DIE UNWIRKLICHE STADT 

Tod durch Wasser (Death by water)
von Altariel, übersetzt von Andrea Sternberg
(Überarbeitung der Übersetzung durch Cúthalion)

Bild: „Boromirs Tod" von Anke Katrin Eißmann

Boromirs death

3. Kapitel

Groß war die Finsternis, die mich in den Wochen, die folgen sollten, bestürmte; Schrecken und Erschöpfung und endloses Gemetzel und der schleichende und unaufhörliche Beginn der Verzweiflung. Aber bis dahin hatte ich nichts in meinem Leben gekannt, das so kummervoll gewesen wäre wie die Begegnung mit meinem Vater, die mir jetzt bevorstand. Er entließ seine Diener mit einem Wink seiner Hand und blickte mich voller Kälte an.

„Was bringt dich hierher, Herr Faramir... weg von deinen Pflichten in Osgiliath? Ist der Außenposten gefallen?“

„Nichts, das schwer wiegen würde für die Verteidigung von Minas Tirith, mein Herr“, antwortete ich, noch immer etwas außer Atem von meinem Ritt, „aber dennoch ein großer Schmerz.“ Und ich schaute auf die Bruchstücke in seinem Schoß.

Er hielt sie hoch. „Bringst du Neuigkeiten über dies hier?“ fragte er scharf.

„Leider ja, Vater.“

„Wie kann das sein?“

Und ich erzählte ihm von dem, was ich nicht einmal zwei Stunden zuvor gesehen hatte; von meinem Bruder und dem fremdartigen Boot, in dem er lag. Während ich sprach, erhob sich mein Vater und ging vor den Stufen auf und ab. Dann legte er die Teile des Horns auf seinen Sitz und sprach davon, wie sie gefunden und zur Stadt gebracht worden waren, das letzte Bruchstück erst eine halbe Stunde vor meiner Rückkehr.

„Weh für meinen geliebten Bruder!“ rief ich. „Und keine Nachricht haben wir darüber, wie ihn das Schicksal ereilte, obwohl mir scheint, es war im Kampf, wie er es sich gewünscht hätte, und sein Ausdruck war friedvoll und genauso schön, wie zu der Zeit, als er noch lebte. Den Valar sei Dank, daß ich von meinen Träumen geweckt wurde, denn wenn ich sie nicht gehabt hätte, wäre ich nicht hinunter zum Fluß gegangen und hätte ihn nicht gesehen, und wir hätten jetzt nur sein zerbrochenes Horn und wären in großer Ungewissheit und Angst.“

Mein Vater hörte auf, hin und her zu gehen, und blieb vor mir stehen. „Von deinen Träumen, sagst du?“ Seine Augen wurden schmal, und ich verfluchte meine Unachtsamkeit.

„Ja, Herr“, sagte ich vorsichtig. „Ich träumte ...“

Er schnitt mir das Wort ab. „Deine Träume!“ rief er. „Ja, ich kenne sie, und ich verfluche dich dafür, denn war es nicht einer deiner Träume, der meinen geliebten Sohn von mir genommen und ihn dann getötet hat? Verdammt sollst du sein, und deine Träume mit dir!“ Tränen standen in seinen Augen, und er kämpfte darum, sie zurückzuhalten.

Nie zuvor war ich so zornig auf ihn gewesen. Immer, wenn er früher etwas an mir auszusetzen gehabt hatte, hielt ich meine Zunge im Zaum und hörte auf seine Meinung, ohne mich zu beklagen, denn er war mein Gebieter und ich stand unter seinem Befehl. Aber dieser Schmerz war zu bitter. Ich hatte ebenso einen Bruder verloren wie er einen Sohn; und er hatte mich wahrlich tief getroffen, denn während meines Rittes in die Stadt hatte ich darüber geweint, daß es mein Traum gewesen war, und dass es meine Reise hätte sein sollen...und dass mein Bruder noch am Leben sein könnte.

„Ihr seid ungerecht, Vater!“ erwiderte ich heftig, die Stimme von Tränen erstickt. Er schaute mich erstaunt an. „Ungerecht!“ rief er.

„Jawohl, Herr! Denn der Traum war nicht allein der meine, und ich hätte die Reise auf mich genommen, wenn sich der Wille des Herrn der Stadt nicht im Rat durchgesetzt hätte. Und ich bin nicht der einzige in diesem Hause, der die Gabe der Träume hat, Herr. Ihr mögt weitsichtig sein, aber ihr seht nicht alles!“

Er durchbohrte mich mit seinem scharfen Blick, seine dunklen Augen durchforschten meine Züge. Und er fand, was er suchte; seine Augen weiteten sich, als er erkannte, daß ich um die Quelle seines großen Wissens wußte, und um die Gefahr. Und ich hatte richtig geraten, wie sehr sie ihn in seinen Entscheidungen leitete; in allen Dingen, nicht nur bei der Wahl, welchen Sohn er auf eine Reise schicken sollte, die es wegen eines Traums zu unternehmen galt.

Er holte mit der Linken aus und schlug mir mit dem Handrücken ins Gesicht, und trotz seines Alters war er noch immer stark. Ich fühlte, wie der Ring, den er am kleinen Finger dieser Hand trug, in meine linke Wange schnitt, gerade unter dem Auge. Rückwärts taumelnd hob ich die rechte Hand an die Wange und sah, daß ich blutete. Um mich vor ihm zu schützen, hielt ich die Hand vors Gesicht. Mein Atem ging stoßweise; ich wollte nicht anfangen zu schluchzen und mich dadurch beschämen.

Als er sprach, hatte sich seine Stimme beruhigt.

„Nimm die Hand herunter.“

Ich konnte sie nicht bewegen.

„Tu, was ich dir sage, Faramir. Nimm deine Hand weg.

Und ich gehorchte.

„Sieh mich an!“

Ich hob meinen Kopf. Er griff nach mir, und ich schaffte es, den Drang, instinktiv zurückzuweichen, zu unterdrücken. Er packte mich am Kinn und drehte mein Gesicht, um sein Werk zu betrachten, nicht grausam, aber ohne jede Freundlichkeit.

„Der Schnitt ist nicht tief“, sagte er. „Er wird schnell heilen.“ Und dann ließ er mich zu meiner großen Erleichterung los und wandte sich ab. „Geh“, sagte er und schüttelte langsam den Kopf. „Geh, denn mein Kummer ist groß.“

Dies war seine Art, mich um Verzeihung zu bitten. Ich senkte meinen Kopf. „Vater...“, flüsterte ich gegen besseres Wissen, aber ich hatte ernsthaft den Wunsch, ihn zu trösten und unseren Kummer zu teilen.

Er drehte sich wieder mir zu und hob seine Hand, um mich zum Schweigen zu bringen. „Geh und ruh dich aus. Sieh nach diesem Schnitt und schlafe. Wir werden morgen wieder miteinander reden. Jetzt wünsche ich, allein zu sein und meinen Sohn zu betrauern.“

Ich verbeugte mich, drehte mich um und tat, wie mir geheißen. Ich ging zu meinem Zimmer und überließ ihn in der ersehnten Einsamkeit und seinem Schmerz.

Ich schickte nach heißem Wasser und betrachtete dann mein Gesicht im Spiegel. Die Wunde war, wie er gesagt hatte, nicht tief, und es kostete nicht viel Mühe, das Blut wegzuwaschen, aber die Arbeit wurde erschwert durch die lautlosen Tränen, die über mein Gesicht strömten. Schließlich versiegten die Tränen, und ich wusch mich und schaute von neuem in den Spiegel. Ich war müde, aber Schlaf würde dem abhelfen. Ein paar blaue Flecken würden zu sehen sein, aber nur für wenige Tage. Der Schnitt würde schnell heilen und eine Narbe würde nicht zurückbleiben. Ich hatte im Feld Schlimmeres abbekommen als das, aber vielleicht nichts, das so schmerzhaft war.

Als Junge hatte ich oft seine harte Hand zu spüren bekommen, aber als ich größer und stärker wurde, wurde er vorsichtiger damit, mich zu schlagen. Eine unnötige Achtsamkeit von seiner Seite... ich hätte nie meine Hand gegen den Herrn von Gondor erhoben, auch nicht zur Verteidigung. Zum letzten Mal schlug er mich, als ich sechzehn war, und ich hätte ihn ohne Zweifel wegstoßen können. Was damals seinen Zorn verursacht hatte, weiß ich nicht mehr; und tatsächlich hatte ich schon lange den Versuch aufgegeben, darüber nachzudenken, was seine Wut auf mich auslöste, denn es war unberechenbar. Der einzige gemeinsame Faktor, den ich erkennen konnte, war, daß ich lebte, und das war mitunter genug, um ihn jenseits aller Vernunft zu erzürnen.

Dieses letzte Mal packte er mich an den Schultern und schleuderte mich rückwärts so fest gegen die Wand, daß ich mit dem Kopf dagegenschlug, und für einen Augenblick wurde alles schwarz. Alles, was an mein Ohr drang, war seine Raserei und die flehende Stimme meines Bruders. Daß Boromir, der seiner Stellung wegen in unseren Auseinandersetzungen immer unparteiisch geblieben war, sich gezwungen sah einzugreifen und so lange an meinem Vater zu zerren, bis er mich losließ, zeigte, wie furchtbar diese Szene sein musste. Schließlich schleppte er mich, benommen wie ich war, in mein Zimmer, um den Schaden wieder zusammenzuflicken.

Vater hielt von da an Abstand, und ich glaube, er und Boromir wechselten wohl harte Worte wegen des Vorfalls... obwohl mein Bruder nichts sagte, und ich ihn nicht fragte. Aber ich war betrübt, dass ich der Anlaß für den Streit zwischen Vater und Sohn gewesen war, deren gegenseitige Liebe immer unbeeinträchtigt geblieben war. Und wieder spürte ich Trauer für meinen Vater, der nun seine Frau und seinen über alles geliebten Erben verloren hatte.

Als ich im Spiegel mein verletztes Gesicht betrachtete, inzwischen zwanzig Jahre älter, erinnerte ich mich daran, was ich noch aus diesem Zwischenfall gelernt hatte. Da ich nicht das sein konnte, was mein Vater wollte – denn ich wusste nicht, was das war – würde ich zumindest mir selbst treu bleiben und aus der Tatsache Mut schöpfen, daß ich meine Ehre und meine Liebe zu ihm als Vater wie auch als dem Herrn des letzten Reiches der Númenorer bewahrte. Und so wie dieser Junge damals seinen Frieden mit ihm gemacht hatte, machte ich meinen jetzt als Mann; um meinen Vater zu ehren und meine Integrität zu wahren. Es war mein Tribut an ihn, ob er ihn wollte oder nicht, denn dies war alles, was ich ihm geben und womit ich meine Liebe zu ihm zeigen konnte. Denn ich fühlte in meinem Herzen, dass in der dunkelsten Stunde Trauer und Verzweiflung die Urteilskraft meines Vaters wanken lassen würden, und ich wollte ihn davor bewahren, wenn ich es nur irgend fertigbrachte, auch wenn dies einen noch größeren Zorn auf mich herabbeschwor als den, den er mir gerade gezeigt hatte. Als ich diesen zerbrechlichen Frieden geschlossen hatte, schlief ich ein.


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