Euch zu Diensten
von Lialathuveril, übersetzt von Cúthalion


Kapitel Einunddreißig
Herrin der Nacht

Salzige See, ich frage dich,
meine wahre Liebe, wohin trägst du mich?
Nach Norden, wo riesige Fische flieh'n
Und heimwärts zu mächtigen Eisbergen zieh'n
Nach Osten, wo Gondors Küsten prangen
Wo die Schiffskönige einst an Land gegangen
Nach Süden, dicht unter Sonne und Mond
Wo Gewürze wachsen und der Löwe wohnt
Nach Westen, zu einem fernen Land
Wundersam schön, doch unter dem Bann
Salzige See, ich frage dich,
meine wahre Liebe, wohin trägst du mich?

(Seemannslied aus Dol Amroth)

Die Musik wob sich durch seine wirren Träume. Klare Noten, die ihn beruhigten und Frieden mit sich brachten. Lange Zeit lauschte er nur. Eine Harfe, sagte ihm sein Geist nach einer Weile. Und eine gesenkte Stimme. Ein wenig rau. Müde. Er mochte diese Stimme. Sie sang vom Meer, und von Schiffen, und von einem wunderschönen Land weit entfernt, auf der anderen Seite des Ozeans. Er hatte das Meer nie gesehen.

Nur ein Meer aus Gras, ging es ihm durch den Sinn. Eine grenzenlose Weite aus Grün und Gold, mit Wellen aus Wind, da darüber hin liefen, bis sie mit dem Himmel verschmolz. Wunderschön. Dann änderte sich die Musik und wurde schneller, und seine Füße zuckten. Mein Lieb erbat von mir ein Band... Er öffnete die Augen.

Eine hohe Zimmerdecke mit Dämmerschatten vom Feuerschein, die sich darauf jagten, begegneten seinem Blick. Er lag auf einem Bett, in Decken gehüllt. Es war nicht sein eigenes Zimmer, und heiß und stickig war es auch. Die Harfe spielte immer noch, aber die Stimme war verstummt. Er runzelte die Stirn, denn er wollte, dass sie fortfuhr. Langsam wandte er den Kopf. Es war Anstrengung vonnöten, das zu tun, und er runzelte die Stirn erneut. Den Kopf zu drehen war doch bestimmt einmal die leichteste Sache der Welt gewesen! Wie schwach er sich fühlte.

Eine Frau saß in einem Sessel neben seinem Bett, das Gesicht über ihre Harfe gebeugt. Sie trug ein schlichtes, blaues Kleid und ihr schwarzes Haar war zu einem dicken Zopf gebändigt; sie zupfte abwesend die Saiten. Beim Anblick der Erschöpfung, die ihr Gesicht zeichnete, zog sich ihm das Herz zusammen. Sie sollte lachen und tanzen, nicht spät in der Nacht in einem dunklen Zimmer sitzen und sich Sorgen machen. Aus den Tiefen seines Gedächtnisses erhob sich ein Bild von ihr, wie sie zu ihm auflächelte, glücklich und unbekümmert. Dann verklangen die letzten Noten des Liedes, und sie lehnte sich mit einem müden Seufzer in ihren Sessel zurück. Stille breitete sich aus, das gedämpfte Schweigen der dunklen Stunden kurz vor Tagesanbruch. Irgendwo draußen rief eine Eule.

Er sah, wie sie sich die Augen rieb. In dem dämmrigen Licht sahen sie schwarz aus, doch trotz aller Müdigkeit waren sie schön. Blicklos. Plötzlich wurde ihm klar, dass er das seidige Gefühl ihrer Haut unter seinen Fingern kannte, den Duft ihres Haars, den Geschmack ihrer Lippen. Die Zeit schien sich zusammen zu ziehen, während Erinnerungen auf ihn einstürzten. Ein Mann, der ihm einen Brief reichte. Schwarze Augen, die bösartig in einem dunklen Gesicht glitzerten. Ein Kampf. Ein Tod.

Éomer schnappte nach Luft. „Lothíriel?“

Sie sprang auf und stellte die Harfe mit einem klirrenden Missklang ab. „Éomer?“ Ihre Hände fanden einen Arm und fuhren ihn mit Blitzgeschwindigkeit hinauf. „Du bist wach?“

„Ja. Wo --- “

Er bekam nie die Gelegenheit, die Frage zu beenden, denn Lothíriel packte seinen Kopf und küsste ihn. Zuerst traf sie nur seine Wange, aber sie wurde schnell zielsicherer. „Oh, Éomer!“ Ein Schluchzen brach aus ihr heraus. „Er hat gesagt, du bist auf dem Weg der Besserung und wirst bald aufwachen, aber ich habe es nicht geglaubt!“

„Er?“

„Aragorn.”

Tränen strömten ihr über das Gesicht, und er hob eine Hand, um sie abzuwischen. „Du weinst ja.“

„Es tut mir Leid.“ Sie streichelte mit zitternden Fingern sein Gesicht. „Du bist wach!"

Er runzelte die Stirn. „Lothíriel, wo sind wir? Was ist geschehen?“

„In den Häusern der Heilung. Erinnerst du dich nicht? Du wurdest vergiftet.“

„Vergiftet!“ Er versuchte, sich aufzusetzen, doch statt dessen sank er in die Kissen zurück.

„Sei vorsichtig – du darfst dich nicht überanstrengen!“ Lothíriel legte ihm eine Hand auf die Brust und setzte sich auf die Bettkante. „Du wärst beinahe gestorben,“ sagte sie, hob seine Hand hoch und drückte sie gegen seine Wange.

Er versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, was geschehen war; langsam und schleichend kamen die Erinnerungen zurück. Mûzgash, der Kampf, das Gespräch mit Lothíriel im Garten. „Jetzt weiß ich es wieder. Aragorn ist gekommen, um sich meine Wunde anzusehen.“ Doch danach war alles vollkommen leer.

Lothíriel nickte. „Ihm wurde klar, dass Mûzgashs Dolch vergiftet gewesen war, und er fand das Gegengift... endlich. Erinnerst du dich noch an irgendetwas anderes?“

„An gar nichts, abgesehen davon, das ich mich plötzlich schwach gefühlt habe,“ gab er zu. „Arme Lothíriel, habe ich dir Angst gemacht?“

Sie schluckte. „Ich dachte, ich hätte dich verloren! Wenn Aragorn nicht da gewesen wäre...“

„Es tut mir Leid.“

„Du hast gegen das Gift angekämpft, aber selbst so...“ Ihre Stimme brach.

„Oh Lothíriel, liebes Herz!“ Er ließ die Hand um ihren Nacken gleiten und zog sie an sich. „Komm her.“

Er tat das Richtige. Sie verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter und schmiegte sich mit einem leisen Wimmern in seine Arme. „Ich dachte, ich könnte das hier nie wieder tun...“ flüsterte sie in sein Hemd hinein.

Sie wurde von Schluchzen geschüttelt und er streichelte ihr den Rücken; dabei verfluchte er sich selbst dafür, dass er ihr soviel Kummer gemacht hatte. „Ich bin nicht sehr gut darin, dich zu beschützen, nicht wahr?“ Von nun an würde er es besser machen, schwor er sich. Wie gut es sich anfühlte, sie dicht an sich gedrückt zu halten.

Nach einer Weile ließ ihr Weinen nach, und sie setzte sich wieder auf. „Einer von den Heilern könnte jeden Moment herein kommen. Sie sehen jede Stunde nach dir.“ Sie nickte zu der Schwelle hinter sich hinüber. „Und Amrothos schläft nebenan. Mein Vater hat darauf bestanden, nachdem - “ Lothíriel hielt inne, und es kam Éomer so vor, als würde sie erröten. Doch dann schüttelte sie den Kopf. „Wie auch immer, er schläft wie ein Stein.“ Sie nahm den Zipfel von einer seiner Decken, wischte sich die Augen und versuchte zu lächeln. „Und ich habe nie ein Taschentuch dabei, wenn ich eins brauche.“

Er streichelte ihr die Hand. „Ich werde dafür sorgen, dass du dir nicht wieder Sorgen um mich machen musst. Ich verspreche es.“

Sie gab ein entschlossenes Schnüffeln von sich und nickte.

Genau in diesem Moment ertönte ein leises Klopfen, und langsam öffnete sich die Tür. Obwohl Éomer wusste, dass sie sich in den Häusern der Heilung befanden, versteifte er sich. Nach seiner Erfahrung mit den Haradrim würde er sich noch eine Weile mit Argwohn bewegen. Allerdings war es nur der Heiler, der nach dem Duell mit Mûzgash seinen Arm genäht hatte, also entspannte er sich wieder. Nicht, dass er überhaupt in der Verfassung gewesen wäre, seine Herrin zu verteidigen, dachte er mit einem wehmütigen Lächeln.

„König Éomer,“ begrüßte ihn der Mann. „Es ist gut, zu sehen, dass Ihr wach seid. Ich bin Heiler Daeron. Wie fühlt Ihr Euch?“

Éomer dachte einen Moment über die Frage nach. Als ob eine Herde Mûmakil über ihn hinweg getrampelt war? Aber er wollte Lothíriel nicht noch mehr beunruhigen, also formulierte er seine Antwort um. „Schwach und hungrig, aber Schmerzen habe ich keine.“

„Gut.“ Der Heiler setzte seine Tasche am Fußende des Bettes ab. „Ist Euch immer noch kalt?“

„Kalt? Nicht im Mindesten!“ Wenn überhaupt, war es ihm zu heiß. Das Feuer machte den Raum stickig, und seine vielen Decken drohten ihn zu erdrücken.

Lothíriel hatte sich wieder in ihrem Sessel zusammen gerollt. „Das Gift hat dich schläfrig gemacht, und du hast gefroren. Wir hatten Angst, dass du uns davon gleitest.“

Daeron zog eine der Decken weg, doch dann zögerte er. „Vielleicht möchte Prinzessin Lothíriel im Nebenraum warten, während ich Euch untersuche?“

Sie blickte überrascht drein. „Wieso?“

„Meine Herrin!“ Des Mannes Sinn für Anstand war ganz eindeutig verletzt. „König Éomer trägt nichts als ein dünnes Leinennachthemd!“

Lothíriel zuckte die Achseln. „Oh, das weiß ich. Nebenbei,“ fuhr sie triumphierend fort, „ist es ja nicht so, dass ich irgendetwas sehen könnte.“

„Aber - “ Der Heiler räusperte sich. „Meine Herrin, der König von Rohan wird einem gewissen... Ruf der Natur folgen müssen.“ Éomer musste ein Grinsen unterdrücken, als der Mann ihn wortlos einen Blick zuwarf, der um Unterstützung flehte.

„Lothíriel, liebes Herz,“ sagte er, „glaubst du, du könntest etwas zu Essen für mich beschaffen? Ich bin wirklich hungrig.“

Sie hob eine Augenbraue, doch dann stand sie auf. „Natürlich! Was hättest du denn gern?“

„Fleischbrühe,“ erwiderte der Heiler an Éomers Statt. „Und ein paar Scheiben Brot. Es ist immer jemand in der Küche im Dienst. Sie wird wissen, was das Richtige ist.“

Lothíriel nickte und griff nach ihrem Gehstock, den sie an ihren Sessel gelehnt hatte. „Ich brauche nicht lange.“

Éomer versuchte, sich aufzusetzen und streckte die Hand aus. „Nur einen Moment!“ Er wandte sich an den Heiler. „Daeron, gibt es eine Wache, die sie mitnehmen könnte?“ Ihm gefiel der Gedanke nicht, dass Lothíriel allein spät in der Nacht durch leere Korridore wanderte, und er war entschlossen, bei seiner Herrin keine weiteren Risiken einzugehen.

Der Heiler schnaubte, das erste Geräusch von Belustigung, das Éomer von ihm zu hören bekam. „Mein König, vor der Tür zu diesem Zimmer befinden sich sechs Mann, und vier Mann bewachen die Fenster. Obendrein bewachen noch mehr Männer die Haupttore, und eine unbestimmte Anzahl weiterer Männer sind rings um die Häuser der Heilung verteilt. Es ist ein bisschen so, als lebte man in einem Heerlager.“

„Und sowieso,“ sagte Lothíriel von der Tür aus, „besteht Elfhelm darauf, dass ich immer wenigstens zwei Wachen mitnehme.“ Sie grinste. „Dein Marschall ist schlimmer als mein Vater!“ Bei ihren Worten sank Éomer in die Kissen zurück; es befriedigte ihn zu hören, dass Elfhelm seine Aufgabe so ernst nahm.

Als die Tür sich hinter Lothíriel geschlossen hatte, seufzte Heiler Daeron erleichtert. „Mein König, fühlt Ihr Euch kräftig genug, um Euch zu erheben?“ fragte er.

Éomer nickte grimmig. Er wusste aus früherer Erfahrung, dass man sich umso schneller erholte, wenn man rasch wieder auf die Beine kam. Doch obwohl der Heiler ihn stützte, wurde ihm schon allein davon schwindelig, sich aufzusetzen und die Beine über die Bettkante zu schwingen. Tatsächlich konnte er sich nicht an das letzte Mal erinnern, als er sich so schwach gefühlt hatte.

„Bereit zum Aufstehen?“ fragte Daeron.

„Ja,“ sagte Éomer durch zusammen gebissene Zähne.

Der Heiler schwankte unter seinem Gewicht, doch es gelang Éomer, sich auf die Beine zu hieven. Dann musste er innehalten, um zu Atem zu kommen.

Daeron beobachtete ihn besorgt. „Mein Herr, geht es Euch gut? Würdet Ihr Euch gern wieder setzen?“

„Nein.“ Er würde sich nicht von irgendeinem Haradrim-Gift besiegen lassen.

Ein wenig unsicher deutete der Heiler zu einer Tür am anderen Ende des Zimmers. „Nebenan befindet sich ein Badezimmer. Glaubt Ihr, dass Ihr es dorthin schafft?“

„Ja.“

Er machte einen Schritt. Dann noch einen, Und noch einen, schwer auf Daeron gestützt. Eine Pause, um Luft zu holen und seinen Beinen die Gelegenheit zu geben, mit dem Zittern aufzuhören. Als er die andere Seite des Zimmers erreicht hatte, fühlte er sich, als wäre er ohne Aufenthalt quer durch die Riddermark geritten. Aber er hatte es geschafft.

Der Heiler öffnete die Tür für ihn und half ihm über die Schwelle. Wie konnte so eine kleine Sache solch eine lächerlich große Anstrengung erfordern? Das Badezimmer war winzig,mit einer hölzernen Wanne, die fast den gesamten Platz einnahm. In einer Ecke stand neben einer kleinen Truhe ein Ofen mit einem Wasserbecken darauf. Éomer beäugte die Wanne zweifelnd; er war sich nicht sicher, ob er imstande sein würde, hinein zu steigen, geschweige denn wieder hinaus.

Daeron folgte seinem Blick. „Ich schlage vor, dass Ihr Euch im Augenblick damit begnügt, Euch kurz zu waschen.“

Éomer nickte dankbar, und der Heiler half ihm sich zu entkleiden. Dann wickelte er den Verband an seinem linken Arm ab, Mit einiger Überraschung sah Éomer, dass die Wunde bereits begonnen hatte, zu heilen. Der Arm war noch zerschrammt, schmerzte aber nicht länger.

Daeron inspizierte sein Werk, sorgsam darauf bedacht, es nicht zu berühren. „Heilt schön, und kein Anzeichen einer Rötung.“ Er nickte zufrieden. „Ich denke, wir können es jetzt der Luft aussetzen.“

Über dem Abfluss in der Ecke lag ein hölzernes Gitter auf dem Boden, und Daeron half ihm, sich darauf zu stellen. Dann nahm er einen Schwamm und fing an, Éomer mit lauwarmem Wasser vom Ofen abzuwaschen. Es fühlte sich merkwürdig an, dass ein Fremder ihm einen so intimen Dienst erwies, und unwillkürlich wandten sich Éomers Gedanken Lothíriel zu. Würde sie sich auf diese Weise um ihn kümmern, wenn er müde und erschöpft von der Jagd auf Orks zurück kehrte, oder vom Streifritt durch den Ered Nimrais? Er fand diese Vorstellung ziemlich anziehend.

Beinahe wie aufs Stichwort hörte er aus dem angrenzenden Raum ihre Stimme und einen kurzen Ausbruch von Gelächter, dann antwortete ein Mann, den er als Aragorn erkannte. Daeron warf einen nervösen Blick auf die Tür, als erwarte er, dass sie jeden Moment herein geplatzt kam und legte an Schnelligkeit zu. „Fast fertig.“

Éomer nickte. Wie gut es sich anfühlte, dass der Schweiß abgespült wurde, und dass die kühle Luft seine Haut berührte. Seine Kraft würde sicherlich bald zurückkehren. Daeron reichte ihm ein Handtuch, mit dem er sich abtrocknen konnte, und ein frisches Hemd, und nachdem er sich um seine anderen körperlichen Bedürfnisse gekümmert hatte, folgte Éomer ihm zurück in das Schlafzimmer. Lothíriel stand am Fenster, das sie gerade geöffnet hatte, doch als die Tür knarrte, wirbelte sie herum.

„Éomer! Wie fühlst du dich jetzt?“

„Sehr viel besser,“ sagte er, und es stimmte beinahe.

Lothíriel lächelte entzückt, ertastete sich mit einer Hand den Weg die Wand entlang und kam zu ihm herüber. Sie hielt ihm die andere Hand hin, und als er sie einfing, drückte sie seine Finger. „Dir wird es im Nu wieder gut gehen.“

Éomer begegnete den Augen von Aragorn, der auf der Bettkante saß. „Wird es das? Oder hat dieses Gift lang andauernde Nachwirkungen?“ fragte er und verlieh seiner heimlichen Furcht damit eine Stimme.

Aragorn schüttelte den Kopf. „Das denke ich nicht. Du bist einfach sehr schwach, das ist alles. Iss, und du wirst dich besser fühlen.“ Die ruhige Autorität in seiner Stimme überzeugte Éomer davon, dass sein Freund die Wahrheit sprach.

Lothíriel machte eine große Geste in Richtung Aragorn. „Der König von Gondor und ich haben uns bemüht, dir das Beste zu bringen, was die Küche der Häuser der Heilung zu bieten hat.“

Aragorn grinste. „Was sie meint, ist, dass sie jemanden gebraucht hat, der das Tablett für sie trägt, und ich kam ihr gerade Recht.“

Heiler Daeron war scheinbar leicht entsetzt, zu hören, wie sein König derartig herum kommandiert wurde, aber Lothíriel schaute gänzlich unerschrocken drein. Sie versank in einem übertriebenen Knicks und hielt ihm eine Hand hin. „Verlangt Ihr jetzt nach Eurem Abendessen, mein König?“

Es wärmte ihn, als er sah, wie die besorgten Linien von einem mutwilligen Lächeln aus ihrem Gesicht vertrieben wurden. „Meine Prinzessin, das tue ich in der Tat.“

Nur ganz leicht auf den Heiler gestützt, machte er sich mit langsamen, entschlossenen Schritten auf den Weg zum Bett. Daeron ließ ihn einen Moment warten, während er mit der Leichtigkeit langer Übung die Laken wechselte, dann half er ihm, sich hinzusetzen. Mit einem Seufzer der Erleichterung lehnte sich Éomer in die Kissen zurück.

Der Heiler nickte kurz. „Ich muss jetzt meine Runde fortsetzen, aber ich schaue später wieder herein.“ Die Hand auf der Türklinke, hielt er inne und warf Lothíriel einen Blick zu. „Meine Herrin, erinnert Euch daran, dass der König von Rohan viel Ruhe braucht.“

„Selbstverständlich,“ erwiderte sie in ihrem allersittsamsten Ton und faltete die Hände im Schoß.

Daeron betrachtete sie unsicher. „Ganz recht,“ sagte er.

Als der Heiler ging, sah Éomer ganz kurz seine Reiter auf dem Korridor. Einer von ihnen drehte sich um und sein Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen, als er seinen König erblickte. Er stieß einen seinen Kameraden mit dem Ellbogen an, und der schaute ebenfalls hin. Während die Tür sich hinter Daeron schloss, konnte Éomer hören, wie die Wachen anfingen, sich auf Rohirric zu unterhalten. Zweifellos würde die Neuigkeit, dass es ihm besser ging, sich nun rasch verbreiten.

Aragorn hatte ein Tablett von einem Tisch in der Nähe genommen und stellte es jetzt auf das Bett. Durch irgendeinen ausgeklügelten Mechanismus falteten sich kurze Beine aus, so dass Éomer das Tablett nicht auf dem Schoß balancieren musste. Der Geruch von Fleischbrühe, der aus einer Schüssel aufstieg, sorgte dafür, dass ihm der Magen knurrte.

Aragorn reichte ihm einen Löffel. „Hier, mein Freund, aber immer mit der Ruhe.“

Éomer nickte und begann mit einem kleinen Löffel voll. Er wusste um die Wirkung, die zuviel Nahrung auf einmal auf einen leeren Magen haben konnte. Lothíriel hatte sich wieder in ihrem Sessel nieder gelassen und legte ihren Kopf jetzt schräg; sie lauschte aufmerksam auf jedes Schlürfen, das er von sich gab, was ihn ziemlich in Verlegenheit brachte.

„Du siehst ausgehungert aus,“ bemerkte Aragorn und reichte ihm etwas Brot, das er in die Suppe einweichen konnte.

„Wie ein wilder Barbar aus dem Norden?“ fragte Éomer.

Aragorn lachte, doch Lothíriel setzte sich aufrechter hin. „Du bist kein Barbar!“

Éomer strich sich eine verfilzte Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich danke dir, meine Geliebte. Es ist allerdings gut, dass du mich nicht sehen kannst. Mein Haar sieht aus, als hätte ich drei Tage und Nächte ununterbrochen geschlafen.“

Aragorn blickte ihn ein wenig merkwürdig an. „Das hast du,“ sagte Lothíriel.

Éomer ließ den Löffel wieder in die Schüssel sinken. „Was?“

„Du bist vor drei Tagen verwundet worden,“ erklärte sie. „Es tut mir Leid, ich habe ganz vergessen, das zu erwähnen.“

Drei Tage! Kein Wunder, dass er so schwach war. „Habe ich wirklich die ganze Zeit geschlafen?“

Lothíriel nickte; ein Schatten glitt über ihr Gesicht. „Meistens.“

Éomer sah Aragorn an und wartete auf eine Erklärung. „Die meiste Zeit warst du besinnungslos,“ sagte sein Freund, „doch manchmal wurdest du von üblen Träumen gequält. Alpträume vom Krieg – du wirst dich wahrscheinlich nicht daran erinnern.“

Entsetzt darüber, dass Lothíriel hatte Zeugin dieser Träume werden müssen, nahm Éomer ihre Hand. „Es tut mir so Leid.“

Sie schenkte ihm ein zittriges Lächeln. „Das muss es nicht. Das Einzige, was zählt, ist, dass es dir jetzt besser geht.“ Sie beugte sich vor und ließ ihre Finger leicht über seine Wange gleiten. „Ich habe dir das Gesicht gewaschen, aber an dein Haar habe ich nicht gedacht.“ Sie wandte sich an Aragorn. „Könntet Ihr mir bitte einen Kamm besorgen?“ Ihre Scheu vor dem König von Gondor schien sie ganz verloren zu haben.

Mit dem Auftreten von jemandem, der wohlvertraut damit war, dass man ihn herum kommandierte, verschwand dieser im Badezimmer und kam ein kurzes Weilchen später wieder heraus; er hielt triumphierend einen Kamm in die Höhe. Lothíriel nahm ihn mit einem Wort des Dankes entgegen und ließ sich dann neben Éomer auf dem Bett nieder. Er nahm seinen Löffel und begann wieder, zu essen. Als er ihre geschickten Finger spürte, die sein Haar durchkämmten, kleine Strähnen abteilten und sie sanft glätteten, ging es ihm durch den Kopf, dass vergiftet zu werden die Sache fast wert gewesen war.

Als er wieder aufblickte, sah er, dass Aragorn ihn mit einem Lächeln um die Mundwinkel beobachtete; er fragte sich, ob seine Gedanken wohl so durchsichtig gewesen waren. Er räusperte sich. „Lothíriel sagt, du hast das Gegenmittel für das Gift des Südlings gefunden?“

Aragorn nickte. „Ich dachte mir, der Harad-Prinz müsste etwas davon mitgebracht haben, für den Fall, dass er sich einmal an seinem eigenen Dolch schneidet. Wir fanden es in einem geschickt verborgenen Geheimfach im Griff.“ Lothíriels Hände unterbrachen einen Moment lang ihr Werk und hielten still, doch dann fuhr sie fort.

„Also schulde ich dir mein Leben,“ sagte Éomer ruhig. Und das Leben war jetzt kostbar. „Ich danke dir.“

Aragorn erhob sich von seinem Sitzplatz am Fußende. „Wir sind Brüder. Zwischen uns gibt es keine Schuld.“ Er gähnte. „Ich denke, ich werde euch jetzt allein lassen und mein eigenes Bett aufsuchen.“ An der Tür drehte er sich noch einmal um, ein Grinsen auf dem Gesicht. „Und erinnere dich daran, was Daeron gesagt hat: du brauchst Ruhe.“

Friedliche Stille senkte sich herab, nur unterbrochen von den Vögeln, die anfingen, mit ihrem Chor die Morgendämmerung zu besingen. Lothíriel stand auf und ließ sich auf der anderen Seite des Bettes nieder, während er seine Mahlzeit fortsetzte. Als er mit der Brühe fertig war, lehnte er sich zurück und schloss die Augen; er war es zufrieden, in ihrer Gegenwart zu schwelgen. Als die letzte zerzauste Strähne geglättet war, strich sie ihm mit den Händen durch das Haar.

Plötzlich fühlte er sich gar nicht mehr so müde. Er wandte sich ihr zu, nahm ihre Finger und hob sie an seine Lippen. „Ich danke dir.“ Dann, ehe sie antworten konnte, schlang er den Arm um ihre Mitte und zog sie an sich.

Lothíriel lehnte sich in ihn hinein und legte ihm die Arme um den Hals, ihr Gesicht einen Fingerbreit von dem seinen entfernt. Bebende Wimpern rahmten Augen ein, die so klar waren wie ein Waldsee, und Éomer wollte nichts mehr, als darin zu ertrinken. Ihre Lippen schmeckten salzig von den kürzlich geweinten Tränen, aber sie rundeten sich zu einem Lächeln, als er sie küsste. Wärme breitete sich in ihm aus.

Doch dann löste sie sich sachte von ihm. „Bitte, du darfst dich nicht anstrengen.“

„Dich zu küssen ist keine Anstrengung,“ protestierte er.

Sie ließ ihre Finger zu seiner Kehle hinunter gleiten, wo sein Pulsschlag dicht unter der Oberfläche pochte. „Éomer, ich denke, du musst dich jetzt ausruhen.“

Er gab ein leises Grollen der Frustration von sich, ließ sie aber widerstrebend los. Es stimmte, er war müde, und nebenbei konnte der Heiler jeden Moment zurück kommen. Oder schlimmer, ihr Bruder konnte aufwachen!

Sie nahm das Tablett und stellte es auf den Boden, dann setzte sie sich in ihren Sessel und tastete nach ihrer Harfe. „Lass mich für dich spielen.“ Bald erfüllte eine leise Melodie den Raum.

Schließ die Augen, mein Liebstes du
Pferde springen dem Horizont zu...

Éomer lächelte, als er ein Wiegenlied aus Rohan erkannte. Wo hatte sie das gelernt?

Weiß und grau, braun und schwarz, stolz und schön
Kannst sie wiehern hören, ihre Mähnen seh'n...

Éomer rutschte in die Kissen hinunter und drehte sich auf die Seite, damit er sie anschauen konnte.

Ihre Reiter rufen, gib nicht auf sie Acht
Sollst ihnen nicht folgen, es sinkt die Nacht...

Er erinnerte sich an ihre erste Begegnung in Imrahils Garten, als sie in der Vertiefung des Mauerrundganges gesessen hatte, während die Sonne hinter dem Mindolluin unterging. Mit einem einfachen Lächeln hatte sie ein Stück seines Herzens für immer in Besitz genommen, obwohl ihm das zu dieser Zeit nicht klar gewesen war.

Schlaf sicher und ruhig am Herdfeuer hier
Bei der einen, die einst schenkte das Leben dir...

Erinnerte sie sich daran, wie er sie während ihrer Unterhaltung gebeten hatte, eines Tages für ihn zu spielen? Er hatte kaum etwas von den Umständen ahnen können, unter denen sie ihr Versprechen einlösen würde.

Schließ die Augen, mein Liebstes du
Pferde springen dem Horizont zu...

Er schloss die Augen.


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