Euch zu Diensten
von Lialathuveril, übersetzt von Cúthalion


Kapitel Achtzehn
Diplomatie

Die wahre Dame wird der Welt allezeit eine liebenswürdige und angenehme Haltung zeigen. Zu keiner Zeit wird sie es irgend einem Anzeichen des inneren Aufruhrs gestatten, ihr anmutiges Betragen zu verderben, noch wird sie jemals ihre Stimme höher erheben, als man es in einer gesitteten Gesellschaft für passend erachtet.
(Belecthor: Einführung in das angemessene Betragen für junge Damen in Gondor)

Éomer starrte auf Lothíriel hinunter; er fühlte sich, als hätte man ihm einen Schlag in die Eingeweide versetzt. In der Entfernung bellten noch immer laut die Hunde, und die Zweige des Apfelbaumes bewegten sich über ihm in der leichten Brise und betupften sein Gesicht mit Schatten. Nicht länger strahlend vor Freude, sondern angespannt und zornig. Seine Schuld.

„Ihr sprecht über das, was bei den Feuerbooten geschehen ist.“

„Ja, offensichtlich,“ sagte sie knapp.

Er hob eine Hand und ließ sie wieder fallen. Einmal mehr hatten seine unbesonnenen Regungen ihn in Schwierigkeiten gebracht. „Ich weiß, ich habe mich hinreißen lassen.“ Und doch hatte sie nichts dagegen einzuwenden gehabt, da war er sich sicher.

„Hinreißen lassen? Ihr berührt mich auf diese Weise, und dann geht Ihr hin und...“ Ihre Stimme brach, und zu seinem Entsetzen sah er Tränen in ihren Augen.

Er machte einen Schritt auf sie zu. „Lothíriel, bitte. Es tut mir Leid! Ich wollte Euch nie unglücklich machen.“

„Nun, Ihr habt es getan.“

Éomer fühlte sich sogar noch schlechter. Hätte einer seiner Reiter einer unwilligen Frau seine Aufmerksamkeiten aufgezwungen, er würde ihn überaus schwer bestraft haben. Dass sie ihn beschuldigte, sie ausgenutzt zu haben und sie so verzweifelt zu sehen, schmerzte ihn tief. Und doch konnte er gleichzeitig nicht glauben, dass er sie so vollständig missverstanden hatte. Vielleicht hatte er sie dadurch überwältigt, dass er zu schnell zu viel verlangte? Sie war immerhin noch so jung und unerfahren.

„Ihr habt Recht,“ sagte er. „Ich verdiene einigen Tadel für das, was ich getan habe.“

Zögernd nahm er erneut ihre Hand. Sie blieb steif und unnachgiebig, aber wenigstens zog sie sie dieses Mal nicht zurück. „Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist – ich habe einfach gehandelt, ohne zu denken. Werdet Ihr mir glauben, wenn ich sage, dass ich niemals die Absicht hatte, dass dies geschieht?“

Lothíriel wandte den Kopf ab und nickte wortlos.

Er hielt ihre Hand ein wenig fester. „Es tut mir so Leid. Werdet Ihr mir vergeben?“

Sie seufzte und schien ein wenig weicher zu werden. „Ich weiß, Ihr würdet mich nicht absichtlich verletzen. Vater hat mir erklärt, dass die Sitten in Rohan anders sind.“

In seinem Herzen wusste er, dass die Sitten sich in dieser Hinsicht keineswegs unterschieden, aber er ergriff eifrig die Entschuldigung, die sie ihm anbot. „Vielleicht sind sie das. Ich bedauere es zutiefst, falls mein Handeln Euch gekränkt hat.“

Lothíriel zuckte ganz leicht die Achseln. „Wir wollen es einfach vergessen.“

Éomer sah seinen Weg endlich wieder klar vor sich. Wie ein Fohlen, das durch ungeschickten Umgang scheu gemacht worden war, hatte sie es nötig, dass ihr Vertrauen wieder hergestellt wurde. Er würde von nun an einfach sehr behutsam vorgehen und sich darum bemühen müssen, sie nicht wieder zu erschrecken.

„Können wir nicht Freunde sein?“ fragte er.

Ein kleines Nicken. „Ja, natürlich, Ich weiß Eure Freundschaft sehr zu schätzen.“

Éomer betrachtete sie und verfluchte sich selbst als Unhold. Diese junge Frau mit ihrem ernsten Gesicht hatte keine Ähnlichkeit mit dem Mädchen, das ihn am Tag zuvor auf dem Jahrmarkt mit einem mutwilligen Grinsen geneckt hatte. Erst jetzt wurde ihm klar, was für ein Geschenk ihr Lächeln am vergangenen Abend gewesen war, und wie sehr er sich ein weiteres wünschte.

„Bitte schaut nicht so unglückselig drein!“ rief er impulsiv und berührte sie leicht an der Wange. „Ich weiß, ich habe die Grenze überschritten, aber ich habe es nicht böse gemeint. Vielleicht können wir beizeiten einen neuen Anfang machen.“

Sie erbebte unter seiner Liebkosung. „Was meint Ihr damit?“

Das Gefühl ihrer weichen Haut erwies sich als berauschend. Er wusste, dass er in der Tat eine dünne Linie überschritt, doch er konnte nicht widerstehen und ließ seine Finger zu ihrem Nacken hinunter wandern. Wie es ihm gefallen hätte, ihren schweren Zopf zu lösen!

„Ich weiß, ich sollte Euch das hier und jetzt nicht fragen, aber ich kann einfach nicht anders,“ flüsterte er. „Ihr und ich?“ Verlangen durchflutete ihn. Diese Lippen...

„Ihr seid der König von Rohan. Was würden die Leute sagen...“ Sie schluckte noch mehr Tränen hinunter. „Nein, es kann kein ,Ihr und ich' geben.“

Und doch spürte er, wie sie sich ihm entgegen neigte, und für einen Moment kam es ihm so vor, als könnte er ein Echo seiner eigenen Sehnsucht in ihrer gesenkten Stimme hören.

„Lothíriel...“ Er wählte seine Worte sehr sorgfältig. „Ich mag ein König sein, doch bin ich auch ein Mann. Und da ist doch sicher nichts Beschämendes an Gefühlen zwischen einem Mann und einer Frau? Es ist die natürlichste Sache der Welt.“

Sie schlug seine Hand weg, als würde die sie verbrennen. „Ihr wagt es!“

„Lothíriel?”

Sie schnitt ihm auf der Stelle das Wort ab. „Es kümmert mich nicht, wie die Sitten sich in Rohan unterscheiden, aber diese Art ehrloses und verachtenswertes Betragen ist hierzulande nicht akzeptabel. Dafür, mir nach dem, was Ihr gestern Abend getan habt, so etwas vorzuschlagen, verdient Ihr eine Tracht Prügel!“

Er blinzelte. Ehrloses und verachtenswertes Betragen? Das war doch ganz sicher eine Überreaktion. Wieso auch, er hatte sie nicht einmal geküsst! Ein Funken Zorn regte sich in ihm.

„Ihr könnt mir nicht erzählen, dass es Euch ganz und gar missfallen hat,“ sagte er, ohne nachzudenken. „Ich habe es gespürt, Ihr habt meine Annäherung erwidert.“

Sie packte ihren Gehstock fester, als wollte sie ihn damit schlagen; nun sah sie nicht länger jung und verletzlich aus, sondern geradezu bedrohlich. Plötzlich fühlte er sich daran erinnert, wie sie dem Warg entgegen getreten war.

„Ich kann nicht glauben, dass Ihr es wagt, das zu sagen. Ihr seid ein abscheulicher Schuft!“

Amrothos kam in ihre Richtung gerannt, sein Gesicht grimmig angesichts der offensichtlichen Bedrängnis seiner Schwester. „Was denkt Ihr eigentlich, was Ihr tut?!“ bellte er Éomer an und zog Lothíriel in seine Arme.

Sie stieß ihn von sich, noch immer glühend vor Zorn. „Oh, lass mich in Ruhe, Amrothos! Ich brauche deine Hilfe nicht, um mit diesem Abschaum fertig zu werden.“ Sie fuhr zu Éomer herum. „Wagt es nicht, noch einmal in meine Nähe zu kommen! König von Rohan oder nicht, ich werde Euch höchstpersönlich mit einem Schwert aufspießen. Ich gehe jetzt nach Hause.“

Mit einem wütenden Rauschen ihrer Reitröcke drehte sie sich auf dem Absatz um und eilte mit langen Schritten davon. Amrothos starrte ihn ein letztes Mal finster an und hastete hinter ihr her. In der Entfernung hatte das Gebell der Hunde einen neuen, fiebrigen Höhepunkt erreicht.

Éomer blieb zurück, um über seine vollkommene Dummheit nachzugrübeln. Was war nur in ihn gefahren, dass er diese fatalen Worte von sich gegeben hatte? Es schien, als könnte er die Prinzessin von Dol Amroth nicht anrühren, ohne irgendeine neuerliche Narretei zu begehen. Mit einem Fluch rammte er die Faust gegen den Stamm des unschuldigen Apfelbaumes und brachte ihn zum Erzittern. Dann rieb er sich die schmerzenden Knöchel und fluchte noch mehr. Langsam ging er zu seinen Wachen zurück, wo er nichts als anklagende Blicke vorfand, nachdem er seinen Gefühlen dergestalt Luft gemacht hatte.

„Was ist denn!“ raunzte er.

Vermutlich waren seine Reiter unwillig, sein legendäres Temperament herauszufordern und senkten die Blicke, aber er konnte ihr Unbehagen in der angespannten Stille fühlen, während sie zum Vorhof zurückkehrten. Sogar Éothain sah aus, als sei er über das Betragen seines Königs verstört.

Während sie um die Hausecke bogen, brachte ein plötzlicher Lärm Éomer dazu, hoch zu schauen. Es klang wie Hunderte von Flügelschlägen, und vor seinen erstaunten Augen erhob sich von der Rückseite der Ställe her ein riesiger Vogelschwarm in die Luft. Er konnte schwach das aufgeregte Kreischen der Falken von jenseits des Vorhofes hören.

„Meine Tauben!“ jammerte jemand, und Éomers Aufmerksamkeit kehrte jäh zum Haus zurück.

Girions Gesicht trug einen Ausdruck empörten Unglaubens, während er dastand und zuschaute, wie die Vögel sich langsam auf den waldigen Hügeln rings um sie her verteilten. Dann kam ein Mann, der das Grün und Braun der Jäger trug, in den Vorhof gerannt und bahnte sich einen Weg durch die Menge auf die Stufen des Hauses zu.

„Mein Herr!“ schrie er. „Sie sind alle weg!“

„Das sehe ich selbst!“ bellte Girion.

Der Mann blickte einen Moment verwirrt drein, dann folgte er dem Blick seines Herrn. „Oh, die Waldtauben auch noch!“

Die Menge war bei seinen Worten still geworden. Girion starrte auf seinen Mann hinunter. „Auch noch?“

Der Jäger machte eine hilflose Geste. „Irgendjemand hat die Türen aller Käfige geöffnet.“

„Sagst du mir, dass alle meine Vögel weg sind? Die Rebhühner und Wachteln? Die Fasane? Meine Enten?“

Der Mann nickte unglücklich.

Girion wurde rot im Gesicht. „Und wo warst du, während all dies passiert ist?“

Der arme Kerl zuckte zusammen. „Die Hunde!“ stammelte er. „Jemand hat ihnen Würste und Fleisch zugeworfen, und sie wurden so aufgeregt, dass sie anfingen, aufeinander los zu gehen. Wir brauchten alle Männer, um sie zu trennen, und da – so glauben wir – muss es passiert sein.“

Geschrei erhob sich hinter den Ställen, und dann tauchte eine Gruppe von Girions Leuten auf, die etwas zwischen sich her zerrten. Während sie sich ihren Weg durch die Menge bahnten, begriff Éomer, dass sie zwei Knaben gepackt hielten. Eben, als sie an der Stelle vorbei kamen, wo er stand, blickte einer der beiden auf, das Gesicht weiß, und mit jähem Schrecken erkannte Éomer Alphros. Er trat rasch vor. Was hatte Lothíriels Neffe angestellt?

„Hol Fürst Imrahil her,“ befahl er einem seiner Männer, dann drängte er sich durch die Menschenmenge, bis er die Stufen zum Haus erreicht hatte. Sobald er einen guten Ausblick hatte, schaute er zu der Gruppe aus Dol Amroth hinüber. Sie waren bereits aufgesessen, doch sein Reiter war bei ihnen angekommen; er stand da und redete mit dem Fürsten, die Hand an dessen Steigbügel. Während er noch zusah, stieg Imrahil hastig ab und kam zu ihnen herüber, den Rest der Familie auf den Fersen.

Herr Girion stand da und starrte auf die beiden zerzaust aussehenden Jungen hinab, die seine Männer ihm vor den Füßen abgestellt hatten. „Was hat das zu bedeuten?“

„Wir haben sie erwischt, mein Herr!“ sagte einer der Männer. Er hielt einen kleinen Käfig hoch, in dem zwei Waldtauben hockten. „Sie waren gerade dabei, die beiden hier frei zu lassen.“

Nun war Imrahil bei ihnen. „Alphros! Was ist geschehen?“

Girion wandte sich ihm zu. „Ihr kennt die beiden?“

Elphir trat vor, sein Gesicht ein grollendes Ungewitter. „Mein Sohn. Ihr werdet mir erklären, wieso Ihr ihn derart behandelt.“

Die Wachen ließen Alphros hastig los, und er rannte mit einem Aufschluchzen in die Arme seines Vaters. Elphir drückte ihn an sich und bedachte die Männer, die auf den Stufen standen, mit einem grimmigen Blick. Sie zuckten zurück, aber der, der den Käfig in der Hand hatte, hielt die Stellung.

„Wir haben sie dabei erwischt, wie sie die Vögel freigelassen haben,“ wiederholte er.

„Unfug!“ schnappte Elphir. „Mein Sohn würde so etwas niemals tun.“

Lothíriel stand hinter ihm und Éomer fragte sich, ob sie in den Streich ihres Neffen verwickelt war. Doch die Verblüffung auf ihrem Gesicht erzählte eine andere Geschichte.

Hinter ihr ragte eine von Fürst Imrahils Wachen in die Höhe, und nun blickte der andere Junge auf, Schuld groß und breit über das Gesicht geschrieben. „Tut mir Leid, Vater,“ flüsterte er. Dann hob er Herrn Girion das Gesicht entgegen. „Aber wir mussten es tun.“

„Minardil!“ sagte Imrahils Wache warnend.

Der Junge schüttelte den Kopf. „Es ist nicht gerecht! Die armen Dinger waren alle zusammen gepfercht, damit man sie abschlachten konnte. Sie hätten keine Chance gehabt!“

Elphir nahm seinen Sohn bei den Schultern. „Ist das wahr?“ fragte er. „Ihr habt Herrn Girions Vögel frei gelassen?“

Alphros nickte elend, und Girions Gesicht verdunkelte sich. Éomer erinnerte sich daran, dass er ein wohlbekanntes Temperament besaß, obwohl sich seine Wut üblicherweise gegen Orks richtete. „Das ist eine Schandtat!“ bellte Girion. „Ich will, dass sie bestraft werden!“

Imrahils Wache trat vor. „Das werden sie.“ Elphir blickte ebenfalls nicht gerade erfreut drein.

Die ganze Zeit über hatte Lothíriel neben ihrem jüngsten Bruder gestanden und flüsternd um Erklärungen gebeten. Nun schloss sie sich der Gruppe auf den Stufen an.

„Darf ich diesen Käfig haben?“ fragte sie Girions Mann.

Überrascht, aber an Gehorsam gewöhnt, reichte der Mann ihn herüber.

„Sind das hier die letzten Vögel?“

Éomer hatte eine plötzliche Vorahnung, was als nächstes passieren würde. In ihrem Gesicht erkannte er die vollkommene Stille, die sich herab senkte, bevor die ersten Windstöße eines Sturms mit Gewalt losbrachen. Doch ihm wollte nichts einfallen, was er tun konnte, um es zu verhindern.

Der Jäger nickte. „Ja, meine Herrin.“

Ohne Hast suchte sie nach dem Türchen, löste den Haken und öffnete es. Die beiden Bewohner flatterten hinaus und stiegen auf in den Himmel.

„Lothíriel!“ sagte Imrahil in ersticktem Tonfall.

Girion verfärbte sich, bis er aussah wie ein Stück Rote Beete. „Was tut Ihr da!“

Sie gab in aller Ruhe den Käfig zurück. „Ich entlasse sie nur in die Freiheit, wo sie hingehören.“

„Meine Männer haben drei Wochen damit zugebracht, diese Vögel zu fangen, damit die Damen sie jagen können!“

„Dann sollten sie sich schämen.“

„Lothíriel,“ mischte Imrahil sich ein. „Du wirst dich erklären müssen.“

Sie hob das Kinn, und Éomer dachte, dass sie großartig aussah in ihrem Zorn. „Es war meine Idee. Ich habe Alphros und Minardil gesagt, dass sie die armen Vögel freilassen sollen.“

Ihr Neffe blickte zu ihr auf, die Überraschung in seinem Gesicht rasch durch Hoffnung ersetzt. Der andere Junge klappte den Mund zu und senkte den Blick. Girion war für den Moment angesichts ihrer Worte sprachlos, und wie ein Meisterfechter nutzte Lothíriel die Möglichkeit, den nächsten Treffer zu landen.

„Ihr solltet Euch selbst schämen,“ sagte sie rundheraus zu ihm, „arme, wehrlose Geschöpfe einzufangen, mit dem ausdrücklichen Ziel, dass sie nur zu Euer Unterhaltung getötet werden.“ Der Anblick der schlanken Frau, die einem Gegner die Stirn bot, der doppelt so breit war wie sie, war beinahe komisch.

„Das genügt!“ protestierte Imrahil. „Lothíriel, du wirst dich bei Herrn Girion dafür entschuldigen, dass du ihm die Jagd verdorben hast.“

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und schnüffelte verächtlich. „Ein schöner Jäger!“ Éomer zuckte zusammen. Taktgefühl war nicht ihre stärkste Gabe. Sie wusste allerdings, wie man den Nagel auf den Kopf traf. In der Menge unterdrückte jemand ein Lachen.

Girion sah aus, als würde ihn jeden Moment der Schlag treffen. Aragorn legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Ich denke, das reicht jetzt,“ sagte er mit ruhiger Autorität.

Scheinbar erkannte Lothíriel die Stimme ihres Lehnsherrn; sie senkte die Arme, und ihre Haltung war nicht mehr ganz so kriegerisch. Éomer dachte, es sei Zeit für einen Versuch, Öl auf die Wellen zu gießen.

„Girion, mein Freund,“ sagte er. „Dies ist ein bedauerlicher Vorfall, aber ich bin sicher, wir können Eure Jagd noch immer genießen. Ich glaube, meine Schwester hätte es ebenfalls vorgezogen, dass die Vögel frei gelassen werden.“

In der Hoffnung auf ihre Unterstützung durchsuchte er die Menge nach Éowyn; erst jetzt bemerkte er ihre und Faramirs Abwesenheit. „Wie auch immer,“ fuhr er fort, „die Rohirrim ziehen es vor, in der Wildnis zu jagen. Es ist eine größere Herausforderung.“

Bei diesen Worten wirkte Girion leicht besänftigt; seine Gesichtsfarbe war wieder normal. Doch ehe er noch antworten konnte, wandte sich Lothíriel an Éomer, die Stimme leise und gefährlich.

„Und als Jäger liebt Ihr eine Herausforderung, nicht wahr?“

Éomer starrte sie an. Konnte sie nicht sehen, dass er versuchte, ihr zu helfen?

Sie ballte die Hände zu Fäusten. „Ihr liebt es, mit unschuldigen Geschöpfen zu spielen. Nun, nehmt Euch in Acht, denn manche dieser Geschöpfe, die Ihr da jagt, sind nicht so hilflos, wie Ihr glaubt; manche beißen zurück.“

Ihr Zorn war beinahe spürbar, und doch schien es Éomer, dass ein Unterton von Verletztheit und Verzweiflung darin mitschwang. „Lothíriel, bitte...“ Er wollte die Hand ausstrecken und diesen unglücklichen Ausdruck aus ihrem Gesicht wischen.

„Rührt mich nicht an!“ fuhr sie ihn an, als könnte sie seine Gedanken lesen. „Ihr seid abstoßend!“

Éomer spürte, wie sich sein eigenes Temperament regte. Ein rascher Blick zeigte, dass Imrahils Gesicht sich vor Entrüstung verfinsterte, während Elphir den Knauf seines Schwertes packte. Sie hatte kein Recht dazu, ihn vor dem ganzen Hof von Gondor als Schurken hinzustellen!

„Meine Prinzessin, ich denke, das genügt,“ sagte er und ließ zu, dass etwas von seinem Zorn in seiner Stimme zu hören war.

Das beeindruckte sie nicht im Geringsten. „Ihr, mein König, habt die Manieren eines Orks,“ teilte sie ihm mit, und für den Augenblick fehlten ihm die Worte.

Lothíriel versank in einem makellosen Hofknicks in Aragorns Richtung. „Ich gehe jetzt, König Elessar... bitte habt die Freundlichkeit, mich zu entschuldigen und Königin Arwen mein Bedauern auszudrücken. Amrothos, deinen Arm!“

Ihr Bruder sprang ihr zur Seite, und sie rauschte - die beiden Jungen dicht hinter sich - durch die Menge, die ihr wundersamerweise Platz machte. Nach einem raschen Wort der Entschuldigung zu Girion und ihrem König, folgten Imrahil und Elphir, doch nicht, ohne ihm noch einen weiteren, drohenden Blick zuzuwerfen.

Éomer wurde plötzlich bewusst, dass ihn Hunderte von Augenpaaren mit verschiedenen Abstufungen des Tadels und der Verdammnis beobachteten. Sie hätte keinen besseren Ort wählen können, um ihn öffentlich zu demütigen. Was ihn noch viel mehr verärgerte, war die Tatsache, dass sein Herz noch immer darauf beharrte, Entschuldigungen für sie zu suchen.

Aragorn räusperte sich. „Vielleicht sollten wir mit der Jagd fortfahren?“ schlug er vor.

Girion stimmte dankbar zu, und als wäre sie von einem Bann befreit, begann die Menge wieder zu reden. Zweifellos spekulierte man darüber, was zwischen dem König von Rohan und der Prinzessin von Dol Amroth vorgefallen war.

Er ging, um Feuerfuß zu holen und ignorierte geflissentlich die Grüppchen von Höflingen, die miteinander schwatzten und verstummten, wenn er sich näherte. Einige von ihnen wandten ihm auffällig den Rücken zu, während andere ihn herausfordernd anstarrten. Wusste Lothíriel, dass sie seinem Ruf in fünf Minuten mehr Schaden zugefügt hatte, als es Gríma Schlangenzunge während all seiner Jahre in Edoras gelungen war? Nun, sollten sie doch reden. Was schwerer wog, waren die unglücklichen Blicke seiner Reiter. Was dachten sie wohl, was er Lothíriel gesagt und angetan hatte, dass sie auf diese Weise reagierte?

„König Éomer,“ wurde er in diesem Moment von einer weiblichen Stimme gegrüßt.

Er blieb zögernd stehen und wandte sich der Sprecherin zu. „Herrin Wilwarin.“

Sie streckte eine Hand aus, die von einem langem weißen Handschuh bedeckt wurde und berührte ihn am Arm. „Was für ein unglücklicher Zwischenfall das doch war.“

Unglücklicher Zwischenfall? Sicher wäre vollständige Katastrophe eine bessere Beschreibung gewesen. Éomer unterdrückte die scharfe Erwiderung, die er auf der Zunge hatte. „Ja, ziemlich unglücklich,“ sagte er zustimmend.

Er hatte für diesen Morgen genug von weiblicher Gesellschaft und wäre weiter gegangen, doch sie hielt ihn mit einer sanften Geste auf.

„Die liebe Lothíriel war immer schon so schrecklich halsstarrig,“ sagte die Herrin Wilwarin. „Ich fürchte, ihr Vater hat sie ziemlich verwöhnt, doch das ist ja verständlich, nicht wahr? Sie ist noch so jung, kaum mehr als ein Kind.“

Keine Tatsache, an die Éomer sich gern erinnern ließ. „Ganz recht,“ erwiderte er scharf. Dann sagte er sich, dass er seine schlechte Laune nicht an einer unschuldigen Zuschauerin auslassen durfte. Sie konnte schließlich nichts für die Patsche, in der er gelandet war.

„Ihr werdet mich entschuldigen müssen,“ sagte er zu ihr. „Ich glaube, König Elessar erwartet mich.“

„Natürlich. Ich hoffe nur, das hat Euch nicht ganz und gar für die Weiblichkeit von Gondor verdorben.“ Sie begleitete diese letzte Feststellung mit einem beziehungsvollen Blick durch lange Wimpern und lächelte ihn an.

Éomer spürte, dass die Grenze dessen, was er ertragen konnte, erreicht war. „Nein“, erwiderte er, „Es hat mich für die gesamte Weiblichkeit verdorben.“

Ihr Lächeln geriet ins Schwanken, und mit einem kurzen Nicken setzte er seinen Weg zu den Pferden fort. Er freute sich auf etwas vierbeinige Gesellschaft. Feuerfuß konnte schwierig und temperamentvoll sein, doch Éomer wusste damit umzugehen. Und selbst bei seinen schlimmsten Launen war das Verhalten des Hengstes direkt und verständlich, nicht unvorhersehbar und geradezu widersprüchlich.

Nun, wenn er Glück hatte, würden sie einem weiteren Warg über den Weg laufen. Oder noch besser, einer großen Bande Orks. Begleitet von einigen Mûmakil. Und einem Nazgûl. Alles, woran er ungestraft seine Wut auslassen konnte, hörte sich in diesem Moment ausgesprochen reizvoll an.


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