Euch zu Diensten
von Lialathuveril, übersetzt von Cúthalion


Kapitel Dreiundzwanzig
Eröffnungszüge

Zu Beginn der Partie ist es unumgänglich, die Kontrolle über das Zentrum des Spielbrettes zu erlangen und alle entscheidenden Figuren zu sichern. Wenn man schnell und entschieden zuschlägt, kann das den Gegner in einem solchen Maße schwächen,dass er sich nie mehr erholt.
(Ulfang: Schach – ein Spiel der Könige)

Die Sonne, die hinter den zerklüfteten Gipfeln des Ephel Dúath aufging, badete die oberen Kreise von Minas Tirith in ihren ersten, zögernden Strahlen, doch die Felder des Pelennor lagen noch immer ruhig im Schatten. Mûzgash sah zu, wie der Rauch einiger Kochfeuer sich in trägen Spiralen in die stille Morgenluft erhob. Von seinem Aussichtspunkt auf der Mauer des Dritten Kreises hatte er eine klare Sicht auf die grünen Felder, die sich nordwärts erstreckten, bis sie auf den Rammas Echor trafen, der sie umschloss.

Der König von Rohan war zurück. Letzte Nacht hatten Mûzgashs Männer ihm die Nachricht gebracht, dass König Éomer, nachdem er drei Tage lang die Hochzeit seiner Schwester gefeiert hatte, endlich aus Emyn Arnen eingetroffen war.

Mûzgash lächelte. „Du bist in dein Verhängnis zurückgekehrt,“ flüsterte er.

Er hatte die Zeit gut genutzt und alles bereit gemacht. Die Götter hatten ihm ihre Gunst erwiesen und Imrahil frühzeitig nach Hause geschickt; er hatte seine Tochter mitgebracht. Nachdem sie drei Tage lang heimlich jeden Schritt überwacht hatten, den die Prinzessin außerhalb des Stadthauses tat, hatte er seinem Plan den letzten Schliff verliehen. Diese weichen Gondoreaner ließen ihrem Weibervolk so viel Freiheit, dass es einfach sein würde. Nun blieb ihm nur noch, das Zeichen zu geben.

Ohne sich umzudrehen, erhob er die Stimme. „Das Schiff?“

Lautlos trat Shagnar, der Befehlshaber seiner Männer, heran; er hatte oben an der Treppe Wache gestanden, die zum Mauerrundgang hinauf führte. „Ich bin letzte Nacht selbst hin gegangen, um den Kapitän zu sehen. Er erwartet uns.“

Mûzgash nickte befriedigt. „Sehr gut.“

Ursprünglich hatte er vorgehabt, entlang der Südstraße bis Pelargir zu entkommen und dann den Weg nach Harad zu nehmen, aber jetzt hatte ein Zusatz zu seinen Plänen ihn dazu gezwungen, nach anderen Transportmöglichkeiten Ausschau zu halten. Glücklicherweise hatten sie ein schnelles Schiff mit einem Kapitän gefunden, der bereit war, sich durch Bestechung davon überzeugen zu lassen, dass er nicht zu viele Fragen stellte. Der Mann glaubte, dass er sie bis zur Mündung des Anduin bringen sollte, aber es würde leicht sein, ihn davon zu überzeugen, nach Umbar weiter zu segeln. Wenn ein Beutel Silber dazu nicht ausreichte, ein Messer an der Kehle würde es ganz sicher tun.

„Mein Prinz, wollt Ihr, dass ich den Mann jetzt zu den Häusern der Heilung schicke?“ fragte Shagnar. Der gutturale Akzent, mit dem er Westron sprach, verriet seine Abkunft von einem der östlichen Stämme der Haradrim – das waren Wilde, die jedoch von den Herrschern Harads ihres Ingrimms in der Schlacht wegen hoch geschätzt wurden.

„Ja,“ antwortete Mûzgash. „Und lass zwei Männer die Großen Tore bewachen, damit wir es wissen, wenn der König von Rohan die Stadt betritt.“

Shagnar verneigte sich tief und ging hin, um zu tun, wie ihm geheißen. Mûzgash hatte wenig Zweifel, dass König Éomer Fürst Imrahil an diesem Morgen würde besuchen wollen. Gerüchte, dass der König von Rohan vorhatte, die Prinzessin von Dol Amroth zu heiraten, und dass ihr Vater alles andere als erfreut darüber war, waren während der letzten Tage in den Tavernen von Minas Tirith lang und breit durchgehechelt worden. Dadurch, dass sie an den Stadttoren Wache hielten, würden sie wissen, wo man König Éomer finden konnte, sobald der erste Teil ihres Planes durchgeführt worden war.

Mûzgash rieb sich voller Vorfreude die Hände. Die Jagd auf den Ebenen von Harad hatte ihn gelehrt, dass man, um einen Löwen zu fangen, den richtigen Köder brauchte, und eben den hatte er im Sinn. Schließlich holte er sich nur zurück, was ihm ohnehin gehörte.

Inzwischen war die Sonne weit genug über den Bergen aufgestiegen, um die Pelennorfelder zu erreichen. Sein Blick wurde unausweichlich von einem grünen Hügel angezogen, der sich nahe der Straße erhob, die zum Fluss führte. Üppig mit Gras bewachsen, markierte er den letzten Ruheplatz von König Théodens Pferd - und den Ort, wo Mûzgashs Vater gefallen war. Tot, jedoch nicht vergessen. Mûzgash hatte sich bei der Musterung ihres Reserveheeres in Osgiliath befunden, unfähig, zu helfen, und er hatte noch nicht einmal vom Tod seines Vaters erfahren, bevor sein Bruder Torog ihren Rückzug befohlen hatte. Dieser Feigling!

Wieder schaute er zu dem Hügel, und seine Hand schloss sich um seinen Schwertgriff. Ein Pferd hatten sie mit einem Begräbnis geehrt, während der König von Harad irgendwo in einem namenlosen Grab lag, den Leib in den Boden getrampelt durch den Angriff der Rohirrim, anstatt ihn mit den angemessenen Riten zu den Göttern zu schicken. Und während Théoden, der Mörder von Mûzgashs Vater, selbst auf dem Schlachtfeld gestorben war, lebte und gedieh sein Neffe immer noch.

„Nicht viel länger,“ murmelte Mûzgash. „Erfreue dich an deinem letzten Sonnenaufgang, König Éomer.“

Er würde nicht lange genug leben, um den Sonnenuntergang zu sehen. Heute Nacht würde der König von Rohan tot und kalt am Boden liegen, während Mûzgash den Anduin hinab segelte und sich die Früchte des Sieges schmecken ließ.

*****

„Der König von Rohan ist zurück.“

Lothíriel musste ein Lächeln verbergen. Sie zupfte eine weitere Note auf ihrer Harfe. Die Melodie hatte einen fröhlichen, leicht zu beherrschenden Rhythmus, wie ein Paar tanzender Füße. Mein Lieb erbat von mir ein Band...

„Ihr wusstet es schon?“fragte Hareth.

„Amrothos hat es mir gestern Abend gesagt,“ erklärte Lothíriel. Éomer hatte ja ohnehin versprochen, so rasch wie möglich nach Minas Tirith zurück zu kommen. Dass wir auf ewig soll'n verbunden sein...

„Ich verstehe,“ sagte ihre Zofe langsam. „Also ist das der Grund, wieso Ihr darauf bestanden habt, Eure Rohirric-Kleidung waschen zu lassen.“

Lothíriel nickte, während ihre Finger über die Saiten flogen. Er musste fortgeh'n in ein weit entferntes Land...

„Ich glaube, Euer Vater wird es bereits müde, zu sehen, dass Ihr sie tragt.“

Lothíriel gab nur ein Grinsen zur Antwort, denn sie hatte noch mehr von den selben, eng anliegenden, ärmellosen Tuniken bestellt. Obwohl sie heute Hosen trug, passten die hübsch bestickten Tuniken genauso gut zu einem Rock, so dass Fürst Imrahil seine Tochter bald nichts anderes mehr tragen sehen würde. Ihre Zofe fing an, Lothíriel das Haar zu bürsten. „Geht Ihr heute wieder zu den Häusern der Heilung, um diesen Reiter zu besuchen?“

„Vielleicht am Nachmittag.“ Ich warte auf den Tag, an dem er wiederkehrt...

„Wieso, was geschieht denn heute morgen?“

Lothíriel beendete das Stück mit einem schwungvollen Triller. „Man weiß nie, wer vielleicht zu Besuch kommt.“ Der Tag, der die Belohnung ihm beschert.

Sie lehnte sich in den Sessel zurück, um Hareth besseren Zugang zu ihren Haaren zu verschaffen. Nur ihre Familie würde jemals sehen, wie es offen über ihren Rücken hinab hing, dicht und lang. Und ihr Ehemann. Während Hareths geschickte Finger an den Schläfen zu flechten anfingen und die Zöpfe an ihrem Hinterkopf zu einem Knoten aufsteckten, malte Lothíriel sich aus, wie es sich anfühlen würde, wenn Éomer ihr die Haare löste. Schön, entschied sie, es würde sich schön anfühlen. Lothíriel seufzte. Es mochte noch lange Zeit dauern, bis sie das herausfand, denn ihr Vater machte bisher keinerlei Anstalten, nachzugeben. Wenigstens hatte er seinen Plan nicht durchgeführt, sie nach Dol Amroth zurück zu schicken. Aber bestimmt hatte sich Éomer inzwischen etwas ausgedacht. Als Hareth mit ihrem Haar fertig war, stand Lothíriel aus ihrem Sessel auf und drehte sich einmal rasch um sich selbst.

„Sehe ich hübsch aus?“

Ihre Zofe lachte. „Hinreißend.“

Erfreut nahm Lothíriel ihren Mantel auf – tatsächlich war es Éomers Mantel – und befestigte ihn mit seiner Brosche. Noch ein weiteres Kleidungsstück, das sie sich angewöhnt hatte, ständig zu tragen in ihrem Kampf, ihren Vater mürbe zu machen.

„Ich gehe und setze mich ein Weilchen in den Garten.“

In diesem Moment kam ein Klopfen an der Tür. „Meine Herrin, hier ist jemand, der Euch sehen möchte.“

Lothíriels Herz machte einen komischen, kleinen Satz. „Ich komme!“ Sie öffnete eifrig die Tür. „Wer ist es?“

„Einer der Heiler aus den Häusern der Heilung.“

„Oh!“ Enttäuschung durchflutete sie. Sie erkannte die Stimme eines der Hausmädchen. „Was will er?“

„Ich weiß es nicht, meine Herrin, aber er sagt, es sei dringend. Er wartet unten.“

Sie nahm ihren Gehstock und stieg die Treppen hinunter, Hareth auf den Fersen. In der Vorhalle wurde sie von dem Heiler begrüßt.

„Meine Prinzessin! Der Vorsteher schickt mich und bittet Euch, sofort zu kommen.“

Ein südlicher Akzent, stellte Lothíriel automatisch fest, aber niemand, dem sie schon begegnet war. „Wieso denn, was ist los?“ fragte sie.

„Der junge Reiter aus Rohan...“

„Meint Ihr Guthláf?“

Was konnte mit ihm nicht stimmen? Er tat ihr Leid, weil er so weit von daheim fort war, und so hatte sie mit dem jungen Reiter allmählich Freundschaft geschlossen und ihn während der letzten Tage mehrfach besucht. Und er schien sich doch gut erholt zu haben...

„Ja, der,“ erwiderte der Heiler. „Letzte Nacht bekam er plötzlich Fieber, und der Vorsteher fürchtet um sein Leben. Bitte kommt sofort, er fragt andauernd nach Euch.“

„Natürlich komme ich!“ rief Lothíriel.

Die Stufen knarrten, während jemand die Treppe herunter kam, und sie erkannte den Schritt ihres Vaters. „Tochter,“ fragte er, „ist etwas nicht in Ordnung?“

„Ich muss gehen und nach Guthláf sehen,“ erklärte Lothíriel. „Heiler - “ Sie hielt inne, als ihr klar wurde, dass sie den Namen des Mannes nicht kannte.

„Baran,“ sagte er hilfsbereit. Wie viele Leute, die den Fürsten von Dol Amroth zum ersten Mal begegneten, klang er ein wenig nervös.

„Heiler Baran ist gekommen, um mich zu holen,“ fuhr Lothíriel fort. „Scheinbar hat sich Guthláfs Zustand plötzlich verschlechtert. Vermutlich wünscht er sich, ein freundliches Gesicht zu sehen.“

Ihr Vater zögerte nur kurz. „In diesem Falle musst du natürlich gehen. Lass mich eine Wache rufen, die dich eskortiert.“

Lothíriel wollte gerade zustimmen, als der Heiler sie unterbrach. „Der Vorsteher hat mir ein paar Männer mitgegeben, um die Prinzessin zu bewachen. Es ist wirklich zwingend notwendig, dass wir sofort aufbrechen.“

„Das ist sehr umsichtig von ihm,“ sagte Imrahil, der leicht überrascht klang. „Also schön.“ Er gab ihr einen raschen Kuss auf die Wange. „In diesem Fall sehe ich dich später, Tochter.“

Lothíriel hielt sich an Hareths Arm fest und hastete hinter dem Heiler her; die beiden Wachen folgten ihnen im Gleichschritt. Im Schatten der Häuser bewahrte die Morgenluft noch eine deutliche Kälte, und sie schlang den Mantel enger um sich, dankbar für die Wärme, die er ihr gab.

Die Häuser der Heilung waren auf dem selben Kreis gelegen wie das Stadthaus der Fürsten von Dol Amroth, und Lothíriel kannte den Weg gut; deswegen war sie ziemlich überrascht, als Baran sich plötzlich nach links wandte und sie eine Seitengasse hinunter führte.

„Wo gehen wir hin?“ fragte sie. „Ich glaube, Ihr habt eine falsche Abzweigung genommen.“

„Es ist eine Abkürzung,“ erwiderte er; er klang merkwürdig nervös.

„Eine Abkürzung?“ Lothíriel versuchte, sich zu erinnern, wo diese bestimmte Gasse sie hinführen würde. Hinter sich konnte sie das Rumpeln eines Karrens hören, der in die selbe Gasse einbog.

„Beeilt Euch!“ sagte Baran.

„Seid Ihr sicher?“ fragte Lothíriel und verlangsamte ihre Schritte.

Eine der Wachen packte sie nicht allzu sanft am Arm. „Vorwärts!“

„Was denkt Ihr eigentlich, was Ihr da tut?“ protestierte sie und grub die Fersen in den Boden. Wie konnte er es wagen!

Neben ihr stieß Hareth einen erstickten Schrei aus. „Lasst mich los! Lothíriel, hier stimmt etwas nicht! Lauft!“

Die Wache verstärkte ihren Griff um ihren Arm, und als sie versuchte, sich loszureißen, hörte sie einen Fluch. Sie handelte instinktiv und zog ihm den Gehstock über den Kopf. Mit einem lauten Knacken brach er entzwei, und der Mann ließ sie einen Moment lang los. Ihr Arm entglitt seinem Griff, sie drehte sich um und rannte den Weg zurück, den sie gekommen waren; sie hoffte verzweifelt, dass sie nicht über irgendetwas stolpern würde. Das konnte ihr doch nicht passieren!

„Hilfe!“ schrie sie. War denn niemand in der Nähe?

„Haltet sie auf!“

Dann bekam jemand sie zu fassen. Grobe Hände, der Geruch von schimmligem Stoff, als ein Mann eine schwere Decke über sie warf. Der Karren! erinnerte sie sich. Hatten diese Leute Komplizen? Lothíriel trat hart um sich und wurde mit einer Verwünschung belohnt. Aber der Mann wollte nicht loslassen. Er wickelte den Stoff enger rings um sie, dämpfte damit ihre Hilfeschreie und schnitt ihr die Luft ab. Ihre Versuche, sich mit Zähnen und Klauen zu befreien, führten dazu, dass ein anderer Mann ihre Arme packte und sie mit brutaler Stärke hinter ihren Rücken zwang. Sie keuchte vor Schmerz. Zu Hilfe! Dies konnte in Minas Tirith doch nicht am hellichten Tag geschehen! Sie versuchte, dem Mann ihren Ellenbogen in die Rippen zu treiben.

„Holt mir ein paar Seile, um diese Wölfin zu bändigen,“ rief er, und Lothíriel erkannte die Stimme von Baran.

Sie schlug mit erneuerter Wut aus und warf sich zur Seite; es kümmerte sie nicht, dass er ihr fast die Schulter ausrenkte. Einer ihrer Schuhe flog davon. Verzweifelt rang sie nach Atem, aber der dicke Stoff wurde noch fester über ihr Gesicht gezogen. Luft! Sie brauchte Luft!

„Halt still!“ knurrte Baran.

Sie wurde schwächer und trat noch einmal um sich. In diesem Moment traf sie etwas hart am Kopf. Schmerz und Schwindel. Lothíriel spürte, wie ihr Bewusstsein davon glitt. Éomer! Ich brauche dich!

Das Vergessen überwältigte sie.

*****

Er war zurück. Éomer nickte den Männern zu, die die Großen Tore bewachten; sie erwiderten seinen Gruß mit einer respektvollen Verneigung. Feuerfuß' Hufschläge hallten hohl von den dicken Mauern auf beiden Seiten wider, als sie Minas Tirith betraten. Er warf einen raschen Blick nach hinten. Oswyn ritt hinter ihm, Galador an einer Führleine. Während das Pony noch immer ein wenig struppig aussah, hatten die ausgezeichnete Pflege durch seinen Knappen und eine Woche ausreichendes Futter bei ihm eine wundersame Änderung bewirkt. Seine Ohren spielten interessiert nach vorne und sein Gang war schwungvoll, nicht länger müde und lethargisch. Éomer freute sich darauf, ihn Lothíriel zu zeigen. Sie würde begeistert sein.

Auf seinem Rücken trug das Pony den Wargpelz, den Éomer versprochen hatte, Alphros zu geben. Zwar brauchte er keinen Vorwand, um das Stadthaus der Fürstenfamilie von Dol Amroth zu besuchen, aber es konnte nicht schaden, bei der Ankunft ein Geschenk bei sich zu haben. Und wenn es Imrahil daran erinnerte, dass er ihm das Leben seiner Tochter und seines Enkels schuldete, um so besser. Einen taktischen Vorteil durfte man niemals preisgeben! Er fragte sich, ob Lothíriel wohl schon damit vorangekommen war, das Nein ihres Vaters zu ihrer Ehe zu untergraben. Éomer hatte den Verdacht, dass sie eine Naturgewalt sein konnte, wenn sie sich einmal zu etwas entschlossen hatte.

Langsam suchten sie sich ihren Weg durch den dichten Morgenverkehr und folgten der Hauptstraße auf ihrem kreisenden Weg nach oben. Auf dem fünften Kreis schaute Éomer rasch in die Höhe. Über ihnen flatterte das Schiff mit dem Schwanenbug im Wind. Vielleicht saß sie in genau dieser Minute im Garten und wartete auf ihn. Würden sie sich einen Moment allein miteinander stehlen können? Die letzten drei Tage hatten ihm gezeigt, was für einen erschreckend großen Teil seines Herzens und seiner Gedanken Lothíriel in Besitz genommen hatte. Ihre Abwesenheit nagte an ihm fast wie ein körperlicher Schmerz. Éomer seufzte.

Neben ihm räusperte sich Elfhelm. „Halten wir zuerst bei den Häusern der Heilung an?“

Ohne Zweifel hatte der Marschall den Weg erraten, den seine Gedanken genommen hatten. „Ja,“ erwiderte Éomer. „Ich habe versprochen, Guthláf zu besuchen, sobald ich wieder zurück bin.“ Erst die Pflicht, dann das Vergnügen.

Elfhelm nickte verdrießlich. Seit Éomer seine Pläne angekündigt hatte, die Prinzessin von Dol Amroth zu heiraten, war der Marschall der Ostmark ein unglücklicher Mann. Zwar hatten die Machenschaften der Herrin Wilwarin ihn schockiert, die Aussicht auf eine blinde Königin für sein Land verstörte ihn allerdings noch mehr.

„Elfhelm, mein Freund,“ sagte Éomer ruhig. „Gib ihr einfach eine Chance.“

Nicht nötig, zu sagen, wen er meinte. Sein Marschall rutschte unbehaglich im Sattel hin und her. „Éomer König, ich denke nur an das Wohl der Riddermark. Das ist alles so plötzlich gekommen.“

Sie ritten unter dem Tor hindurch, das zum Sechsten Kreis führte und wandten sich nach links zu den Häusern der Heilung. „Ich weiß,“ erwiderte Éomer. „Aber ich bin mir meiner Wahl sicher.“

„Sie ist sehr jung.“

„Das werden die Jahre schon beheben,“ sagte Éomer trocken. Und er freute sich darauf, Zeit mit ihr zu verbringen. Morgens neben ihr aufzuwachen und zu wissen, dass sie auf ihn wartete, wenn er von seinem Kundschaftsritt zurückkehrte. Elfhelms Stimme zerstörte die angenehme Vision von Lothíriel, die ihn im Stallvorhof in Edoras enthusiastisch begrüßte.

„Ziemlich unbeherrscht ist sie auch...“

Sein Marschall bezog sich ganz eindeutig auf die schmerzhafte Szene bei Herrn Girion. Éomer zuckte die Achseln. „Ich bin bekannt dafür, meine Beherrschung zu verlieren. Du bist auf den Pelennorfeldern dabei Zeuge gewesen, nicht wahr?“

„Ihr hattet jede Rechtfertigung dazu!“ rief Elfhelm aus. „Ihr dachtet immerhin, Éowyn wäre tot!“

„Lothíriel hatte ebenfalls jede Rechtfertigung.“

Dem Marschall war die Wendung, die das Gespräch genommen hatte, eindeutig unangenehm; er senkte den Blick und tätschelte seinem Pferd linkisch den Hals.

„Alles was ich sage, ist, dass die Prinzessin eine hübsche, junge Frau ist,“ meinte Elfhelm langsam, „und Ihr seid ein Mann in den besten Jahren. Seid Ihr sicher, dass Euch nicht das... Herz... über den Verstand geht?“

Offenbar hatte der Marschall einen ganz anderen Teil seiner Anatomie im Sinn, aber er zögerte, ihm das auch zu sagen. Éomer spürte, wie der Ärger in ihm aufwallte. „Ja, ich bin sicher,“ sagte er kurz angebunden.

Sie setzten ihren Weg in unbehaglichem Schweigen fort; vor ihnen entdeckte Éomer die großen Holztore, die den Eingang zu den Häusern der Heilung bezeichneten. Lothíriel musste denen, die an ihr zweifelten, einfach ihren Wert beweisen, dachte er resigniert. Hoffentlich würde sie bald die Gelegenheit bekommen, das zu tun.

*****

Jemand schlug rhythmisch mit einem Hammer auf ihren Kopf ein. Lothíriel stöhnte und rollte sich auf den Rücken. Übelkeit durchströmte sie und sie hustete schwach.

„Hareth?“ flüsterte sie; ihre Kehle war rau.

Ihr begegnete nur Stille. Wo war sie? Die federnde Matratze unter ihr fühlte sich nicht an wie ihr eigenes Bett, und die Laken waren zwar glatt, rochen aber nicht wie die ihren. Langsam kamen die Erinnerungen wieder in ihren Geist zurück geflutet. Unterwegs in die Häuser der Heilung, die Wache, die versuchte, sie zu packen, ein verzweifelter Kampf. Lothíriel setzte sich mit einem Keuchen auf, mit dem Ergebnis, dass die Welt sich um sie drehte. Ihre Hände schienen dem Befehl, sie zu stützen, nicht gehorchen zu wollen. Ihre Hände... sie hob sie an ihr Gesicht, und ihr wurde klar, dass sie an den Gelenken zusammen gebunden waren.

Nein! Panik raste durch sie hindurch, und sie kämpfte gegen ihre Fesseln; sie zerrte und wand sich, bis die Seile grausam in ihre Handgelenke einschnitten. Doch gleichgültig, wie heftig sie es versuchte, sie wollten nicht nachgeben. Sinnlos! Schwindelig und erschöpft sank Lothíriel auf das Bett zurück. Dies konnte ihr doch nicht geschehen! Sie rollte sich zu einem engen Ball zusammen und sagte sich selbst, dass dies alles ein schlechter Traum war. Wenn sie einfach wieder einschlief, würde sie heil und sicher in ihrem eigenen Bett aufwachen.

Doch der Schmerz in ihren Händen, das dumpfe Pochen in ihrem Kopf und die Kälte, die langsam ihre Knochen durchdrang, erzählten eine andere Geschichte. Sie zwang ihren stoßweisen Atem, sich zu verlangsamen und versuchte, die sinnlose Furcht zu unterdrücken, die drohte, sie zu verschlingen. Später – sie würde später in Panik verfallen, wenn sie jede Menge Muße dazu hatte. Und eine Schulter zum Ausweinen – vorzugsweise die von Éomer.

Der Gedanke an Éomer gab ihr etwas, woran sie sich festhalten konnte. Er würde sie finden. Schließlich hatte er sie doch auch vor dem Warg gerettet, nicht wahr? Und in der Zwischenzeit würde sie ihr Bestes tun, herauszufinden, wo sie festgehalten wurde, und wer ihre Entführer waren. Fragen wirbelten ihr wild durch den Kopf. Wer hatte sie verschleppt, und warum? Waren sie auf ein Lösegeld von dem reichen Fürsten von Dol Amroth aus? Was würden sie ihr antun? Vermisste ihr Vater sie überhaupt schon?

Langsam vergingen die Minuten, und ihr Atem wurde ruhiger, während sie versuchte, sich zurecht zu finden. Abgestandene Luft, kalt und mit einem Geruch nach Erde, wie in einem Keller. Ein paar gedämpfte Geräusche, die aus weiter Entfernung kamen: leise Schritte und ein Mann, der irgendwo unter Schmerzen aufschrie, die Worte unhörbar. Wieder setzt sie sich auf und untersuchte den Rand der Matratze, so gut sie es mit ihren vor sich gefesselten Händen vermochte. Ein hölzernes Kopfende begegnete ihren forschenden Fingern, und dahinter eine Mauer, rau und kalt. Dann glitt sie von dem Bett herunter, lehnte sich einen Moment an die Wand und kämpfte gegen das Schwindelgefühl an. Dies war nicht der Moment, der Schwäche nachzugeben! Irgendwann musste sie ihre Schuhe verloren haben, denn unter ihren bloßen Fußsohlen lag ein glatter Steinboden.

Vorsichtig spürte Lothíriel dem Grundriss ihres Zimmers nach. Ein paar Schritte brachten sie zu einer Ecke, und während sie der Wand folgte, die sich daran anschloss, stieß sie mit den Beinen gegen irgend etwas und warf es um. Eine rasche Untersuchung ergab, dass es sich um einen leichten Stuhl aus Holz handelte, danach ertastete sie einen niedrigen Tisch. Behutsam ließ sie die Hände über die Tischplatte gleiten und berührte etwas Kaltes, Festes. Eine weitere Untersuchung offenbarte, dass es sich bei ihrem Fundstück um einen Becher handelte, der mit irgendeiner Flüssigkeit gefüllt war. Eifrig zog Lothíriel ihn zu sich hin und kniete sich dann neben den Tisch; sie fürchtete sich, den Inhalt zu verschütten, wenn sie versuchte, den Becher an ihre Lippen zu heben. Wasser! Sie nahm tiefe, gierige Züge, doch dann hielt sie plötzlich inne. Wie lange würde es reichen müssen? Ein zweiter, unwillkommener Gedanke ging ihr durch den Kopf. Was, wenn es irgend eine Art Droge enthielt?

Obwohl ihre misshandelte Kehle nach mehr schrie, ließ sie den Becher stehen und setzte ihre Forschungsreise fort. Da musste doch sicher irgendwo eine Tür sein? Sehr bald erreichte sie eine weitere Ecke und fand dann, wonach sie gesucht hatte, an der Wand gegenüber vom Bett. Lothíriel zog den Türrahmen nach und griff nach der Klinke; einen Moment zögerte sie, ehe sie sie herunter drückte. Sie hatte Angst, ihre Hoffnungen zu zerstören.

Abgeschlossen. Obwohl sie es erwartet hatte, spürte Lothíriel, wie eine Welle der Verzweiflung sie überschwemmte. Sie lehnte sich gegen die Tür und ein Schluchzen stieg in ihrer Kehle auf. Sie wollte nach Hause gehen. Sie wollte den Sonnenschein auf ihrem Gesicht fühlen. Sie wollte, dass Éomer sie festhielt.

„Hilf mir!“ flüsterte sie.

Die Knie gaben unter ihr nach; sie sank auf den kalten Steinboden und vergrub das Gesicht in ihren zitternden Händen. Wie konnte ihr das passieren? Wo waren ihr Vater und ihre Brüder, wenn sie sie brauchte – wo war Éomer?

„Ich brauche dich!“ schrie sie und hielt dann inne. Sie hatte Angst, die falsche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Wieso ich? Sie presste die Augenlider fest zusammen, um die Tränen aufzuhalten. Lothíriel versetzte sich innerlich einen Stoß. Der Mutlosigkeit nachzugeben, würde ihr keinerlei Dienst erweisen. Langsam stand sie auf und fuhr mit der Untersuchung ihrer Zelle fort, aber mehr ergab sich nicht, und viel zu schnell hatte sie das Bett wieder erreicht. Die Tatsache, dass es das wichtigste Möbelstück im Raum zu sein schien, gefiel ihr nicht; die Laken waren glatt und kühl. Wenn sie darauf saß, kamen ihre Füße wenigstens nicht mit dem kalten Fußboden in Berührung. Dann begegneten ihre Hände einem Haufen aus weichem Material. Als sie ihn an ihr Gesicht hob, bestätigte sich ihre Ahnung. Der Geruch nach Pferd, Leder, Sonnenschein – sein Geruch. So rasch, wie sie es mit ihren gebundenen Handgelenken fertig brachte, wickelte sie sich in Éomers Umhang; es fühlte sich beinahe so an, als würde er die Arme um sie legen. Etwas Wärme kehrte zurück, und sie hörte auf zu zittern. Er würde sie nicht im Stich lassen. Vielleicht durchkämmten in genau diesem Moment schon Suchmannschaften die Häuser von Minas Tirith nach ihren Entführern.

Plötzlich machten ihre Ohren den schwachen Klang von Schritten aus. Nicht sicher, ob sie wollte, dass sie näherkamen oder vorüber gingen, lauschte Lothíriel beklommen, während sie lauter wurden.Ein Schlüssel drehte sich im Schloss. Sie stand auf und blickte zur Tür, dann straffte sie den Rücken und hob das Kinn. Die Tochter einer langen Reihe von Kriegern, war sie entschlossen, allem mit Mut und Tapferkeit zu begegnen, was das Schicksal für sie bereit hielt.

Mit einem gequälten Knarren öffnete sich die Tür.


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