Euch zu Diensten
von Lialathuveril, übersetzt von Cúthalion


Kapitel Zwei
Einbruch der Nacht  

Es ist die Pflicht des Edelmannes, sich bei ihrer ersten Begegnung der Dame vorzustellen. Sie wird sich, dem Rang beider angemessen, vor ihm verneigen und sollte dann das erste Gesprächsthema einführen... üblicherweise das Wetter. Andere unverfängliche Themen umfassen die Ernte (es sei denn, dass sie vermutlich mager ausfallen wird), das Interesse an der natürlichen Umgebung oder der Grad an Verwandtschaft zwischen ihnen. Die ganze Zeit über wird die Dame sich liebenswürdig und höflich betragen, sowie zurückhaltend denen gegenüber, die sie an Rang, Alter oder Erfahrung übertreffen.
(Belecthor: Einführung in das angemessene Betragen für junge Damen in Gondor)


Die junge Frau saß in einer der Schießscharten  der Mauer, die den kleinen Garten umschloss. Sie lehnte den Kopf an die Zinne hinter sich und blickte hinaus über den Pelennor. 

„Ich werde mich selbst vorstellen,“ sagte Éomer zu dem Diener, der ihm nicht von der Seite wich; er nickte ihm zu und entließ ihn damit. 

„Aber mein König...“ 

Vielleicht bildete Éomer sich das nur ein, aber es schien ihm, dass der Diener ausgesprochen unbehaglich dreinblickte. 

„Ich wünsche nur ein rasches Wort mit der Prinzessin, es wird nicht lange dauern,“ sagte er und wartete, bis der ältere Mann sich verneigte und zögernd abzog. 

Wie viele Wohnsitze in Minas Tirith hatte Fürst Imrahils Haus einen kleinen Garten hinter dem Hauptgebäude, vor den Blicken von der Straße wohl verborgen. Und  wie es sich für das Heim der Fürsten von Dol Amroth gehörte, war er wunderschön gepflegt, mit Kieswegen, die sich zwischen einigen kleinen Apfel- und Kirschbäumen hindurch wanden und von Ligusterhecken eingefasst wurden. Von den Zweigen der Bäume hingen an dünnen Ketten mehrere kleine Öllampen herab, die jetzt, bei Einbruch der Nacht, bereits angezündet worden waren. 

Éomer ging auf die kleine Treppe zu, die zum Mauergang führte und stieg sie langsam hinauf, den Blick noch immer unverwandt auf die Gestalt der Prinzessin gerichtet. Sie hatte ihn noch nicht bemerkt - vielleicht war sie zu tief in Gedanken – und sie starrte nach wie vor auf die Felder unter ihr hinaus. Ihre Kleidung war von einem matten Braun und völlig ohne jede Verzierung, ganz anders als die hellen, farbenfrohen Gewänder, die die Damen von Minas Tirith bei diesem warmen Wetter bevorzugten. 

Seine Stiefel schrammten über den Steinboden; sie blickte endlich auf und nahm seine Anwesenheit wahr. Sie stand auf, strich sich hastig die Röcke glatt und sah ihm entgegen. 

„Wer ist da?“ fragte sie und neigte den Kopf zur Seite. 

„Prinzessin Lothíriel?“ fragte er. 

Sie streckte eine schlanke Hand aus. „Ja?“ 

Das Gesicht, das sie ihm entgegenhob, entsprach nicht dem traditionellen Schönheitsideal von Gondor. Während ihre Haut glatt und hell war und sie die hohen Wangenknochen der Númenorer besaß, war ihr Mund zu voll, die Nase zeigte an der Spitze rebellisch nach oben und das Kinn sprach von Eigensinn. Allerdings bemerkte er das kaum, denn sie hatte das fesselndste Paar Augen, das er je gesehen hatte – sehr groß, grau und von dichten, schwarzen Wimpern umkränzt, blickten sie mit einem leicht träumerischen Ausdruck in die Welt. 

„Darf ich mich vorstellen?“ Er beugte sich über ihre Hand und sprach die Grußworte, die hier in Gondor üblich waren. „Ich bin König Éomer von Rohan, Euch zu Diensten.“

Sie runzelte die Stirn und entzog ihm ihre Hand. „Ganz recht“, schnappte sie, „und ich bin die Königin von Rohan.“

Für einen Moment starrte er sie einfach in absoluter Verblüffung an. Dann erinnerte er sich plötzlich an das Gespräch, das er im vorigen Sommer mit Faramir geführt hatte. Hatte sein zukünftiger Schwager nicht darauf angespielt, dass mit der Prinzessin von Dol Amroth irgendetwas nicht stimmte? Litt sie vielleicht unter Wahnvorstellungen? 

„Ich bitte um Verzeihung?“ sagte er, noch immer entgeistert. 

„Das solltet Ihr auch!“ rief sie aus. „Mich hält man nicht so leicht zum Narren! Seid ihr einer von Amrothos’ Freunden?“ 

„Nun, in gewisser Weise,“ erwiderte Éomer, denn er war Prinz Amrothos während des Krieges begegnet. „Ich kenne ihn natürlich, aber ich sehe nicht...“ Er bekam nie die Gelegenheit, seinen Satz zu beenden. 

„Ihr solltet Euch schämen,“ erklärte sie in anklagendem Tonfall, „dass Ihr versucht, mich so hochzunehmen. König von Rohan, also wirklich! Hat mein Bruder Euch zu dieser Scharade angestiftet?“ 

Das Mädchen betrachtete ihn immer noch mit finsterer Miene, und endlich dämmerte es ihm, dass sie seine Identität in Zweifel zog. 

„Es tut mir Leid, meine Herrin, aber ich bin wirklich König Éomer,“ entgegnete er; er war sich nicht sicher, ob er angesichts der Tatsache, dass sie ihn für einen Hochstapler hielt, belustigt oder beleidigt sein sollte. 

Die Prinzessin machte eine Geste der Abwehr. „Blödsinn!“ erwiderte sie scharf, „Ihr klingt in keiner Weise wie einer der Rohirrim. Der Stallmeister meines Vaters stammt aus Rohan, also müsst Ihr nicht denken, dass ich nicht weiß, wie sie dort Westron sprechen. Ihr kommt ganz klar von irgendwo hier aus dieser Gegend.“ 

„Meine Großmutter stammte aus Lossarnach,“ erklärte er, „und ich bin sowohl mit Westron als auch mit Rohirric aufgewachsen.“ 

Die Prinzessin zögerte. Zum ersten Mal seit dem Beginn ihrer Unterhaltung sah sie so aus, als wäre sie ihrer Sache nicht mehr ganz sicher. 

„Könnt Ihr beweisen, wer Ihr seid?“ fragte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. 

„Wie?“ Éomer fing an, sich zu amüsieren. Es war eine neue Situation für ihn, dass er den Beweis antreten musste, ein König zu sein. „Ich trage meine Krone nicht bei mir,“ fügte er hinzu. 

„Sagt etwas auf Rohirric,“ befahl sie ihm. 

Westú hal, Hlaefdige min,“* sagte er gehorsam und lieferte die Erklärung gleich mit. „Was in meinem Land die höfliche Art und Weise ist, eine fremde Dame zu begrüßen.“ 

Sie biss sich auf die Lippen. „Das klang ziemlich echt.“ 

„Danke sehr,“ entgegnete er ernsthaft. 

Schweigen senkte sich herab. Die Prinzessin kaute auf ihrer Unterlippe und verdrehte abwesend einen Ärmel ihres Kleides zu einer Kordel. 

„Ihr seid wirklich König Éomer?“ fragte sie endlich in verändertem Tonfall.

„Ja.“

Noch mehr Schweigen. Eine leichte Brise raschelte durch die Blätter der Bäume und zupfte eine Strähne aus der Flechte, die die Prinzessin wie eine Krone um ihren Kopf gewunden hatte. Tiefstes Schwarz, stellte er fest, während sie sich das Haar aus dem Gesicht strich. Sie starrte ins Leere; Verweigerung, Bestürzung und dann Schrecken wechselten sich in rascher Folge auf ihrem Gesicht ab. Er konnte spüren, wie einer seiner Mundwinkel zu zucken anfing. 

„Oh nein!“ rief sie plötzlich entsetzt aus. „Was habe ich getan? Mein Vater wird mich mit dem nächsten Schiff nach Dol Amroth zurückschicken. Und wenn Elphir herausfindet, was ich gesagt habe, dann werde ich das endlos zu hören bekommen!“ 

Ihr bestürzter Gesichtsausdruck war so komisch, dass er sich nicht helfen konnte; er musste lachen. 

„Das ist nicht lustig!“ schnappte sie, nur, um gleich darauf die Hände vor den Mund zu schlagen. „Oh nein, ich habe es schon wieder getan,“ sagte sie zerknirscht. „Bitte vergebt mir meine unbedachten Worte, mein König. Es tut mir wirklich Leid.“ 

„Welche genau?“ fragte er. „Der Vorwurf, dass ich ein Hochstapler wäre oder die Tatsache, dass Ihr mir den Mund verboten habt?“ 

Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder; sie sah verzweifelt aus, und er erbarmte sich ihrer. 

„Eure Entschuldigung ist angenommen, meine Herrin, und wir müssen Eurem Vater gegenüber nichts davon erwähnen,“ versicherte er ihr.

„Wirklich?“

„Wirklich.“ 

Sie belohnte ihn mit einem kindlich entzückten Lächeln, warm und offen. 

„Oh, ich danke Euch! Ich wäre am Boden zerstört gewesen, wenn ich Minas Tirith so schnell wieder hätte verlassen müssen.“ 

Er lächelte mit Wärme zurück. „Es ist sowieso meine Schuld; ich muss einfach daran denken, dass ich mich zukünftig eindrucksvoller kleide.“

„Nun, das hätte eindeutig nichts geholfen,“ sagte sie nüchtern, „aber vielleicht können wir ganz einfach von vorne anfangen?“ 

„Von vorne? Was meint Ihr damit?“ Seit das Gespräch angefangen hatte, neigte die Prinzessin dazu, ihn zu verwirren.

„Nun ja,“ erklärte sie geduldig, „tut einfach so, als hättet Ihr den Garten gerade erst betreten, und von da an machen wir weiter.“ 

Wieder lächelte sie zu ihm auf und erwartete offensichtlich, dass er ihrem brillanten Plan bereitwillig zustimmte. Er fing an zu begreifen, wieso Faramir sie ungewöhnlich genannt hatte. 

Nach einer Weile räusperte er sich. „Also schön. Darf ich mich vorstellen? König Éomer von Rohan, Euch zu Diensten.“ 

Sie versank in einem anmutigen Knicks. „Prinzessin Lothíriel von Dol Amroth; es ist mir eine Ehre, Eure Bekanntschaft zu machen.“ 

Er beugte sich noch einmal über ihre Hand. „Das Vergnügen ist ganz und gar auf meiner Seite.“ 

„Ist es nicht ein schöner Abend?“ bemerkte sie. „Welch eine Erleichterung nach der Hitze des Tages, nicht wahr?“ 

„So ist es,“ stimmte er zu. 

Das glich schon mehr der Art Unterhaltung, die er von Gondors Damen gewohnt war. Als nächstes würden sie wahrscheinlich über den hübsch angelegten Garten reden, die Ernte diskutieren (die dieses Jahr außergewöhnlich gut ausfallen sollte) und die Vergnügungen besprechen, die für die bevorstehende Hochzeit geplant waren. 

Sie ließ sich wieder in der Schießscharte nieder und bedeutete ihm, ebenfalls Platz zu nehmen. Inzwischen war die Sonne hinter dem Mindolluinberg untergegangen, und unter ihnen hüllte sich der Pelennor in Schatten. Die Zelte des Jahrmarktes übersäten das Feld wie kleine, farbenfrohe Pilze, und der Rauch der vielen Kochfeuer stieg in die Luft, nur um nach Osten fortgeweht zu werden. Die Prinzessin machte es sich auf dem harten Stein etwas bequemer, in keiner Weise beunruhigt durch den schieren Abgrund von mehreren hundert Fuß Tiefe zu ihrer Rechten. 

„Seid Ihr gekommen, um meinen Vater zu sehen?“ forschte sie, den Blick noch immer in die Weite gerichtet. „Man hat mir gesagt, er sei im Augenblick bei König Elessar, aber er wird zum Abendessen zurück erwartet, genau wie meine Brüder. Falls sie es sind, zu denen Ihr wollt.“ 

Er schüttelte den Kopf. „Ich weiß. Ich sah Fürst Imrahil vorhin, und er erwähnte, Ihr würdet heute erwartet; also habe ich beschlossen, Euch zu besuchen.“ 

„Ihr seid meinetwegen hier?“ Die Prinzessin war eindeutig überrascht. Dann erstarrte sie. „Sie hat ihre Meinung geändert, nicht?“ sagte sie flach. 

„Wer hat seine Meinung geändert?“ Die Verwirrung schien letzthin zu seiner ständigen Gefährtin geworden zu sein. 

„Eure Schwester natürlich. Bitte glaubt mir, ich verstehe wirklich, wenn sie mich nicht mehr als ihre Trauzeugin haben will.“ Die Prinzessin fing wieder an, ihre Kleiderärmel zu Kordeln zu drehen. „Es ist schon gut,“ sagte sie.

Éomer starrte sie an. „Hat Euch nie jemand gesagt, dass Ihr allzu schnell Eure Schlüsse zieht?“ 

„Mein Bruder Amrothos,“ gestand sie, „aber er nörgelt ständig an mir herum, deshalb...“ Sie hielt mitten im Satz inne. „Wollt Ihr mir damit sagen, dass Eure Schwester ihre Meinung nicht geändert hat?“ 

„Das hat sie nicht,“ bestätigte er. „Tatsächlich würde sie Euch gern treffen und hat mich damit beauftragt, einen Besuch in unserem Lager zu arrangieren, vielleicht morgen.“ 

„Oh, das würde mir gefallen!“ rief sie aus und klatschte in die Hände, aber dann wich die Freude aus ihrem Gesicht. „Ich werde zuerst mit meinen Brüdern sprechen müssen, um zu sehen, ob einer von ihnen Zeit hat, mich dorthin mitzunehmen.“ 

„Ich kann kommen und Euch abholen,“ hörte er sich selbst das Angebot machen, aber sie schüttelte den Kopf. 

„Mein Vater würde mir nicht erlauben, mit irgendjemand anderem zu reiten als mit meinen Brüdern,“ erklärte sie. „Es würde sich nicht ziemen.“ 

Èomer war recht verblüfft zu hören, dass sein Freund Imrahil so streng mit seiner Tochter umging. Auch hatte er allmählich einen Verdacht, wieso seine Schwester sich die Prinzessin von Dol Amroth als Trauzeugin ausgesucht hatte. Dachte sie, dass es hier eine verwandte Seele gab, die aus einem goldenen Käfig errettet werden musste? 

„Ich werde mit Eurem Vater sprechen und etwas in die Wege leiten,“ versprach er und wurde mit einem weiteren Lächeln belohnt. 

„Das ist sehr freundlich,“ sagte sie, „und ich muss sagen, Ihr habt eine schöne Stimme. Singt Ihr?“ 

Éomer blinzelte. Man hatte ihm noch nie ein Kompliment für seine Stimme gemacht, und vor allem keine Edelfräulein aus Gondor, die in seiner Gegenwart eher verschämt und wortkarg waren. Sein bloßer Name ließ sie oft vor Ehrfurcht völlig verstummen, und soviel ließ sich nun auch wieder nicht über das Wetter sagen. 

„Ich tu’s,“ lachte er, „aber nur, wenn ich mich in der sicheren Namenlosigkeit meines éored befinde. Also fürchte ich, dass Ihr es wohl nie hören werdet.“ 

„Zu schade,“ lächelte sie. „Ich hätte es gern gehört.“ 

„Singt Ihr denn selbst?“ fragte er zurück. 

Die Prinzessin schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich, aber ich spiele Harfe – wenigstens ein bisschen.“ 

„Vielleicht erweist Ihr mir eines Tages die Ehre, für mich zu spielen,“ sagte er höflich. 

Sie blickte zweifelnd drein. „Vielleicht,“ meinte sie, „aber ich bin sicher, Ihr habt Eure eigenen Barden mitgebracht. Werden sie bei der Hochzeit auftreten?“ 

Er nickte. „Der Barde meines Onkels ist im Ruhestand, aber mein eigener Barde, Cadda, hat uns begleitet und wird sich die Ehre geben.“ 

Ihre Augen leuchteten auf. „Das ist wundervoll,“ sagte sie. „Ich freue mich wirklich darauf.“ 

Angesichts ihrer Begeisterung musste er lächeln, doch in diesem Moment kam lautes Gebell aus der Richtung des Hauses, und jemand rief ihren Namen. Er war auf den Beinen und wirbelte herum, auf diese mögliche Bedrohung zu und die Hand am Griff seines Schwertes, bevor sie noch mehr getan hatte, als sich aufzurichten. Scheinbar waren seine Reflexe so scharf wie immer. 

Ein großer, struppiger, grauer Hund rannte quer durch den Garten, dicht gefolgt von der Gestalt eines kleinen Jungen. Éomer entspannte sich, als er Alphros erkannte, den Sohn von Prinz Elphir, aber er machte besorgt einen Schritt vorwärts, als der Hund die Stufen zum Mauergang hinaufhetzte und an der Prinzessin hochsprang, wobei er sie fast von ihrem Platz an der Mauer herunterwarf. Sie lachte bloß und wehrte die Liebesbezeugungen des Hundes sanft ab. 

„Bist du das, Ernil?“ fragte sie. „Ich glaube, du bist wieder gewachsen!“ 

Dann hatte der Junge sie erreicht und warf sich ebenfalls in ihre Arme. 

„Tante Lothíriel!“ schrie er. „Endlich bist du gekommen! Ich muss dir etwas wirklich Wichtiges erzählen.“ 

Sie kniete sich hin, erwiderte seine Umarmung mit Wärme und zerzauste ihm das Haar. „Du bist auch gewachsen,“ lächelte sie. „Lass mich dich anschauen.“ 

Der Hund hatte sich neben ihnen niedergelassen; er wedelte noch immer aufgeregt mit dem Schwanz, und der Junge stand still und bezähmte sichtlich seine Ungeduld, während sie ihre Finger leicht über die Flächen seines Gesichts gleiten ließ. Sie begann oben auf seinem Kopf, strich sachte über seine Stirn und zeichnete die äußeren Umrisse seiner Augen und Wangen nach. Er lachte und rümpfte die Nase, als sie deren Form mit den Fingern beschrieb, aber er hielt weiterhin still, bis ihre Hände auf seinen Schultern zur Ruhe kamen. 

„So ansehnlich wie immer,“ bemerkte sie. „Ich konnte nicht einmal irgendwelche Sommersprossen fühlen.“ 

„Sei nicht albern. Sommersprossen kann man gar nicht fühlen,“ protestierte er.

Dann langte er nach oben und zerrte ungeduldig an ihrer Hand. „Bitte, Tante Lothíriel, ich brauche deine Hilfe!“ sagte er. „Lass es mich dir zeigen. Wo ist denn dein Stock?“  

Er blickte sich suchend um, und erst jetzt bemerkte er den König von Rohan. 

„Oh!“ stammelte er. „Mein König! Bitte vergebt mir, ich habe euch vorher gar nicht gesehen.“ 

Er machte eine für einen Sechsjährigen sehr beachtliche Verbeugung, und Éomer nickte automatisch zurück; ihm drehte sich noch immer der Kopf von der Erkenntnis, was genau mit der Prinzessin von Dol Amroth nicht stimmte. Ihre Augen mochten von dem schönsten Rauchgrau sein, das er je gesehen hatte, aber sie waren ihr von keinerlei Nutzen.

Sie war blind. 

Er schaute benommen zu, wie Alphros sie bei der Hand nahm – er war offensichtlich ziemlich daran gewöhnt, ihr behilflich zu sein - und wie er sie zu den Treppen geleitete, die hinunter in den Garten führten. Sie lachte über seine Ungeduld und erinnerte ihn nur daran, nach niedrig hängenden Zweigen Ausschau zu halten. Als der Junge sie warnte, dass sie die oberste Stufe erreicht hatten, blieb sie stehen und wandte sich zurück. 

„Wollt Ihr nicht auch mit uns kommen, König Éomer?“ fragte sie. „Ich glaube, meine Brüder sollten inzwischen wieder hier sein.“ 

Das brachte ihn wieder zu sich. „Ja, natürlich,“ sagte er und schloss mit ein paar langen Schritten zu ihnen auf. „Bitte, lasst mich Euch meinen Arm anbieten. Diese Stufen sind sehr steil.“ 

Sie stand sehr still; eine Hand ruhte immer noch auf der Schulter ihres Neffen. 

„Ihr habt es vorher nicht gewusst.“ Es war eine Feststellung, keine Frage. 

Für die Dauer eines Herzschlages zögerte er, aber es hatte keinen Sinn, Ausflüchte zu machen. „Nein,“ gab er zu. 

Ein wehmütiger Ausdruck glitt über ihr Gesicht, aber er war so schnell verschwunden, dass er nicht sicher war, ob er ihn überhaupt dort gesehen hatte. 

„Und jetzt empfindet Ihr Mitleid für mich,“ sagte sie. 

Er wusste nicht, was er antworten sollte, aber er bekam ohnehin keine Gelegenheit dazu. 

„Nun, tut das nicht,“ sagte sie heftig, „denn ich will Euer Mitleid wirklich nicht, und auch nicht das irgendeines anderen Mannes.“ 

Sie wandte sich an Alphros. „Zeig mir den Weg,“ wies sie ihn an. Er tat wie ihm geheißen, sagte es ihr, als sie die letzte Stufe erreicht hatten und nahm sie bei der Hand, um sie die Kieswege entlang zu führen. Éomer folgte den beiden schweigend. Es war jetzt beinahe ganz dunkel, und die ersten Sterne waren am Himmel über ihnen erblüht. Doch die Prinzessin würde sie niemals sehen, und auch nicht den Vollmond, der gerade über dem Ephel Dúath aufgegangen war. Er überlegte, wie sich das wohl anfühlte – ein ganzes Leben in Finsternis zu wandeln. 

Als sie die Tür des Hauses erreicht hatten, schickte Lothíriel den Jungen voraus und drehte sich zu Éomer um. Die Vögel im Garten waren jetzt still, aber schwache, raschelnde Geräusche drangen aus dem Unterholz, während die kleinen, nächtlichen Bewohner aus ihren Verstecken kamen, um sich an das ernsthafte Geschäft der Nahrungssuche zu machen. Die Lampen in den Zweigen der Apfel- und Kirschbäume warfen einen weichen Schein auf das Gesicht, das sie ihm entgegenhob. 

„König Éomer,“ sagte die Prinzessin zögernd, „bitte vergebt mir meine offenen Worte von gerade eben. Ich hatte nicht die Absicht, Euch zu kränken. Ihr seid sehr freundlich zu mir gewesen.“ 

Er schüttelte den Kopf, dann wurde ihm klar, dass sie das nicht sehen konnte. „Ihr habt mich nicht gekränkt,“ versicherte er ihr, „und es tut mir Leid, wenn ich Euch verstimmt haben sollte.“ 

Die Prinzessin legte den Kopf schräg. „Das war ganz und gar meine Schuld. Seht Ihr, ich denke, ich habe wirklich Glück gehabt.“ 

„Glück?“ Er konnte den Unglauben nicht aus seiner Stimme verbannen. 

„Ja, Glück,“ sagte sie ruhig. „Mein Vater und meine drei Brüder, allesamt Krieger, haben den Kampf unbeschadet überstanden. Unser Land wurde nicht verwüstet, und das Volk lebt in Frieden. Wenn das kein Glück ist, was dann?“ 

Er starrte auf sie nieder; es fühlte sich an, als hätte man ihm unerwartet einen Hieb in den Magen versetzt. Nur zu gut erinnerte er sich an die Verzweiflung in der Riddermark, an den Ausdruck auf den Gesichtern von Frauen und Kindern, als er ihnen sagen musste, dass ihre Ehemänner und Väter niemals wieder zu ihnen zurückkehren würden. Am stärksten war ihm der Hügel neben den Furten des Isen im Gedächtnis, mit den Speeren, die langsam über Théodreds Grab verrotteten. 

Sie musste irgendetwas gespürt hatte, denn plötzlich streckte sie eine Hand nach ihm aus. „Vergebt mir,“ flüsterte sie,“ Ihr habt Euren Onkel in der Schlacht von Minas Tirith verloren, nicht wahr? Und beinahe auch noch Eure Schwester...“

Er seufzte und versuchte, sich von seiner Trauer zu lösen. „Nein, Ihr habt Recht. Ich bin es, der um Vergebung für seine Anmaßung bitten muss.“ 

Die Prinzessin schaute einen langen Moment zu ihm auf; ihre Augen waren blicklos, aber in dem schwindenden Licht riesig. Dann schenkte sie ihm ein scheues Lächeln. 

„Und nun, da wir beide gesagt haben, wie Leid es uns tut – wollen wir hinein gehen?“ 

„Ja, das wollen wir,“ stimmte er zu. 

____________________________________________________________________

Westú hal, hlaefdige min – „Seid gegrüßt, meine Dame“. Hlaefdige ist übrigens (wie das gesamte Rohirric) Angelsächsisch und bedeutet ursprünglich „Brotlaibkneterin“ (von hlaef = Laib und dig = kneten) – als Hinweis auf die Hausfrau, die die Familie mit dem Grundnahrungsmittel versorgt. Die Aussprache schliff sich mit den Jahrhunderten ab, und es entstand das Wort Lady.


Top          Stories          Nächstes Kapitel          Home