieder zu begleiten, aber Sam hatte beide Male abgelehnt. Er erinnerte sich nur allzu gut an die Situation, zu der er an jenem Tag zurückgekehrt war, und er würde seinen Herrn nicht mehr der Fürsorge anderer überlassen. Nicht wenn er es gerade langsam wieder fertig brachte, Sam in die Augen zu sehen.

Erst letzte Woche war Frodo zum König gegangen und hatte um die Erlaubnis gebeten, ins Auenland abreisen zu dürfen. Sam wusste, dass das Herz seines Herrn sich nach seinem Zuhause sehnte, und auch er war der Meinung, dass sich heimwärts zu wenden vielleicht genau das war, was sein Herr brauchte. Möglicherweise würde die Freude und der Trost des Auenlandes, das Frodo so liebte, ausreichen, um die Dunkelheit und die stille Verzweiflung aus seinen Augen zu vertreiben. Natürlich würden sie sich beide an ein Leben ohne Beutelsend gewöhnen müssen. Aber Beutelsend oder nicht, es gab noch immer ein Leben und Sam dachte, das sei etwas, das seiner Dankbarkeit wert war. Wenn man alles berücksichtigte, dann war Krickloch gar nicht so übel.

Aber Aragorn hatte sie gebeten zu bleiben und von einem lang erwarteten Tag gesprochen und von seinem Wunsch, sie in der Nähe zu haben, wenn er kam. Selbstverständlich fügten sie sich. Immerhin, wie sagte man denn auch „Nein“ zu seinem König?

Also warteten sie und wachten still über Frodo, bereit aufzuspringen und in sein Zimmer zu rennen, wenn seine Schreie in tiefster Nacht durch das Haus hallten, oder ihn ins Hier und Jetzt zurückzubringen, wenn sein Blick in sein Inneres abdriftete, zu Dingen, an die man sich am besten nicht mehr erinnerte. Es gab jetzt eine unausgesprochene Vereinbarung unter ihnen, dass Frodo niemals allein sein sollte ohne jemanden, der ihn in die Welt zurückzerrte, wenn er daraus davonwanderte. Alle drei hielten ein wachsames Auge auf ihn und wahrten eine fröhliche Fassade; oft machten sie sich des Nachts einer nach dem anderen auf den Weg in sein Zimmer, um sich aneinander und an ihn zu drängen und die Dunkelheit abzuhalten, während er schlief.

Frodo beklagte sich nicht, und das machte Sam Sorgen – es nagte an ihm mit dem ständigen, dumpfen Biss kleiner, stumpfer Zähne. Es sah seinem Herrn nicht ähnlich, so fügsam zu sein, wenn er seine Freiheit bedroht sah. Dies war ein Hobbit, der trotz endloser Verkuppelungsversuche und dem fortgesetzten Gezeter einer Vielzahl von Tanten standhaft Junggeselle geblieben war; ein Hobbit, der trotz aller Gerüchte und des Klatsches der Nachbarn starrköpfig seine eigenartige Vorliebe für Wanderungen unter dem Sternenlicht und elbische Dinge beibehalten hatte. Es sah Frodo nicht ähnlich, ruhig hinzunehmen, dass seine Freunde ihn nicht mehr aus den Augen ließen, wenn er sich normalerweise daran gerieben und sie dafür ins Gebet genommen hätte, dass sie ihm seine Privatsphäre nahmen. Allerdings musste Sam zugeben, dass an ihrer Welt nichts mehr gewöhnlich war, und wenn dies eine Veränderung an seinem Herrn war, die bleiben würde, dann gab es Schlimmeres, das sie aus Mordor hätten mitbringen können.

Die schwere Resignation und wilde Panik, die das Gesicht seines Herrn durch ganz Mordor hindurch sein Gesicht geprägt hatten, war noch immer da; aber jetzt war sie gebändigt von einer hoffnungslosen Leere, die Sam noch weniger gefiel. Natürlich versuchte Frodo, sie zu bemänteln, und manchmal dachte er, es gelänge ihm so gut, das er es wagte, Sams Augen oder denen eines seiner Vettern zu begegnen. Aber auf längere Sicht verbrachte Frodo sehr viel Zeit mit gesenktem Kopf, den Blick zu Boden gerichtet. Ob er nun dachte, dass irgend jemand es sah oder nicht, konnte man nur vermuten, aber Sam hatte eher den Verdacht, dass Frodo sich für einen ziemlich begabten Betrüger hielt und dass er keine Ahnung davon hatte, dass seine Freunde ihn leicht durchschauten, ob er sie ansah oder nicht.

Sam wusste nicht, ob Frodos Vettern begriffen, was sie sahen, aber Sam tat es ganz bestimmt. Er hatte den selben Kampf zwischen Abscheu und Sehnsucht über endlose Monate hinweg mit angesehen. Die Tatsache, dass der Krieg um das Herz seines Herrn noch immer geführt wurde, reichte aus, um Sams eigenes Herz zu brechen. Oft stellte er fest, dass sein Geist Gandalfs Worte an jenem Frühlingstag vor so langer Zeit hin- und her wendete. Die Behauptung des Zauberers, dass der Geist seines Herrn zerbräche, wenn man ihm das schmutzige Ding gewaltsam fortnahm, verfolgte ihn, und er fragte sich, ob es wohl das Ergebnis war, dessen widerwilliger Zeuge er jetzt wurde. Tatsächlich war er ihm bereits fortgenommen worden – zweimal. War die Hülle aus Melancholie und hilfloser Gier, die drohte, seinen Herrn zu ersticken, der Beweis für einen Geist, der langsam zerfiel? War die Hand, die aus eigenem Antrieb zu seiner Brust hinaufwanderte, nur um sich um einen Leere zu schließen, ein Zeichen, dass der Geist, der einst so heftig in ihm gebrannt hatte, tatsächlich ausgelöscht und zerbrochen war?

Nein – nicht zerbrochen. Gebeugt vielleicht und versehrt, aber diese Dinge konnten zurecht gebracht werden. Gebeugte Dinge konnten aufgerichtet werden und versehrte Dinge konnten heilen. Mit solchen Dingen konnte Sam umgehen. Aber zerbrochen... Sams Erfahrung mit gebrochenen Dingen war die, dass man sie oft wieder zusammen setzen konnte, dass man sie an den zerschlissenen Säumen nähen und überkleben konnte, aber sie waren niemals wirklich wieder dasselbe, nachdem der Schaden einmal geschehen war. Das Zerbrechen von Dingen konnte nicht wieder rückgängig gemacht werden.

Nicht zerbrochen, dachte Sam starrköpfig. Dies war etwas, das er zurecht bringen konnte – zurechtbringen würde. Sobald sie aus dieser Stadt der Menschen weg waren, wo der Schatten noch immer im Osten lag und jeden Augenblick nach dem Herzen seines Herrn griff. Sobald er seinen Herrn nach Hause bringen konnte.

Vielleicht konnte er ja dann die Offenbarungen jenes herzzerbrechenden Nachmittags beiseite schieben.

Er öffnet leise die Tür und tritt in den Raum, ohne auf eine Einladung oder Erlaubnis zu warten. Er schließt die Tür hinter sich, bleibt einen Moment stehen und schaut sie an; er atmet tief ein, um seine plötzlich gereizten Nerven zu beruhigen. Er denkt darüber nach, dass er nur Augenblicke zuvor entspannt war und gelacht hat, und er staunt darüber, dass er sich sogar daran erinnern kann, wie es sich angefühlt hat. Es scheint ganze Zeitalter zurückzuliegen, und sein dauernder Zustand ängstlicher Unruhe und Sorge ist in den vergangenen, ermüdenden Monaten für ihn so natürlich geworden, dass er kaum glauben kann, sich jemals anders gefühlt zu haben – und das, obwohl sein Geist darauf beharrt, dass er das hat, und gerade eben erst.

Ein schweres Schweigen füllt den Raum, nur von seinen eigenen, tiefen Atemzügen und dem schwachen Geräusch einer Auseinandersetzung unterbrochen, die sch auf der anderen Seite der Tür abspielt. Es ist mitten am Nachmittag und dieser Raum hat ein großzügiges Fenster, aber das Licht scheint auf der anderen Seite der Fensterscheibe aufgehalten zu werden; es zeigt die Helligkeit und die Welt außerhalb, lässt aber nichts davon in das Zimmer.

Eine Finsternis kriecht ihm in die Haut, ein Schatten, der auf den Raum übergreift und alles Licht raubt. Er windet sich um seine Brust, schlängelt sich seine Kehle hinunter und würgt ihn mit seiner heimtückischen Berührung. Es ist eine Berührung, mit der er nur allzu vertraut ist; eine Berührung, die er jetzt schon so lange verabscheut hat, dass er sich an keine Zeit erinnern kann, als der Hass darauf nicht in seinem Herzen gebrannt hat; eine Berührung, die er nicht ertragen kann, und doch willig erduldet, denn sich davon abzuwenden hieße sich von dem abzuwenden, den er am meisten liebt, und das kann er sich nicht einmal ansatzweise vorstellen.

Er dreht sich um und sucht die sicherste Lichtquelle, die er je gekannt hat – das eine Wesen in der ganzen Welt, dessen Licht, obschon überschattet und versiegend, nie wirklich verdunkelt worden ist. Er wünscht sich, er könnte seine Hände schützend um diese Flamme legen und sie vor den Winden des Schicksals abschirmen, die versucht haben, sie zu beugen und ihr tapferes, trotziges Licht auszulöschen. Er wünscht sich, er könnte die Glut schüren, die von Qual und Trauer, Mühsal und Bosheit zugedeckt worden ist. Aber er kann das Licht tief drinnen nicht erreichen und denkt, es könnte ihn wohl mit seiner Intensität und Schönheit verbrennen, wenn er es täte. Er kann es nicht berühren, wohl aber den, der es noch immer in sich trägt. Also bewegt er sich durch den Raum, und sein eigener Trotz durchschneidet die Finsternis mit jedem Schritt.

Er steht neben dem Bett, auf dem Frodo still liegt, das Gesicht zur Wand, unbewegt abgesehen vom Zittern seiner mageren Gestalt, die tief in die riesige Matratze des großen Bettes eingesunken ist. Er streckt eine Hand aus und streichelt das dunkle Haar, und er legt all seine Liebe und seine Wünsche in die Berührung; er lockt das Licht herbei, die Finsternis zu besiegen und so strahlend zu leuchten, wie es das einst getan hat. Er fleht es durch die Fingerspitzen, hell aufzuflammen und den Schatten zu vertreiben, der die Seele zu verschlingen droht, die es beschützt.

Frodo regt sich und dreht sich um; sein Blick gleitet zu dem von Sam und Sam muss einen endlosen Moment den Atem anhalten, um seine Kehle daran zu hindern, das Stöhnen freizugeben, das herauszukommen droht. Er schaut in die Augen, die er nicht mehr deutlich gesehen hat, seit er am Rande des Todes hinein geblickt hat, auf einem Berg, der versuchte, sie beide mit Ausbrüchen der Wut und der feurigen Rache in seine eigene Zerstörung hinein zu zerren. Sein Herr ist bis zu diesem Moment seit Wochen seinem Blick nicht mehr begegnet, und Sam fragt sich, ob das nicht die ganze Zeit besser gewesen ist, und ob er das bis jetzt einfach nicht begriffen hat.

Die Augen sind vollkommen leer. Ohne Leben, ohne Hoffnung... Augen, die sogar die geisterhaften Spuren der Tränen auf den Wangen verleugnen, die in der lichtlosen Helligkeit des Zimmers aschfarben leuchten.

Er fasst blindlings nach der Hand, die neben der seinen liegt; er klammert sich daran, als wolle er sein eigenes Leben in den Körper ausgießen, der noch immer vor ihm liegt und zittert. Die Hand ist kalt und schlaff in seinem Griff, und bevor er sich daran hindern kann, schießt ihm durch den Kopf, dass er – wäre da nicht dieses Beben, dass er bis in seine Handflächen hinein vibrieren fühlt – genauso gut krampfhaft einen Leichnam festhalten könnte, dessen leere Augen noch nicht geschlossen und mit Münzen beschwert worden sind.

Sam schluckt und nimmt seinen Verstand zusammen; er sehnt sich schmerzhaft danach, der Liebe und dem heftigen Beschützerinstinkt in seiner Brust Ausdruck zu geben. Er sehnt sich danach, die Poesie der Heilung auszusprechen und ein zartes, schützendes Netz um die zerschlagene Seele zu weben, die sich hinter diesen leeren Augen verbirgt.

Doch es ist ihm klar, dass schlichtes Reden keine heilende Macht besitzt, deshalb verlässt er sich auf die Berührung. Er hält die Hand fest und streichelt die Stirn; er summt eine Melodie, die seinen Herrn schon früher an finsteren, üblen Orten beruhigt hat. Er beugt sich hinab, um die Wange zu küssen, und als er sich aufrichtet, sind die Augen gnädig geschlossen.

Er bleibt eine lange Weile, er summt und wünscht, liebkost und hofft. Frodo atmet gleichmäßig und ruhig und schläft friedlich im Abenddämmer. Wieder beugt sich Sam hinunter und drückt einen weichen Kuss auf die glatte Stirn, dann wendet er sich still zur Tür. Seine Hand erreicht den Türknauf und hält abrupt inne, als eine leise Stimme sich aus der Dunkelheit hinter ihm erhebt.

„Ich will nach Hause, Sam.“

„Nach Hause“, denkt Sam. Er hat beinahe vergessen, welch ein Trost ein so kleines Wort bedeuten kann.

Ein kleines Lächeln schleicht sich auf sein Gesicht und er dreht sich um; seine Augen suchen das Licht, das unter der Hülle der Trauer noch immer brennt. Er hält sich daran fest, drängt es, den Kampf fortzusetzen, seinen ermüdenden, blutigen Kampf gegen das Phantom, das es vom Osten her verhöhnt.

„Ja, Herr“, sagt er leise. „Ich denke , das ist eine richtig gute Idee.“

Das Zischen des Wassers, das aus dem Kessel auf die Kohlen darunter überkochte, zog Sam in seine Umgebung zurück. Er rettete den protestierenden Kessel, bereitete den Tee fertig vor und machte sich auf den Weg ins Wohnzimmer, das beladene Tablett in der Hand.

Firith - Sindarin = ‘vergehend’
Harthad Uluithiad - ‘Unstillbare Hoffnung’


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