Euch zu Diensten
von Lialathuveril, übersetzt von Cúthalion


Kapitel Zwölf
Die Häuser der Heilung 

Was macht einen Reiter aus? Sein Pferd.
.Was macht einen Krieger aus? Sein Schwert.
Was macht einen König aus? Seine Ehre.
Was macht einen Mann aus? Sein Herz.

(Sprichwort aus Rohan)

Lothíriel summte vor sich hin, während sie sich ein weiteres Brötchen von ihrem Frühstückstablett nahm.

„Das ist eine fröhliche, lebhafte Melodie,“ bemerkte ihre Zofe. „Ein neues Lied, das Ihr gerade spielen lernt?“

Lothíriel hielt inne, als ihr klar wurde, welche Musik sie da summte; sie stammte aus einem der Tänze der Rohirrim. Sie rückte das Tablett sicherer auf ihrem Schoß zurecht und nahm einen Schluck Tee.

„Nein, nur etwas von gestern Abend.“

Sie konnte hören, wie Hareth die Vorhänge zurückzog und ihr Schlafzimmerfenster öffnete; sie ließ Vogelgesang und den Geruch feuchter Erde von den Gärten draußen herein. Die frische Brise hatte nicht mehr die frühmorgendliche Kühle und Lothíriel fragte sich, wie spät es war.

„Habt Ihr gut geschlafen?“ fragte ihre Zofe, während sie weiter herum wuselte. „Keine bösen Träume?“

Der Kommentar überraschte Lothíriel. „Böse Träume? Nein. Warum?“

Hareth hielt einen Moment inne. „Ihr fragt mich, wieso? Lothíriel, Ihr wurdet gestern von einem Warg angegriffen!“

„Oh! Der Warg!“ Lothíriel stellte fest, dass sie ihn ganz vergessen hatte. „Nein, davon habe ich nicht geträumt.“

Sie konnte fast sehen, wie die alte Frau den Kopf schüttelte. „Die Widerstandskraft der Jugend,“ murmelte Hareth. „Und ich bin bloß beim Anhören der Geschichte fast vor Schreck gestorben.“

Bodenbretter knarrten, während ihre Zofe den Raum durchquerte und auf den Schrank zuging. Sie schnalzte mit der Zunge. „Wirklich, Lothíriel, was habt Ihr nur mit Eurem schönen Kleid gemacht? Der Saum ist ganz schmutzig. Und wo habt Ihr euch diese ganzen Spinnweben eingefangen?“

Lothíriel versuchte, nicht schuldbewusst drein zu schauen. „Ich habe mir Denethors Irrgarten angesehen. Du weißt doch, dass wir als Kinder dort gespielt haben.“

„Lothíriel, Ihr seid doch nicht ganz allein in dem Garten herum gewandert, oder? Eurem Vater würde das nicht gefallen, wenn er davon hört.“

„Es ging mir vollkommen gut. Der König von Rohan hatte die Freundlichkeit, mich zu begleiten.“

Ihre Zofe schüttelte das Kleid aus. „Der König von Rohan? Ist nicht er derjenige, der Euch gestern vor diesem Warg gerettet hat?“

Lothíriel nickte. Sie lächelte, als sie sich an Éomers Worte an ihren Vater am Ende des Abends erinnerte, als die Gruppe aus Dol Amroth sich zurückzog. Angesichts der Tatsache, dass Imrahil sich einmal mehr bei ihm bedankte, hatte er geantwortet: „Im Gegenteil... ich stehe in der Schuld Eurer Tochter.“

Anders als die meisten Vergnügungen zu Hause bei ihrem Vater hatte sich der Abend als ziemlich angenehm herausgestellt – sehr angenehm, um ehrlich zu sein. Die Rohirric-Tänze waren weniger kompliziert und viel lebhafter als ihre gondoreanischen Gegenstücke. Nachdem ihr Éomer die Schritte einmal erklärt hatte, begriff sie sie sehr rasch. Und obwohl das Gefühl, einen Mann so dicht bei sich zu spüren, seine warme Hand auf ihrer Mitte, während er sie führte, zuerst sehr merkwürdig gewesen war, hatte sie sich rasch daran gewöhnt.

Sie nahm noch einen Bissen von ihrem Brötchen und fragte sich, ob es wohl möglich war, Rohirric-Musik auf ihrer kleinen Harfe zu spielen. Die Melodien hatten einen starken Rhythmus, ein wenig wie ein langsamer Herzschlag, überlagert von einer ziemlich komplizierten, melodischen Linie. Als sie das Éomers Barden gegenüber erwähnte, hatte Cadda angeboten, ihr beizubringen, wie man einige der leichteren Weisen spielte. Allerdings war sie sich unsicher, ob das Angebot des Barden aus reiner Höflichkeit erfolgt war, oder ob er es ernst gemeint hatte.

„Also, was sind Eure Pläne für heute?“ unterbrach Hareth ihre Grübelei.

Lothíriel hatte sehr genaue Vorstellungen. „Ich habe vor, wieder reiten zu gehen.“

„Weiß Fürst Imrahil davon?“

„Noch nicht,“ gestand Lothíriel.

Hareth gluckste. „Ich erkenne diesen sturen Ausdruck auf Eurem Gesicht wieder. Soll ich Euer Reitkleid heraus holen?“

„Ja, bitte.“ Lothíriel nickte. Sie schob das Tablett zurück und schwang ihre Beine über den Bettrand, vorsichtig darauf bedacht, die Reste des Frühstücks nicht umzuwerfen.

Sie hätte gern die Kleider getragen, die ihr Éowyn am Tag zuvor geliehen hatte. Aber Hareth sagte ihr, dass sie schmutzig wären und zuerst gewaschen werden müssten, also entschied sie sich statt dessen für eine leichte Tunika mit einem traditionellen Reitrock. Gerade als ihre Zofe die letzten Schnüre fest zog, klopfte jemand an der Tür.

„Herrin Lothíriel!“ Sie erkannte die Stimme einer der Dienerinnen. „Fürst Imrahil bittet um Eure Anwesenheit in der Bibliothek.“

Bevor sie die Gelegenheit hatte, zu fragen, wieso, war das Mädchen wieder weg. Lothíriel ging im Geiste die Ereignisse des vergangenen Abends durch und fragte sich, ob irgend eines davon das Missvergnügen ihres Vaters erregt haben könnte. Hatte er von ihrem einsamen Spaziergang in den Gärten gehört?

Als sie allerdings kurz darauf nach unten zu ihrem Vater in die Bibliothek kam, wartete eine angenehme Überraschung auf sie.

„Lothíriel! Wie schön, dich wiederzusehen!“ Éowyns Stimme war unverwechselbar. „Und schon fertig für den Ausritt gekleidet, wie passend!“

Lothíriel wurde in eine rasche Umarmung hinein gezogen, und dann hakte sich Éowyn bei ihr unter. „Dann können wir ja gleich aufbrechen!“

„Frau Éowyn, ich bin nicht sicher, ob das eine gute Idee ist,“ warf ihr Vater ein. Er klang geradezu nervös.

Lothíriel konnte ihm keinen Vorwurf daraus machen, sie fühlte sich selbst ein wenig überwältigt. „Was denn für eine Idee?“

„Hattest du nicht mit meinem Bruder ausgemacht, den Häusern der Heilung einen Besuch abzustatten?“ fragte Éowyn.

„Nun ja, aber -“

„Gut. Er wird sich dort mit uns treffen.“ Éowyn drückte kurz ihren Arm. „Sollen wir gehen?“

„Frau Éowyn,“ protestierte ihr Vater. „Euer Angebot ist sehr freundlich, aber ich denke wirklich, dass Lothíriel sich heute einen Tag der Ruhe gönnen sollte, um sich von der schrecklichen Feuerprobe zu erholen, die sie hat erdulden müssen.“

Lothíriel streckte eine Hand aus. „Bitte, Vater, es geht mir gut. Ich habe gesagt, ich würde diesen Reiter besuchen gehen, der bei dem Angriff gestern verletzt wurde.“

Er umschloss ihre Finger. „Liebste Lothíriel, bist du sicher? Ich will nicht, dass du dir selbst mit all diesen schmerzhaften Erinnerungen Kummer machst.“

Sie zögerte nur einen Moment. „Ich denke, ich komme zurecht. Éowyn und Éomer werden immerhin dabei sein. Ich habe das Gefühl, es sei meine Pflicht, Guthláf für das zu danken, was er getan hat.“

“Nun - ”

„Bitte, Vater?“

Sie hörte ihn seufzen und er gab ihre Hand frei. „Also schön, Tochter. Ich hoffe nur, dass du es nicht bereuen wirst.“

Éowyn fing an, sie in Richtung Tür zu ziehen. „Dann ist es abgemacht,“ sagte sie. „Ich verspreche, Eure Tochter sicher wieder abzuliefern... später.“

Die Tür schloss sich hinter ihnen, bevor Lothíriel auch nur die Gelegenheit hatte, ihrem Vater Lebewohl zu sagen, und sie stellte fest, dass sie unaufhaltsam vorwärts gezerrt wurde.

„Beeil dich, ehe Fürst Imrahil seine Meinung ändert,“ flüsterte Éowyn.

Lothíriel ging schneller. „Wieso diese Hast?“

„Möchtest du denn nicht die Reiterwettbewerbe besuchen, die heute stattfinden?“ fragte Éowyn zurück.

Lothíriel hatte gehört, dass die Rohirrim für den Nachmittag Wettrennen und Vorführungen ihrer Reitkünste geplant hatten. „Wieso... ja, liebend gern!“

Éowyn lachte. „Das dachte ich mir! Nun, in diesem Fall sind wir besser verschwunden, bevor dein Vater begreift, dass ich mich nicht festgelegt habe, wann genau ich dich zurück bringe.“

Im Vorhof wartete Winterhauch bereits auf sie, gesattelt und aufgezäumt, und sie waren zum Tor hinaus und suchten sich ihren Weg durch den morgendlichen Verkehr, noch ehe Lothíriel aufgehört hatte, zu lachen.

Die Häuser der Heilung lagen im selben Kreis, aber weiter südöstlich als ihr Stadthaus, und sie brauchten nicht lange, um dort hin zu kommen. Als sie eintrafen, wurden sie von Éomer begrüßt, der sie erwartete.

„Gewonnen!“ Éowyn lachte.

„Das habe ich mir gedacht,“ erwiderte ihr Bruder. „Die Bezwingerin des Hexenkönigs auszusenden, hat den Tag gerettet.“

Er hob Lothíriel mit Schwung von ihrem Pferd herunter; sie fing bereits an, das von ihm zu erwarten.

„Der Vorsteher wartet auf uns,“ erklärte Éomer in einem ernsthafteren Ton, während er ihre Hand fest auf seinem Arm platzierte. „Sollen wir hinein gehen?“

Lothíriel nickte; ihre Handflächen waren plötzlich schweißfeucht bei dem Gedanken, den Ort zu besuchen, an den nie wieder zurückzukehren sie sich einmal geschworen hatte. Dann öffneten sich knarrend die Türen, und die Gerüche trafen sie wie ein Schlag: die Seife, die man benutzte, um den Fliesenboden zu reinigen, der beißende Geruch nach Heilmitteln und Kräutertees – Schmerz, Zorn und Verzweiflung.

“Lothíriel?”

Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass sie ihre Finger in seinen Arm gegraben hatte und völlig zum Stehen gekommen war, bevor sie auch nur über die Schwelle trat. Das Herz hämmerte ihr wild in der Brust und sämtliche Instinkte sagten ihr, sie solle davonlaufen. Wieso hatte sie zugestimmt, hier her zu kommen!

„Lothíriel?“ fragte er wieder, seine Stimme so sanft und leise , als versuchte er, ein schreckhaftes Fohlen zu beschwichtigen. „Geht es Euch gut? Wisst Ihr, ich kann auch allein gehen. Würdet Ihr gern im Garten auf mich warten?“

Lothíriel zögerte. Im Garten bleiben, an der frischen Luft? Sie wünschte sich verzweifelt, seinem Vorschlag zuzustimmen, aber gleichzeitig schämte sie sich, dass sie auf diese Weise vor ihren Erinnerungen flüchtete. Es kam ihr feige vor. Außerdem wollte sie den Reiter wirklich besuchen. Es war nur so, dass es sich als weit schwieriger herausstellte, dem, wozu sie sich am vergangenen Abend so leicht entschlossen hatte, in der rauen Wirklichkeit des nächsten Morgens ins Auge zu sehen.

Sie holte tief Luft. „Nein, ich möchte mitkommen.“

„Ihr werdet mir sagen, wenn Ihr Euch nicht wohl fühlt?“

Lothíriel nickte, und sie betraten das Haus. Ihre Schritte hallten hohl in dem niedrigen Durchgang wider, der zum Dienstzimmer des Vorstehers führte. Sie kannte den Plan des Gebäudes gut; ein kleiner, zentraler Innenhof, von Fluren umgeben, wo sich auf beiden Seiten Behandlungsräume befanden und ein Tor, das zu den ausgedehnten Gärten dahinter führte. Sie kamen auf dem Weg an einigen Leuten vorbei, und ihr Gehör ordnete automatisch die Geräusche ein, die sie so gut kennen gelernt hatte: das Pochen von Krücken auf dem Boden, die raschen Schritte der Heiler, die ihre Runden machten und das leise Murmeln von Stimmen hinter geschlossenen Türen. Sie schauderte.

Eine große Hand legte sich für einen Moment über die ihre und drückte sie. Also hatte er es bemerkt – dem Mann schien wenig zu entgehen. Getröstet durch den kurzen Kontakt und seine solide Gegenwart an ihrer Seite, entspannte sie sich ein wenig.

Der Vorsteher begrüßte sie mit Wärme, als sie sein Dienstzimmer erreichten, aber sie erkannte die Stimme mit ihrem weichen, südlichen Akzent nicht wieder. Dann erinnerte sie sich daran, dass der alte Vorsteher nach dem Ringkrieg in den Ruhestand gegangen war. Der neue Vorsteher zögerte einen winzigen Moment, als sie ihm vorgestellt wurde.

„Prinzessin Lothíriel? Wie schön, Euch kennen zu lernen. Wie geht es Euch?“

„Gut.“

Obwohl sie wusste, dass ihr kurz angebundener Ton an Grobheit grenzte, brachte sie nicht mehr als das zustande, und es folgte ein unbehagliches Schweigen.

„Wir sind gekommen, um einen meiner Reiter zu sehen, Guthláf,“ sagte Éomer. „Wie geht es ihm?“

„Geschwächt durch den Blutverlust, aber er sollte inzwischen das Bewusstsein wiedererlangt haben,“ erwiderte der Vorsteher. „Wir mussten ihm in der letzten Nacht Betäubungsmittel verabreichen, um die Prozedur an seinem Arm durchzuführen.“

„Die Prozedur?“ fragte Éowyn.

Der Vorsteher räusperte sich. „Unglücklicherweise stellte sich heraus, dass sein von dem Tier zerfleischter Unterarm zu schwere Verletzungen davongetragen hat, um ihn noch zu retten. Wir hatten keine Wahl, als den Arm direkt über dem Ellbogen abzunehmen.“

Das Unbehagen, über diese blutigen Einzelheiten sprechen zu müssen, zeigte sich in seiner Stimme. Und doch... wie harmlos das klang. Ihn abzunehmen. Lothíriel wusste, dass der richtige Ausdruck gewesen wäre, ihn abzusägen. Jemand hatte ihr einmal die großen Messer mit den gezackten Klingen beschrieben, schärfer als jedes Metzgerwerkzeug. Bei dem Gedanken, dass man sie an Knochen und Fleisch eines Menschen ansetzte, wurde ihr übel, und sie spürte, wie ihre Kehle sich verkrampfte.

„Falls Guthláf wieder bei Bewusstsein ist, würde ich ihn gern sehen,“ sagte Éomer ruhig.

„Ja, natürlich.“ Der Vorsteher öffnete die Tür seines Dienstzimmers. „Ich werde Euch den Weg zeigen. Möchten die Damen vielleicht einen Blick auf die Gärten werfen? Zu dieser Jahreszeit sind sie sehr schön. Lasst mich einen Diener rufen.“

„Das wird nicht nötig sein,“ unterbrach Éowyn ihn. „Wir kommen auch mit.“

Er schien sich daran zu erinnern, mit wem er sprach, denn er erhob keinen weiteren Einwand. „Selbstverständlich. Hier entlang, bitte.“

Um das Zimmer des Reiters zu erreichen, mussten sie den kleinen, tiefer gelegenen Hof mit seinem fröhlich sprudelnden Springbrunnen überqueren und auf der anderen Seite einige Stufen hinauf steigen.

„Ich gebe Euch den Rat, Euren Besuch kurz zu halten, um Euren Mann nicht zu überanstrengen. Ihr könntet auch feststellen, dass er durch die Drogen leicht verwirrt ist, und ziemlich... aus der Fassung,“ warnte der Vorsteher Éomer.

„Ja, das kann ich mir vorstellen,“ erwiderte Éomer in seinem trockensten Tonfall. „Ich danke Euch, dass Ihr uns den Weg gezeigt habt.“

Er wartete betont, bis der Mann seine Worte als die Entlassung erkannte, als die sie gemeint waren, und verschwand.

„Aus der Fassung!“ murmelte Éomer vor sich hin, so leise, dass Lothíriel dachte, dass sie nicht für irgend jemanden in seiner Nähe bestimmt waren. Zwischen Bruder und Schwester schien eine Art Signal ausgetauscht zu werden.

„Gehen wir hinein,“ sagte Éowyn.

*****

Das Erste, was Lothíriel auffiel, war die schiere Jugend des Reiters. Seine Stimme war rau und – als er seinen König erkannte - angespannt von unterdrücktem Schmerz, aber sie hielt ihn nichtsdestotrotz für nicht viel älter als sie selbst.

„Éomer König!“ Ein unverständlicher Strom Rohirric folgte.

Éowyn lenkte sie zu einer Seite des Bettes hinüber, wo ein paar Stühle bereit standen, während ihr Bruder sich auf der anderen Seite niederließ und versuchte, Guthláf zu beruhigen. Der Reiter klang fiebrig, und Lothíriel fragte sich, ob die Heiler ihm wohl Mohnsirup gegeben hatten – wie gut sie sich an den ekelerregend süßen Geschmack erinnerte.

Die Erkenntnis, dass sie es hätte sein können, die hier im Bett lag, ging ihr durch den Sinn und ließ sie bis auf die Knochen frieren. Während des Kampfes war ihre einzige Sorge die gewesen, Alphros zu beschützen, und doch hätte es leicht damit enden können, dass sie schwer verwundet oder tot war. Der Gedanke, von anderen sogar noch abhängiger zu werden und noch mehr von ihrer kostbaren Freiheit zu verlieren, erfüllte sie schlicht und einfach mit Entsetzen.

Der Reiter wiederholte ständig die selben Worte. Lothíriel lehnte sich zu Éowyn hinüber.

„Was sagt er?“ flüsterte sie.

Ihre Freundin zögerte. „Er fragt:,Wieso ich?'“

Lothíriel nickte; das war etwas, das sie verstand. Sie erinnerte sich, dass sie ganz genau die selbe Frage gestellt hatte, als sie nach ihrem Unfall erwachte und sich mit qualvollen Schmerzen wiederfand, die von ihren gebrochenen Rippen und dem gebrochenen Arm herrührten, und mit einem Kopfschmerz, wie sie ihn nie zuvor und niemals mehr danach erlebt hatte. Doch das Schlimmste war die untröstliche Stille gewesen, als sie sich darüber beklagte, dass sie nichts sehen konnte und verlangte, dass man die Binde über ihren Augen entfernen sollte. „Es gibt keine,“ hatte ihr Vater endlich geantwortet.

Éomers Stimme war tief und tröstend, erfüllt von einer inneren Stärke, und langsam beruhigte sich der Reiter. Und trotzdem – seine Worte klangen noch immer gequält, und Lothíriel fühlte sich wie ein Eindringling. Wieso hatte sie darauf bestanden, her zu kommen? Sie wusste nicht mehr, was sie damit hatte bezwecken wollen. Dann hörte sie, dass Éomer ihren Namen erwähnte.

„Prinzessin Lothíriel ist hier, um dich zu besuchen, Guthláf,“ übersetzte Éomer für sie.

Sie beugte sich vor. „Ich wollte Euch danken,“ sagte sie zögernd, „dafür, dass Ihr Euch zwischen mich und die Gefahr gestellt habt.“

Ihre Worte fielen wie Steine in die bleierne Stille.

„Ihr seid die blinde Prinzessin.“

„Ja.“

„Ich habe meinen Schwertarm verloren. Eure gondoreanischen Heiler haben ihn abgenommen.“ Er spie die Worte beinahe aus, aber in seinem Westron klang nur eine überraschend schwache Spur eines Rohirric-Akzentes mit.

„Es tut mir Leid,“ flüsterte sie.

Éomer gab einen protestierenden Laut von sich. „Guthláf, die Prinzessin trägt keine Schuld daran. Die Heiler haben das getan, wovon sie dachten, dass es das Beste wäre, um dein Leben zu retten.“

„Ich wünschte, sie hätten sich nicht die Mühe gemacht.“ Das kurze Aufblitzen des Zorns schien ihn erschöpft zu haben. „Ich bitte um Vergebung, meine Herrin,“ fügte er einen Moment später hinzu.

„Ich bin nicht gekränkt.“ Wieder beugte Lothíriel sich vor. „Ihr sprecht ein gutes Westron,“ sagte sie; sie dachte, sie könnte ihn von seinen sorgenvollen Gedanken ablenken.

„Ich bin in Meduseld aufgewachsen und habe die Sprache von Gondor dort gelernt,“ erklärte der Reiter. „Mein Vater war Háma, der Torwächter von Théoden, Hauptmann der Königlichen Wache, wie sein Vater vor ihm.“

Sie hörte, wie er unruhig in seinem Bett hin und her rutschte, als hätte er Schmerzen. „König Éomer,“ sagte er, „was soll ich jetzt tun? Ein Krieger zu sein ist alles, was ich kann!“

Éomer seufzte. „Guthláf, mach dir darüber keine Gedanken. Kümmer dich darum, wieder gesund zu werden. Du bist immer noch ein Teil meiner Garde.“

„Werde ich imstande sein, statt dessen den anderen Arm zu gebrauchen?“

„Das zu sagen, ist es zu früh,“ entgegnete Éomer nach einer kurzen Pause. „Erst musst du wieder zu Kräften kommen.“

„Aber Ihr glaubt es nicht,“ sagte Guthláf in flachem Ton.

„Nein, ich sagte, wir müssen abwarten.“ Ein Hauch Stahl hatte sich in Éomers Stimme gestohlen, und der Reiter schien plötzlich wieder einzufallen, mit wem er sprach.

„Mein König, es tut mir Leid,“ entschuldigte er sich.

„Guthláf, die Riddermark braucht mehr als nur Krieger... sie braucht auch Handwerksleute, und Männer, die die Pferde bewachen, und...“

„Unnütze Krüppel braucht sie nicht,“ unterbrach ihn der Reiter. „Warum haben sie mich nicht einfach sterben lassen!“

Éowyn holte scharf Luft. „Einst dachte ich auch, dass ich es vorgezogen hätte, auf dem Schlachtfeld zu sterben, als körperlich zu genesen.“ Ihre Stimme wurde weicher. „Und doch habe ich gelernt, dass es auch anders geht.“

Lothíriel erinnerte sich daran, wie sie gegen die Heiler gewütet hatte, gegen ihre Familie, gegen ganz Arda, als nach erschöpfenden Behandlungen deutlich geworden war, dass sie ihr Augenlicht nie zurück gewinnen würde. Im Rückblick auf diese Zeit wurde ihr plötzlich klar, wie weit sie seither schon gekommen war.

„Niemand ist unnütz,“ sagte sie fest. „Ich bin sicher, Ihr werdet Euren Platz im Leben finden.“

„Das ist für eine Prinzessin leicht gesagt. Was kann ein halber Mann wie ich hoffen zu erreichen?“

Lothíriel hätte gern eine Hand ausgestreckt und ihn berührt, aber sie hatte Angst, aus Versehen die Wunde zu streifen. Sie neigte sich nach vorne. „Guthláf, es sind sein Kopf, sein Herz und seine Ehre, die einen Mann ausmachen, nicht, wie viele Hände er hat.“

Sie hielt jäh inne, als der Reiter schwer nach Atem rang. War sie zu unverblümt gewesen?

„Herrin, welche Frau wird mich jetzt noch anschauen und sich nicht abgestoßen fühlen?“ Seine Stimme brach, und wieder klang er sehr jung. „Zuhause habe ich ein Mädchen, das auf mich wartet. Was wird sie sagen?“

„Wenn sie auch nur eine Spur Verstand hat, wird sie dafür dankbar sein, dass Ihr überlebt habt. Und lasst mich Euch eines sagen: wenn Euer Mädchen beschließt, Euch wegen dieser Sache den Rücken zuzuwenden, dann seid Ihr ohne eine derartig vollkommene Närrin besser dran.“

„Die Prinzessin hat Recht,“ stimmte Éomer ernsthaft zu. Doch Lothíriel kannte den König von Rohan inzwischen recht gut, und sie hörte einen winzigen Hauch Gelächter in seiner Stimme. Was hatte sie gesagt, das ihn so belustigte?

„Ihr braucht keine zwei Hände, um ein Neugeborenes zu wiegen,“ beharrte sie, „oder mit einem Kind zu spielen, oder...“ Sie hatte vorgehabt zu sagen eine Frau zu lieben, aber sie beschloss, besser darauf zu verzichten. Ihre Stimme erstarb.

Der Reiter seufzte. „Ich möchte bloß wissen: wieso ich?“ Aber er klang jetzt ruhiger.

„Das kann ich nicht beantworten,“ sagte Éomer. „Aber obwohl ich weiß, dass dies ein kleiner Trost sein wird... denk daran, was hätte geschehen können, wenn wir dem Warg nicht begegnet wären. Was, wenn er sich wehrlose Dorfbewohner zur Beute gesucht hätte, oder Kinder?“

Eine lange Stille senkte sich herab, nur unterbrochen vom Gezwitscher der Spatzen draußen im Garten und dem trägen Summen einer Hummel. Der Duft von Flieder wehte durch ein offenes Fenster herein.

„Ihr habt Recht, mein König,“ sagte der Reiter. „Daran darf man überhaupt nicht denken.“

„Du bist ein guter Mann, Guthláf.“ Éomers Stuhl knarrte, als er sich nach vorne beugte. „Ich muss jetzt gehen, aber ich werde bald wiederkommen und dich besuchen.“

Als Lothíriel hörte, dass die anderen sich erhoben, tat sie es ebenfalls. „Darf ich auch kommen und Euch wiedersehen?“

„Es wäre mir eine Ehre.“

Lothíriel stellte fest, dass die Aussicht, zu den Häusern der Heilung zurückzukehren, viel von ihrem Schrecken verloren hatte. Sobald die Tür zu Guthláfs Zimmer sich hinter ihr geschlossen hatte, wandte sie sich an Éomer.

„War ich zu freimütig? Bedauert Ihr, dass Ihr mich gebeten habt, mitzukommen?“

Er lachte, ein offener, fröhlicher Klang, der an diesem Ort selten zu hören war. „Überhaupt nicht. Niemand mag Euch honigzüngig nennen können, aber es wird Euch auch niemals jemand anklagen dürfen, Ihr wärt nicht ehrlich. Das ist eine Tugend, die wir in der Riddermark zu schätzen wissen. Ich glaube, Guthláf wird sich nach unserem Besuch besser fühlen, wenigstens für eine Weile. Er hat einen langen Weg vor sich.“

Sie dachte eine Weile über seine Worte nach. „Ihr habt das hier schon früher getan, nicht?“

„Oh ja. Ich kenne die Häuser der Heilung viel zu gut, aber einfacher wird es nie.“

Sie machten sich langsam wieder auf den Weg Richtung in Ausgang.

„Also denkt Ihr, es wird ihm möglich sein, den anderen Arm zu benutzen?“ fragte Lothíriel.

„Ich weiß es nicht.“ Éomer seufzte. „Es ist nicht nur der Umstand, das Schwert mit der anderen Hand zu führen, sondern auch die Tatsache, dass es ihm nicht möglich sein wird, einen Schild fest zu halten. In einigen Fällen während des Krieges, als Männern die Hände abgehackt wurden, da haben wir...“ Er hielt abrupt inne. „Es tut mir Leid. Ich wollte Euch nicht mit solch blutigen Einzelheiten belasten.“

Lothíriel runzelte die Stirn. „Ich entstamme einer langen Reihe von Kriegern; es wäre mir viel lieber, wenn Ihr mir die ungeschönte Wahrheit sagen würdet. Behandelt mich einfach wie einen von Euren Männern.“

„Das würde mir schwer fallen.“

Wieso klang er so amüsiert? Und war das ein schnaubendes Lachen, das da von Éowyn kam? Doch bevor sie fragen konnte, fuhr er mit seiner Erklärung fort.

„Wenn der Unterarm noch heil ist, können wir einen Schild daran festschnallen, aber bei Gúthlaf ist das nicht durchführbar – und auch sein Gleichgewicht wird verändert sein. Wir müssen einfach abwarten und sehen, was geschieht.“ Er zögerte. „Nur freue ich mich nicht gerade darauf, Beornwyn gegenüber zu treten.“

„Beornwyn?“

„Seine Mutter. Sie hat bereits ihren Ehemann vor der Hornburg verloren, und nun kommt ihr ältester Sohn verwundet von dem zurück, was ein sorgloser Besuch in Gondor hätte sein sollen.“

„Seid Ihr es denn, der es ihr sagen muss?“ fragte sie.

„Es ist meine Pflicht.“

Es versetzte Lothíriel einen Stich, wie müde und entmutigt er klang. Sie wünschte sich, dass es etwas gäbe, das sie tun könnte, um ihm die Bürde seiner Pflichten tragen zu helfen und seine Sorgen zu lindern. Aber welche Hilfe konnte sie schon anbieten? Immerhin war sie weder eine weise Ratgeberin noch ein mächtiger Krieger.

Schweigend gingen sie hinaus, dorthin, wo seine Wachen mit ihren Pferden auf die warteten. Sobald die Türen der Häuser der Heilung sich hinter ihnen geschlossen hatten, nahm sie einen tiefen Atemzug von der frischen, reinen Luft und wandte ihr Gesicht nach oben, den wärmenden Strahlen der Morgensonne entgegen. Es fühlte sich gut an.

Nachdem er ihr geholfen hatte, Winterhauch zu besteigen, ließ Éomer seine Hand für einen Moment auf ihrem Schenkel ruhen.

„Danke, dass Ihr mitgekommen seid.“


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