DIE UNWIRKLICHE STADT 

Tod durch Wasser (Death by water)
von Altariel, übersetzt von Andrea Sternberg
(Überarbeitung der Übersetzung durch Cúthalion)

Bild: „Boromirs Totenbarke" - von Anke Katrin Eißmann

Funeralboat

2. Kapitel

Dunkelheit lag über Osgiliath. Einstmals die starke und schöne Hauptstadt, Juwel in der mächtigen Krone von Gondor, lag es nun in Ruinen, in zwei Hälften gespalten durch die Zerstörung der Brücke. Sein Ostteil war in Feindeshand, und sein westlicher Teil nur von den Männern heimgesucht, die durch die zerstörten Straßen huschten, um es zu verteidigen - und von Geistern.

Dies war das Kommando meines Bruders gewesen. Ich selbst hätte es nicht ertragen können, jeden Tag aus der Dämmerung auf die Trümmer der Blütezeit von Gondor zu blicken. Für meinen Bruder jedoch war es eher ein Ansporn gewesen, die Stadt wieder in ihrer ganzen Machtfülle und neu aufgebaut zu sehen. Den Zusammenbruch der Brücke hatte er sehr betrauert. Was mich anging - nach nur drei Tagen sehnte ich mich weg von hier, aber nicht zurück zu den Rätseln und dem Schweigen von Minas Tirith. Mein Herz sehnte sich nach Ithilien und meinen eigenen Männern, um die mir, während ich in Osgiliath aufgehalten wurde und das Ostufer des Anduin bewachte, stündlich mehr bangte. Aber wir waren im Krieg, und dies war unser Hauptaußenposten, und ich konnte nicht immer dort sein, wo ich wollte.

Vielleicht lag es daran, daß ich drei Tage zwischen den Ruinen des Triumphs von Gondor verbracht hatte. Oder vielleicht war es tatsächlich eine Botschaft, die mir von irgendwoher übermittelt wurde. Alles, was ich weiß, ist, dass ich, als ich in der dritten Nacht schließlich zu meinem Zelt zurückkehrte, mich müde nach einem langen Tag auf mein Feldbett legte, und auf der Stelle in einen Traum fiel, der lebhafter war als je zuvor.

Im Traum ging ich durch ein fruchtbares, grünes Tal, und die Sonne schien auf mich herunter. Die Landschaft war Ithilien sehr ähnlich, aber ich erkannte sie nicht, obwohl ich mit ganz Ithilien vertraut war, schließlich war es mein. Und das Land war still; kein Laut von Vögeln oder Tieren, nicht einmal ein Rascheln des Windes in den Blättern. Durch Ithilien zu wandern beflügelte den Geist, selbst noch in diesen dunklen Zeiten, aber hier war die Luft erfüllt mit Grauen, sogar im Sonnenschein. Mich niederbeugend berührte ich den Boden und fühlte, daß sogar die Blätter der Gräser starr waren und zu warten schienen.

Ich ging weiter und kam schließlich zu einer breiten, weiß gepflasterten Straße. Sie erstreckte sich vor mir den Berg hinauf und wurde auf der linken Seite in Abständen von hohen Steinstatuen gesäumt. Ich hatte mir selbst genug Hochelbisch beigebracht, um die Namen zu verstehen, und außerdem kannte ich sie auswendig, denn es waren die Namen der Könige und Königinnen von Númenor. Es kam eine Stelle, an der die Namen sich veränderten, die Sprache wurde stolzer und harscher, und die Statuen waren noch höher. Und obwohl sie mit größerer Kunstfertigkeit gebildet waren, erschien ihre Schönheit gemindert. Am Ende der Reihe waren zwei Statuen, etwas von der Straße zurückgesetzt - die einer Frau, und davor die eines Mannes. Seine Statue war die mächtigste, mit Ausnahme vielleicht von der allerersten. Er schien beinahe ein Gott zu sein, und sein Gesicht war grausam.

Dann schaute ich nach vorne und sah vor mir einen mächtigen Tempel. Riesig war er, jenseits aller Vorstellungskraft, größer als jedes Bauwerk von Gondor in seiner Blütezeit, aber seine Kuppel war schwarz, und ein übler Gestank ging von ihm aus. Schließlich hörte ich ein Geräusch, das leise Wehklagen der Mütter; und ich wusste, daß ich vor dem mächtigsten Gebäude der Númenorer stand und vor ihrer größten Schande, dem Tempel von Morgoth in Armenelos. Und die Frauen weinten um ihre Väter und Söhne und Brüder, deren Blut vergossen worden war als Opfergabe für Morgoth. Der Gestank hing schwer über dem Land der Gabe, und in meinem Herzen verfluchte ich den Namen und die Täuschungen von Sauron, der meine Vorväter zu einem solchen Frevel verführt hatte.

Über mir verdunkelte sich der Himmel, und ein kalter Wind zog von Westen auf. Als ich aufblickte, sah ich eine große Wolke, und es schien mir, als sei sie wie ein Adler geformt. Dann setzte der Regen ein. Er fiel in dichten Schauern, wie ein Schleier, der vor meinen Augen zugezogen wurde. Donnerschläge folgten und gewaltige Blitzschläge, und einer traf die Kuppel des Tempels. Sie fing Feuer, blieb aber stehen. Ich floh von diesem Ort und glitt ständig im Wasser unter meinen Füßen aus; verzweifelt versuchte ich, den hohen Hügel zu erreichen, den ich in Richtung Westen liegen sah.

Ich rannte den Hang hinauf, während das Wasser an meinen Füßen leckte, und ich fühlte die Erde beben, als würde sie unter mir zerbrechen. Für einen Moment wandte ich mich um, schaute zurück und sah eine mächtige Flutwelle, die sich meergrün und unaufhaltsam über mir erhob – der Zorn der Valar über den Verrat von Númenor. Und dort, wohin sie kam, war alles verloren; Männer und Frauen, Knaben und Mädchen; die ganze Weisheit und der Glanz von Númenor... und ja, auch seine Schande.

In panischer Angst rannte ich weiter, denn ich wußte, daß auf der Kuppe des Hügels ein heiliger Ort war. Der Wind blies mir entgegen. Ich fiel auf die Knie und versuchte, kriechend die Anhöhe zu erreichen, und ich rief den Himmel um Gnade an. Dann hörte ich einen Schrei hinter mir. Ich schaute hinab und sah eine Frau. Ihr Gesicht hatte ich schon einmal gesehen, es war das der Statue, die in der Reihe der Könige und Königinnen etwas zurückgesetzt stand. Ich streckte meine Hand aus, um ihr zu helfen, aber die grüne Flut holte sie ein, und sie wurde vor meinen Augen fortgespült und war verloren. Dann hatte das Wasser auch mich erreicht, stieg über meine Brust und meine Schultern und floss mir in den Mund. Ich wurde von seiner starken Strömung hin und her geworfen... und ich erwachte mit einem Schrei. Jemand schüttelte mich.

„Hauptmann?“ Es war Haldar, der Leutnant meines Bruders. „Du hast im Schlaf aufgeschrien.“

Ich setzte mich auf und wischte mir mit der Hand über das Gesicht; es war schweißbedeckt. Und ich schämte mich, denn obwohl die Männer in Ithilien an meine Träume gewöhnt waren, befand ich mich hier unter Männern, die mich nicht so gut kannten, und ich konnte es mir nicht leisten, ihr Vertrauen und ihren Respekt in einer so verzweifelten Zeit zu verlieren.

„Ein böser Traum, nicht mehr“, murmelte ich, obwohl das eine Untertreibung war; aber ich wollte nicht versuchen, diesem gestrengen Soldaten zu erklären, daß ich gerade den Untergang Númenors mit angesehen hatte. Ich schaute durch die offene Klappe des Zeltes hinaus in die Dunkelheit. „Wie spät ist es?“

„Noch nicht Mitternacht.“

Ich hatte nicht einmal eine Stunde geschlafen. Aber ich wollte mich nicht wieder hinlegen, denn der Schrecken von dem Traum steckte mir noch in den Gliedern. „Ich gehe besser an die frische Luft“, sagte ich und stand auf. Ich legte meine Kleider an, gürtete mein Schwert um und zog einen Mantel darüber.

Erst unten am Ufer des Flusses fand ich etwas Frieden; ich beobachtete, wie er langsam zum Meer hin strömte, während der junge, blasse Mond silbrig auf das Wasser schien. Meine Gedanken wandten sich meinem Bruder zu. Ich sehnte mich danach, sein Gesicht wiederzusehen und mein Herz an seiner Kraft und Furchtlosigkeit zu stärken, die alle um ihn herum ermutigte. Ich dachte an die Verteidigung des Westufers, die wir zusammen durchgestanden und an die Brücke, die wir gemeinsam zerstört hatten, und wie wir die Stellung hielten - sogar gegen einen nie gekannten Schrecken, der auf uns niederstieß. Und ich wusste, wir hätten ohne einander nicht widerstehen können... denn nur, weil ich wusste, dass er bei mir war, hielt ich meinen Willen aufrecht und floh nicht vor diesem Grauen, und nachher sagte er, ihm sei es genauso ergangen. Als damals die Brücke unter uns zusammenstürzte, schaute ich zu ihm herüber und lächelte ihn an, und er lachte zurück, und wir hielten uns aneinander fest, als wir ins Wasser tauchten.

Ich lächelte bei der Erinnerung an ihn und wünschte mir erneut, sein Gesicht bald wiederzusehen. Und die Valar erfüllten meinen Wunsch, denn in diesem Augenblick hörte ich ein Rascheln im Röhricht, und ein Boot kam mir auf dem Wasser entgegen. Ein fahles Licht ging davon aus und zog mich an. Ich watete hinaus, erreichte das Boot und erblickte darin meinen geliebten Bruder – tot.

Als ich mich gefasst hatte - und das dauerte eine Weile - kehrte ich schnell zum Lager zurück und weckte Haldar. Er blickte zu mir hoch und rieb sich die Augen.

„Ich muss nach Minas Tirith zurück“, sagte ich erregt.

„Morgen früh, Herr?“ fragte er verwirrt.

„Nein, jetzt. Ich muss sofort mit dem Herrn der Stadt sprechen.“

Er schaute mich an als wisse er wieder nicht, was er von mir halten sollte, dann zuckte er mit den Schultern: “Du hast den Oberbefehl, Hauptmann.“ Er stand auf und folgte mir zu den Pferden, und während ich mein Pferd bestieg, nahm er meine Anweisungen entgegen,. „Ich werde hier Station machen bevor ich nach Ithilien reite“, sagte ich ihm, denn ich wusste, daß die Einheit in Osgiliath die Nachricht vom Tod ihres Hauptmanns aus erster Hand erfahren sollte; und dann ritt ich mit großer Geschwindigkeit in Richtung Westen.

Viele Male hatte ich die Reise vom Fluß zur Stadt schon gemacht, aber noch nie war ich so hart geritten und auch noch nie mit Tränen in den Augen. Es war noch sehr früh am Morgen, als ich zu den Toren kam und die Ebenen der Stadt hinaufritt. Von den Stallungen rannte ich zum Weißen Turm, und daher betrat ich keuchend und, wie ich glaube, mit einem wilden Ausdruck in den Augen, die Große Halle. Und ich sah mit Erstaunen, daß, trotz der späten Stunde, mein Vater in seinem Stuhl am Fuße der Stufen saß, seine Diener um sich versammelt. Er schaute auf, und die Diener zogen sich zurück, und ich sah in seinem Schoß die zerbrochenen Stücke des Horns, das ich vermisst hatte, als das Boot an mir vorüber glitt. Und da wusste ich, dass er bereits die Kunde vernommen hatte, die zu überbringen ich gekommen war.


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