Euch zu Diensten
von Lialathuveril, übersetzt von Cúthalion


Kapitel Siebenundzwanzig
Der Bauer macht einen Zug

Nur ein Spieler, die die Bedeutung der Bauern begreift, wird ein wahrer Meister im Schach werden. Als geringfügigste aller Figuren werden sie leicht übersehen, und doch können sie, richtig eingesetzt, den König selbst bedrohen.
(Ulfang: Schach – ein Spiel der Könige)

Mûzgashs Männer wussten es besser, als ihn offen anzustarren, doch er konnte ihre neugierigen Blicke spüren, wenn sie glaubten, dass seine Aufmerksamkeit woanders lag. Er setzte sich an den Tisch in der Küche und bedeutete dem Diener, der auch als Koch fungierte, ihm ein spätes Mittagessen zu servieren. Diese Wildkatze mit ihrem verfluchten Kerzenhalter! Sein Kopf schmerzte noch immer, und seine Haare... Er würde sie kurz schneiden müssen, bevor sie die Stadt der Schlangen erreichten, oder er würde sich zum Gespött des gesamten Hofes machen.

Natürlich war es ein Zeichen. Er hätte nicht zulassen dürfen, dass sein körperlicher Drang seinen Verstand derart überwand, wie er es getan hatte. Die Regeln der Blut-Queste bestanden darauf, dass man sich so lange aller leiblichen Freuden enthielt, bis die Rache vollendet war. Und aus gutem Grund, denn solche Freuden waren nichts anderes als eine Ablenkung von dem Ziel, seinen Vater zu rächen. Doch sie hatte so köstlich unter seiner Berührung gezittert und ihre Blindheit hatte den Reiz nur noch verstärkt, so dass selbst jetzt noch ein Teil von ihm nichts anderes wollte, als zurück zu gehen und den süßen Geschmack ihrer Furcht zu genießen. Und dieses Mal würde er sich nicht durch falsche Unterwürfigkeit narren lassen, dieses Mal würde sie sich ihm vollkommen unterwerfen und nichts zurückhalten. Er verlor sich in der Vorstellung, wie die Prinzessin ihn um Vergebung anflehte, und wie er sie für ihre Kränkungen strafen würde.

„Mein Herr?“

Die Stimme seines Hauptmannes ließ ihn zusammenfahren. Wieder abgelenkt von diesem Weib! „Was ist los?“

„Euer Plan hat funktioniert. Einer unserer Späher ist gerade zurück gekommen. Er sagt, die Jagd wurde abgeblasen, und die Tore sind wieder offen.“

Mûzgash nickte und winkte Shagnar, sich zu ihm an den Tisch zu setzen. Er nahm einen Löffel von dem üppigen Fleischeintopf, den seine Diener für ihn zubereitet hatten - nicht dieses geschmacklose Zeug, das sie hier in Gondor aßen, sondern gut gewürzt und scharf.

„Durchsuchen sie alles, was die Stadt verlässt?“ fragte er.

Shagnar schüttelte den Kopf. „Nicht im Augenblick. Was plant Ihr jetzt, mein Herr?“

Mûzgash nahm einen Schluck Rotwein. „Gewarnt sind sie sowieso, also habe ich mich für eine direkte Vorgehensweise entschieden. Ich will, dass du ihnen eine Nachricht bringst, in der wir verlangen, dass König Éomer dich zu Unterhandlungen begleitet.“

Sein Hauptmann runzelte die Stirn. „Was, wenn er sich weigert?“ Mûzgash fragte sich, ob ihm der Gedanke durch den Kopf gegangen war, dass die Gondoreaner ihn möglicherweise foltern würden, um den Aufenthaltsort von Prinzessin Lothíriel herauszufinden. Aber das hatte er in seine Pläne mit einbezogen.

„Er tut es nicht.“ Mûzgash lächelte. „Denn ich werde schreiben, dass in diesem Fall die Prinzessin sterben wird.“

„Aber mein Herr, ich dachte, Ihr wolltet, dass wir sie mit uns nehmen?“

Mûzgash seufzte. Während er die Loyalität oder die Wildheit seines Hauptmannes nicht in Frage stellte, hatte er manchmal doch Zweifel an seinen geistigen Qualitäten. „König Éomer hat keine Ahnung davon,“ erklärte er geduldig. Als Shagnar immer noch skeptisch dreinblickte, fügte er hinzu: „Vertrau mir, der König wird dem Versuch nicht widerstehen könne, sie zu retten.“

„Und dann?“

„Du führst ihn her und stellst sicher, dass euch niemand folgt. Sobald er hier ist, werde ich ihn herausfordern.“ Ein einfacher, narrensicherer Plan. Mûzgash nahm noch einen Mund voll Eintopf. „Wir werden die Stadt so rasch wie möglich verlassen müssen, wenn ich ihn erschlagen habe... bevor seine Freunde begreifen, was geschehen ist.“

„Es gefällt mir nicht, wie ein gewöhnlicher Dieb davon zu laufen,“ wandte Shagnar ein.

Mûzgash nickte zustimmend. „Das ist wahr. Aber wir werden bald genug wieder hier sein. Mit einem Heer im Rücken.“

„Und was ist mit der Prinzessin? Werden wir die Zeit haben, sie mitzunehmen?“

Mûzgash schaute stirnrunzelnd auf seinen Eintopf hinunter und dachte über die Frage nach. Sie würden sich nach König Éomers Tod rasch bewegen müssen. Außerdem war sie im Augenblick nichts weiter als eine Ablenkung... die Versuchung, seinen Rachedurst an ihr auszulassen, anstatt ihn sich für den König von Rohan aufzusparen.

„Wir werden sie voraus schicken, hinunter zum Boot,“ beschloss er. „Und ihre Zofe können wir genauso gut mitnehmen. Haben wir den alten Karren noch, den wir benutzt haben, um sie her zu bringen?“

Shagnar nickte. „Der steht im Garten.“

„Gut. Legt die beiden hinein und deckt sie mit Sackleinen zu. Es geht so viel Verkehr durch die Tore, dass niemand es merken wird.“

„Aber was, wenn es ihnen irgendwie gelingt, die Aufmerksamkeit der Wachen auf sich zu ziehen?“

Mûzgash trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. Bei der Prinzessin von Dol Amroth war das eindeutig eine Möglichkeit. „Du hast Recht, wir werden ihnen irgend einen Schlaftrunk geben müssen.“

Er nahm noch einen Schluck Wein, denn das scharfe Essen hatte ihn durstig gemacht. Dann lächelte er.

„Haben wir den Beutel des Heilers noch?“

*****

Ihr Wasser war fort: alles, was davon blieb, war ein feuchter Fleck auf dem Boden. Lothíriel seufzte, während sie den Tisch und den Stuhl mit Händen zurecht rückte, die noch immer bebten – eine Nachwirkung ihrer Auseinandersetzung mit Mûzgash. Als ob sie nicht ernstere Sorgen hatte! Doch ihre trockene Kehle kratzte unangenehm, und sie sehnte sich schmerzhaft danach, seinen Geschmack aus ihrem Mund zu waschen. Es kam ihr so vor, als könnte sie noch immer den Nachgeschmack von Gewürzen auf ihrer Zunge spüren, seine Hände fühlen, die sie begrapschten, seinen Geruch wahrnehmen, eine Mischung aus Schweiß und Leder, die an ihr klebte. Sie schauderte bei der Erinnerung und wischte sich mit dem Ärmel über die Lippen. Als sie versehentlich dabei ihre Wange berührte, zuckte sie zusammen. Obwohl die Haut nicht aufgerissen war, würde bald ein eindrucksvoller Bluterguss zu sehen sein, der von seinem Schlag stammte. Unglücklicherweise glaubte sie nicht, dass ihn das abhalten würde – im Gegenteil, es würde wohl eher dazu beitragen, ihn zu erregen.

Lothíriel setzte sich wieder auf das Bett und reihte den Nachttopf und den Kerzenleuchter neben sich auf. Was für ein eindrucksvolles Waffenarsenal, dachte sie verzweifelt. Sie schlang den Umhang um sich, umarmte sich selbst und versuchte, das Zittern zu stillen, das erneut drohte, sie zu überwältigen. Sie konnte den Gedanken nicht verbannen, dass Mûzgash, nachdem er die letzte Krise gemeistert hatte, bestimmt zurückkommen würde. Ihn ein zweites Mal zum Narren zu halten, war wohl kaum möglich.

„Sie suchen nach dir,“ sagte sie laut zu sich selbst. „Dieser Mann hat es gesagt. Éomer wird dich bald finden.“

Doch wird es bald genug sein? fragte eine verräterische Stimme in ihrem Kopf. Sie rieb sich die schmerzenden Handgelenke. Dieser Mann hatte ganz klar reichlich Erfahrung, wenn es darum ging, unwillige Bettgenossinnen zu bändigen, und keinerlei Skrupel, seine größere Kraft gegen sie einzusetzen. Tatsächlich hatte dieses Stück Abschaum ihre Gegenwehr genossen. Nun, abgesehen vom Ende. Bei dem Gedanken, dass Mûzgashs Kopf in diesem Moment ebenfalls schmerzte, lächelte sie grimmig. Dann verging ihr das Lächeln, als sie darüber nachdachte, welchen Preis er vielleicht fordern würde für ihren kurzen Triumph.

War es wirklich erst heute Morgen gewesen, dass sie erwacht war, voller Vorfreude, Éomer wiederzusehen? Diese Erinnerung, die erfüllt war von Wärme und Lachen, schien von ihren gegenwärtigen Umständen unmöglich weit entfernt zu sein. Und was, wenn Mûzgash seine Drohung wahr machte, sie nach Harad zu verschleppen? In diesem Fall werde ich ihn töten, schwor sie sich selbst, ganz gleich, was es kostet. Denn es würde bedeuten, dass Éomer... Sie ertrug es nicht, das zu Ende zu denken.

In diesem Moment drang das schwache Geräusch von Schritten an ihr Ohr. Sie stand hastig auf, den Kerzenhalter in einer Hand. Eine Prinzessin von Dol Amroth ging kämpfend unter, sagte sie sich. Die Tür ging auf, und jemand trat ein.

„Bleibt, wo Ihr seid,“ befahl er ihr.

Nicht Mûzgash. Ganz kurz wurden ihr vor Erleichterung die Knie weich. Lothíriel erkannte die Stimme des Mannes nicht, aber ein seltsamer Tonfall schien in seiner Stimme mitzuschwingen. War es Vorsicht?

Er ging durch das Zimmer und stellte etwas auf den Tisch, dann ging er sofort wieder hinaus. Plötzlich erfüllte der üppige Duft nach Essen und Gewürzen die Luft, und zur Antwort knurrte ihr der Magen. Die Tür knallte hinter dem Mann zu, der Schlüssel drehte sich im Schloss, aber bis dahin war sie schon auf halbem Weg zum Tisch. Sie ließ die Finger zaghaft über die Oberfläche gleiten und entdeckte eine Schüssel mit irgendeinem appetitlichem Eintopf und ein großer Kelch mit süß duftendem Wein.

Ganz plötzlich zauderte sie. Konnte sie wagen, irgend etwas zu essen, was von ihren Entführern kam? Was, wenn man das Essen mit irgendetwas versetzt hatte? Doch das Wasser, das sie zuvor getrunken hatte, war gut gewesen, erinnerte sie sich, und sie musste bei Kräften bleiben. Sie umfasste behutsam den Rand der Schüssel und hob den Löffel auf. Zögernd nahm sie einen kleinen Mund voll. Die sahnige Soße schmeckte köstlich und war reich gewürzt, ganz so, wie sie es liebte. Sie konnte Fleischstücke und Gemüse auseinander halten und schluckte eifrig; dann tauchte sie den Löffel für eine zweite Portion in die Schüssel.

Und endlich etwas zu Trinken! Mit bebenden Händen hob sie den Kelch an die Lippen und nahm einen großen Schluck. Ein süßer, starker Wein, nicht im Mindesten mit Wasser verdünnt – sie würde Acht geben müssen, dass sie nicht zuviel davon trank. Doch wie durstig sie sich fühlte! Und das würzige Essen machte es nur noch schlimmer...

Dann runzelte sie die Stirn. Der Wein hinterließ einen kränklich süßen Nachgeschmack in ihrem Mund, nur sehr schwach, aber er brachte eine flüchtige, unangenehme Erinnerung mit sich. Wann hatte sie so etwas schon früher geschmeckt? Sie leckte sich mit der Zunge über die trockenen Lippen und spürte einen öligen Rückstand. Plötzlich war die Erinnerung zur Gänze wieder da, lebhaft und von Leiden erfüllt. Die Häuser der Heilung! Diese schrecklichen Tage nach ihrem Unfall, als sie gedacht hatte, ihr würde vor Schmerz der Kopf platzen. Die Heiler hatten ihr einen Trank verabreicht, um den Schmerz zu dämpfen und sie zum Schlafen zu bringen.

Lothíriel stellte den Kelch wieder hin. Wieso sollten die ihr Mohnsirup in das Getränk mischen? Sie dachte nicht, dass der eine Mund voll, den sie getrunken hatte, eine Wirkung auf sie haben würde, und doch musste genug davon im Wein enthalten sein, um sie einzuschläfern. Hatte Mûzgash die Absicht, sie zu missbrauchen, während sie ohne Bewusstsein war? Der Gedanke ließ ihr einen eiskalten Schauder der Furcht das Rückgrat hinunter laufen, doch einen Moment später schüttelte sie den Kopf. Es machte keinen Sinn. Ihre kurze Erfahrung mit dem Mann sagte ihr eines; er zog es vor, dass sein Opfer sich jeder Erniedrigung bewusst war, die es zu erleiden hatte. Zweifellos betrachtete er das als den besten Teil der Sache.

Was bedeutete, dass die irgend etwas anderes geplant hatten; dafür brauchten sie sie schlafend und ruhig. Lothíriel stockte der Atem. Konnte das eine Möglichkeit sein, in diesem tödlichen Spiel endlich einen eigenen Zug zu machen? Nach kurzem Nachdenken holte sie sich den Nachttopf und fing an, den Eintopf hinein zu löffeln, gefolgt vom Inhalt des Kelches.

Sie besaß nicht die Stärke, Mûzgash im Kampf zu besiegen, aber vielleicht konnte sie ihn überlisten.

*****

Noch eine Botschaft. Éomer starrte auf das Pergament hinunter, dann hob er den Blick und betrachtete den Boten. Der Mann hatte verlangt, den König von Rohan zu sehen und darauf bestanden, dass sie sich im Vorhof trafen. Unbewaffnet und offensichtlich über diese Tatsache nicht glücklich, sah er aus wie ein in der Schlacht gestählter Krieger. Eine lang verheilte Narbe zog sich wie eine weiße Linie über seine Wange.

„Ich werde zuerst darüber nachdenken müssen,“ sagte Éomer.

Der Mann nickte widerwillig. „Nicht zu lange, oder...“ Er musste die Drohung nicht noch weiter ausführen, denn der Brief sagte es vollkommen eindeutig an seiner Statt. Die Prinzessin stirbt beim vierten Schlag der Mittagsglocke, es sei denn, der König von Rohan folgt meinem Boten.

Éomer zog sich auf die andere Seite des Vorhofes zurück, wo Imrahil und seine Söhne voller Unruhe zuschauten. Wortlos reichte er die Botschaft weiter. Während Aragorn und Elfhelm sie umdrängten, um zu lesen, was auf dem Pergament stand, ließ er seinen Blick ziellos zu den Ställen hinüber wandern; sein Geist war bereits damit beschäftigt, Pläne zu schmieden. In einem Fenster sah er kurz zwei kleine, blasse Gesichter. Man hatte Alphros und seinen Freund angewiesen, aus dem Weg zu bleiben, aber ihre Neugier war offensichtlich stärker.

„Es ist eine Falle,“ stellte Aragorn fest. „Aber das weißt du ja bereits.“

Éomer nickte. Imrahil hob den Kopf; sein Gesicht war ohne jeden Ausdruck. „Was habt Ihr vor?“

„Natürlich werde ich mit dem Boten gehen.“

Für einen kurzen Moment blitzte Hoffnung in Imrahils Augen auf, doch neben ihm gab Elfhelm einen unzusammenhängenden Protest von sich. „Mein König,“ rief er, „bitte denkt noch einmal darüber nach! Es muss doch sicher einen anderen Weg geben.“

„Was für einen Weg?“

Sein Marschall zuckte hilflos die Achseln. „Ich weiß es nicht. Aber Ihr seid der letzte Nachfahre des Hauses von Eorl. Die Riddermark kann es sich nicht leisten, Euch zu verlieren.“

„Und ich kann es mir nicht leisten, Lothíriel zu verlieren,“ gab Éomer scharf zurück.

„Sie machen ihre Drohung vielleicht gar nicht wahr. Immerhin ist die Prinzessin eine wertvolle Geisel.“

„Das Risiko kann ich nicht eingehen.“ Éomer hob die Hand und schnitt damit alle weiteren Einwände seines Marschalls ab. „Genug! Es könnte unsere einzige Gelegenheit sein, sie zu retten.“ Und es war seine Gelegenheit, endlich zu handeln, etwas zu ihrer Rettung zu unternehmen – und die Männer, die sie verschleppt hatten zur Verantwortung zu ziehen. Ja!

„Hast du einen Plan?“ fragte Aragorn.

„Noch nicht,“ gestand Éomer. Er trommelte mit den Fingern auf den Griff seines Schwertes. Einfach blind in die Falle zu laufen, würde Lothíriel auch nicht helfen. „Ich bin ziemlich sicher, dass die sie irgendwo hier in Minas Tirith gefangen halten.“

Aragorn nickte. „Das sehe ich auch so. Sonst hätten sie nicht so auf unsere Durchsuchung der Stadt reagiert, wie sie es getan haben.“

Éomer stellte fest, dass er abschätzend zu dem Boten hinüber sah. Es gab Wege, Männer gegen ihren Willen zum Reden zu bringen und selbst hartgesottene Krieger zu brechen. Er verabscheute solche Methoden... aber um Lothíriels Willen?

Von der Veste schlug die Glocke die halbe Stunde. Ihnen wurde die Zeit knapp!

„Wir müssen einen Weg finden, dass ihr mir folgen könnt,“ sagte er und dachte fieberhaft nach. „Und dann, wenn ich das Zeichen gebe, greift ihr an.“

Bei diesem Vorschlag schaute Elfhelm unglücklich drein. Éomer musste ihm zustimmen, dass es riskant war, aber es mochte Lothíriel wenigstens die Möglichkeit verschaffen, gerettet zu werden, selbst wenn er versagte.

„Aber wie können wir Euch folgen, ohne dass man uns bemerkt?“ fragte Amrothos.

Wieder blickte Éomer zu den Ställen hinüber. Die beiden weißen Gesichter pressten sich noch immer gegen das Fenster; die Schmutzstreifen auf ihren Wangen ließen die beiden Jungen wie Straßenbuben aussehen.

„Ich habe eine Idee,“ sagte er.

*****

Lothíriel versuchte, sich vollkommen zu entspannen und sich auf ihre Atmung zu konzentrieren. Sie lag flach auf dem Bauch ausgestreckt auf dem Bett, den Kopf zur Seite gedreht, die Augen geschlossen. Das vertraute Geräusch des Schlüssels, der sich im Schloss drehte, drang an ihr Ohr, dann Schritte. Schwere Stiefel, dachte sie automatisch, drei Paar. Entspann dich, sagte sie sich selbst. Natürlich kitzelte sie genau in diesem Moment etwas in der Nase.

Ein Paar Stiefel kam auf das Bett zu und blieb neben ihr stehen. Irgendwie wusste sie ohne jeden Zweifel, dass Mûzgash auf sie hinunter starrte. Sie fühlte sich verwundbar und ausgeliefert, und es war ihre gesamte Selbstbeherrschung nötig, weiter regelmäßig zu atmen und sich daran zu hindern, die Hände in die Laken zu krallen. Die Stille wuchs und sie wäre fast zusammen gefahren, als er anfing, den Umhang weg zu ziehen, der sie zudeckte.

„Hat sie den ganzen Wein getrunken?“ fragte er.

„Ja, mein Herr,“ erwiderte einer seiner Männer von dort, wo der Tisch stand. Baran.

Mit einem leisen Flüstern fiel der Umhang zu Boden. Sie konnte spüren, dass er sich über sie beugte und an ihrem Atem roch. „Ausgezeichnet,“ murmelte er.

Seine Finger zogen ihre Wangenknochen nach, glitten zu ihrem Genick hinunter und fingen dann an, ihr offenes Haar zu durchkämmen. Trotz ihrer ganzen Anstrengung wurde ihr Atem flacher; das war alles, was sie tun konnte, um nicht zurück zu zucken. Zum Glück schien er viel zu sehr damit beschäftigt zu sein, mit besitzergreifender Hand über ihren ganzen Körper zu fahren, als dass er es bemerkt hätte. Ein fürchterlicher Gedanke beschlich sie. Was, wenn sie sich in der Einschätzung seines Charakters geirrt hatte und er doch die Absicht hatte, sie zu schänden, während sie schlief? Würde sie ihn mit dem Kerzenhalter schlagen können, den sie als letztes Mittel unter ihrem Kopfkissen versteckt hatte

Doch er richtete sich wieder auf. „Wenn irgendeiner von euch sie anrührt, seid ihr tot,“ sagte er eisig. „Habt ihr das verstanden?“

„Ja, mein Herr.“

„Gut. Nehmt ihre Zofe auch mit. Ihr werdet sie in dem Karren verstecken, den wir schon früher benutzt haben und sie zum Boot hinunter schmuggeln. Dort werdet ihr auf den Rest von uns warten.“

Lothíriels Herzschlag beschleunigte sich. Ein Weg hinaus aus diesem schrecklichen, feuchten Gefängnis! Und würde es ihr und Hareth möglich sein, unterwegs zu entkommen?

„Jawohl, mein Herr,“ sagte Baran. „Was tun wir, wenn Ihr nicht auftaucht?“

Mûzgash zögerte. „Wenn ich nicht bis Mitternacht dort bin, dann segelt ihr und bringt die Nachricht meinem Bruder, dem König.“

„Und die Prinzessin?“ Der unterdrückte Eifer in seiner Stimme ließ sie vor Abscheu erschaudern.

„Schneidet ihr die Kehle durch,“ erwiderte Mûzgash kalt. „Denn in diesem Fall werde ich tot sein.“

Dann beugte er sich wieder zu ihr hinunter. „Aber mach dir keine Sorgen, Kleines,“ flüsterte er ihr leise ins Ohr, und für einen panischen Moment war sie überzeugt, dass er ihren Betrug durchschaut hatte. „Ich komme und hole dich.Aber zuerst muss ich den König von Rohan töten.“ Er gab ein schreckliches, leises Lachen von sich. „Wünsch mir Glück!“

Seine Schritte verschwanden in Richtung Tür. „Beeilt euch!“ sagte er seinen Männern, bevor er hinaus ging.

Lothíriel atmete ein wenig leichter, als er fort war, und strengte die Ohren an, um herauszufinden, was die anderen beiden taten. Trotz dem, was ihr Herr befohlen hatte, schienen sie es nicht sonderlich eilig zu haben, sie auf den Weg zu bringen.

Einer von ihnen näherte sich dem Bett und ließ eine Hand an ihrem Bein entlang gleiten. „Es wäre eine Schande, ein so schönes Ding wie die hier zu verschwenden,“ sagte er.

Lothíriel hätte sich beinahe dadurch verraten, dass sie seine Hand weg schlug. Wie konnte er es wagen!

„Olog!“ sagte Baran warnend. „Erinnere dich daran, was der Gebieter darüber gesagt hat, sie anzurühren.“

„Ich weiß. Aber was wenn er heute Nacht nicht auftaucht? Wir müssen ihr die Kehle doch nicht sofort durchschneiden, oder?“

Nein, ich werde dir deine zuerst durchschneiden, dachte Lothíriel wild. Einmal mehr musste sie sich darauf konzentrieren, ihre Atmung gleichmäßig zu halten.

„Er wird auftauchen,“ sagte Baran, die Stimme voller Überzeugung. „Hast du Prinz Mûzgash jemals ernsthaft kämpfen sehen? Mit einer Klinge ist er absolut tödlich.“

Die Worte sorgten dafür, dass sich ihr der Magen vor Angst verkrampfte. Éomer! klagte sie innerlich. Doch es gab nichts, was sie jetzt tun konnte. Zuerst musste sie entkommen, damit sie die Chance hatte, ihn zu warnen. In diesem Moment legte ihr einer der Männer die Hand auf die Schulter; das war ihr Warnung genug, schlaff zu bleiben, als er sie auf den Rücken rollte.

„Dann wollen wir sie nach oben tragen,“ schlug Olog vor.

„Warte,“ sagte Baran. „Ich will sie zuerst fesseln.“

Bevor Lothíriel sich dadurch verraten konnte, dass sie zusammenfuhr, lachte der andere Mann.

„Wieso fesseln? Schau sie dir an, sie schläft tief und fest. Nebenbei ist sie so ein kleines Ding, und blind obendrein. Es wird leicht sein, sie zu bändigen, wenn sie zu sich kommt.“

Jawohl, dachte Lothíriel, so ist's recht. Ich bin blind, schwach und völlig harmlos.

„Die da ist eine richtige Wildkatze,“ antwortete Baran. „Ich will, dass sie gefesselt und geknebelt ist.“

„Na schön, wenn du darauf bestehst...“

Der Mann packte sie an den Knöcheln, und Lothíriel war drauf und dran, ihn zu treten und dann zu versuchen, in Richtung Tür zu flüchten, als Baran dazwischenfuhr. „Keine Lederriemen! Sie schneiden in die Haut, und der Gebieter will keine Striemen an ihr sehen. Ich glaube, oben gibt es ein paar Schnüre aus Seide. Gehen wir hinauf und schauen nach.“

Olog grummelte vor sich hin, aber er ließ ihre Beine los und folgte dem anderen Mann aus dem Zimmer. Lothíriel hielt den Atem an und strengte alle Sinne an, als die Tür sich hinter ihnen schloss. Kein kratzendes Geräusch, während der Schlüssel im Schloss gedreht wurde, nur das schwache Echo verklingender Schritte. Blitzschnell war sie aus dem Bett. Die Tür öffnete sich bei ihrem Stoß mit einem Kreischen, das ihr quälend laut in den Ohren klang, doch alles blieb still, und es kam keine Stimme, die Alarm schlug. Ihre forschenden Finger fanden den Schlüssel, der nach wie vor im Schloss steckte, und sie versenkte ihn hastig in ihrer Rocktasche. Niemand würde sie wieder einsperren!

Ein paar vorsichtige Schritte brachten sie an den Fuß einer Treppe. Der Boden lag rau und kalt unter ihren bloßen Füßen. Während sie die hölzernen Stufen untersuchte, die nach oben führten, wurde sie beinahe überwältigt von dem Drang, frische Luft zu atmen und Freiraum um sich zu fühlen. Und doch zögerte sie. Was, wenn die Wachen in diesem Moment zurück kamen? Vielleicht hatte sie nicht viel Zeit! Würde es eine bessere Idee sein, sich ein Versteck zu suchen? Sie befand sich eindeutig in irgendeiner Art Keller, denn die Luft roch feucht und erdig. Sie ließ ihre Hand an dem rauen Stein entlang gleiten und fand eine weitere Tür neben der, die in ihren eigenen Raum führte. Auch hier steckte der Schlüssel im Schloss, und sie hatte einige Schwierigkeiten, ihn umzudrehen. Während sie die Tür öffnete und angestrengt lauschte, hörte sie schweren Atem; noch immer hing der Geruch von Gewürzen in der unbewegten Luft.

„Hareth?“ flüsterte sie.

Keine Antwort. Lothíriel überwand ihren Widerwillen, eine weitere Zelle zu betreten, nachdem sie gerade erst einer entronnen war und ging vorsichtig durch den Raum, dorthin, wo sich vielleicht ihre Zofe befand. Ihre ausgestreckten Hände berührten ein Bett, das sehr ihrem eigenen glich, dann einen warmen Körper. Sie folgte der Rundung eines Armes bis zur Schulter, und ein rasches Streifen über das Gesicht bestätigte, was sie von Anfang an vermutet hatte. Hareth. Im Tiefschlaf.

„Bitte wach auf!“ rief sie, packte die Zofe grob an den Schultern und schüttelte sie. Die einzige Antwort war ein Schnarchen. Tränen schossen Lothíriel in die Augen. Sie brauchte jemanden, der sehen konnte, der ihr half, die Männer zu meiden, die sicher bald ihre Abwesenheit bemerken und anfangen würden, nach ihr zu suchen.

Ein lauter Knall kam aus dem Flur und sie erstarrte. Waren sie schon wieder zurück? Sie machte sich auf den Weg zurück, stolperte in ihrer Hast und zog die Tür zu; sie ließ nur einen winzigen Spalt offen, damit sie lauschen konnte.

„Beeil dich!“ hörte sie Baran sagen. „Wir sind spät dran! Erinnere dich, wir müssen sie fortschaffen, bevor der König von Rohan ankommt. Er wird jeden Moment hier sein.“

Ihr stockte der Atem in der Kehle. Éomer! Wie sehr sie sich nach ihm sehnte... Die Schritte, die die Treppe hinab kamen, hielten plötzlich inne.

„Olog, hast du die Tür nicht zu gemacht?“ fragte Baran.

„Ich denke, doch,“ sagte der andere Mann zögernd.

Ihre schweren Stiefel polterten eilig die Stufen hinunter, und dann folgte im anliegenden Raum ein atemloses Schweigen. Die Flüche, die als Nächstes zu hören waren, zauberten Lothíriel trotz ihrer verzweifelten Notlage ein Lächeln auf das Gesicht.

„Mûzgash wird uns umbringen!“ jammerte Olog.

„Wir müssen sie auf der Stelle finden,“ sagte Baran. „Immerhin ist sie blind und hilflos, sie muss hier irgendwo sein.“

Lothíriel biss sich auf die Lippen. Nur zu wahr! Wo konnte sie sich verstecken? Unter dem Bett?

Als würde er ihre Gedanken hören, fragte Baran den anderen Mann: „Hast du einen Blick unter das Bett geworfen? Vielleicht ist sie im Schlaf einfach hinunter gefallen und darunter gerollt.“

Ein Bums war aus dem Nebenzimmer zu hören. „Es ist so dunkel, dass ich nicht richtig sehen kann,“ beschwerte sich Olog, „aber da ist irgendetwas. Hol eine Fackel!“

Lothíriel machte einen Schritt rückwärts, als sie hörte, dass Baran hinaus auf den Korridor kam und dann wieder hinein ging. Sie schob behutsam die Hand in die Rocktasche. Der Schlüssel zu ihrem Zimmer! Sie hatte ihn immer noch. Und die beiden waren dort drinnen; sie konnte hören, wie sie herum stöberten.

Auf Zehenspitzen schlich sie sich auf den Korridor hinaus; ihr Herz schlug so laut, dass sie es bestimmt hören konnten. Ihre ausgestreckten Finger erreichten den Türrahmen ihres früheren Gefängnisses und streiften dann die Tür. Wie das Glück es wollte, öffnete sie sich nach außen und schirmte ihren Körper vor den Blicken der Männer im Zimmer ab.

„Es ist nur ein Nachttopf!“ hörte sie einen der beiden angewidert ausrufen.

Bald würden sie herauskommen! Mit zitternden Händen steckte sie den Schlüssel in das Schloss, dass versetzte sie der Tür einen Stoß, so dass sie zufiel. Wieder kreischte sie, aber die Warnung kam für Baran und Olog zu spät, denn sie hatte bereits zugesperrt. Wieder waren Flüche zu hören, dann erbebte plötzlich das Holz, als die Männer sich dagegen warfen.

„Jetzt bekommt ihr eine Kostprobe davon, wie es sich anfühlt,“ murmelte sie vor sich hin und musste ein hysterisches Kichern unterdrücken.

Doch was nun? Éomer! Sie musste ihn warnen. Lothíriel holte tief Luft und nahm die steilen Stufen in Angriff, die hinauf in den Rest des Hauses führten. Sie zwang sich dazu, gleichmäßige Schritte zu machen und nicht zu hasten – ein Sturz würde katastrophal sein – und stieg langsam nach oben. Hinter sich konnte sie die beiden Männer noch immer schreien und mit den Fäusten gegen die Tür hämmern hören, und plötzlich machte sie sich Sorgen, dass der Lärm einige von Mûzgashs anderen Männern anlocken könnte. Aber alles blieb still, und nach einigen weiteren Schritten konnte sie die Umrisse einer Öffnung über ihrem Kopf ertasten. Die Sinne aufs Äußerste angespannt, kroch sie langsam über den Rand von etwas, das sich wie eine Falltür anfühlte, und dann, nach einer ungeschickten Suche nach dem Riegel, schloss sie sie hinter sich und schnitt den Lärm von unten ab. Niemand schlug Alarm.

Tatsächlich kam überhaupt kein Geräusch. Der Raum fühlte sich leer an, obwohl in der Luft noch schwache Essensgerüche hingen. Die Küche? Bei diesem Gedanken knurrte ihr laut der Magen. Sie richtete sich auf und machte einen behutsamen Schritt vorwärts, dann noch einen. Etwas prallte ihr schmerzhaft gegen das Schienenbein. Ein Stuhl, vermutete sie, und dann berührten ihre ausgestreckten Hände die glatte Oberfläche eines Tisches. Der Tischkante zu folgen, brachte sie zu einer Wand, in die ein kleines Fenster eingelassen war. Bei dem Gedanken, dass jemand sie von draußen vielleicht entdecken könnte, ließ sie sich mit einem Aufkeuchen zu Boden fallen. Doch wieder geschah nichts. Das Haus war rings um sie her so still, dass es schien, als wäre es vollkommen verlassen.

Plötzlich hörte sie den schwachen Klang von Stimmen, und nach einem Moment der Verwirrung begriff sie, dass sie von draußen kamen. Eine der Stimmen sorgte dafür, dass ihr Herz in einer Mischung aus Hoffnung und Angst rascher schlug. Konnte das sein? Lothíriel richtete sich auf und stieß mit zitternden Fingern das Fenster ein kleines Stück auf.


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