Euch zu Diensten
von Lialathuveril, übersetzt von Cúthalion


Kapitel Elf
Rettung 

Von Ar-Pharazôn dem Goldenen wurde gesagt, dass er einen Irrgarten bauen ließ, um seine Schätze zu behüten. Darin lebte eine furchterregende Bestie, ein halber Stier, und niemand, der den Garten betrat, entkam jemals wieder seinen Mauern.
(Telemnar: Alte Erzählungen aus Númenor)

Éomer fing an, sich über sich selbst zu ärgern. Er war fast vollständig im Kreis gegangen, und noch immer konnte er weder ein Anzeichen von Lothíriel noch von der Gruppe junger Edelmänner ausmachen, die er zuvor beobachtet hatte. Zweifellos hatte sich die Prinzessin schon vor einiger Zeit zurück gezogen, und er machte sich dadurch, dass er in den Gärten der Veste nach ihr suchte, vollständig zum Narren.

Vor sich konnte er bereits die Steinmauer sehen, die den alten, ungenutzten Irrgarten mit dem Hügel in der Mitte einschloss. Dicht von Efeu und Geißblatt überwachsen, markierte er das Ende des öffentlichen Gartens. Drauf und dran, zurück zu gehen, blickte er sich noch einmal um. Dann hörte er es: gedämpftes Gelächter.

Éomer nahm die Treppe von der Mauer hinunter jeweils zwei Stufen auf einmal und folgte den schwachen Geräuschen des Vergnügens. Er besaß die scharfe Nachtsichtigkeit der Rohirrim, doch die Mauer zu seiner Rechten schirmte den größten Teil des Mondlichtes ab, und er fluchte, als er in seiner Hast stolperte. Das Gelächter wurde lauter, und plötzlich konnte er eine Lücke in der Vegetation ausmachen, eine Tür, die in die Mauer eingesetzt war. In diesem Augenblick schwang sie auf und eine Gruppe junger Männer ergoss sich nach draußen und purzelte ihm beinahe vor die Füße. Sie keuchten und bebten vor Lachen, was durch ihre Trunkenheit eindeutig noch verschlimmert wurde. Ihre Kleidung war vom Wasser feucht.

Er trat einen drohenden Schritt vorwärts. „Was tut Ihr hier?“

Einer der jungen Männer blickte zu ihm hoch, blinzelte verwirrt und kam dann stolpernd auf die Beine, als er ihn erkannte. „König Éomer! Wir haben bloß Spaß gehabt.“

Éomer riss der Geduldsfaden. „Spaß? Was für eine Art Spaß?“

Der junge Mann deutete hinter sich auf die Tür. „Wir wollten nur einen Blick auf den alten Irrgarten werfen.“

Éomer wusste, dass dieser Teil des Gartens unter Denethor vernachlässigt worden und jetzt verschlossen war, bis er in Ordnung gebracht werden konnte. „Wie seid ihr hinein gelangt?“

Die Edelleute wechselten schuldbewusste Blicke. Éomers Gegenwart schien eine ernüchternde Wirkung auf sie zu haben. „Wir haben die Tür aufgebrochen,“ gestand endlich einer von ihnen.

„Verirrt haben wir uns da drin auch noch,“ sagte ein anderer und kämpfte mit einem Schluckauf.

„Zum Glück hat sie uns gesagt, wie man hinaus kommt,“ fügte sein Freund hinzu.

Éomer stürzte sich auf diese letzte Aussage. „Sie? Wer ist sie?“

Angesichts des Ausdruckes auf seinem Gesicht rückten sie enger zusammen. „Die Prinzessin...“

„Ich wusste es!“ rief Éomer aus. „Was habt Ihr ihr angetan? Das wird Euch noch Leid tun!“

Sie erbleichten und versuchten, alle gleichzeitig zu reden.

„Wirklich, mein König, wir haben gar nichts getan!“

„Im Gegenteil, sie hat uns geholfen!"

„Wir haben uns verirrt, und es ist da drinnen so dunkel!“

Éomer holte tief Luft; er fühlte sich versucht, einfach einen von ihnen am Kragen zu nehmen und etwas Vernunft in ihn hinein zu schütteln. Statt dessen fasste er den einen, der so etwas wie ihr Anführer zu sein schien, streng ins Auge. „Du dort. Was genau ist hier geschehen?“

Einer der anderen suchte sich diesen Moment aus, um hastig hinter einigen Büschen zu verschwinden. Dann waren würgende Geräusche zu vernehmen. Éomer verdrehte die Augen. War er jemals so jung gewesen?

„Es war so, mein König,“ begann der junge Mann, den er ausgesondert hatte. „Wir hatten bloß die Absicht, ein kleines Stück in den Irrgarten hinein zu gehen, um ihn uns anzuschauen. Aber dann hat sich Tarlang da drüben,“ er deutete auf die Büsche, „durch irgend ein Geräusch erschreckt und rannte davon. Bis wir ihn wieder eingeholt hatten, hatten wir uns verirrt.“

Vermutlich eine Wette, dachte Éomer. „Aber wie ist Prinzessin Lothíriel da hinein geraten?“

Sie wollten seinem Blick nicht so recht begegnen. „Sie hat uns rufen hören,“ gab ihr Anführer endlich zu.

„Rufen?“

„Wir hatten uns verirrt. Wir dachten, wenn wir um Hilfe rufen würden, dann käme vielleicht jemand, um uns zu retten.“

Wenn er sich nicht solche Sorgen um Lothíriel gemacht hätte, dann hätte Éomer laut über ihre verlegenen Gesichter gelacht. „Sie hat euch gefunden?“

Der junge Mann trat von einem Fuß auf den anderen. „Nun, wie es aussah, waren wir nur etwa drei Biegungen von Ausgang entfernt. Wir haben es in dem Moment bloß nicht bemerkt.“

Éomer schüttelte den Kopf. Zu panisch oder zu bezecht, um den Weg aus einem einfachen Irrgarten heraus zu finden! Aber es gab dringendere Dinge, um die er sich kümmern musste. „Wo ist die Prinzessin jetzt?“ fragte er.

Der junge Mann deutete vage auf die Tür hinter sich. „Sie sagte, sie wollte sich umschauen.“

„Sie ist immer noch da drin?“ Éomer spürte, wie ihn ein neuer Schrecken durchfuhr. „Erzählt Ihr mir gerade, ihr habt eine blinde Frau nachts allein an diesem Ort gelassen?“

„Aber sie kannte den Weg!“ protestierte einer von ihnen. „Sie hat uns gesagt, wir sollen voraus gehen!“

Der Anführer schien der Nüchternste von ihnen zu sein. „Es tut mir Leid, mein König. Das hätten wir nicht tun sollen. Ich vermute, wir waren einfach so froh, hinaus zu kommen...“ Seine Stimme erstarb unter Éomers finsterem Blick.

„Wir könnten zurück gehen und nach ihr suchen,“ schlug einer der anderen vor.

Éomer schloss einen Moment die Augen. Ganz, was er nötig hatte: eine Gruppe betrunkener Edelleute, die durch den Irrgarten zockelten, sich zweifellos beinahe auf der Stelle verliefen und um Hilfe brüllten.

„Ich gehe selbst hinein,“ entschied er und machte eine scheuchende Geste. „Sammelt euren Freund ein und schaut, dass ihr von hier verschwindet.“

Sie gehorchten mit wenig schmeichelhaftem Eifer und zerrten ihren halb ohnmächtigen Kumpanen mit sich davon. Mit einem verärgerten Seufzer wandte sich Éomer in Richtung Tür. Er hatte den Irrgarten von der Mauer aus gesehen und hielt ihn nicht für allzu groß. Es sollte sich nicht als übermäßig schwierig herausstellen, die Prinzessin da drinnen zu finden, und wenn er sie fand, hatte er die Absicht, ihr die Meinung zu sagen. Was hatte sie sich dabei gedacht, da drinnen herum zu wandern? Was für einen närrischen Einfall hatte sie sich da in den Kopf gesetzt!

Die Wände des Korridors bestanden aus zinnenbewehrten Eibenhecken und waren offensichtlich eine Weile nicht mehr beschnitten worden. Wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte er manchmal im schwachen Mondlicht einen kurzen Blick auf den Rest des Irrgartens erhaschen, aber er stolperte ständig über Steine und herunter gefallene Äste, die sich in den tiefen Schatten zu seinen Füßen verbargen. Eine leichte Brise hatte sich erhoben, und die Büsche knarrten gespenstisch. Als hinter ihm eine Eule rief, hätte er beinahe einen Satz in die Luft gemacht.

„Lothíriel!“ rief er. Würden die nächtlichen Geräusche sie nicht erschrecken?

Keine Antwort. Vor ihm endete der Pfad in einer Sackgasse und er musste wieder umkehren. Éomer verfolgte seine Schritte bis zur letzten Biegung zurück und nahm eine andere Abzweigung des Weges. Dann zögerte er plötzlich. War er nicht schon früher an diesem knorrigen Busch vorbei gekommen? Zu jenem Zeitpunkt hatte er bemerkt, dass er aussah wie ein alter Mann, der sich bückte, und doch war direkt dahinter eine Verbreiterung des Weges gewesen, die er jetzt nicht entdecken konnte. Er runzelte die Stirn. Dies war nichts weiter als ein gewöhnlicher Irrgarten. Die Pfade änderten sich nicht, wie man es sich von denen im Fangornwald erzählte.

„Lothíriel!“ rief er wieder, aber er erhielt nur die huschenden Geräusche eines kleinen Tieres zur Antwort, das nach einem Versteck suchte.

Éomer beschloss, zum Ausgang zurück zu kehren und sich vom Weg auf der Mauer aus nach der Prinzessin umzuschauen. Das hätte er gleich von Anfang an tun sollen. Mit raschen Schritten machte er sich auf den Rückweg und bog in den langen Durchgang ein, der ihn zum Tor bringen würde... nur, um fast in eine Wand hinein zu laufen. Zuerst starrte er sie lediglich überrascht an. Glatt und aus Stein erbaut, bildete sie offensichtlich einen Teil der Mauer, die den Irrgarten begrenzte, und doch hatte sie hier überhaupt nichts zu suchen. Éomer blickte zum Himmel auf und fühlte sich für einen Moment orientierungslos. Der Mond stand zu seiner Linken, nicht hinter ihm, wie er es hätte tun sollen.

Langsam ging er zur letzten Abbiegung zurück; erst jetzt bemerkte er, dass die Hecken leicht gekrümmt waren. Er stand da und starrte auf die drei möglichen Pfade. Einer von ihnen führte an einem mit Efeu überwucherten Busch vorbei, und Éomer war sich ziemlich sicher, dass er den schon hinunter gelaufen war, aber die anderen kamen ihm ebenfalls merkwürdig vertraut vor. Ein neuerlicher Blick zum Himmel zeigte ihm Wolken, die vom Westen heran trieben, die Sterne verdeckten und drohten, ihm bald das Mondlicht zu rauben. Mit frischer Entschlossenheit tauchte er in einen der Korridore ein.

Er brauchte drei weitere Sackgassen, um sich einzugestehen, dass er sich wirklich und wahrhaftig verlaufen hatte. Wenn er nur eine Axt bei sich gehabt hätte, oder besser noch einen Zwerg, er hätte mit dem Irrgarten kurzen Prozess gemacht! Doch das kleine Speisemesser, das er bei sich trug, würde auf die harten Stämme der Büsche keinen Eindruck machen. Einmal mehr hatte er die selbe Abbiegung erreicht wie zuvor; diesmal kam er an dem efeubewachsenen Busch vorbei. Er fluchte laut auf Rohirric und fühlte sich ein wenig besser. Während er dort stand und mit sich selbst stritt, ob er wohl versuchen sollte, auf einen der Büsche zu steigen, hörte er eine weibliche Stimme rufen.

Éomer blickte sich um. Er hatte am Anfang bemerkt, dass sich in der Mitte des Irrgartens ein kleiner Hügel befand. Indem er den Hals reckte, konnte er seine dunklere Form vor dem Hintergrund des sternenhellen Himmels ausmachen. Eine Gestalt in einem hellen Kleid saß auf der Steinbrüstung, die sich an der höchsten Stelle befand.

„Lothíriel?“ rief er.

„Éomer? Seid Ihr das?“ Sie klang sehr überrascht. „Was tut Ihr denn hier?“

Seine Erleichterung darüber, dass er sie gefunden hatte, verwandelte sich in Ärger. „Ich suche nach Euch!“

„Oh! Möchte mein Vater, dass ich komme? Ist es schon Zeit, nach Hause zu gehen?“

Éomer beschloss, das zu ignorieren. „Wie seid Ihr überhaupt dort in die Mitte hinauf gekommen?“ fragte er in anklagendem Ton.

„Ich bin einfach dem richtigen Pfad gefolgt. Hier oben ist eine nette Brise, wieso kommt Ihr nicht zu mir?“ Er hätte schwören können, dass er eine Spur Gelächter in ihrer Stimme hörte.

Éomer rang mit seinem Stolz. „Ich habe mich verirrt,“ gestand er endlich.

„Wo seid Ihr?“ fragte sie.

„Wie ich gerade sagte, habe ich mich verirrt!“ schnappte er.

„Nein. Ich meine, wie sieht der Teil, in dem Ihr euch befindet, denn aus?“

„Grün und dunkel!“ Dann seufzte er. „Es gibt hier vier Pfade; einer davon führt an die nördliche Mauer und einer der Büsche ist mit Efeu bedeckt.“ Es schien eine ziemlich magere Beschreibung zu sein, um weiter zu kommen.

„Ist einer der Pfade schmaler als die anderen?“

Er schaute genauer hin. „Ja – der, der zur Mauer führt.“

„Und im Pfad daneben liegt ein großer Stein auf der Erde, der ein Loch in der Hecke blockiert?“

Éomer kauerte sich nieder und fand dort tatsächlich einen großen Stein, ganz, wie sie gesagt hatte. „Ja!“

„In diesem Fall glaube ich, dass ich weiß, wo Ihr seid. Gut – alles, was Ihr jetzt tun müsst, ist, das Wort zu sagen.“ Sie lachte ihn ganz eindeutig aus.

„Das Wort?“

„Jawohl, und Gondor wird zu Eurer Rettung herbei eilen.“

Éomer erinnerte sich plötzlich wieder an die Unterhaltung beim Abendessen. „Lothíriel! Ich warne Euch...“

Sie gluckste. „Das Wort?“

Einmal mehr rang er mit seinem Stolz. „Aale.“

„Ich komme. Bleibt, wo Ihr seid, und rührt Euch nicht,“ warnte sie ihn. Dann verschwand sie außer Sicht.

Seufzend lehnte er sich gegen eine der Hecken und wartete. Nun, da er still stand, kamen ihm die nächtlichen Geräusche unnatürlich laut vor. Wieder rief die Eule und er entdeckte ein paar vorbei fliegende Fledermäuse. Ein raschelndes Geräusch hinter ihm zeigte ein kleines Tier an – vielleicht eine Maus – das nach Futter suchte.

Dann hörte er es; Schritte und das leichte Klopfen eines Stocks gegen Steine und andere Hindernisse auf dem Weg. Gerade, als Lothíriel aus einem der Korridore heraus trat, richtete er sich auf.

“Éomer?”

„Hier!“ Er trat vor, nahm ihre Hand und sie lächelte zu ihm auf.

„Seht Ihr? Ich sagte doch, ich würde Euch finden.“ Dann wurde sie ein wenig ernster. „Tatsächlich habt Ihr Glück gehabt, dass ich Euch gehört habe. Man muss vorsichtig sein, dass man hier drinnen den Weg nicht verliert; deshalb ist der Irrgarten üblicherweise abgeschlossen.“

Sie ging nicht so weit, sein Verhalten närrisch zu nennen, aber er hatte den Eindruck, dass das Wort ihr auf der Zungenspitze lag. „Trotzdem,“ fuhr sie fort, „bin ich sicher, dass die Abwesenheit des Königs von Rohan irgendwann entdeckt worden und ein Suchtrupp ausgeschickt worden wäre, bevor Ihr Euch zu Tode hungert.“ Jetzt grinste Lothíriel unverfroren.

„Ich vermute, ich muss Euch dankbar sein, dass Ihr mir diese Schande erspart habt.“

Sie gluckste. „Wir sind Verbündete, nicht wahr? Folgt mir!“

Sie führte ihn den Weg hinunter zu dem Pfad, den sie gekommen war; eine Hand tastete die Seitenwand des Korridors entlang, die andere suchte den Boden mit dem Stock nach Hindernissen ab. Wenn Éomer sich nicht schon verirrt haben würde, er hätte es schon in sehr kurzer Zeit getan. Der Weg folgte keiner für ihn erkennbaren Logik,und manchmal gingen sie den Weg, den sie gekommen waren, wiederein Stück weit zurück. Allerdings zögerte Lothíriel nicht ein einziges Mal. Dann ragte ein dunklerer Schatten zu seiner Linken auf und ihm wurde klar, dass sie den Hügel in der Mitte erreicht hatten.

„Das hier ist nicht der Weg hinaus!“

Wieder gluckste sie. „Ich weiß von hier aus eine Abkürzung, aber ich dachte, Ihr möchtet vielleicht erst von oben einen Blick auf den Irrgarten werfen.“

Eine Treppenflucht führte an der Seite des Hügels hinauf zu einer Plattform, die von einer Brüstung aus grob behauenen Steinen umgeben war. Lothíriel machte mit der Hand eine weit ausholende Bewegung.

„Denethors Labyrinth. Er ließ es für meine Tante Finduilas bauen, aber seit ihrem Tod ist es vernachlässigt worden.“

Von diesem Aussichtspunkt aus sah Éomer, dass die verschachtelte Anlage des Irrgartens einem Gesamtplan folgte. Diagonal war er in vier Abschnitte aufgeteilt, die ineinander zu fließen schienen. Die verwickelten Pfade passten tatsächlich ganz zu dem, was er über Denethor gehört hatte.

„Im Westen habt Ihr den Weißen Baum,“ erklärte Lothíriel, „und an seinem Stamm entlang betritt man den Irrgarten. Dann ist im Süden ein Schiff auf dem Ozean abgebildet, und ostwärts irgendeine Art Tier. Ich denke, es soll einen Stier darstellen, aber ich bin nicht sicher, was er zu bedeuten hat.“

Sie drehte sich langsam um und deutete auf jedes Viertel. „Das letzte sind die Krone und die Sterne im Norden. Man muss seinen Weg durch jeden Teil finden, ehe man das Zentrum erreicht.“

Er starrte sie an. „Woher wisst Ihr, was sich wo befindet?“

Lothíriel lächelte. „Als Kinder haben wir hier ,Waldläufer und Haradrim' gespielt. Tatsächlich steht Ihr hier gerade in unserer geheimen Festung. Ich kenne den Irrgarten wie meinen eigenen Handrücken.“ Ein Schatten huschte über ihr Gesicht. „In einem Sommer haben wir ein Spiel daraus gemacht, mit verbundenen Augen den Weg hindurch zu finden.“

Die Wolken, die unablässig über den Himmel gezogen waren, suchten sich diesen Moment aus, endlich den Mond zu verhüllen, und ein Windstoß erhob sich und peitschte ihm das Haar gegen die Wangen. Lothíriel lachte vor Entzücken, breitete die Arme aus und drehte ihr Gesicht in den Wind.

„Das ist fast, wie an der Küste des Meeres zu sein!“ Ein weiterer Windstoß ließ ihr Gewand wild flattern und presste es gegen ihren schlanken Leib. Dann erstarb der Wind so jäh, wie er sich erhoben hatte.

Éomer warf einen misstrauischen Blick auf die Wolken. „Ich denke, wir sollten besser zurückgehen, oder wir geraten vielleicht in den Regen.“

Sie nickte. „Ich denke auch; es riecht, als ob es bald regnet.“

Éomer hatte erwartet, dass sie ihn den Weg zurück durch den Irrgarten führte, doch statt dessen ging sie zur Rückseite des Hügels. Er sah ein klaffendes, schwarzes Loch mit ein paar Stufen, die hinunter in die Dunkelheit führten. Ohne Zögern machte sie sich an den Abstieg.

„Wo geht Ihr hin?“ fragte er alarmiert.

Sie blickte sich um, eine Hand leicht gegen die Mauer gestützt. „Das ist die Abkürzung, von der ich Euch erzählt habe. Allerdings müssen wir uns beeilen.“

Éomer gefiel nicht, wie es dort aussah. „Können wir nicht den Weg zurückgehen, den wir gekommen sind?“

„Dieser unterirdische Durchgang ist viel rascher. Er verläuft geradewegs zu einem Tor in der östlichen Mauer, und von dort aus ist es nicht weit zur Merethrond.“ Sie streckte die Hand aus. „Vertraut mir.“

Was konnte er darauf antworten? Im Dämmerlicht war von ihrem Gesicht nicht mehr zu sehen als ein hellerer Fleck, und doch spürte er, dass ein Lächeln darauf lag. Also nahm er ihre Hand, und sie führte ihn die Stufen hinunter. Sehr kurz darauf bogen sie um eine Ecke und die Dunkelheit wurde vollkommen.

„Noch zwei Stufen, und wir erreichen den Durchgang unter dem Labyrinth,“ erklärte sie ihm. „Der Boden sollte glatt und ohne Hindernisse sein.“

Ihre Worte hallten geisterhaft von den Wänden wider, und jedes Geräusch, das sie machten, von ihren Schritten bis zum Klopfen ihres Stocks, schien von der Schwärze rings um sie her vervielfacht zu werden. Éomer versuchte weiter, in der Finsternis Formen auszumachen, auch wenn er wusste, dass es nutzlos war. Am Ende schloss er die Augen und zwang sich, ihrer Führung zu vertrauen: ihre Finger waren warm und trocken und zogen ihn voran.

Etwas Weiches streifte an seinem Gesicht entlang, und er blieb abrupt stehen. „Was war das?“

Sie gluckste. „Spinnweben, denke ich. Zieht einfach den Kopf ein.“

„Dafür ist es ein wenig zu spät, meine Prinzessin. Ihr genießt das hier, nicht wahr?“

Die Anschuldigung brachte sie zum Lachen. „Nun, es kommt nicht jeden Tag vor, dass der König von Rohan meiner Gnade ausgeliefert ist,“ schoss sie zurück. „Aber wir sind fast da.“

Sie zog an seiner Hand, und mit einem resignierten Seufzer setzte er sich in Bewegung und gab Acht, den Kopf ein gutes Stück von der Decke fern zu halten. Bald darauf wurde sie langsamer.

„Hier sind noch mehr Stufen; sie führen hinauf zum Ausgang des Irrgartens. Seid vorsichtig, sie sind uneben.“

Sie musste seine Hand loslassen, um die Stufen zu bewältigen, und er hörte das leise Rascheln ihres Gewandes, während sie hinauf stieg. Dann entdeckte er plötzlich die schwache Spur eines lichten Umrisses in der Dunkelheit und beschleunigte unwillkürlich seine Schritte.

„Oh nein!“ Sie blieb so jäh stehen, dass er beinahe in sie hinein rannte. „Ich bin so dumm! Da ist eine Tür an diesem Ende, um die Leute davon abzuhalten, in den Tunnel hinein zu wandern. Sie ist wahrscheinlich verriegelt.“

Éomer nahm sie am Ellbogen und drängte sich sachte an ihr vorbei. „Lasst mich einen Blick darauf werfen.“

Es stellte sich heraus, dass der Ausgang in der Tat verriegelt war, doch Éomer würde es nicht zulassen, dass ein so dürftiges Ding wie eine Tür ihn davon abhielt, wieder hinaus unter den offenen Himmel zu gelangen. Er ließ seine Hände über die obere Kante und an den Seiten hinunter gleiten, um nach den Angeln zu tasten. Es gab keine, also musste sich die Tür nach außen öffnen.

„Tretet zurück,“ befahl er der Prinzessin und warf sich mit seinem gesamten Gewicht gegen die Tür.

Leicht überrascht stellte er fest, dass sie schon bei seinem ersten Versuch nachgab; sie stürzte mit einem lauten Krach zu Boden und eine Staubwolke stieg in die Luft. Sobald die sich wieder gesetzt hatte, half er Lothíriel über die Schwelle und stand dann einfach da; er genoss das Gefühl der kühlen Nachtluft auf seinem Gesicht.

„Oh, es ist gut, wieder draußen zu sein!“ rief er aus.

Eine der Lampen, die den Garten erleuchtete, hing von den Zweigen eines nahen Baumes herab; sie kam ihm so hell vor, dass ihm die Augen tränten. Er wandte sich zu Lothíriel zurück, gerade rechtzeitig, um einen Ausdruck von Traurigkeit zu sehen, der flüchtig über ihr Gesicht huschte. Dann traf ihn die Erkenntnis, dass – während er wieder im Licht stand – sie noch immer in ihrer eigenen Finsternis wandelte und es immer tun würde.

“Lothíriel…”

Sie schüttelte ihre Röcke aus. „Wir wollen zur Merethrond zurück gehen. Mein Vater macht sich vielleicht meinetwegen Sorgen.“

Sie gingen einen der Gartenpfade hinunter. Gerade, als sie um eine Ecke gebogen waren und Éomer tatsächlich den Vordereingang zur Halle der Feste sehen konnte, fielen die ersten Regentropfen.

Lothíriel beschleunigte ihre Schritte. „Wir werden nass!“

Er nahm ihre Hand. „Wir wollen rennen.“ Die Regentropfen, fett und schwer, schlugen einen Trommelwirbel auf den Blättern der Büsche, doch noch immer zögerte sie.

„Vertraut mir,“ sagte Éomer.

Sie lachte. „Also schön... es ist nur gerecht.“

Sie raffte ihre Röcke, drückte seine Hand, und sie fingen an zu rennen. Als sie den Dachvorsprung der Merethrond erreicht hatten, war sie atemlos vor Lachen.

„Was für ein Spaß!“ rief sie aus, als sie einen Moment in der Säulenhalle stehen blieben, um Luft zu holen.

Sie hatten es gerade rechtzeitig geschafft; der Regen strömte jetzt herunter. Die wenigen anderen Gäste, die es draußen im Freien erwischt hatte und die nach ihnen kamen, wurden allesamt bis auf die Haut durchnässt.

Lothíriel strich ihre Röcke glatt. „Sollen wir hinein gehen?“

„Nur einen Augenblick.“ Er hatte die Überreste eines Spinnennetzes auf ihrem Kopf entdeckt, streckte die Hand aus und wischte es weg. Sie fuhr unter seiner Berührung zusammen.

„Es tut mir Leid,“ entschuldigte er sich. „Aber Ihr habt etwas im Haar.“

Lothíriel hob ihm das Gesicht entgegen, die Wangen rosig vor Anstrengung. „Es ist schon gut; Ihr habt mich nur einen Augenblick erschreckt.“

Sie hielt still, während er die letzten Spinnwebfäden aus ihren Haaren streifte; einen Herzschlag lang ruhten seine Finger auf ihrer Wange und rieben einen Schmutzstreifen fort. Lothíriel erschauerte.

Plötzlich erinnerte er sich an die Männer, die die Tore bewachten. Sie waren Gondors Auslese, blickten starr geradeaus und ignorierten sie; und doch wollte er keinen Klatsch verursachen.

„Euch ist kalt; wir wollen hinein gehen.“


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