Euch zu Diensten
von Lialathuveril, übersetzt von Cúthalion


Kapitel Achtundzwanzig
Falle

Plane deine Feldzüge gut, denn eine einzige Änderung der Umstände kann den Jäger zum Gejagten machen, den Fallensteller zu dem, der in der Falle gefangen ist.
(Hyarmendacil: Die Kunst des Krieges)

Éomers Führer schaute nervös nach hinten, während sie im Dritten Kreis in eine Seitengasse einbogen, und Éomer folgte seinem Blick. Nur der übliche Spätnachmittagsverkehr auf der Straße: Diener, die von ihren Botengängen zurück kamen, ein Mann, der einen Stand aufstellte, um Essen zu verkaufen, zwei Arbeiter in einem Abfallkarren. Und ein Junge, der ein struppig aussehendes Pony führte. Nichts Ungewöhnliches.

Sein Führer schien das ebenfalls zu denken, denn er entspannte sich sichtlich. Der Mann hatte den ganzen Weg vom Stadthaus der Familie von Dol Amroth angespannt die Straßen abgesucht, aber jetzt schien er davon überzeugt zu sein, dass sie nicht verfolgt wurden. Sie blieben am Eingang eines baufällig aussehenden Hauses stehen, und Éomers Hand stahl sich zum Schwertgriff, als er unfreundliche Augen auf sich spürte. Doch es geschah weiter nichts. Die Tür schwang auf, und sein Führer zeigte an, dass er ihm nach drinnen folgen sollte.

Éomer riskierte einen letzten Blick zurück. Minardil hatte sich hin gekauert und untersuchte Galadors Hufe. Ihre Augen begegneten sich kurz, und der Junge warf ihm ein rasches Grinsen zu. Ohne Zweifel hielt er es für ein großartiges Spiel, in die Pläne der Erwachsenen mit einbezogen zu sein. Éomer fragte sich flüchtig, ob Alphros wohl sehr enttäuscht gewesen war, dass man ihm nicht erlaubt hatte, mitzukommen, aber sie konnten es wirklich nicht riskieren, Lothíriels Entführern noch eine solche Geisel unter die Nase zu halten.

Er straffte die Schultern und trat in den kurzen Durchgang, der ins Haus führte; die ganze Zeit versuchte er, auszurechnen, wie lange Minardil brauchen würde, Verstärkung zu holen. Drei Kreise hinauf auf dem Ponyrücken, dann wieder nach unten durch den Verkehr – es würde eine Weile dauern.

Ein Hof öffnete sich vor ihm, und seine Augen wurden geradewegs zu dem Mann gezogen, der am anderen Ende stand und auf ihn wartete. Er hatte die Aura eines Befehlshabers, und Éomers Atem beschleunigte sich vor Erregung. Würde er es endlich mit dem Kerl zu tun bekommen, der für Lothíriels Entführung verantwortlich war? Und er hatte eine Menge auf dem Gewissen.

Langsam überquerte er die Freifläche; die ganze Zeit juckten seine Schulterblätter. Ein Blick seitwärts bestätigte ihm, dass zwei Männer auf dem Dach des Gebäudes zu seiner Rechten kauerten, die Bögen bereit, und er war froh, dass er das Kettenhemd trug, das Éothain aus dem Lager mitgebracht hatte. Es fühlte sich unendlich besser an, einen gewissen Schutz gegen Pfeile zu haben. Weitere Männer hatten am Rand des Hofes Position bezogen, die Schwerter noch in der Scheide. Keine guten Chancen. Fünf rechts, drei links, stellte Éomer rasch fest, dazu der Mann, der ihn her geleitet hatte und der jetzt hinter dem Anführer stand, mit einem Schwert bewaffnet, das man ihm gegeben hatte. Und vielleicht noch mehr von ihnen, im Haus versteckt? Eine wunderschöne Falle, aber das hatte er ja schon gewusst.

Auf dem Boden war ein Kreis aus irgendeiner grauen Substanz gezogen worden. Asche? Er studierte seinen Gegner, während er darauf zuging, und der Mann machte einen Schritt vorwärts; er bewegte sich mit einer fließenden Anmut, die dafür sorgte, dass sich etwas in Éomers Gedächtnis regte. Stechende, schwarze Augen in einem dunkelhäutigen Gesicht begegneten den seinen. Der Mann trug sein Haar auf merkwürdige Weise, mit einer kurz geschorenen Stelle an einer Schläfe, die beinahe so aussah, als sei sie versengt. So groß wie Éomer und muskelbepackt, trug er einen scharlachroten Waffenrock über seinem Kettenpanzer. Éomer spürte, wie sich seine Augen weiteten, als er das Emblem der Schwarzen Schlange erkannte. Haradrim?

Der Mann lächelte, als würde er seine Gedanken lesen. „König Éomer. Endlich begegnen wir uns.“

Éomer blieb dicht außerhalb des Aschekreises stehen. Zeit. Er brauchte Zeit, mahnte er sich selbst, auch wenn es ihn juckte, sein Schwert zu ziehen und dem Südling dieses Grinsen aus dem Gesicht zu wischen.

„Wo ist Prinzessin Lothíriel?“ fragte er knapp. Niemals Schwäche zeigen.

„An einem sicheren Ort.“

Éomer gestattete sich nicht, die Fäuste zu ballen und damit seinen Zorn zu offenbaren. Statt dessen warf er dem Mann einen kalten Blick zu. „Wenn Ihr mit mir verhandeln wollt, dann bestehe ich darauf, sie zuerst zu sehen, um sicher zu sein, dass sie unverletzt ist.“

Der Mann winkte ab. „Oh, sie ist nicht allzu sehr beschädigt. Doch ich fürchte, dass Ihr sie jetzt gerade nicht sehen könnt.“

Ein paar von den Wachen lachten hämisch, und für einen Moment umwölkte mörderische Wut Éomers Sichtfeld mit einem roten Nebel. Er rang sie nieder. Lothíriel brauchte ihn mit klaren Kopf, damit er herausfinden konnte, wo sie gefangen gehalten wurde, um sie zu retten; es half ihr nicht, wenn er die Beherrschung verlor. Selbst, wenn das bedeutete, dass es ihm nicht möglich war, dem Mann auf der Stelle das Leben aus dem Leib zu würgen. Aber wenn die Südlinge es gewagt hatten, Lothíriel anzurühren...

Der Mann beobachtete ihn erwartungsvoll, als würde er auf eine zornige Explosion warten; seine schwarzen Augen glitzerten voller Vorfreude.

Éomer neigte den Kopf. „Der König von Gondor macht Euch ein Angebot. Gebt die Prinzessin zurück, und er wird euer Leben schonen und Euch das Geleit zur Grenze dieses Reiches geben.“

„Ein großzügiges Angebot,“ erwiderte der Südling mit einem Lächeln. „Aber ich denke, dass wir die Prinzessin wohl eher mit uns nehmen. Ihr Aufenthalt bei uns hat sich bisher als höchst unterhaltsam erwiesen.“

Obwohl er sein Bestes tat, sich unter Kontrolle zu halten, zuckte Éomers Hand zu seinem Schwert. Was hatten sie Lothíriel angetan? Beschädigt? Unterhaltsam? Der Drang zu Töten durchfuhr ihn, und doch wagte er nicht, ihm nachzugeben, und diese Ratte wusste es. Éomer war Männern von seiner Sorte schon früher begegnet – die Art, die ihre Gegner eher quälten und verhöhnten, anstatt ihnen sauber den Garaus zu machen. Er musste sich selbst daran erinnern, dass Lothíriel für diese Männer bestimmt eine wertvolle Geisel war.

„Was wollt Ihr denn dann?“ fragte er, entschlossen, zum Kern der Sache zu kommen.

Der Mann trat einen Schritt vor; seine Augen brannten in plötzlichem Feuer. „Ich will Rache, König von Rohan!“

Éomer warf ihm einen eisigen Blick zu. „In meinem Land regelt ein wahrer Mann seine Unstimmigkeiten auf direktem Wege; er lässt seine Wut nicht an einer wehrlosen Frau aus.“

„Das ist meine Absicht. Ich schlage vor, dass wir die Sache hier und jetzt auskämpfen – bis zum Tod.“ Der Südling deutete auf den Aschekreis.

Éomer zögerte; er wollte das Angebot dieses Mannes liebend gern annehmen „Wie ist Euer Name?“

„Mûzgash, Sohn des Uldor. Ein Prinz aus dem Blut von Harad.“

Was tat ein Haradrim-Prinz in Minas Tirith? Nicht, dass es eine Rolle spielte; der Mann würde seine Heimat nie wiedersehen.

„Also schön,“ sagte Éomer. In diesem Augenblick zog eine plötzliche Bewegung drüben beim Haus seine Aufmerksamkeit auf sich. Im Erdgeschoss flog eines der Fenster mit einem Knall auf, und jemand lehnte sich hinaus.

„Éomer, es ist eine Falle! Er will dich umbringen!“

Lothíriel! Sein Körper gab Antwort, noch ehe sein Geist die Gelegenheit hatte, eine bewusste Entscheidung zu treffen. Ohne dass er sich daran erinnern konnte, sein Schwert gezogen zu haben, drehte er sich nach rechts, schlitzte einer der Wachen den Bauch auf und stieß den Mann zwischen seine Kameraden, die erst jetzt anfingen, sich zu bewegen. Ein Pfeil surrte an ihm vorbei, während er auf das Haus zu hetzte.

„Ich will die Frau lebend!“ hörte er Mûzgash hinter sich schreien, gerade, als er die Tür aufriss.

Er blickte in einen dunklen, vollkommen ausgestorbenen Korridor. In der Hoffnung, dass dies seine Verfolger einen Moment aufhalten würde, schlug er die Tür wieder zu und ließ den schweren Riegel quer darüber fallen. Dann rannte er den Korridor hinunter in die Richtung, wo er Lothíriel vermutete. Vorsicht, mahnte er sich selbst, es könnte ein Teil ihrer Falle sein. Obwohl er das bezweifelte, wenn er an die Überraschung auf Mûzgashs Gesicht dachte.

„Éomer! Hilfe!“ Der Ruf kam aus einem der Zimmer vor ihm, und sein Herzschlag setzte aus. Er stürzte durch die Tür hinein und sah, dass Lothíriel am Fenster stand, den Arm im Griff eines der Südlinge, der sie von draußen gepackt hatte und jetzt versuchte, sie durch die schmale Fensteröffnung hinaus zu zerren. Sie hielt einen Blumentopf in der Hand und versuchte, die laut fluchende Wache damit zu schlagen. Doch es brauchte nicht mehr als ein paar Schritte durch die Küche und den Anblick von Éomers nackter Klinge, die auf ihn zielte, dass der Mann mit einem kurzen Aufschrei vom Fenster weg nach hinten sprang. Endlich frei, wirbelte Lothíriel herum, schwang den Blumentopf und traf Éomer damit voll gegen die Brust.

„Lothíriel!“ rief er. „Ich bin es!“

Sie ließ den Topf fallen und verfehlte dabei nur knapp seine Füße. „Éomer?“ Dann warf sie sich in seine Arme und klammerte sich an ihn wie eine Ertrinkende.

Éomer gestattete sich selbst einen einzigen Moment lang, in dem Gefühl zu schwelgen, sie in den Armen zu halten. „Jetzt bist du sicher,“ sagte er sanft. „Ich versprech's.“ Sie schluchzte erstickt auf, und er schwor sich, dass er nie wieder zulassen würde, dass ihr etwas Schlimmes widerfuhr. Nicht, solange er lebte.

Hämmernde Schläge hallten vom Haupteingang her den Korridor hinunter und erinnerten ihn daran, dass sie noch weit davon entfernt waren, sicher zu sein. Er nahm Lothíriel bei den Schultern. „Wir müssen hier heraus.“

Sie wischte sich mit dem Ärmel über die Augen und holte tief und schaudernd Atem. „Was willst du, das ich tun soll?“

In diesem Moment war von hinter ihnen ein Knarren zu hören; er wirbelte herum. Eine Falltür im Boden wurde langsam von unten angehoben, und eine Hand umklammerte eine Seite der Öffnung. Das konnten nur noch mehr Feinde sein.

„Still!“ flüsterte er Lothíriel zu.

Er wollte sie nicht wieder loslassen, also nahm er sie an der Hand und führte sie durch das Zimmer; dabei versuchte er, so leise aufzutreten wie möglich. Dann – noch ehe der Mann dort unten sie ganz öffnen konnte – trat er gegen die Falltür, so dass sie wieder zufiel. Ein lauter Schmerzensschrei belohnte ihn, gefolgt von einem Krachen. Hoffentlich hatte er sich den Hals gebrochen.

„Machen wir, dass wir hier herauskommen,“ sagte er und zog sie in Richtung Tür. „Komm mir nach!“

Auf den Scherben von dem zerbrochenen Blumentopf geriet sie ins Stolpern, und er fluchte, als er bemerkte, dass sie barfuß war. Allerdings konnte er im Moment nichts dagegen tun. Der Korridor hallte von hämmerndem Lärm wider, aber noch hielt die Tür. Wohin jetzt? Eine schmale Treppe führte hinauf in den oberen Stock, und nach kurzem Zögern begann Éomer, hinauf zu steigen und zog Lothíriel mit sich. Sie folgte ihm beherzt.

Oben trafen sie auf einen weiteren Korridor, der sich über die ganze Länge des Hauses erstreckte. Auf beiden Seiten befanden sich Türen, von denen einige offen standen und den Abendsonnenschein einließen. Ihre Schritte wurden durch einen alten Teppich gedämpft, Staubmotten tanzten im Licht und alles kam ihm eigenartig friedlich vor. Éomer hielt am Eingang zu einem der Zimmer inne, dann ging er hinein, Lothíriels Hand noch immer in der seinen. Er musste Alarm schlagen und Unterstützung herbei rufen!

Das Zimmer stand leer, abgesehen von einem alten Tisch und ein paar wackeligen Stühlen. Éomer durchquerte es rasch und mühte sich, das Fenster zu öffnen. Er ignorierte das laute Kreischen der vernachlässigten Angeln, langte nach dem Horn, das an seinem Gürtel hing und blies kurz und kraftvoll hinein, wie sie es abgesprochen hatten. Zu mir!

Nichts geschah. Éomer lehnte sich aus dem Fenster und versuchte, einen kurzen Blick auf das Tor zum Vorhof zu werfen, aber er konnte dort keinerlei Bewegung entdecken. Lothíriel stand dicht neben ihm und klammerte sich an seinen Ärmel; als er das stille Zutrauen auf ihrem Gesicht sah, fluchte er innerlich. Wo waren sie? Was hielt sie so lange auf?

„Mach dir keine Sorgen,“ sagte er, „dein Vater und deine Brüder werden bald hier sein.“

Sie nickte tapfer. „Aber was tun wir in der Zwischenzeit?“

„Wir müssen uns Zeit erkaufen.“

Plötzlich ertönten rennende Schritte im Korridor, und er blickte sich gehetzt um. Zu seiner Rechten war eine Tür leicht angelehnt und führte in einen anschließenden Raum, doch ehe er Lothíriel dort hinein ziehen konnte, hörte er hinter sich einen Schrei.

„Hier sind sie!“

Er fuhr herum und stieß Lothíriel hinter seinen Rücken. „Rühr dich nicht vom Fleck!“

Zwei Männer standen mit gezogenen Schwertern im Türrahmen – wahrscheinlich die Bogenschützen vom Dach. Éomer lächelte grimmig. „Nur zwei von euch?“

Sie zögerten sichtlich. Doch dann verteilten sie sich im Raum; sie bewegten sich mit geübter Leichtigkeit. Nicht geübt genug, allerdings. Ein blitzschneller Stich nach rechts ließ einen der beiden zurück stolpern, und Éomer nutzte die Möglichkeit, sich umzudrehen und seine ganze mörderische Wut in einen beidhändigen Streich nach seinem anderen Gegner zu legen. Der Mann brachte sein eigenes Schwert nach oben, um ihn abzuwehren, aber viel zu schwach. Guthwinë biss tief in sein Schlüsselbein und durchtrennte dann seine Luftröhre. Mit einem erstickten Gurgeln sank er zu Boden. Éomer hatte seine Klinge bereits mit einem Ruck befreit und kreiselte mit der selben Bewegung herum; er begegnete dem Schlag, den der andere Mann auf seinen Rücken zielte. Er lachte in wildem Jubel, als er den bestürzten Ausdruck auf dem Gesicht des Südlings sah, während sein Kamerad starb.

„Nicht mehr glücklich über die Chancen?“ grinste er.

Eine Reihe machtvoller Schläge trieb den Mann zurück gegen die Wand; seine Verteidigung bröckelte unter der schieren Wucht von Éomers Hieben. Dann unterlief er mit einer unerwarteten Bewegung mit dem Schwert die Abwehr des Südlings und schlitzte ihm den einen Arm der Länge nach auf. Da! Als der Mann vor Schmerz aufschrie und den Arm reflexartig sinken ließ, nutzte Éomer den Vorteil seiner größeren Reichweite und versetzte ihm einen Hieb quer über das Gesicht. Der Mann umklammerte seinen Kopf und brach auf dem Boden zusammen. Doch bevor Éomer ihm den Todesstoß geben konnte, erklangen draußen auf dem Korridor noch mehr Schritte.

Er wirbelte herum und stieß Lothíriel durch die Tür in das Nachbarzimmer. „Dort hinein!“

Sie stolperte und er stützte sie rasch, ehe er die Tür zuschlug und verriegelte. Wohin nun? Er konnte keinen weiteren Ausgang sehen. In diesem Moment warf sich jemand hinter ihnen gegen die Tür und ließ sie alarmierend erbeben. Sie saßen in der Falle.

Lothíriel packte ihn am Arm, die Augen weit vor Entsetzen. „Éomer, geht es dir gut? Was tun wir jetzt?“

Er drückte ihr beruhigend die Schulter und erwog ihre Möglichkeiten. Das einzige Möbelstück im Zimmer war ein Himmelbett, die Vorhänge alt und verblichen. Wie lange würde es ihm gelingen, die Tür gegen die Männer auf der anderen Seite zu halten? Lange genug, um seinen Männern zu erlauben, sie zu erreichen? Und wo waren sie?

Er zog sie in Richtung Fenster. „Wir brauchen Hilfe!“

Éomer stieß das Fenster auf und ließ wieder sein Horn ertönen. Zu mir! Noch immer keine Antwort. Ein rascher Blick nach unten zeigte ihm, dass sie sich nahe an den Toren befanden. Er studierte die Szenerie, und der Anfang eines Planes formte sich in seinem Geist. Er wischte Guthwinë rasch an seiner Hose ab und steckte es wieder in die Scheide.

„Warte hier!“ wies er Lothíriel an, und dann rannte er zum Bett und fing an, die Decken hinunter zu zerren. Staub erfüllte die Luft und brachte ihn zum Husten, während er sie zum Fenster schleppte und sie hinaus warf. Sie landeten in einem unordentlichen Haufen unten auf dem Vorhof.

„Wir müssen springen.“

Die Farbe wich ihr aus dem Gesicht. „Springen? Aber - “

„Es ist nicht hoch,“ log er skrupellos und kletterte auf das Fensterbrett. „Vertrau mir.“

Nach dem allerkürzesten Zögern nahm sie seine Hand und ließ sich von ihm hinauf helfen. Er führte ihre Hand dorthin, wo sie den eisernen Fensterrahmen fassen konnte, um hinaus zu klettern. Sie klammerte sich haltsuchend daran fest und ließ sich hinab, bis sie über der Tiefe hing. Es riss an seinem Herzen, als er sah, dass sie zitternd die Augen schloss. Aber was konnte er sonst tun?

„Jetzt!“ befahl Éomer.

Lothíriel ließ los. Er hielt den Atem an, während sie mit einem unterdrückten Schmerzensschrei auf den Bettdecken unter ihnen landete. Tatsächlich atmete er nicht eher wieder aus, bis sie leicht schwankend wieder aufstand. In diesem Moment flog die Tür zum Zimmer auf, aber er war bereits gesprungen. Der Aufprall auf dem Boden trieb ihm die Luft aus den Lungen; das Gewicht des Kettenhemdes drückte grausam auf seine Schultern, und er fiel auf Hände und Knie.

„Da sind sie!“ rief jemand über ihm, und er kam stolpernd auf die Beine. Sie mussten hier heraus! Seine Beine protestierten gegen die Quälerei, aber er zwang sich, sie zu bewegen und zog Lothíriel mit sich in Richtung Tor. Sie lehnte sich haltsuchend an ihn, beklagte sich aber mit keinem Wort, während sie neben ihm her hinkte.

Vor ihnen tauchten fünf Südlinge aus den Schatten des Tores auf und verteilten sich zu einem Halbkreis. Éomer blieb jäh stehen.

Aus dem Gleichgewicht gebracht, packte Lothíriel seinen Arm. „Was ist denn?“

„Noch mehr von denen.“

Langsam zog er Guthwinë aus der Scheide. Fünf gegen einen auf einem offenen Platz, und Lothíriel musste er auch noch schützen. Keine guten Chancen.

„Wer will zuerst sterben?“ rief er.

Die Männer lächelten; sie ließen sich nicht von seinen kühnen Worten narren. Einer von ihnen hatte eine rote Schmarre im Gesicht und sah besonders eifrig aus.

„Du stirbst, König von Rohan!“ schrie er zurück.

Éomer nahm das Horn von seinem Gürtel und blies es so laut, wie er konnte. Der Klang hallte von den Häusern rings um sie zurück, tapfer und getreu, und für einen Moment zögerten die Südlinge und zogen sich zurück. Doch als keine Antwort kam, lachten sie und kamen wieder näher. Es war Zeit, dass er ihre beiden Leben so teuer wie möglich verkaufte.

Éomer wandte sich der Frau zu, die neben ihm stand. „Es tut mir Leid, dass ich dich im Stich gelassen habe.“

„Das hast du nicht!“ protestierte sie. „Du bist gekommen, um mich zu holen.“

Flüchtig ließ er einen Finger über ihre Wange gleiten. So weich. So teuer.

Lothíriel fasste nach seiner Hand. „Éomer,“ flüsterte sie, „hast du einen Dolch, den ich benutzen kann?“

Er zögerte, und sie klammerte sich an ihn. „Ich will auch kämpfen.“

„Du wirst verletzt werden!“

„Bitte...“ Ihre Stimme schwankte. „Ich will nicht, dass sie mich lebend fangen.“

Éomer schluckte einen Fluch herunter. Wie ungerecht das alles war. „Also schön.“

Seine Hand ging zum Gürtel, aber in diesem Moment sah er aus einem Augenwinkel eine Bewegung. Die Südlinge hatten sich zum Angriff entschlossen. Éomer schwang herum, um ihnen entgegen zu treten.

Plötzlich waren von draußen Hörner zu vernehmen. Die großen Hörner des Nordens! Éomers Angreifer kamen bei dem Klang stolpernd zum Stehen und starrten einander in plötzlicher Furcht an. Dann flog das Tor mit einem betäubenden Knall auf, und Männer strömten hindurch. Ganz vorn rannte Aragorn, Andúril gezogen; es glitzerte im Licht der untergehenden Sonne. Das Schwert hob sich und stieg dann im tödlichem Bogen herab; es erwischte den ersten der Südlinge, der sich gerade diesen neuen Feinden zuwenden wollte. Der nächste fiel Imrahil zum Opfer, die übrigen den Schwanenrittern und Éomers eigenen Männern, die dicht darauf folgten.

Aragorn blieb bei Éomer stehen und zog ihn in eine rasche Umarmung hinein. „Mein Freund, geht es dir gut?“

Éomer nickte. „Du bist im richtigen Moment gekommen. Wieder einmal.“

Neben ihm drängten sich Lothíriels Vater und Brüder rings um sie und umarmten sie. Sie sah ziemlich überwältigt und verwirrt aus angesichts ihrer plötzlichen Rettung. Éomer konnte ihr daraus keinen Vorwurf machen; vor einer Minute noch hatte keiner von beiden erwartet, einen weiteren Sonnenaufgang zu erleben.

„Éomer?“ Sie streckte blind die Hände nach ihm aus. Als er sie nahm, trat sie in seine Arme hinein und vergrub ihr Gesicht an seiner Brust. „Sind wir jetzt sicher?“

„Das sind wir,“ versicherte er ihr, streichelte ihr das Haar und fühlte sich selbst leicht schwindelig. „Aragorn und dein Vater sind gekommen und haben Verstärkung mitgebracht.“ Sie fing an zu zittern, und er hielt sie noch fester.

Seine eigene Reitergarde stand jetzt um sie herum, und Elfhelm trat zu ihnen, um nach Befehlen zu fragen. „Was tun wir jetzt? Gibt es noch mehr von denen?“

Éomer deutete müde zum Haus hinüber. „Da drin.“ Er zögerte; er wusste nicht, was er tun sollte. Doch mit dem Anführer musste man sich noch befassen. „Ich zeige es euch,“ sagte er und gab die zitternde Frau in seinen Armen sachte frei.

„Lasst uns mit ihnen fertig werden,“ protestierte der Marschall, und gleichzeitig klammerte sich Lothíriel krampfhaft an ihn.

Sie hob ihm ein Gesicht entgegen, aus dem alle Farbe gewichen war. „Musst du denn gehen?“

„Hört auf die Prinzessin,“ pflichtete Elfhelm seiner unerwarteten Verbündeten bei.

Während Éomer noch immer zögerte, hielt Aragorn ihn zurück. „Du hast genug getan. Kümmere dich um deine Herrin und überlass uns den Rest. Wir kommen schon zurecht.“

Neben ihm nickte Imrahil. Éomer konnte spüren, wie etwas von der Raserei der Schlacht aus ihm heraus sickerte; sie ließ ihn müde und wund zurück. „Es sind wenigstens zehn Mann übrig, wahrscheinlich mehr,“ sagte er.

Aragorn nickte und rief seinen Wachen zu, ihm zu folgen. Amrothos und Elphir sammelten ihre Schwanenritter und rannten hinter ihnen her, während Elfhelm ein paar der Rohirrim in den Garten hinter das Haus dirigierte und das Tor bemannen ließ. Lothíriel verbarg ihr Gesicht wieder an seiner Brust, während im Haus hässlicher Kampfeslärm losbrach. Es würde auf beiden Seiten kein Pardon gegeben werden.

Imrahil streckte zögernd eine Hand aus und berührte Lothíriel am Arm. „Tochter, bist du verletzt?“

Ohne aufzublicken, tat sie einen bebenden Atemzug. „Es geht mir gut. Éomer hat mich gerettet.“

Imrahil strich ihr über das offene Haar und biss sich auf die Lippen. „Lothíriel,“ fragte er in seinem sanftesten Ton, „haben sie versucht, dich... anzurühren?“

Unwillkürlich schlossen sich Éomers Arme fester um sie. Wenn sie es gewagt hatten... Bei den Gedanken stieg frische Wut in ihm hoch.

Doch Lothíriel schüttelte den Kopf. „Ihr Anführer wollte es,“ sagte sie stockend, „aber er wurde unterbrochen, als ihr angefangen habt, die Stadt zu durchsuchen.“

Éomer schloss erleichtert die Augen. Vielleicht waren seine Anstrengungen nicht völlig umsonst gewesen. „Von nun an werde ich auf dich Acht geben,“ versprach er. Und er würde den Rest seines Lebens dafür Zeit haben.

Einen Moment begegneten sich seine und Imrahils Augen. Der Fürst öffnete den Mund, als wollte er protestieren, aber nach einem Blick auf Lothíriel, die sich an Éomer klammerte, klappte er ihn wieder zu und nickte widerstrebend. Scheinbar waren sie zeitweilig noch immer Verbündete.

Éomer ließ eine Hand unter Lothíriels Kinn gleiten und hob ihr Gesicht an. Dann strich er ihr das Haar an einer Schläfe zurück, um sich von etwas zu überzeugen, was er zuvor bemerkt hatte; allerdings war er zu beschäftigt gewesen, um sich darum zu kümmern. Wie er es sich schon gedacht hatte, fiel sein Blick auf eine hässliche Prellung, und er holte zischend Atem. „Er hat dich geschlagen!“

Lothíriel hob eine Hand, berührte die Haut, die sich langsam purpurn verfärbte, und zuckte zusammen. „Nun, ich habe ihn zuerst geschlagen,“ sagte sie. Als sie das überraschte Schweigen der anderen wahrnahm, fügte sie beinahe entschuldigend hinzu: „Es war der einzige Weg, der mir eingefallen ist, um ihn aufzuhalten, also bin ich mit einem Kerzenhalter auf ihn losgegangen.“ Sie schluckte. „Er wurde ziemlich böse.“

„Oh, Lothíriel,“ sagte Éomer leise. „Es tut mir so Leid, dass du all diesen Schmerz und dieses Entsetzen hast durchmachen müssen.“ Er konnte nicht anders, als zu bemerken, dass mehrere Bänder ihrer Tunika zerrissen waren und so aussahen, als hätte man sie ungeschickt wieder zusammen geknotet. Der Drang, den Südlingprinz langsam zu erdrosseln, bis ihm das Gesicht rot anlief und die Augen herausquollen, durchfuhr ihn erneut. Gleichzeitig musste er den Gedanken unterdrücken, wie sehr diese gelockerten Schnürbänder ihn ablenkten.

Lothíriel drückte seine Hand. „Du bist gekommen, um mich zu holen; ich wusste, dass du das tun würdest. Das ist alles, was zählt.“

Seine tapfere kleine Liebste. Éomer streichelte ihr das Haar. Es fiel ihr wie ein Wasserfall aus mitternächtlicher Seide über die Schultern und bot noch eine weitere Ablenkung.

In diesem Moment trat Amrothos aus dem Haus und kam zu ihnen hinüber gerannt. „Aragorn schickt mich. Er bittet Euch, zu ihm in den Keller zu kommen; es gibt ein Problem.“

„Was für ein Problem?“ fragte sein Vater.

„Der Anführer der Südlinge verlangt, mit Éomer zu sprechen. Er hat Hareth als Geisel genommen.“

Lothíriel schnappte bestürzt nach Luft. „Sie wird vollkommen hilflos sein! Sie haben sie mit Mohnsirup eingeschläfert.“

„Ich komme,“ entschied Éomer sofort.

„Ich auch,“ sagte Lothíriel.

Bei den Worten seiner Schwester schüttelte Amrothos still den Kopf. Éomer konnte sich vorstellen, welche Gerüche und Geräusche ihnen drinnen im Haus begegnen würden. Sanft löste er seinen Griff um Lothíriels Finger.

„Lass mich damit fertig werden.“

„Aber er will dich umbringen! Sein Vater war der König von Harad, den dein Onkel Théoden auf den Pelennorfeldern getötet hat, und jetzt will er Rache!“

Éomer starrte sie an; nun wurde ihm einiges klar. Also war das der Grund, wieso der Mann ihm im Zweikampf hatte entgegen treten wollen. Ein Grund mehr, dafür zu sorgen, dass sie im Vorhof blieb, außer Gefahr. Wieder nahm er ihre Hände, und sie klammerte sich daran fest. „Ich möchte, dass du hier bei deinem Vater bleibst. Bitte.“

Einen Moment später ließ sie mit sichtlicher Anstrengung seine Finger los und trat einen Schritt zurück. „Sei vorsichtig,“ flüsterte sie.

„Mach dir keine Sorgen.“ Er winkte Elfhelm zu sich. „Du beschützt die Prinzessin mit deinem Leben.“ Der Marschall nickte, und Imrahil legte ihr einen Arm um die Schulter.

Im Haus konnte man die Beweise für das Gemetzel sehen, die er erwartet hatte. Es sah aus, als hätten die Südlinge beschlossen, ihre letzte Schlacht in dem Zimmer zu schlagen, wo er Lothíriel gefunden hatte. Drüben am Fenster verband einer der Heiler, den sie mitgebracht hatten, einer Wache der Veste den Arm. Mehrere Leichen lagen hässlich verkrümmt auf dem Boden, aber zu seiner Erleichterung waren es nur die von Feinden. Die Luft roch nach frisch vergossenem Blut und Eingeweiden, doch kümmerte der Gestank des Todes ihn schon seit langer Zeit nicht mehr; das hatte er allerdings schon immer als zweifelhafte Errungenschaft betrachtet.

Amrothos führte ihn zu der Falltür im Boden, die er vorher bemerkt hatte. Eine steile Stiege führte hinab in einen Keller, wo sich ein langer Korridor in die Dunkelheit hinein erstreckte.

„Wir haben hier unten mehrere Zellen gefunden,“ erklärte der Prinz. „Eine war leer, aber der Südling ist in die hinein gelangt, wo Hareth festgehalten wurde. Den vermissten Heiler haben wir auch gefunden.“ Seine Stimme klang grimmig.

„Ist er am Leben?“

„Kaum noch. Scheinbar haben ihn die Südlinge für ihre... Späße benutzt.“

Éomer hatte keine weiteren Erklärungen nötig. Also hier hatten sie Lothíriel gefangen gehalten? Doch wie war es ihr gelungen, zu entkommen? Er erhaschte einen flüchtigen Blick auf eine Tür, die vor einer spärlich möblierten Zelle zerbrochen an einer Angel hing, aber dann zogen die Männer, die sich vor dem Eingang zu einer anderen Zelle zusammen drängten, seine Aufmerksamkeit auf sich.

Aragorn wandte sich ihm zu. „Er ist der letzte Überlebende, aber er hat eine Geisel genommen. Der Mann weigert sich, mit irgend jemand anderem zu verhandeln.“

Ein rascher Blick in die Zelle offenbarte, dass es der Mann war, der sich selbst Mûzgash nannte. Er hielt Hareth eine bösartig aussehende, schwarze Klinge an die Kehle. Ihr Kopf hing zur Seite, das graue Haar hatte sich teilweise gelöst, und sie schlief tief und fest.

Wutentbrannte schwarze Augen begegneten den seinen. „Ein Schnitt und die Frau ist tot, König von Rohan.“

Éomer schaute sich in der kahlen Zelle um; die einzigen Möbel waren ein kleiner Tisch und ein Bett. Die Luft strich ihm kalt über das Gesicht. Hier unten hatten sie Lothíriel eingesperrt, hilflos und verängstigt? Und dieser Mann hatte versucht, sich an ihr zu vergreifen?

Er warf dem Südling ein wildes Grinsen zu. „Prinz von Harad, ich habe Euch einen Vorschlag zu machen.“


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