Euch zu Diensten
von Lialathuveril, übersetzt von Cúthalion


Kapitel Dreißig
Schlangenzahn

Vor vielen Jahren lebte in den Wüsten weit entfernt im Süden eine riesige Schlange. Tagsüber schlief sie in ihrer Höhle, und des Nachts ging sie auf die Jagd, doch bei Neumond warf sie ihre Haut ab und wurde für eine Nacht zum Mann. Eines Tages geschah es, dass eine Jungfrau sich in der Wüste verirrte, und die Schlange fand sie und nahm sie zum Weib. Aus diesem Bund wurde ein Sohn geboren, Ulwarth, der sich selbst zum König der Haradrim erklärte. Und immer seither hatte die Brut der Schlange Gondor gegenüber üble Absichten und war darauf aus, ihm zuzusetzen.
(Telemnar: Alte Geschichten aus Harad)

Die Finger schlossen sich fester um die ihren, und Lothíriel konnte hören, dass Éomer scharf Luft holte.

„Fast fertig, mein Herr,“ sagte der Heiler.

„Mach einfach weiter.“

Lothíriel spürte, wie es sie bei dem Gedanken an eine spitze Nadel, die Éomers Fleisch durchbohrte, in der Kehle würgte. Sich über ihm zu übergeben, würde aber ganz entschieden nicht helfen.

„Geht es dir gut?“ fragte Éomer.

Sie versuchte zu lächeln, aber sie hatte den Eindruck, dass es ihr nicht wirklich gelang. „Ich fühle mich nur ein wenig schwach.“

„Beeil dich!“ sagte er zu dem Heiler.

Der Mann gab nur ein Grunzen zur Antwort, erklärte sein Werk aber bald für beendet. „Achtet darauf, den Arm nicht zu belasten,“ sagte er, „und kommt morgen zu mir in die Häuser der Heilung, damit ich den Verband erneuern kann.“

Lothíriel nickte. Sie würde dafür sorgen.

„Ja, ja,“ stimmte Éomer ungeduldig zu. Er drückte ihr die Hand. „Lothíriel, würdest du dich gern setzen?“

Genau in diesem Moment erhob sich eine Brise und trug den Geruch von frisch vergossenem Blut mit sich. Wenigstens einmal war Lothíriel dankbar dafür, blind zu sein, da der Vorhof wahrscheinlich aussah wie ein Schlachthaus. Übelkeit stieg in ihr hoch. „Meinst du, wir könnten ein kleines Stück von hier fort gehen?“

„Natürlich!“ Er zögerte. „Ich glaube, um die Ecke des Hauses befindet sich ein Garten. Lass uns dorthin gehen. Nur einen Moment noch.“

„Ich danke dir.“ Plötzlich fühlte sie sich schwindelig und lehnte sich an ihn. Sie berührte bloße Haut, fest und warm. Sehr viel bloße Haut, wie ihr einen Moment später überrascht klar wurde, und sie wich verwirrt zurück.

Er hielt sie fest. „Es tut mir Leid! Ich wollte dir gerade sagen, dass ich mein Hemd erst wieder anziehen muss.“

„Oh!“ Ihre Wangen wurden heiß, und sie hoffte inständig, dass ihr Vater nicht gesehen hatte, wie sie sich an Éomers nackte Brust schmiegte. Wo war er überhaupt? „Hast du meinen Vater gesehen?“ fragte sie.

„Zum Glück nicht.“ Eine Spur Gelächter schwang in Éomers Stimme mit. Zweifellos war die Richtung, in die ihre Gedanken gingen, leicht zu erraten. „Ich glaube, Aragorn hat ihn mitgenommen, um den Transport der Verwundeten zu den Häusern der Heilung zu organisieren.“ Er legte ihre Hand auf seinen Arm, der nun anständig bekleidet war. „Lass mich dir den Weg in den Garten zeigen.“

Lothíriel stolperte leicht auf dem rauen Kopfsteinpflaster und zischte unwillkürlich vor Schmerz, als sie mit dem Zeh gegen einem Stein stieß.

„Deine Füße!“ rief er. „Das hatte ich ganz vergessen!“

Einen Herzschlag später spürte sie, wie sie von starken Armen aufgehoben wurde. „Éomer, deine Wunde!“ protestierte sie.

Er überquerte bereits mit langen Schritten den Vorhof. „Kümmer dich nicht darum. Du wiegst sowieso fast nichts. Füttert dein Vater dich denn nicht ordentlich?“

Ihr entschlüpfte ein Lachen. „Das tut er, aber ich habe seit dem Frühstück nichts mehr gegessen.“

„Was?“ Er blieb jäh stehen. „Kein Wunder, dass du dich schwach fühlst.“ Er drehte sich um, während er sie immer noch in den Armen hielt. „Oswyn!“

Rennende Schritte kündigten die Ankunft seines Knappen an. „Ihr habt mich gerufen, Herr?“

„Hol Prinzessin Lothíriel sofort etwas zu Essen. Brot wäre am besten.“

„Ja, mein Herr.“

Lothíriel zupfte an Éomers Hemd. „Und etwas Wasser, bitte.“

„Und Wasser!“ rief er hinter dem Knappen her. Dann setzte er seinen Weg in den Garten fort. „Immerhin möchte ich nicht, dass meine zukünftige Braut mir dahin siecht,“ flüsterte er ihr ins Ohr.

Seine zukünftige Braut. Sie verbarg ihr Gesicht an seiner Brust, als die Erkenntnis, wie kurz sie davor gestanden hatte, ihn zu verlieren, über ihr zusammenbrach wie eine riesige Welle. Sie raubte ihr den Atem und erdrückte sie unter ihrem Gewicht.

„Lothíriel? Habe ich etwas Falsches gesagt?“

Außerstande, das Zittern zu unterdrücken, das sie zu überwältigen drohte, schüttelte sie nur den Kopf und klammerte sich an seine Schultern. „Es liegt an mir. Es tut mir Leid.“

Er setzte sich und zog sie auf seinen Schoß. „Weißt du, Lothíriel, du musst nicht die ganze Zeit tapfer sein.“ Er schloss sie sanft in die Arme und fügte hinzu: „Nicht, wenn du bei mir bist.“

„Oh, Éomer!“ Plötzlich durchfuhr sie die Erinnerung an das ganze Entsetzen des vergangenen Tages. Ihr wurde die Kehle eng.

Er wiegte ihren Kopf an seiner Brust. „Du bist jetzt in Sicherheit.“

In Sicherheit. Bei seinen Worten konnte Lothíriel die Tränen nicht länger zurückhalten, die sie so lange unterdrückt hatte – sie kamen heraus, begleitet von heftigem, herzzerbrechenden Schluchzen. Éomer hielt sie einfach geduldig fest, streichelte ihr den Rücken und murmelte Zärtlichkeiten. Nach einer Weile ließ ihr Zittern nach, und sie gewann langsam eine gewisse Fassung zurück, doch sie lehnte sich lange Zeit an ihn und ließ die Tränen ihre Furcht fortspülen. Es war vorüber.

„Ich hatte einfach schreckliche Angst,“ flüsterte sie endlich. Mit einem Mal brach es aus ihr heraus. „Oh Éomer, ich dachte, er hätte dich getötet! Da, ganz am Ende...“ Sie erinnerte sich daran, wie jedermann entsetzt aufgeschrien hatte und fing wieder an zu zittern.

Er drückte ihre Schulter. „Wenn ich nur besser auf dich Acht gegeben hätte! Es tut mir so Leid, dass du in diese ganze Rachegeschichte hinein geraten bist. Was für ein Feigling, durch dich an mich herankommen zu wollen!“

Lothíriel konnte beinahe den feuchten Mund des Mannes auf ihrem spüren, seine Hände überall auf ihrem Körper. Sie schauderte. „Er wollte mich mitnehmen und mich heiraten! Siehst du, bevor ich bei diesem Unfall mein Augenlicht verlor, hatte Denethor mich einem Prinzen von Harad versprochen.“

„Muzgâsh?”

Sie nickte, und Éomer fluchte auf Rohirric. „Wenn dein Onkel nicht schon tot wäre...“ Er holte tief Atem. „Es spielt keine Rolle. Ich verspreche, dass ich mich von nun an um dich kümmern werde.“ Er küsste sie leicht auf die Stirn. „Fühlst du dich jetzt besser?“

Lothíriel wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. Wie schmutzig sie aussehen musste – sie hatte nicht einmal ein Taschentuch! Doch überraschenderweise fühlte sie sich sehr viel wohler, wenn auch immer noch erschöpft und ausgebrannt. „Es geht nichts über ein paar ordentliche Tränen, um jemanden wieder aufzuheitern,“ sagte sie mit einem bebenden Lächeln. „Es tut mir Leid; ich bin üblicherweise nicht so eine Heulsuse. Werden deine Männer mich für schrecklich schwach halten?“

Er lachte kurz und bellend. „Lothíriel, die Rohirrim erkennen Mut, wenn sie ihm begegnen.“

Mut? „Ich bin nicht tapfer,“ widersprach sie. Nichtsdestotrotz erfüllten seine Worte sie mit einem warmen Glühen.

„Lass mich das beurteilen. Du hast einen klaren Kopf behalten und mir eine Warnung geschickt, du bist diesem schrecklichen Mann entgegen getreten und hast dich gewehrt. Wenn das kein Mut ist, was denn dann?“

Sie hatte es noch nicht so betrachtet. „Wahrscheinlich. Aber ich habe einfach getan, was ich tun musste.“

„Na bitte.“ Er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Weißt du, ich könnte mich daran gewöhnen, zu sehen, dass du dein Haar so offen trägst.“

„Oh!“ Befangen hob Lothíriel eine Hand, ließ sie aber dann wieder fallen. „Ich vermute, ich sollte versuchen, es zu flechten. Es ist nicht sehr schicklich.“

„Nein?“ fragte er und ließ seine Finger durch ihr Haar gleiten. „Aber es ist wunderschön und dicht....“

Ein Flattern der Erregung erhob sich tief in Lothíriels Magen. Würde er sie wieder küssen? Es hätte ihr gefallen, wenn er es täte, doch was würde ihr Vater sagen? Und wahrscheinlich waren sie von seinen Wachen umgeben... obwohl es wirklich ein wenig spät war, sich jetzt noch um Sitte und Anstand zu sorgen.

Doch er seufzte. „Es tut mir Leid; du musst müde sein. Und obendrein stinke ich nach Schweiß und Blut.“

„Als ob mir das etwas ausmachen würde!“

Er lachte und berührte sie flüchtig an der Wange. „Nun, mir macht es etwas aus, denn du hast Besseres verdient. Sag mir, hättest du jetzt gern etwas zu essen und zu trinken? Und ich möchte mir deine Füße ansehen.“

Lothíriel nickte und er ließ sie auf die Bank hinunter gleiten. Als er aufstand, hörte sie plötzlich, dass er stolperte. „Éomer?“

„Es ist nichts,“ versicherte er ihr. „Ich glaube, mein Bein ist eingeschlafen, während ich gesessen habe.“

Er reichte ihr einen Becher, und als sie ihn an die Lippen hob, stellte sie fest, dass er mit kaltem Wasser gefüllt war. „Oh, das schmeckt wundervoll!“

Éomer hatte begonnen, ihre Hosenbeine hoch zu rollen; jetzt gab er einen kurzen Befehl auf Rohirric. Jemand rannte davon. „Du Armes, haben deine Entführer dir denn gar nichts zu trinken gegeben?“

Sie stellte den Becher vorsichtig hin. „Sie haben mir Wein gegeben, aber mir wurde klar, dass er mit Mohnsirup versetzt war, also habe ich ihn nicht getrunken.“

„Bist du auf diese Weise entkommen?“ Er schloss ihre Hand um ein Brötchen. „Hier, iss etwas.“

Sie nickte und achtete gleichzeitig darauf, kleine Bissen zu nehmen, um ihren Magen nicht zu überlasten. „Ich habe mich schlafend gestellt, und als die Wachen meine Zelle unverschlossen ließen, bin ich hinaus geschlüpft.“ Bei der Erinnerung lächelte sie befriedigt. „Und dann habe ich sie eingesperrt.“

„Geschieht ihnen Recht!“ Er schnaubte belustigt, aber dann wurde seine Stimme kalt. „Sie werden nie wieder eine andere Frau bedrohen. Wir haben sie allesamt getötet.“

Lothíriel schauderte, aber sie konnte in sich kein Mitleid für die Südlinge finden, denn sie hätten ihr keine Gnade erwiesen. In diesem Moment zeigte knirschender Kies an, dass jemand sich näherte.

„Ah, hier kommt Oswyn mit dem Wasser für deine Füße,“ sagte Éomer. „Gib es mir,“ befahl er dem Knappen.

„Du kannst mir doch nicht die Füße waschen!“ protestierte sie, noch mehr von dem köstlichen Brötchen im Mund.

„Wieso nicht?“

„Du bist der König von Rohan!“

Sichere Hände hoben eines ihrer Beine hoch. „Ganz genau. Was bedeutet, dass ich tun kann, was ich will. Halt still.“

Was konnte sie darauf antworten? Also lehnte sie sich einfach mit einem zufriedenen Seufzer zurück, während er den Schmutz abwusch und die kleinen Schnitte und Kratzer säuberte. Wie seltsam, daran zu denken, das die Hände, die sie so sanft berührten, die selben waren, die den Südlingen gerade erst den Tod gebracht hatten! Irgendwo im Garten quakte heiser ein Frosch, und Grillen zirpten im Gras und hießen die Nacht willkommen. Langsam begann ein zerbrechlicher Friede sich wieder zurück in ihre Seele zu stehlen. Wie wunderbar, den offenen Himmel über sich zu spüren und zu riechen, wie die Abendbrise heimelige Küchendüfte zu ihr trug. In Sicherheit.

„Bitte sehr,“ sagte Éomer; plötzlich klang er müde. „Lass deine Füße erst einmal trocknen, und später kann der Heiler im Lager etwas Salbe auftragen.“

„Im Lager?“

Langsam rollte er ihre Hosenbeine wieder hinunter. „Lothíriel, ich möchte, dass du heute Nacht in unserem Lager bleibst. Ich hätte sonst keine Ruhe. Du kannst Éowyns Zelt haben,“ fügte er hinzu.

Lothíriel zögerte, Sie wollte auch nicht wieder von ihm getrennt sein, nicht, nachdem sie ihn beinahe verloren hatte. „Das würde ich gern,“ gab sie zu, „aber ich bin nicht sicher, ob mein Vater mich lässt.“

„Nun, hier kommt er. Lass mich die Dinge regeln.“ Während er aufstand, stützte er sich so schwer auf die Bank, dass sie erbebte. Angesichts der Erschöpfung in seiner Stimme verspürte Lothíriel ein kurzes Flackern der Unruhe, aber dann war ihr Vater da.

„Lothíriel?“ Ihr Vater nahm seine Hand. „Wie fühlst du dich?“

Sie lächelte abwesend zu ihm auf. „Viel besser.“

„Ich habe deinen Umhang gefunden.“ Er legte ihn ihr um die Schultern. „Und man hat sich um die Verletzten gekümmert, also sind wir jetzt bereit zum Aufbruch.“

„Sind viele von den Männern verwundet?“ fragte Lothíriel; sie fühlte sich schuldig, weil sie nicht schon früher nachgefragt hatte. Ihre Tortur mochte vorüber sein, aber für andere hatte das Leiden erst begonnen.

„Wir hatten Glück, dass wir den Südlingen an Zahl überlegen waren,“ versicherte ihr Vater. „Eine ganze Menge böser Schnitte, ein paar Kopfwunden und zwei gebrochene Arme, aber keine Todesopfer.“ Er berührte sie am Arm. „Lothíriel, ich würde dich jetzt gern von hier fort bringen. Lass mich dich zu den Pferden tragen.“

Sie streckte Éomer eine Hand hin, der das Stichwort sofort aufnahm. „Imrahil,“ sagte er, „ich habe Lothíriel gerade vorgeschlagen, dass es sicherer sein könnte, wenn sie die Nacht in meinem Lager verbringt. Natürlich seid Ihr dort ebenfalls willkommen.“

Es folgte eine angespannte Stille. „Éomer, ich weiß wirklich zu schätzen, was Ihr heute für meine Tochter getan habt,“ erwiderte ihr Vater, „aber ich versichere Euch, ich bin vollkommen fähig, für ihre Sicherheit zu sorgen.“

„Wir wissen nicht, ob es irgend einem von Mûzgashs Männern gelungen ist, zu entkommen,“ erinnerte ihn Éomer. Wie müde er klang!

„Ich werde die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen treffen.“

„Das ist ja alles sehr schön,“ schnappte Éomer plötzlich, „aber die Südlinge haben es geschafft, sie direkt unter Eurer Nase zu entführen!“ Er brach ab und holte tief Luft. „Vergebt mir... ich bin müde und erschöpft, und ich fühle mich nicht sehr diplomatisch.“

Lothíriel biss sich auf die Lippen. Wieso hatte er das gesagt? Nun konnte es gut sein, dass ihr Vater zu gekränkt war, um zuzustimmen. „Vielleicht könnte Amrothos auch mitkommen?“ schlug sie schüchtern vor. „Bitte? Ich würde mich so viel sicherer fühlen...“

Einen Moment später seufzte ihr Vater. „Lothíriel, wie könnte ich dir ausgerechnet heute irgend etwas abschlagen? Also schön. Aber nur für eine Nacht, und dann sehen wir weiter.“

„Ich danke dir!“ rief sie.

„Danke,“ echote Éomer. „Und ich entschuldige mich für das, was ich gerade gesagt habe.“

„Mein Freund, fühlt Ihr Euch wohl?“ fragte ihr Vater. „Ihr seht bleich aus.“

Erschrocken richtete Lothíriel sich auf. „Éomer?“

Er drückte ihr die Hand. „Liebes Herz, bitte mach dir keine Sorgen. Es ist nichts als die Anstrengung vom Kampf.“ Und doch klang seine Stimme zögernd. „Ich setze mich einfach einen Moment hin, dann geht es mir gleich besser.“ Wieder erzitterte sie Bank unter seinem Gewicht, als er sich niederließ.

Lothíriel drehte sich zu ihm um und hielt seine Finger fest. „Hast du Schmerzen?“

„Oh nein, überhaupt nicht.“ Er streichelte beruhigend ihre Hand, aber dann zögerte er erneut. „Imrahil, würde es Euch etwas ausmachen, einen Blick auf mein linkes Bein zu werfen? Es fühlt sich... merkwürdig an.“

„Dein Bein?“ Lothíriel konnte die wachsende Panik nicht ganz aus ihrer Stimme verbannen. „Ich dachte, Mûzgash hätte dich am Arm verwundet?“

„Nun, er hat versucht, mir mit einem Dolch in den Fuß zu stechen, aber ich bin zurück gesprungen, und er hat mich verfehlt.“

„Nicht ganz,“ widersprach ihr Vater; ganz plötzlich hörte er sich grimmig an. „Die Haut ist kaum verletzt, aber hier an Eurem Schienenbein ist ein leichter Kratzer.“

Einen Augenblick lang sagte keiner von ihnen etwas. Dann räusperte ihr Vater sich. „Éomer, könnt Ihr fühlen, dass ich Euer Bein berühre?“

„Nein.“

Lothíriel sprang auf. „Wo?“

„Lothíriel, du wirst dir die Füße wieder schmutzig machen!“ protestierte Éomer, aber sie winkte ab.

„Oh, lass es gut sein! Wo?“

Ihr Vater führte ihr die Hände zu Éomers Bein; sie kniete sich hin und folgte dem Schnitt in seiner Hose nach oben, bis sie auf bloße Haut traf. Der Kratzer, den der Dolch hinterlassen hatte, war so oberflächlich, dass sie ihn kaum ausmachen konnte. Sie ließ ihre Finger auf seinem Bein ruhen und runzelte die Stirn. „Deine Haut fühlt sich kalt an.“

„Lasst mich einen Heiler holen,“ sagte Imrahil. Seine Schritte verklangen rasch.

Lothíriel sank gegen Éomer und er streichelte ihr wortlos den Rücken. Rings um sie her hörte sie die besorgten Stimmen seiner Wachen, die miteinander sprachen. Bitte, dachte sie, es kann nicht sein... Sie wagte es nicht, den Gedanken zu beenden. Konnte Mûzgash sie noch von jenseits des Grabes treffen?

Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis der Heiler eintraf. Er kniete sich neben sie. „Mein Herrin, darf ich mir das einmal ansehen?“

Als Lothíriel aufstand, um ihm Platz zu machen, legte Imrahil ihr einen Arm um die Schultern und drückte sie rasch. „Mach dir keine Sorgen, Tochter. Aragorn ist auch hier, und du weißt, was für ein ausgezeichneter Heiler er ist.“ Sie brachte nicht mehr als ein ruckartiges Nicken zuwege, während sie den beiden Männern dabei zuhörte, wie sie mit gesenkten Stimmen über die Verletzung sprachen. Bitte, oh bitte!

„Éomer, hast du den Dolch gesehen, den der Harad-Prinz benutzt hat?“ fragte König Elessar.

„Nur kurz.“ Éomer sprach langsam, als würde allein das Formulieren der Worte ihn erschöpfen. „Die Klinge ist abgebrochen.“

Lothíriel schüttelte den Arm ihres Vaters ab und ertastete sich den Weg zu der Bank. Sie kniete sich neben Éomer und legte die Arme um ihn. Mit einem dankbaren Seufzer lehnte er sich gegen ihre Schulter. „Eine seltsame Farbe,“ fügte er hinzu. „Schwarz. Nicht aus Stahl gemacht, glaube ich. Etwas anderes.“

König Elessar fluchte in sich hinein. „Ein Schlangenzahn!“

„Was ist ein Schlangenzahn?“ fragte ihr Vater.

„Ich habe davon gelesen,“ erklärte König Elessar. „Die Männer aus dem Königshaus von Harad tragen ihn als Zeichen ihrer Abstammung von der legendären Schwarzen Schlange.“

Lothíriel schluckte. „Könnte er... vergiftet gewesen sein?“ Irgendwie ließ die Tatsache, dass sie ihre Ängste laut aussprach, sie ganz plötzlich zur Wirklichkeit werden.

„Ich fürchte, ja.“

Stille. Éomers Gewicht presste sich schwer gegen sie, und sein Atem klang mühsam. „Könnt Ihr irgendetwas tun?“ fragte sie flüsternd. Bitte!

„Das muss ich erst sehen,“ sagte König Elessar langsam, und Lothíriel hatte das eindeutige Gefühl, dass er versuchte, sie nicht zu erschrecken. Plötzlich schien er zu einem Entschluss zu kommen. „Zuerst muss ich diese Klinge finden!“ Er packte sie am Arm. „Hört zu, Lothíriel, Ihr müsst ihn wach halten. Lasst nicht zu, dass er einschläft!“

Zum zweiten Mal an diesem Tag stellte Lothíriel fest, dass sie sich an den König von Gondor klammerte. „Aber wie?“

„Das ist mir gleich. Sprecht mit ihm. Tut irgendetwas. Doch wenn Ihr ihn liebt, dann dürft ihr nicht zulassen, dass er Euch entgleitet. Werdet Ihr das tun?“

Lothíriel nickte. Dann war er fort und ließ sie mitten in einem Kreis aus besorgten Rohirrim zurück. „Éomer, hast du das gehört?“ fragte sie.

„Hmmm.”

Er hörte sich bereits an, als würde er halb schlafen, dachte Lothíriel mit wachsender Panik. Sie drehte sich um und versuchte, ihn zu schütteln, aber sie hätte genauso gut versuchen können, einen Berg zu bewegen. Was sollte sie jetzt tun? Sprich mit ihm!

Sie befeuchtete sich die Lippen. „Éomer! Wieso erzählst du mir nicht von Rohan?“

„Rohan?”

„Ja! Du willst doch, dass ich mit dir nach Rohan komme, oder nicht? Wie sieht Edoras aus?“ Sie faselte!

„Schön,“ sagte er langsam, mit lallender Stimme. „Auf... Hügel. Schön.“

„Und die Goldene Halle? Wie sieht Meduseld aus?“

„Groß.“ Es tat ihr weh, zu hören, wie viel Mühe ihn dieses einfache Wort kostete. „Tut mir Leid,“ seufzte er. „Müde.“

„Ich weiß, dass du müde bist, aber du darfst nicht einschlafen!“

„Prinzessin, ihm fallen die Augen zu!“ rief jemand. Oswyn.

„Éomer! Verlass mich nicht!“ Ein Schluchzen brach aus ihr heraus.

Das schien ihn leicht aufzuwecken. „Keine Sorge,“ murmelte er. „Bloß schläfrig.“

„Nein!“ Sie suchte verzweifelt nach etwas, womit sie ihn wachhalten konnte. „Éomer, eins sage ich dir: wenn du jetzt einschläfst, dann heirate ich einen anderen!“

Er schien sich leicht zu straffen. „Nein.“ Doch dann sank er wieder schlaff gegen sie. „... lass dich nicht.“

„Ich werde es tun! Einen Prinzen von Harad!“

„Grausam,“ sagte er. „...liebst mich nicht.“

Bei dem Schmerz in seiner Stimme, die immer schwächer wurde, fühlte sie sich, als würde ihr Herz in kleine Stücke gehackt. „Oh Éomer, natürlich liebe ich dich! Aber du darfst nicht einschlafen! Du musst kämpfen!“ Eine Träne lief ihr die Wange hinunter. Wo war König Elessar?

„So kalt...“ seufzte er.

Sein Kopf lag schwer auf ihrer Schulter, und sie brauchte ihre ganze Kraft, um sein Gesicht zwischen beiden Händen anzuheben. „Schau mich an!“ befahl sie. „Mach die Augen auf!“

Er murmelte etwas Unverständliches. Jemand packte sie am Arm. „Prinzessin, er schläft ein! Bitte, Ihr müsst etwas tun!“ Wieder Oswyn, der so panisch klang, wie sie sich fühlte. Doch was konnte sie tun? Éomers Wangen fühlten sich kalt und klamm an unter ihren Fingern, seine helle Flamme flackerte und ging aus. Irgendwie musste sie einen Weg finden, diese letzten, ersterbenden Funken wieder zu einem lodernden Brand anzufachen!

Verzweiflung heulte am Rand ihres Bewusstseins; sie stieß seinen Kopf nach hinten. „Éomer!“ Etwas von seinem Haar war ihm über das Gesicht gefallen, und sie strich es zurück. Ihre Fingerspitzen zogen seine geliebten Züge nach, die Form seiner Augen, die kalten Lippen.

„Wag es nicht, mich zu verlassen!“ flüsterte sie. Dann beugte sie sich vor und küsste ihn.


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