Euch zu Diensten
von Lialathuveril, übersetzt von Cúthalion


Kapitel Sechsundzwanzig
Ein Kampf im Dunkeln

Du fragst, was Mut ist? Ich sage: wahrer Mut ist, seinen schlimmsten Ängsten entgegen zu treten und trotzdem nicht nachzulassen, selbst wenn man sich hoffnungslosen Hindernissen gegenüber sieht.
(Mardil Voronwe: Der Fürst)

Lothíriel konnte hören, wie die Schritte des Mannes den Raum durchquerten, hin zu dem kleinen Tisch, der an einer Wand stand. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Tür hinter sich zu verriegeln. Ein schwaches Kratzen drang an ihr Ohr, als ob er etwas auf dem Tisch abgestellt hätte. Eine Lampe vielleicht, um das Zimmer zu erleuchten? Lothíriel versuchte, ihre zitternden Finger ruhig, den Kopf hoch und den Rücken gerade zu halten. Sie würde ihn ihre Angst nicht sehen lassen, denn er weidete sich daran, dessen war sie sich sicher.

„Eure kleine List hat funktioniert,“ sagte er. Der Zorn in seiner Stimme, den er fest im Zaum hielt, sorgte dafür, dass ihr kalt wurde. Eine Stimme, die die Farbe von frisch vergossenem Blut hatte – hellstes Scharlachrot.

Nichtsdestotrotz konnte sie ein kurzes Aufflammen von Hoffnung nicht unterdrücken. „Ist das so?“ erwiderte sie und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.

„Ja, es sieht so aus, als würde sich der König von Rohan irgendwie verspäten. Aber Ihr solltet euch selbst nicht schmeicheln; alles, was Ihr getan habt, ist, ihm ein wenig Zeit zu erkaufen.“

Lothíriel klammerte sich erleichtert an die Bettstatt hinter ihr. Also hatte Éomer ihre Warnung erkannt und die Falle gemieden. Sicher suchte er bereits nach ihr und würde sie bald finden, um diesem Alptraum ein Ende zu machen.

Der Mann lachte humorlos. „Ihr werdet bald entdecken, dass Ihr nichts mehr seid als ein machtloser Bauer in dem Spiel, das ich spiele.“

„Wenn er anständig gesetzt wird, dann kann selbst ein Bauer den König vom Spielfeld nehmen,“ gab sie zurück.

Jetzt lachte er richtig. „Nicht, wenn Ihr gegen einen Meister wie mich antretet. In Eurem Fall, meine Prinzessin, geht es nicht darum, etwas zu nehmen, sondern darum, genommen zu werden.“

Lothíriel schauderte; Furcht durchrieselte sie, aber sie versuchte verzweifelt, es nicht zu zeigen. „Euer Plan wird scheitern.“

„König Éomer wird immer noch genau das tun, was man ihm sagt.“ Der Mann klang belustigt. „Ich denke nicht, dass er imstande sein wird, meinem Köder zu widerstehen, oder?“

„Er wird Euch jetzt nicht mehr in die Falle laufen,“ sagte sie, und versuchte, Zuversicht in ihre Stimme zu legen.

„Wir werden sehen. Aber wir haben keine Eile. Lassen wir den König von Rohan sich noch ein paar Stunden Sorgen machen; dann wird er noch viel eifriger in meine Falle tappen.“ Er senkte die Stimme. „Was bedeutet, dass wir einen angenehmen Weg finden müssen, uns die Zeit zu vertreiben, bis er kommt...“

Sie schluckte, aber sie brach nicht zusammen und flehte um Gnade, wie er es zweifellos erwartet hatte. Als ob das irgendeinen Unterschied machen würde. Statt dessen hob sie trotzig den Kopf. „Éomer wird Euch bald genug finden und Eurem elenden Leben eine Ende machen.“

„Ihr legt ein rührendes Zutrauen in seine Fähigkeiten an den Tag. Fehlgeleitet, aber rührend.“

Ein winziges Flackern der Wut regte sich in ihrem Herzen. „Wagt es nicht, ihn zu verspotten!“

Mit wenigen, langen Schritten durchquerte er den Raum und stand vor ihr. „Prinzessin, ich kann tun, was immer ich will,“ flüsterte er ihr ins Ohr.

Sie brauchte ihre gesamte Selbstbeherrschung, um nicht vor ihm zurück zu zucken, und er lachte leise. „Ich kann mir auch nehmen, was immer ich will.“ Noch berührte er sie nicht. Noch nicht.

Sie versuchte, sich an ihren Zorn zu klammern. „Manche Dinge kann man nicht nehmen... sie müssen verschenkt werden.“

Sein heißer Atem streifte ihre Wange. „Ah, aber ich nehme mir nur zurück, was ohnehin mein hätte sein sollen.“

„Was soll das heißen?“

„Vergebt mir, dass ich mich nicht schön früher angemessen vorgestellt habe,“ sagte er in spöttischem Tonfall. „Mein voller Name ist Prinz Mûzgash, Sohn des Uldor, des dahin geschiedenen Königs von Harad.“

Was hatte ein Prinz von Harad in Gondor zu suchen? Und doch hatte der Name aus irgend einem Grund eine vertrauten Klang. Wo hatte sie ihn früher schon gehört? „König Uldor?“ fragte sie. „Der in der Schlacht auf den Pelennorfeldern gefallen ist?“

„Erschlagen durch Théoden von Rohan,“ bestätigte er.

Nun dämmerte ihr, worum es ging. „Also ist das der Grund, weshalb Ihr Éomer umbringen wollt!“

„Ja, genau. An ihm will ich Rache nehmen – von Euch will ich nur Wiedergutmachung.“

Sie verstand nicht, was er meinte und runzelte verwirrt die Stirn. „Wiedergutmachung? Wofür denn?“

„Für den Verlust einer Ehefrau.“ Er nahm ihre rechte Hand und hob sie an seine Lippen. „Eine Prinzessin von Gondor, uns zugesichert durch Truchsess Denethor, aber niemals übergeben.“

Dieser Prinz von Harad! Sie versuchte, ihm ihre Hand zu entreißen, aber er hielt sie mit eisernem Griff, drehte sie herum und pflanzte einen Kuss auf das Handgelenk, wo ihr Puls heftig schlug. „Ich bin gekommen, um dich zu holen, meine kleine Perle. Freust du dich nicht?“

„Wenn Ihr glaubt, dass ich Euch heirate, dann habt Ihr den Verstand verloren!“ rief sie aus; endlich konnte sie ihre Hand befreien und machte einen Schritt rückwärts.

„In Harad ist für eine Heirat nur erforderlich, dass der Bräutigam sein Versprechen vor drei männlichen Zeugen ablegt. Dein Einverständnis ist nicht nötig.“ Nach dem Klang seiner Stimme zu urteilen, bereitete die Sache ihm Vergnügen!

„Wir sind nicht in Harad!“ fuhr sie ihn an. „In diesem Land ist sowohl der Segen des Vaters als auch die Zustimmung der Braut vonnöten.“

„Was Ersteres angeht, den kann man nach der Tat einfordern. Das Zweite...“ Er zog mit einem Finger eine Spur über ihre Wange, als hätte er jedes Recht dazu. „Besitz ist wichtiger als das Gesetz.“

Die Art, wie er das Wort Besitz betonte, missfiel Lothíriel ganz entschieden. Sie wusste, dass er mit ihr spielte und dass er das Gefühl genoss, sie seiner Gnade ausgeliefert zu sehen. Wieder flammte ein Funken Zorn in ihr auf. „Wenn Ihr mich zur Ehe zwingt, dann bedeutet das nur, dass ich bald Witwe sein werde.“

Er atmete scharf aus. „Ich kann sehen, wieso mein Vater wollte, dass ich dich in jungen Jahren in die Hände bekomme. Wie auch immer, es wird nicht lange dauern, bis du die angemessen unterwürfige Weise erlernst, in der eine meiner Frauen das Wort an mich richtet.“

Frauen? Wie viele hatte er denn? Doch in diesem Moment packte er einen ihrer Arme und verdrehte ihn hinter ihrem Rücken. „Ich habe jetzt genug von deiner unverschämten Zunge,“ sagte er ihr ins Ohr, als sie vor Schmerz nach Luft rang. „Komm hier herüber, damit ich einen anständigen Blick auf dich werfen kann.“

Sie versuchte, ihm mit der freien Hand das Gesicht zu zerkratzen, aber er fing sie völlig mühelos ein und zwang sie ebenfalls hinter ihren Rücken. Der Mantel rutschte ihr von den Schultern, und sie gab unwillkürlich ein kleines, bestürztes Stöhnen von sich. Eine rasche Drehung, und er hielt ihre beiden Handgelenke im unnachgiebigen Griff einer Hand, was die andere frei ließ. Hatte er Dinge wie diese schon früher getan? Er stieß sie vor sich her durch den Raum, dorthin, wo der kleine Tisch an der Wand stand.

Mûzgash lachte, als sie gegen seine Umklammerung ankämpfte – ein Geräusch, das ihr eine eisige Welle der Furcht das Rückgrat hinunter laufen ließ. Die Heiterkeit, die sie wahrnahm, sorgte dafür, dass sie still hielt. Eines wurde ihr jäh bewusst: er wollte, dass sie versuchte, ihm zu widerstehen, damit er seine überlegene körperliche Stärke ins Spiel bringen konnte. Nun, diesen Gefallen würde sie ihm nicht tun.

„Meine hübsche kleine Prinzessin,“ flüsterte er ihr ins Ohr; er stand hinter ihr und fing an, mit der freien Hand ihren Zopf zu lösen. „Eine so erlesene, weiße Haut, so wunderschönes, weiches Haar...“

Ablenkung! Sie musste ihn irgendwie ablenken. „Wird es Eurem Volk nichts ausmachen, dass ich blind bin?“ Ihre Stimme klang heiser und angestrengt, und sie konnte sein Lächeln beinahe fühlen.

„Niederen Menschen gebührt es nicht, sich um die Angelegenheiten derer zu sorgen, die über ihnen stehen. Sie werden es sowieso nicht wissen, denn du wirst den Palast niemals verlassen.“ Jetzt fiel ihr das Haar offen über die Schultern, und er atmete anerkennend sein Parfum ein. „Ich kann jede Frau wählen, die mir gefällt. Und täusche dich nicht – zu dem Zeitpunkt, an dem wir die Stadt der Schlangen erreichen, wirst du höchst eifrig darauf bedacht sein, mir Freude zu machen.“

„Niemals!“

„Es ist eine lange Reise auf dem Schiff den Anduin hinunter und die Küste entlang. Du wirst es lernen, oder - “ Seine Hand legte sich um ihre Kehle und drückte sanft zu. „Vielleicht sollte ich deine Zofe mitnehmen, um sicher zu gehen, dass du mir gehorchst.“

Plötzliche Wut entflammte in ihrer Seele, verbrannte den Nebel der Furcht und wärmte sie mit ihrem Feuer. Sie drehte sich in seinem Klammergriff herum. „Was für ein Mann seid Ihr, dass Ihr eine wehrlose, alte Frau quält? Ich verabscheue Euch!“

„Wie kannst du es wagen!“ zischte er. „Eines Tages werde ich König sein. Jede Frau in Harad wäre mehr als glücklich, die erste unter meinen Gemahlinnen zu werden, meine Königin.“

„Im Augenblick seid Ihr nichts anderes als ein niederer Prinz!“ schnappte Lothíriel.

Seine Hand schloss sich um ihre Schulter wie ein Schraubstock. „Sobald ich den gerechten Blutpreis für meinen Vater gefordert habe - und mit einer Prinzessin von Gondor als Braut - wird es klar sein, dass die Götter mir gnädig sind. Dann werde ich genügend Unterstützung gewinnen, um mich mit meinem älteren Bruder zu befassen und ihn zum Kampf um die Krone heraus zu fordern.“

„In diesem Fall kommt zurück und fragt mich noch einmal, wenn Ihr König seid!“

Er lachte tatsächlich, aber es klang nicht belustigt. „Weißt du, allmählich bekomme ich eine Ahnung davon, was der König von Rohan in dir sieht. Es wird amüsant sein, dich zu zähmen.“ Seine Stimme wurde leise und gefährlich. „Bald werde ich König von Harad sein, und dann wird eines Tages die Schwarze Schlange auf Scharlach über dem Weißen Turm wehen, wie sie es schon vor langer Zeit hätte tun sollen.“ Sie presste abwehrend die Lippen zusammen und er zog sie fester an sich und drückte sie gewaltsam an seine Brust. Das harte und kalte Gefühl durch ihre dünne Kleidung hindurch sagte ihr, dass er ein Kettenhemd trug. „Eines Tages wird unser Sohn über Harad und Gondor herrschen!“

„Mein Sohn wird die Haradrim vom Schlachtfeld fegen und sie in Grund und Boden trampeln!“ schleuderte sie ihm ins Gesicht.

Er wurde still, aber seine Hand grub sich in ihre Schulter, bis sie ein schmerzliches Wimmern nicht unterdrücken konnte. „Frau, diese Worte werde ich dich bereuen lassen.“ Die kalte Entschlossenheit in seinem Ton ängstigte Lothíriel mehr, als hitziger Zorn es getan hätte.

Plötzlich versetzte Mûzgash ihr einen Stoß; sie stolperte ein paar Schritte rückwärts, bis ihr Rücken gegen die Wand prallte. Rasch wie eine Schlange folgte er ihr, und als Lothíriel ihre Hände ausstreckte, um ihn abzuwehren, packte er ihre Handgelenke erneut mit kraftvollem Griff und hielt sie über ihrem Kopf fest. In Panik versuchte sie, ihn zu treten, aber er warf sich einfach mit seinem vollen Körpergewicht gegen sie und presste sie gegen die Mauer. Dann ließ er die andere Hand um ihren Hinterkopf gleiten, vergrub sie in ihren Haaren und zwang sie, ihm ihr Gesicht entgegen zu heben. Mit einem atemlosen Lachen fing er an, sie zu küssen.

Lothíriel fühlte sich vollkommen hilflos; sie schloss die Augen und versuchte, sich im Geiste weit aus der Gegenwart zu entfernen. Wieso konnte sie nicht einfach in Ohnmacht fallen? Sie versuchte, den Ort ihrer Erinnerung aufzurufen und ihn zu durchwandern, vollkommen losgelöst von dem, was mit ihrem Körper geschah. Die Speisenfolge vom letzten Bankett, wie war die gewesen?

Blätterteigpasteten, mit Spargel gefüllt, dazu süßer Wein aus Lebennin. Sein Atem roch nach Gewürzen, und das Gefühl seiner feuchten Lippen, die sich mit schmerzhafter Gewalt auf die ihren pressten, brachte sie zum Würgen. Gekochtes Kaninchen auf einem Bett aus Frühlingsgemüse, als Beilage gedämpfte Kartoffeln. Mûzgashs freie Hand wanderte abwärts und fing an, an den Bändern ihrer Tunika zu zerren. Entenstreifen in einer Feigensoße, dann Spanferkel, mit frischen Kräutern gefüllt. Das erste Paar Bänder war zerrissen. Er ließ die Hand in ihre Bluse gleiten und lachte, als sie zurück zuckte.

„Wie passend, dass du ein Rohirric-Kleid trägst,“ sagte er leise. „Jetzt kann ich meine Rache an Rohan und an Gondor gleichzeitig nehmen.“ Wieder presste sich sein Mund auf den ihren.

Es funktionierte nicht. Sie konnte nicht einfach ihren Geist aus dem zurückziehen, was ihr widerfuhr. Erneut versuchte sie, sich seinem Griff zu entziehen, aber seine Stärke bezwang sie. Éomer, dachte sie entsetzt, hilf mir! Ihre Hüfte prallte gegen die Tischkante, und dann ertönte ein leises, metallisches Klirren. Ein verzweifelter Plan formte sich in ihrem Sinn.

Sie zwang sich, ihren Körper zu entspannen, ihren Mund seiner suchenden Zunge zu öffnen, auch wenn ihr davon übel wurde. Mûzgash gluckste tief in der Kehle, als sie anfing, ihm Antwort zu geben, aber sein eiserner Griff ließ nicht nach. Statt dessen fing er an, ihre Tunika hoch zu ziehen; eine frische Welle der Panik spülte über sie hinweg. Lothíriel unterdrückte sie, wölbte sich ihm entgegen und gab ein ganz und gar falsches Stöhnen des Vergnügens von sich. Endlich bewegte sich sein Mund zu der Vertiefung ihrer Kehle hinab, und er löste die Umklammerung um ihre Handgelenke. Vorsichtig, um ihn nicht aufzuschrecken, senkte sie einen Arm, vergrub die Finger in seinem Haar und streichelte es.

„Es gefällt dir, von einem richtigen Mann beherrscht zu werden, nicht wahr?“ flüsterte er. Er atmete schwer und war so erregt, dass sie seinen Schweiß riechen konnte.

Gefallen? Es widerte sie an! Aber er war so von seiner eigenen Bedeutung erfüllt, dass er es wahrscheinlich für die Wahrheit hielt. Lothíriel traute ihrer Stimme nicht, also presste sie ihren Körper einfach gegen ihn und bot ihm ihre Lippen. Die ganze Zeit über bewegte sie sich ganz leicht, bis er den Tisch im Rücken hatte. Als er wieder begann, sie grob zu küssen, ließ sie ihre Rechte auf seinen Rücken gleiten und liebkoste ihn. Ihre Finger streiften den Griff eines Schwertes, das an seiner Seite hing, und sie zögerte kurz. Doch er hielt sie so fest an sich gedrückt, dass sie nicht imstande sein würde, es zu ziehen. Statt dessen lehnte sie sich in ihn hinein und ließ ihre Hand über die Tischplatte hinter ihm gleiten. Ihre suchenden Fingerspitzen trafen auf kaltes Metall. Erfolg! Ein Kerzenleuchter, wie es sich anfühlte, und ein schwerer obendrein. Quälend langsam zog sie ihn zu sich hin und packte ihn dann mit aller Kraft. Noch immer waren seine groben Hände überall.

Mit einem schnellen Ruck schwang sie den Kerzenhalter hoch, um ihn Mûzgash über den Schädel zu ziehen. Doch im letzten Moment wich er mit seinem unheimlichen Kriegerinstinkt aus, und der Hieb prallte seitlich von seinem Kopf ab, anstatt ihn bewusstlos zu schlagen.

„Du Hexe!“ rief er, als sie darum rang, ihn erneut zu treffen.

Plötzlich war der Raum vom Gestank nach versengtem Haar erfüllt. Mûzgash heulte vor Schmerz auf und versetzte ihr einen Schlag ins Gesicht, der sie rückwärts taumeln ließ. Der Kerzenhalter flog ihr aus der Hand, während sie ins Rutschen geriet und zu Boden stürzte.

Betäubt lag sie einfach einen Moment da; ihr dröhnten die Ohren vor Schmerz und sie spürte den Stein kalt an ihrer Wange. Gedämpft konnte sie hören, dass er herum hüpfte und fluchte, und dann ein zischendes Geräusch, wie Wasser, das über einem Feuer ausgegossen wurde.

„Wo bist du?“ brüllte er.

Mit einem lauten Knall kippte der Stuhl um, und wieder heulte er auf. Es klang, als sei auch er gestolpert und gestürzt. Plötzlich wurde Lothíriel klar, dass er nichts sehen konnte. Die Kerze musste ausgegangen sein, als sie den Kerzenhalter fallen ließ! Jäh zum Handeln ermutigt, warf sie ihr Haar zurück und erhob sich unbeholfen auf die Knie. Wenn sie die Tür vor ihm erreichen konnte, war sie vielleicht imstande, hinaus zu schlüpfen und sie hinter sich zu verriegeln. Etwas Gerundetes begegnete ihren Fingern und sie erkannte den Nachttopf. In diesem Moment schloss sich Mûzgashs Hand um einen ihrer Knöchel und zerrte sie in seine Richtung. Ohne einen weiteren Gedanken drehte sie sich um und ließ den Nachttopf auf seine Finger hinunter krachen. Mit einem überaus zufriedenstellenden Schmerzensschrei ließ er sie los, und sie krabbelte hastig davon.

Ganz plötzlich ertönte ein lautes Pochen an der Tür. Lothíriel erstarrte.

„Prinz Mûzgash!“ kam ein gedämpfter Ruf.

„Was ist los?“ Inzwischen klang er durch und durch wütend.

Die Tür öffnete sich mit einem langsamen Knarren. „Mein Herr, bitte vergebt mir, dass ich Euch störe, aber - “ Der Mann hielt abrupt inne. „Was tut Ihr denn da im Dunkeln? Euer Haar --!“

„Kümmer dich nicht um mein Haar!“ knurrte Mûzgash. „Shagnar, du hast besser einen sehr guten Grund, mich zu unterbrechen.“

„Sie haben angefangen, die Häuser zu durchsuchen,“ stammelte der Mann.

„Was?“

„Ich war nicht sicher, was ich tun sollte, mein Herr,“ sagte Shagnar; die Worte überstürzten sich. „Aber unsere Späher haben gerade die Nachricht gebracht, dass die Großen Tore für den gesamten Verkehr geschlossen worden sind, und dass die Schwanenritter und die Turmwache begonnen haben, die unteren Kreise zu durchsuchen. Obendrein geht das Gerücht, dass König Éomer in das Lager der Rohirrim um Verstärkung geschickt hat.“

Schweigen, abgesehen von Mûzgashs schwerem Atem. „Ich bin beschäftigt! Ich habe nicht die Zeit, mich mit dieser Komplikation zu befassen.“

„Mein Herr, sie werden bald hier sein! Wir müssen etwas tun!“ rief der Mann.

Lothíriel blieb vollkommen reglos, als sie hörte, wie Mûzgash aufstand und durch den Raum auf sie zukam. Er packte sie an den Armen und zog sie hoch. Schlaff und erschöpft von dem kurzen Kampf, leistete sie keinen Widerstand.

„Zweifle nicht daran, dass ich bald zurück bin,“ zischte er. „Und in der Zwischenzeit kannst du darüber nachdenken, wie ich dich strafen werde.“

Er ließ sie los, und sie schwankte auf ihren Füßen. Dann war er fort; die Tür schloss sich hinter ihm und der Schlüssel drehte sich im Schloss.

„Geh nicht weg!“ hörte sie ihn spöttisch rufen. Es folgte Gelächter.

Wieder allein. Der Nachttopf entfiel ihren tauben Fingern und sie begann zu zittern.

*****

Hilflos. Mehr als alles andere hasste Éomer es, hilflos zu sein. Er starrte durch das Fenster auf Imrahils Vorhof hinaus. Alphros und sein Freund standen um Galador herum und tätschelten ihn, aber Éomer nahm sie nicht wahr. Statt dessen sah er Éowyn, die zerbrochen auf dem Schlachtfeld des Pelennor lag. Théoden, alt und gebrechlich auf dem Thron in Meduseld, während Théodred davonritt in seinen Untergang, kaum noch Hoffnung in den Augen. Und seine Mutter Théodwyn, krank und fiebrig, die ihr Gesicht zur Wand drehte, weil ihr Lebenswille mit dem Tod seines Vaters erloschen war.

Éomer umklammerte das Fensterbrett. Er würde Lothíriel nicht auch noch verlieren. Sie würden sie finden und sie retten. Und dann würde er sie heiraten, egal, was Imrahil auch sagte, und wenn er sie dazu selbst entführen musste.

Eine Hand senkte sich auf seine Schulter und drückte sie kurz. Er erkannte Aragorns solide Gegenwart. Der König von Gondor war sofort gekommen, seine Hilfe anzubieten, als er von Lothíriels Entführung erfahren hatte.

„Schon irgendetwas Neues?“ fragte Éomer, ohne sich umzudrehen.

„Elphir hat gerade die Nachricht geschickt, dass die Wachen die Durchsuchung des ersten Kreises beendet und nun mit dem zweiten angefangen haben. Amrothos ist ebenfalls bei ihnen.“

Éomer nahm das mit einem Nicken zur Kenntnis. Nur ein Kreis von sieben! Für einen Augenblick hasste er die Stadt aus Stein, die Lothíriel spurlos verschluckt hatte. Wenn sie nur in Edoras sein könnten, wo er jeden Winkel und jedes mögliche Versteck kannte... Er hatte die Suche selbst anführen wollen, doch Éothain und Elfhelm hatten ihn überredet, im Stadthaus zurückzubleiben, in Sicherheit. Also war er nun sicher, während Lothíriel...

„Quäl dich nicht selbst damit, dir vorzustellen, was ihr zustoßen könnte,“ sagte Aragorn leise. „Ich verspreche dir, wir werden deine Herrin finden.“

Éomer ballte die Hände zu Fäusten. „Leicht gesagt!“ schnappte er. „Was würdest du tun, wenn es Arwen wäre, die gefangen gehalten wird?“

Es folgte ein kurzes Schweigen. „Mein Freund, in diesem Fall würdest du es sein, der mir raten würde, Ruhe zu bewahren.“

Éomer seufzte und ließ etwas von der angesammelten Spannung fahren. „Wenn ich nur etwas tun könnte!“

„Ich weiß.“

Die beiden Männer starrten aus dem Fenster. Im Vorhof hatten Alphros und sein Freund Minardil angefangen, das Pony zu striegeln. Die beiden Jungen hatten in den Ställen gespielt, als Éomer erschienen war, und sie sahen aus wie zwei Gossenbengel, staubig und mit Strohhalmen bedeckt.

Aragorn drückte seine Schulter noch einmal. „Sobald Éothain mit deinen Männern aus dem Lager eintrifft, können wir die Suche beschleunigen. Und vergiss nicht, Lothíriel ist ziemlich einfallsreich. Schau dir nur an, wie sie es geschafft hat, dir eine Warnung zukommen zu lassen.“

Éomer nickte, wenig überzeugt. Was konnte eine blinde Frau zu erreichen hoffen, wenn sie sich einer ganzen Bande von Entführern gegenüber sah? Aber dann wandte er dem Fenster den Rücken zu. Sie würden es bald genug erfahren, wenn es irgendwelche Neuigkeiten gab.

Sein Blick fiel auf Imrahil. Der Fürst von Dol Amroth saß in einem Sessel und starrte ins Leere. Zum ersten Mal, seit Éomer sich erinnern konnte, wirkte er betagt; seit diesem Morgen schien er um Jahre gealtert zu sein. Auf seinem Schoß hielt er den zerbrochenen Gehstock und den einzelnen Schuh, den seine Männer in einer Seitengasse gefunden hatten, die von der Straße zu den Häusern der Heilung abging.

Gegen seinen Willen empfand Éomer Mitleid mit dem Fürsten. Er ging durch das Zimmer und kniete sich neben den Sessel. „Sorgt Euch nicht, Imrahil, wir werden Eure Tochter finden.“ Er legte die gesamte Überzeugungskraft, die er aufbringen konnte, in die Worte.

Imrahil hob den Blick und sah ihn matt an. „Das ist alles mein Fehler. Ich hätte sie niemals mit diesen Männern gehen lassen dürfen.“

Éomer zögerte, denn er hatte Imrahil selbst vorgeworfen, dass er Lothíriel keine Wache mit gegeben hatte. „Was geschehen ist, ist geschehen,“ sagte er endlich.

Imrahil drehte den Schuh langsam zwischen den Händen. „Ich war eifrig darauf bedacht, sie gehen zu sehen, denn ich wollte allein mit Euch reden, wenn Ihr eintreffen würdet. So eifrig, dass ich mich nicht damit aufgehalten habe, nachzudenken. Ich habe sie im Stich gelassen.“

Éomers Hand schloss sich fester um die Sessellehne. „Ich auch,“ sagte er rau, „denn ich habe zu langsam auf die Warnung reagiert, die sie mir geschickt hat.“

Ihre Blicke begegneten sich, zum ersten Mal seit jenem Abend unten am Anduin in vollkommenem Einverständnis.

In diesem Moment konnten sie rennende Schritte hören, und die Tür zur Bibliothek flog auf. Einer der Männer, die die Türen des Hauses bewachten, stand da, ein Stück Pergament in der Hand.

„Mein Herr,“ sagte er, durchquerte den Raum und verneigte sich vor Imrahil, der aufgesprungen war. „Wir haben eine Botschaft erhalten.“

Imrahil riss ihm das Pergament aus der Hand, während Éomer und Aragorn sich neben ihn stellten. Die Botschaft war kurz und bündig. Wir werden die Prinzessin umbringen, es sei denn, Ihr brecht die Suche ab und öffnet die Großen Tore wieder. Sobald Ihr das getan habt, werden wir weitere Anweisungen schicken.

„Wer hat das abgegeben?“ fragte Aragorn.

Der Mann zuckte die Achseln. „Ein Straßenjunge. Er sagt, ein Mann hätte ihm eine Münze zugesteckt, damit er uns die Nachricht bringt.“

Éomer starrte auf das Pergament hinunter. Die Kürze der Nachricht machte die Drohung nur umso wirklicher. Ihn beschlich das Gefühl, dass sie sich einem Feind gegenüber sahen, der vor nichts Halt machen würde. Und ein solcher Mann hatte Lothíriel in seiner Gewalt? Bei diesem Gedanken wurde ihm übel.

„Brecht die Suche auf der Stelle ab,“ sagte er.


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