Euch zu Diensten
von Lialathuveril, übersetzt von Cúthalion


Kapitel Eins
Die Weiße Stadt

Im Jahre 2002 des Dritten Zeitalters wurde Minas Ithil erobert, vom Hauptmann der Ringgeister, den Nazgûl, und von da an war es als Minas Morgul bekannt und wurde ein Ort der Furcht und Bedrohung. Während der Schatten länger wuchs, wurde Minas Anor in Minas Tirith umbenannt, den Turm der Wache, zur ständigen Wachsamkeit gegen die Drohung von Mordor, und allezeit hatte es die Hauptlast von des Feindes Hass zu ertragen. 
(Turgon: Eine kurze Geschichte Gondors)


Minas Tirith, Mai 3020 im Dritten Zeitalter

Ein Ruck lief durch das Schiff, als es den Ankerplatz berührte, und die Seeleute riefen nach den Dockarbeitern, damit sie die herab geworfenen Taue festmachten. Lothíriel hielt sich sorgsam aus dem Weg der Männer, die umher eilten und konzentriert ihren Dienst taten. Sie hatte allerdings auch nicht die Absicht, wieder in ihre stickige, kleine Kabine hinunter zu gehen. Sie war ohnehin von ihrer Zofe daraus vertrieben worden, die ihre Sachen fertig herrichtete, damit sie von Bord gehen konnten. Ein günstiger Wind war ihnen den ganzen Morgen hindurch gefolgt, und sie waren gerade dabei, im betriebsamen Harlond anzulegen, das der Weißen Stadt als Hafen diente. 

Voller Aufregung umklammerte sie die Reling noch fester und holte tief Atem. Verschwunden war der Geschmack von Salz, und fort waren die klagenden Schreie der Seemöwen. Stattdessen war die Luft vom schrillen Gezwitscher der Schwalben erfüllt, die ihre Nester unter den Dachtraufen der Häuser von Minas Tirith bauten, und der kühle, grüne Duft des Flusses wurde überlagert von einem Geruch nach frisch gemähtem Heu. Nach einer Abwesenheit von acht Jahren kehrte sie endlich an den Ort zurück, den sie liebte. 

Lothíriel war in der schönsten Stadt von Gondor aufgewachsen, in den hoch gewölbten, eleganten Hallen des Palastes der Fürsten von Dol Amroth. Im Sommer von Meeresbrisen gekühlt und im Winter mit einem maßvollen Klima gesegnet, war ihre Geburtsstadt lange als der schönste Wohnort im Reich Gondors betrachtet worden. Lothíriels Zimmer schaute nach Westen; es blickte über die sich ständig ändernden Wasser der Bucht von Belfalas hinaus, die sich von Blau zu Grün und zu geschmolzenem Gold färbten, während der Tag voranschritt. Tatsächlich hätte sie die Sehnsucht nach der See in den Knochen tragen müssen. Doch stattdessen hatte sie bei ihrem ersten Besuch in Minas Tirith als kleines Kind ihr Herz an die Weiße Stadt verloren. 

Die drückende Hitze in den Sommermonaten und die kalten Winde, die den Rest der Zeit hindurch peitschten, hatten sie nie gekümmert. Selbst die ständige Bedrohung durch den Feind hatte sie nicht berührt, denn sie war überzeugt gewesen, das nichts jemals ihre großartigen Vettern Boromir und Faramir besiegen würde, die zuweilen dazu überredet werden konnten, einer schmuddeligen kleinen Prinzessin einen Ritt auf ihren prächtigen Rössern zu gönnen. Jetzt waren diese Tage natürlich für immer dahin; Faramir bereitete sich auf seine Vermählung vor und darauf, sich in Süd-Ithilien nieder zu lassen, und Boromir war weit entfernt von der Heimat, die er liebte, ums Leben gekommen. Mit einiger Mühe schob Lothíriel diese traurigen Gedanken von sich. Sie war entschlossen, sich ihre Rückkehr nach Minas Tirith durch nichts verderben zu lassen. 

„Aufgeregt, kleine Schwester?“ 

Sie wandte sich ihrem Bruder Amrothos zu, der unbemerkt hinter ihr heran gekommen war und nickte, zu zerstreut, um dagegen zu protestieren, dass er sie klein nannte. Als die Kleinste unter Fürst Imrahils Abkömmlingen hatte sie schon lange die Hoffnung auf einen weiteren Wachstumschub aufgegeben und sich damit abgefunden, dass sie nicht mehr als mittelgroß war – eine Tatsache, mit der ihre Brüder sie gern neckten. Jetzt langte sie nach Amrothos’ Arm. 

„Können wir schon von Bord gehen?“ fragte sie. 

„Oh, ich denke doch,“ erwiderte er. „Schauen wir mal, ob Vater jemanden geschickt hat, um ums zu begrüßen. Immerhin werden wir erwartet.“ 

Er nahm sie beim Arm und half ihr die steilen Stufen vom Vorschiff auf das Hauptdeck hinunter. Hier war das Fallreep bereits angebracht worden, aber Lothíriel musste ihre Ungeduld zügeln, während sie sich vom Kapitän verabschiedeten. Endlich waren sämtliche Nettigkeiten ausgetauscht und man hatte einander Lebewohl gesagt. Der Kapitän bestand darauf, sie selbst von seinem Schiff herunter zu eskortieren, denn das Holz der Fallreep war schlüpfrig, wie er betonte. Dieses eine Mal machte es ihr nicht so viel aus wie normalerweise, weil sie schlichtweg zu eifrig darauf bedacht war, den Fuß wieder auf festes Land zu setzen. Wie sich herausstellte, war sie sogar dankbar, denn zu Anfang hatte dieses Land die erschreckende Neigung, unter ihren Sohlen zu schwanken, und sie brauchte einen Augenblick, ihr Gleichgewicht wiederzufinden. 

Dann rief jemand ihren Namen, und sie wurde ihnen Vorwarnung in einer bärenhaften Umarmung eingefangen. 

„Elphir!“ stieß sie ziemlich atemlos hervor; sie erkannte ihren ältesten Bruder sofort und erwiderte seine Umarmung, so fest sie konnte. 

Es war mehr als ein Jahr her seit dem fürchterlichen Tag, als ihr Vater und ihre Brüder Dol Amroth verlassen hatten, um sich der Verteidigung von Minas Tirith gegen Saurons Truppen anzuschließen, und seither war er nicht mehr zu Hause gewesen. Er hatte in der letzten Schlacht am Schwarzen Tor eine Verwundung davon getragen, und obwohl er schrieb, um mitzuteilen, dass er sich erholt hatte, war es doch nicht dasselbe, wie ihn wieder berühren zu können und seine Stimme zu hören. 

„Hattet ihr eine gute Reise?“ fragte er und ließ sie endlich los. 

Lothíriel nahm einen dringend nötigen Atemzug. Manchmal unterschätzte ihr Bruder seine eigene Kraft. 

„Durch und durch langweilig,“ sagte sie und lächelte zu ihm auf. 

„Unsere Schwester ist enttäuscht, dass wir keinen Korsaren begegnet sind, und dass wir nicht von irrwitzigen Stürmen in unerforschte Gewässer gespült wurden,“ scherzte Amrothos. 

„Du hast keinen Sinn für das Abenteuer,“ schoss sie zurück, was Elphir zum Lachen brachte. 

„Ich sehe schon, ihr beide zankt euch immer noch wie ein altes, verheiratetes Ehepaar,“ sagte er. „Scheinbar ändern sich wenigstens ein paar Dinge nie. Lasst uns die Pferde holen, und wir können uns auf dem Weg weiter unterhalten.“ 

Lothíriel fragte sich, welches Pferd man für sie bringen würde, aber sie wusste, dass es bestimmt das älteste und trägste Tier in den Ställen ihres Vaters war. Ohne Zweifel würde sie sich vollkommen zum Gespött machen, wenn sie zwischen den beiden Brüdern und ihren reinrassigen Schlachtrössern ritt. Wie auch immer, sobald er aufgestiegen war, wies ihr ältester Bruder Amrothos an, sie hinter ihm in den Sattel zu heben. 

„Ich habe dein besonderes Kissen mitgebracht, und du kannst hinter mir reiten,“ sagte er zu ihr. „Herefara wird es nichts ausmachen, die doppelte Last zu tragen.“ 

„Herefara?“ fragte sie, während sie ihre Röcke ordnete und dann ihren Arm um seine Mitte gleiten ließ. „Was für ein Name ist denn das?“ 

„Rohirric,“ erklärte Elphir. „Das Pferd war ein Geschenk von König Éomer.“ 

„Wie kommt es, dass der König von Rohan dir ein Pferd zum Geschenk gemacht hat?“ fragte sie. „Ich dachte, die Rohirrim trennen sich kaum jemals von ihnen.“ 

„Tatsächlich war es ein Geschenk für Vater,“ erklärte Elphir. „aber du weißt, wie sehr er an Flügelfuß hängt; er würde nie ein anderes Pferd reiten. Ich denke, es war ein Ausdruck von König Éomers Dankbarkeit.“ 

Lothíriel verspürte einen Stich der Schuld, als sie an den Vorgänger von Flügelfuß dachte, seit acht Jahren tot und ebenso sehr geliebt. 

„Dankbarkeit für was?“ fragte sie. 

„Für all das Getreide, das wir ihnen im vergangenen Winter geschickt haben. Ohne dieses Getreide hätten die Rohirrim eine harte Zeit gehabt.“

„Ich verstehe.“ 

Da sie mit der Verwaltung von Dol Amroth nichts zu tun hatte, war ihr nicht bewusst gewesen, dass die Wagenladungen voller Vorräte, die den Winter hindurch nach Minas Tirith geschickt wurden, für Rohan bestimmt waren. 

„Er ist wunderschön,“ bemerkte Amrothos, und da war ein Hauch von Neid in seiner Stimme. 

Während die beiden Männer ihre Ansichten über die feineren Attribute des Wallachs austauschten, ließ Lothíriel ihren Geist wandern. Herefara, wiederholte sie im Stillen. Der Name hatte einen fremdartigen Klang; er ließ sie an weite, offene Graslande denken und an Reiterhorden, die angriffen, während blondes Haar hinter ihnen im Wind wehte. Sie sagte allerdings nichts, denn Amrothos liebte nichts mehr, als sie mit ihrer Vorliebe für Geschichten aus dem Ringkrieg aufzuziehen.

Sie ließen die Hektik des geschäftigen Hafens bald hinter sich, und das Gespräch wandte sich Familienangelegenheiten zu. Elphirs Frau und sein kleiner Sohn hatten während des Krieges in Dol Amroth Zuflucht gesucht, aber nun waren sie in das Stadthaus zurückgekehrt, das im sechsten Kreis lag. 

„Annarima ist heute ihre Mutter besuchen gegangen, und sie hat Alphros mitgenommen,“ erklärte er, “aber zum Abendessen werden sie wieder da sein. Du kannst dich ausruhen, während ich gehe und sie hole.“ 

Lothíriel wusste, dass es nutzlos war, anzumerken, dass sie sich überhaupt nicht müde fühlte und jede Absicht hatte, ihr altes Zuhause zu erforschen, also gab sie einfach einen zustimmenden Laut von sich. 

„Es ist wunderbar, nach so einer langen Zeit wieder zurück zu sein,“ sagte sie. 

„Das Haus hat sich nicht sehr verändert,“ sagte Elphir, „du wirst also keinerlei Mühe haben, dich darin zurecht zu finden.“ 

Sie nickte. „Aber was ist mit der Stadt?“ fragte sie. „Vater sagte, es würde gerade sehr viel gebaut?“ 

„Das ist wahr,“ erwiderte ihr Bruder. „König Elessar ist entschlossen, Minas Tirith wieder zu bevölkern, und viele von den leeren und zerstörten Häusern werden neu hergerichtet.“ 

Lothíriel versuchte, sich die Stadt nach der Rückkehr zu ihrem früheren Glanz vorzustellen, aber es gelang ihr nicht so ganz. Die verlassenen Häuser mit ihren ungepflegten, überwucherten Gärten waren ihre liebsten Plätze zum Spielen gewesen, als sie noch Kinder waren. Vielleicht rührte ihre Liebe zu Minas Tirith von der Tatsache her, dass sie hier ihre Verantwortung schwänzen und ganze Nachmittage hindurch dem gestrengen Blick der Autoritäten entkommen konnten. 

Es war ein heißer Tag, und während die Sonne auf ihren ungeschützten Kopf und Rücken hernieder brannte, wurde ihr bald klar, dass sie mit ihrem ledernen Reitgewand viel zu warm gekleidet war. Wenigstens war der Weg vom Harlond zum Großen Tor nicht weit, aber es dauerte nicht lange, bis ein durchdringender Gestank allmählich die Luft schwängerte. Lothíriel rümpfte die Nase und rutschte im Sattel herum. Sie hatte vergessen, dass die Gerbereien sich außerhalb der Südmauer befanden, wo der üble Geruch von verrottenden Häuten und abgestandenem Urin die Bewohner von Minas Tirith nicht belästigte. 

„Willkommen in der schönen Weißen Stadt,“ bemerkte Amrothos. „Eine Schande, dass die Orks bei Zerstören dieser Hütten nicht bessere Arbeit geleistet haben, aber vielleicht war der Geruch ja selbst ihnen zuviel.“ 

Elphir lachte. „Es wurde darüber geredet, sie näher am Fluss wieder aufzubauen, aber die Gerber wollten nicht zu weit von der Sicherheit der Stadtmauern entfernt wohnen.“ 

Lothíriel schauderte. „Nun, ich kann ihnen daraus keinen Vorwurf machen. Es ist schwer zu glauben, dass die Bedrohung durch den Feind endlich vorüber ist. Ist es wahr, dass der ganze Pelennor von der Orkarmee bedeckt war?“ 

„Nicht der ganze,“ antwortete Elphir. „Sie massierten sich hauptsächlich östlich und südlich vom Tor, bereit für den letzten Angriff.“ 

Amrothos ergriff das Wort. „Ich erinnere mich, dass ich am Aussichtspunkt auf dem Siebten Kreis stand und nichts anderes sah als ein schwarzes Meer – abgesehen von den vielen tausend Fackeln, die sie bei sich trugen.“ 

Der Aussichtspunkt war einer ihrer Lieblingsorte gewesen, denn er bot einen unvergleichlichen Blick auf die grünen Felder, die sich zum Anduin hinunter zogen, und auf die Berge dahinter. Sie und Amrothos waren allerdings von diesem Platz verbannt worden, nachdem sie in einem Sommer dabei erwischt wurden, wie sie Kirschkerne auf die Männer hinunter spuckten, die siebenhundert Fuß unterhalb von ihnen die Haupttore bewachten. Ihr Onkel Denethor war keineswegs amüsiert gewesen, und für den Rest des Sommers mussten sie die Wachen im Dienst mit Wasser versorgen. Nicht, dass es ihr am Ende etwas ausgemacht hatte, denn es stellte sich heraus, dass die Männer die interessantesten Geschichten über die Leute wussten, die jeden Tag durch die Tore kamen. 

„Hast du den Sturm der Rohirrim gesehen?“ fragte sie. 

„Das war später,“ entgegnete er. „Bis dahin war ich auf dem Weg hinunter zu den Toren. Aber ich habe die Hörner gehört; der Klang war ganz sicher das willkommenste Geräusch in meinem ganzen Leben.“

Lothíriel hatte von den großen Hörnern des Nordens gehört, die bliesen, als der Tag über den Pelennorfeldern anbrach; sie seufzte. „Ich wünschte, ich wäre dort gewesen. – Oh, ich weiß, ich wäre außer mir gewesen vor Angst,“ fügte sie hinzu, bevor einer ihrer Brüder antworten konnte, „aber ich hätte es trotzdem gern erlebt. Die Ankunft der Rohirrim, der Tod des Hexenkönigs, Mûmakil...“ 

„Wenn ich das gewusst hätte, dann hätte ich einen Mûmak für dich aufgehoben,“ bemerkte Amrothos trocken, „aber das Futter ist ziemlich teuer.“ 

Elphir schnaubte belustigt. „Glaub mir, kleine Schwester, dadurch, dass du in Dol Amroth geblieben bist, warst du viel besser dran. Selbst Frau Éowyn ist an diesem Tag beinahe gestorben, und sie ist eine Schildmaid von Rohan.“ 

In seiner Stimme klang diese Mischung aus Ehrfurcht und Bewunderung wider, die selbst ihr Vater an den Tag legte, wenn der Namen von Faramirs zukünftiger Gemahlin erwähnt wurde. Es war merkwürdig zu denken, dass eine vollkommen unbekannte Frau aus dem Norden und ein entscheidender Augenblick auf dem Schlachtfeld endlich zu ihrer eigenen Rückkehr nach Minas Tirith geführt hatte. 

„Sind die Rohirrim schon für die Hochzeit eingetroffen?“ fragte sie Elphir. 

„Vor ein paar Tagen. Sie haben nördlich der Stadt ein Lager aufgeschlagen, knapp innerhalb des Rammas Echor.“ 

Sie spürte einen nervösen Schauder, der ihr das Rückgrat hinunter rann. „Werden viele Gäste erwartet?“ 

„Oh ja,“ lachte Elphir. „Die Stadt platzt von Besuchern aus den Nähten, und wenn man König Éomer glauben will, dann hat halb Rohan beschlossen, teilzunehmen.“ 

Unwillkürlich verstärkte sie ihren Griff um seine Mitte, beklommen beim Gedanken an so viele fremde Augen, die sie beobachten würden. Sie kannte sich selbst; wahrscheinlich würde sie auf dem Höhepunkt der Zeremonie Wein über das Kleid der Braut verschütten. Für einen Moment wünschte sie sich beinahe in die Sicherheit von Dol Amroth zurück, aber dann verbannte sie den Gedanken mit aller Strenge. Immerhin hatte sie nach Minas Tirith zurückkehren wollen, und wenn dies der Preis war, den sie zu zahlen hatte, dann würde sie es tun. 

„Mach dir keine Sorgen, Lothíriel,“ sagte Amrothos sanft. „Du machst das bestimmt großartig.“ 

Sie fragte sich, was er in ihrem Gesicht gelesen hatte. Ihre Züge im Griff zu behalten, war immer schon schwieriger für sie gewesen, als ihre Stimme zu kontrollieren. 

„Dann ist es also wahr?“ fragte Elphir. „Frau Éowyn hat darum gebeten, dass du bei der Hochzeit ihre Trauzeugin bist?“ 

„Das hat sie,“ bestätigte Lothíriel. 

„Vater war nicht allzu erfreut,“ gluckste Amrothos, „aber was konnte er schon tun, als die Siegerin über den Hexenkönig ausdrücklich nach Lothíriel gefragt hat.“ 

„Das kann ich mir vorstellen,“ meinte Elphir zustimmend. „Aber weißt du, wieso ausgerechnet du es sein sollst?“ 

„Ich habe nicht die blasseste Ahnung,“ gestand Lothíriel. 

„Weiß sie Bescheid über...“ Seine Stimme erstarb. 

„Ich vermute, Faramir wird es ihr erzählt haben,“ erwiderte Lothíriel abwehrend. 

Wenigstens hoffte sie das, oder die Herrin Éowyn würde eine gewisse Überraschung erleben, wenn sie ihr zum ersten Mal begegnete. Immerhin wollte sie dieser Frau nicht die Hochzeit verderben, vor allem, weil sie zutiefst dankbar für die Möglichkeit war, wieder nach Minas Tirith zurück zu kehren. Nach jenem entsetzlichen Streit ihres Vaters mit ihrem Onkel hatte sie nicht gedacht, dass sie das jemals wieder tun würde. 

Während sie sich den großen Toren näherten, die den Eingang zur Stadt markierten, verstärkte sich der Menschenstrom auf der Straße und sie mussten ihre Pferde zügeln. Von der abgehackten Sprechweise der Einwohner von Minas Tirith bis zum schleppenden Dialekt des Südens war jede mögliche Variante von Westron zu hören, und hin und wieder schnappte sie Wortfetzen einer Fremdsprache auf. 

„Was haben all diese bunten Zelte direkt vor uns zu bedeuten?“ fragte Amrothos nach einer Weile und lenkte damit das Gespräch wieder auf sicheren Boden. 

„Es sind so viele Leute für das Fest angereist, dass draußen vor den Toren ganz spontan ein Jahrmarkt entstanden ist,“ erklärte Elphir. 

„Oh – nehmt ihr mich dorthin mit?“ rief Lothíriel entzückt aus, und ihre beiden Brüder lachten. 

„Nur, wenn du dich anständig aufführst,“ antwortete Elphir mit spöttischer Strenge. 

„Aber das tue ich doch immer,“ flötete sie süß. 

Elphir stöhnte bloß. „Diesmal meine ich es ernst, Lothíriel,“ sagte er. „Sämtliche Edelleute von Gondor werden am Hof versammelt sein. Vergiss nicht, dass man dich als Repräsentantin von Dol Amroth betrachten wird.“ 

„Das weiß ich,“ entgegnete sie erzürnt, „und ich werde mich vollkommen schicklich betragen.“ 

„Nun – halte dich in Annarimas Nähe und folge ihrem Beispiel.“ Ihr Bruder klang nicht ganz und gar überzeugt. 

Lothíriel runzelte die Stirn, denn sie vertrug sich  mit ihrer Schwägerin nicht besonders gut. „Ich bin vollkommen imstande, auf mich selbst Acht zu geben,“ protestierte sie. 

„Erinnere dich einfach daran, dass du nicht in Dol Amroth bist. Dort kennt dich jedermann und nimmt Rücksicht.“ 

Sie biss die Zähne zusammen und schluckte die scharfe Erwiderung herunter, die ihr auf der Zunge lag. Glücklicherweise kam sie an diesem Punkt durch das Tor, und während der Klang der Pferdehufe zu beiden Seiten als Echo von den steinernen Wänden widerhallte, kehrte etwas von ihrer früheren Erregung zurück. Als nächstes wandten sie sich nach links, die Hauptstraße entlang in Richtung Veste. Es würde eine Weile dauern, hinauf in den sechsten Kreis zu gelangen, wo das Stadthaus stand. Lothíriel dachte bei sich, dass sie den Weg auswendig kannte... jede Biegung der Straße, jeden Springbrunnen, an dem sie vorüber kamen, jeden lockeren Pflasterstein. Ob es die vielen Abkürzungen quer durch die Gärten, die sie oft als Kinder genommen hatten, wohl noch gab, und wer benutzte sie jetzt? Wenigstens ging es nicht an den Häusern der Heilung vorbei. Diesen Ort kannte sie viel zu gut, und sie hoffte, nie wieder einen Fuß hinein setzen zu müssen. 

Ihre Brüder waren  in Schweigen verfallen, während sie ihre Pferde durch die Menschenmenge die stetig ansteigende Straße hinauf lenkten. Lothíriel musste zugeben, dass der Wallach eine sehr weiche Gangart hatte. 

„Werde ich dem König und der Königin von Gondor begegnen?“ fragte sie. 

„Morgen Abend gibt es ein Bankett und einen Tanz,“ antwortete Elphir, „und ich erwartete, dass du ihnen dort vorgestellt wirst. Also erinnere dich daran...“ 

„... nichts zu sagen, bis ich angesprochen werde, einen tiefen Hofknicks zu machen und kein Gesprächsthema zu wählen, das auch nur im mindesten strittig sein könnte,“ beendete sie den Satz für ihn. „Richtig so?“ fragte sie strahlend.  

Neben ihnen gluckste Amrothos, und sogar Elphir musste lachen. „Denk einfach daran, dass diese beiden vollkommen anders sind als jeder andere, dem du wahrscheinlich je begegnen wirst.“ 

Sie war fasziniert. „In welcher Weise?“ 

„Also...“ Er zögerte. „Wie du weißt, ist Königin Arwen eine Elbin, aber der König hat auch irgendetwas an sich... als wäre einer der Númenorer aus alten Zeiten zurück gekehrt. Es ist schwer zu erklären,“ schloss er ein wenig verlegen. 

Es überraschte Lothíriel, dass ihrem nüchternen Bruder die Worte fehlten. 

„Sehr schön,“ sagte sie demütig. „Ich verspreche, ich werde mich benehmen. Und was ist mit dem König von Rohan?“ 

„Ich nehme an, du wirst ihm zur selben Zeit vorgestellt werden,“ meinte er, „also denk daran, was ich über passendes Verhalten gesagt habe. Wir sind in der Zukunft auf den guten Willen dieses Mannes angewiesen.“ 

„Ich weiß,“ stöhnte sie. „Wirklich, Elphir, musst du die ganze Zeit darauf herumreiten?“ 

„Ich erinnere mich bloß daran, was geschehen ist, als Herr Pelendur letztes Jahr Dol Amroth besucht hat,“ stellte Elphir fest. 

Lothíriel unterbrach ihn auf der Stelle. „Das ist etwas anderes. Er hatte es verdient!“ rief sie aus. 

„Trotzdem warst du ausgesprochen rüde zu ihm, also halte dein Temperament diesmal im Zaum.“ 

„Weißt du, was er getan hat?“ gab sie hitzig zurück. „Er...“ 

„Beschäftigen wir uns doch nicht mit den Einzelheiten dieser alten Geschichte,“ unterbrach Amrothos hastig. „Es ist sowieso höchst unwahrscheinlich, dass Lothíriel mehr als ein paar höfliche Worte mit dem König von Rohan wechselt.“ 

„Das vermute ich auch,“ stimmte Elphir zu. „Er ist sehr begehrt.“ 

„Dann haben meine Quellen also Recht?“ fragte Amrothos. „Der König von Rohan ist hier, um sich eine Frau zu suchen?“ 

„So sagen die Gerüchte,“ erwiderte Elphir, „und alle Damen bei Hofe scheinen das jedenfalls zu glauben. Die Tatsache, dass er ziemlich gut aussieht, ist auch nicht gerade hilfreich.“

„Also dann – wie stehen die Quoten?“ fragte Amrothos.

„Die Quoten?“ Lothíriel war ziemlich verwirrt. 

„Ein paar von den jüngeren Höflingen - Freunde von Amrothos - schließen Wetten darauf ab, welche von den Damen ihn einfangen wird,“ erklärte Elphir.

„Ihn einfangen? Das klingt ein wenig wie eine Jagd.“ Sie war nicht sicher, ob ihr gefiel, wie das klang.  

„Oh, genau das ist es auch, gar kein Zweifel,“ sagte ihr jüngster Bruder gedehnt. „Ich frage mich, ob er die Hunde schon hören kann, die da nach seinen Fersen schnappen.“ 

Lothíriel musste bei dem Bild, das ihr in den Sinn kam, unwillkürlich glucksen – ein Rudel Damen in feinen Hofgewändern, die den König von Rohan durch die Wälder hetzten. 

„Wie stehen denn nun die Quoten?“ fragte sie, widerwillig fasziniert. 

„Im Moment liegt Frau Wilwarin als Favoritin drei zu eins in Führung, die anderen kommen dicht dahinter,“ sagte Elphir mit einem Lachen. Tatsächlich war die fragliche Dame seine Schwägerin und wohlbekannt für ihre herausragende Schönheit und ihre untadeligen Manieren. 

„Frau Wilwarin? Dann ist sein Schicksal besiegelt!“ scherzte Amrothos. 

Wieder musste sie glucksen, aber gleichzeitig tat ihr der unbekannte König ein wenig Leid. Immerhin hatte er Minas Tirith vor den Heeren von Sauron gerettet, ihren Vater und ihre Brüder eingeschlossen. Trotzdem, sagte sie sich, konnte er sich doch bestimmt um seine eigenen Angelegenheiten kümmern, und es ging sie wirklich nichts an. 

Dann bogen sie um die Ecke in die Straße ein, wo ihr Haus stand, und alle Gedanken an den König von Rohan waren vergessen, als die Freude über ihre Heimkehr sie durchflutete.


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