Bevor ich schlafen gehe
von Cúthalion


18. Kapitel
Ein Morgen im September

Rosie und Sam kamen am frühen Nachmittag des nächsten Tages vom Kattunhof zurück. Das Gewitter war lange vorüber und der Garten roch berauschend süß nach den ersten aufgeblühten Rosen. Lily erwartete sie mit einem feinen Essen; Brathähnchen, grüne Bohnen und Kartoffelbrei mit Butter und frischem Schnittlauch. Sie hatte sogar einen riesigen Kirschkuchen gebacken, und nach der Mahlzeit gab Sam einen tief zufriedenen Seufzer von sich, lehnte sich zurück und ließ seinen Blick über den (reichlich abgegrasten) Tisch wandern. Er sah leere Teller, halbleere Becher mit Bier, Milch und Apfelsaft, ein paar zerknüllte Servietten – und die Hand von Herrn Frodo, die die Hand der lieblichen Hebamme hielt. Er blickte auf und sah das kleine Lächeln, das um die Lippen seines Herrn spielte, bevor Lily aufstand und die Teller hinaus trug. Ohne ein Wort nahm Herr Frodo die Bohnenschüssel und folgte ihr. Bald darauf hörte er Wasserplätschern aus der Küche und das angenehme Geräusch von leisen, lachenden Stimmen. Sam drehte sich zu Rosie um: er konnte das breite Lächeln spüren, das sich über seinem Gesicht ausbreitete.

„Also, hast du... hast du das gesehen?“ sagte er, und das Herz hüpfte ihm in der Brust. „Hast du das gesehen, Rosie-Mädel?“

„Natürlich hab ich das“, gab seine Frau trocken zurück. „Als ob du das nicht von Anfang an geplant hättest!“

Sam grinste in sein Bier.

„Ich wusste, ich musste sie hierher bringen, um den alten Spuk endlich zu vertreiben“, sagte er, einen kaum unterdrückten, schamlosen Jubel in der Stimme. „Ich wusste es!“

„Also, was immer du weißt oder auch nicht“, sagte Rosie nüchtern, „ich würde sagen, du hast genug getan.“ Sie stand auf, um den Rest der Teller einzusammeln. „Lass die beiden ihre Angelegenheiten selber regeln und lass jetzt deine Finger davon.“----

Von da an wurde es völlig normal, dass Lily die Nächte in Frodos Schlafzimmer verbrachte. Sie war bei ihm, wenn er nicht schlafen konnte, eine besänftigende Stimme in der Dunkelheit und ein weicher Körper, um Trost und ein gesegnetes Vergessen anzubieten. Niemals zuvor waren sie einander so nahe gewesen. Später hatte sie große Schwierigkeiten, es zu begreifen, aber manchmal schien ihrer beider Geist auf unbegreifliche Weise zu verschmelzen, wenn sie Haut an Haut schliefen. Sie sah seine Träume wie farbenfrohe Bilder, sie sah Erinnerungen, die er nie mit ihr geteilt hatte... eine liebliche Frau mit hellbraunem Haar und tiefblauen Augen, die den seinen glichen... das musste Primula sein... und ein gut aussehender Hobbit in den mittleren Jahren mit einem ansteckenden Lächeln und einem zerzausten, ebenholzbraunen Lockenkopf... Drogo? Sie sah Herr Meriadoc, nicht viel mehr als ein Dreikäsehoch, der hinter einem Kätzchen her rannte, und einen sich windenden Strom unterhalb eines riesigen Smial mit vielen Fenstern, die im roten Abendsonnenlicht glänzten.

Sie erwähnte am nächsten Tag nie etwas davon, aber sie bemerkte, dass er plötzlich über die Abenteuer seiner Kindheit sprach, über seine Eltern, seinen Großvater Rorimac und seine legendäre Großmutter Menegilda. Es war, als ob er instinktiv über ihren geheimnisvollen Gedankenaustausch Bescheid wüsste, und Lily ihrerseits stellte fest, dass sie ihm mehr über die Jahre vor dem Beginn ihrer Liebesgeschichte erzählte, als sie es je zuvor getan hatte.

Aber – als ob es eine stille Absprache gäbe – keiner von ihnen erwähnte den Antrag. Die Woche ging vorbei und eine weitere Woche folgte, und noch immer wartete der Brief an Herrn Elrond darauf, abgeschickt zu werden. Frodo fragte nicht noch einmal, und sie gab ihm keine Antwort.

Der Juni endete und der Juli begann mit wolkigen Tagen und kühlen Nächten. Sam ging auf den Markt nach Wegscheid, eine lange Wunschliste in der Westentasche. Rosie blieb zu Hause und Lily half ihr beim Pflücken und Einsalzen der frischen, grünen Bohnen, während Frodo im hinteren Garten saß, in ein Buch vertieft, und mit der freien Hand die Babywiege schaukelte. Sam kam kurz vor Sonnenuntergang zurück, und die Gamdschies, die Hebamme und der Herr von Beutelsend verbrachten einen friedlichen Abend miteinander. Sie genossen eines von Rosies köstlichen Abendessen und sangen Lieder im Kerzenlicht, bevor sie zu Bett gingen. Lily legte sich zuerst hin, während Frodo im Studierzimmer blieb, um seinen Bericht über die Befreiung des Auenlandes und die Niederlage Sarumans zu beenden. Er folgte ihr weit nach Mitternacht und warf sich lange rastlos hin und her, bevor ihm endlich die Augen zufielen.

*****

In dieser Nacht träumte Lily erneut, und als sie die seltsame Welt ihrer vereinten Träume betrat, wusste sie binnen Sekunden, dass sie keinen von Frodos angenehmen Augenblicken aus einer idyllischen Vergangenheit sehen würde; dies war eine von Frodos finstersten Erinnerungen, und sie kam ohne jede Vorwarnung. Sie wurde in eine Wirbel aus Furcht und blindem Zorn geschleudert, ohne die Möglichkeit zu haben, sich zu schützen oder zu entkommen.

...krieche einen pfad entlang der sich einen berg hinauf schlängelt und die luft riecht nach asche und schwefel und knie und hände sind wund und voll von brennenden schrammen die zunge ein geschwollener klumpen fleisch in meinem mund... und der berggipfel ist eine unmögliche ewigkeit weit weg und ich werde sie nicht rechtzeitig erreichen ich werde hier im dreck sterben mein körper ausgedörrt und mein geist umwölkt von wahnsinn sam wo ist sam er muss irgendwo hinter mir sein und ich kann nicht mehr zulassen dass er mich trägt wie zuvor aber ich spüre dass sich jemand anderes nähert und nein es ist nicht sam und es ist nicht das auge denn das auge ist in meinem herzen und sieht mich von innen und es gibt kein entkommen und nun ist er hinter mir nahe so nahe der dieb der kleine zischende dieb der mörder dieses elende geschöpf kein mitleid wert und diesmal werde ich all seinen versuchen Ihn mir zu rauben ein ende machen diesmal werde ich nicht zögern...

... und Lily erwachte mit einem wortlosen Schrei und spürte ein schweres Gewicht, das sie auf die Matratze presste. Die Vorhänge waren offen und im Licht des Vollmondes sah sie Frodos Gesicht über sich, und es war von einem tödlichen Weiß. Er starrte auf sie hinunter, aber er sah sie nicht... seine Augen waren leer und hohl, ein bodenloser Abgrund, der alle Zärtlichkeit und Vertrautheit verschlungen hatte. Seine Zähne waren gebleckt, sie konnte sie glänzen sehen wie poliertes Silber, und seine Hände lagen um ihren Hals wie ein Schraubstock.

Sie versuchte zu sprechen, aber es war sinnlos. Sie spürte den wachsenden Druck seiner langen Finger und hörte ihn flüstern, ein leiser, entsetzlicher Strom von Worten. Mitten in ihrer ungläubigen Panik hörte sie Ring und Dieb und die Furcht war wie eine eisige Lawine, die über ihr zusammenbrach. Er erkannte sie nicht. Er dachte, sie sei Gollum, und er versuchte, seinen toten Feind endlich zu vernichten. Die Welt wurde dunkler, und Funken tanzten und verloschen vor ihren Augen. Sie versuchte, um sich zu schlagen und ihn zurück zu stoßen, aber ihre Lungen schrieen nach Luft und sie fühlte, wie ihr Bewusstsein davonglitt. Ihr Körper wurde schlaff, aber mit dem letzten Überrest Kraft gelang es ihr, einen klaren Gedanken auszusenden wie einen Speer, der seinen Geist durchbohrte und den Alptraum zerbrach.

liebster ich bin es um der sterne willen ich bin es bitte nicht bitte liebster

Plötzlich war der Druck fort und das zermalmende Gewicht hob sich von ihrem Körper. Von sehr weit weg hörte sie Sams Stimme, die sich zu einem Schrei erhob. Sie rang nach Luft, die Augen geschlossen, und krümmte sich in einem schmerzhaften, würgenden Hustenanfall zusammen. Dann war da der vertraute, tröstliche Duft von Rosies Nachthemd, Lavendel und Kamille, und sie spürte, wie ihre Freundin sie festhielt und ihr mit sanften Bewegungen den Rücken rieb.

Aber über all diesen vagen Eindrücken hörte sie eine Stimme voll bitterer, ungläubiger Qual:

„Oh nein... was habe ich getan? Was habe ich ihr angetan?“

Die Welt wurde schwarz und diesmal überließ Lily sich der Dunkelheit.

*****

Der nächste Morgen dämmerte mit einem hohen, durchscheinenden Himmel, der einen schönen Tag versprach, aber selbst die Sonne war nicht imstande, die dunklen Wolken zu vertreiben, die über Beutelsend hingen.

Kurz nach Sonnenaufgang saß Sam in der leeren Küche; er fühlte sich elend und zerschlagen und als er seinen Becher hob, um einen Schluck von dem Pfefferminztee zu nehmen, den er sich gekocht hatte, entdeckte er zu seiner großen Bestürzung, dass seine Hände zitterten.

Nach dem... Zwischenfall hatte er seiner Frau geholfen, Lily in ihr Zimmer zu tragen. Elanor war aufgewacht (kein Wunder nach all dem Geschrei und Türenschlagen) und er verbrachte mehr als eine Stunde damit, sie in seinen Armen zu wiegen und von Raum zu Raum zu wandern. Er sang leise vor sich hin und versuchte, nicht nur das schreiende Baby zu beruhigen, sondern auch seinen eigenen, rasenden Herzschlag. Als Elanor sicher und still in ihrer Wiege lag, stolperte er in Lilys Zimmer hinüber... nur, um Rosie auf dem niedrigen Hocker neben dem Bett zu entdecken, ihr Gesicht in den Händen vergraben. Sie schluchzte heftig. Er kniete sich neben den Hocker und umarmte sie, aber es war ihm fast unmöglich, sie zu beruhigen. Endlich brachte er sie in ihr gemeinsames Schlafzimmer, und er setzte sich neben sie und hielt ihre Hand, bis die Tränen versiegten und sie einschlief.

Den Rest der Nacht verbrachte er damit, den langen Korridor auf und ab zu gehen, in die Zimmer zu spähen und ein wachsames Auge auf seine Schutzbefohlenen zu haben. Gegen drei Uhr morgens brachte er Elanor zu Rosie, wartete, bis seine Tochter sich satt getrunken hatte und trug sie zurück in die Wiege. Lilys Bewusstlosigkeit hatte sich in einen tiefen, erschöpften Schlaf verwandelt, und Herr Frodo... nun, Herr Frodo hatte sich in Luft aufgelöst.

Herr Frodo.

Die Erinnerung traf ihn wie ein Schlag; Sam schloss die Augen in dem sinnlosen Versuch, die Bilder auszusperren, die seinen Geist überfluteten und fing an zu weinen.

*****

Er hatte von Gollum geträumt, und er war jäh aufgewacht, erfüllt von dem vertrauten Gefühl hilflosen Zorns und schuldbewussten Mitleids. Und ohne zu begreifen warum hatte er plötzlich gewusst, dass irgend etwas nicht in Ordnung war, absolut nicht in Ordnung... und er sprang aus dem Bett und hastete aus der Kammer und den Gang hinunter und kam vor Herrn Frodos Zimmer stolpernd zum Stehen. Kein Geräusch kam von drinnen, aber das Gefühl der Gefahr verstärkte sich, bis er alle Rücksichtnahme und Scheu vergaß und die Tür öffnete.

Der Raum war in Blau und Silber gebadet, überspült vom Licht eines riesigen Vollmondes. Herr Frodo kniete auf dem Bett, sein Oberkörper sehr gerade, sein Kopf gebeugt; zerzauste Locken verbargen sein Gesicht. Lily lag unter ihm... ein Bein zuckte schwach, beide Arme hingen seitlich von der Matratze herunter. Frodos Hände lagen in tödlichem Griff um ihren Hals, und für ein paar eingefrorene Sekunden stand Sam völlig still, unfähig zu glauben, was seine Augen ihm sagten.

Dann schauderte Herr Frodo zusammen und ließ los; er starrte auf Lilys stille Gestalt hinunter und stieß einen plötzlichen, würgenden Laut aus. Seine Stimme befreite die von Sam, der aufschrie, einen Satz machte und Herrn Frodo um die Mitte zu fassen bekam. Im nächsten Moment lag sein Herr auf dem Boden. Sein Gesicht war leer und er rührte sich nicht, und bevor Sam aufstehen konnte, um nach Lily zu sehen, erschien Rosie auf der Türschwelle. Sie hastete in einem Wirbel aus Nachthemd und Schultertuch an ihm vorbei und nahm Lily in die Arme. Sam hörte, wie die junge Hebamme pfeifend nach Luft rang und dann einen schrecklichen Hustenanfall, als sie sich in der Umarmung seiner Frau aufbäumte. Sam wandte seinen Blick wieder Herrn Frodo zu; langsam kehrte das Bewusstsein in die geweiteten, tiefblauen Augen zurück und er versuchte, sich aufzusetzen. Sam nahm sich zusammen und stützte ihn, erfüllt von grimmiger Erleichterung und verwirrtem Zorn gleichzeitig, und dann spürte er, wie Herr Frodo zusammenzuckte, als er die Lage endlich begriff.

„Oh nein... was habe ich getan? Was habe ich ihr angetan?“

Sam hatte Herrn Frodo auf der Fahrt gesehen, wie er schwächer und schwächer wurde, während der Ring an seinem Geist zerrte, und er hatte ihn über die Ebene von Gorgoroth stolpern sehen, mit blutenden Füßen, den Rücken gebeugt unter der entsetzlichen Last seiner Aufgabe. Er hatte ihn auf dem Pfad liegen sehen, der zu den Sammath Naur hinauf führte, kaum imstande zu atmen, sein Gesicht aschfahl, sein erschöpfter Wille so zerbrochen und ruiniert wie sein ganzer Körper.

Aber nie zuvor hatte er so eine tiefe, untröstliche Verzweiflung in seiner Stimme gehört.

Herr Frodo kam mühselig auf die Knie und dann auf die Füße; er schüttelte Sams Hände ab. Seine Augen waren dunkle Teiche aus starrem Entsetzen in einem grauen Gesicht. Langsam ging er rückwärts, drehte sich auf der Schwelle um und verschwand in der Dunkelheit des Korridors.

Sam stand auf und machte ein paar zögernde Schritte in Richtung Tür.

„Nein. Nein, Lieber, nicht.“

„Aber... aber ich muss!“ protestierte er. „Ich muss ihm hinterher! Er braucht...“

„Was immer er braucht, du bist es ganz sicher nicht,“ Rosie sprach mit müder Stimme; sie hielt Lilys Kopf auf dem Schoß und streichelte sanft das lange, zerzauste Haar. „ Sieh lieber zu, dass du für ihn da bist, wenn er wiederkommt. Dann braucht er dich ganz bestimmt.“

*****

Sam wischte sich das Gesicht mit dem Ärmel; mit der freien Hand suchte er blind und ungeschickt nach einem Taschentuch, als ihm plötzlich jemand wortlos das Gewünschte reichte. Er putzte sich die Nase, trocknete sich die Augen und drehte sich um, um seiner Frau zu danken.

Aber es war Lily.

Lily. Sie war vollständig angezogen, ihr Haar war zu einer sauberen Krone aufgesteckt. Instinktiv suchte Sam nach Spuren an ihrem Hals, aber sie hatte ihn mit einem kleinen, gepunkteten Tuch verhüllt. Sie sah völlig normal aus... abgesehen von ihrem Gesicht. Es war ruhig und undurchdringlich, aber farblos bis zu den Lippen.

Er starrte sie mit offenem Mund an.

„Wieso bist du auf? Du solltest in deinem Bett sein“, Seine Stimme war nicht mehr als ein dünnes Quietschen. „Und wo... wo ist Rosie?“

„Sie schläft noch, genau wie Elanor.“ sagte Lily. Sie sprach sehr leise. „Sam, wo ist Frodo?“

„Ich weiß nicht...“ Er wich ihrem Blick aus und starrte auf seine Hände hinunter. „Er ist weg aus dem Smial, nachdem... nachdem...“

„... nachdem er versucht hat, mich umzubringen?“ Lily schüttelte den Kopf. „Er wollte nicht mich töten, er wollte Gollum töten. Ich nehme an, dass dieses elende Geschöpf in seinem Alptraum versucht hat, ihm den Ring zu rauben.“

„Woher weißt du...“

„Ich habe nicht umsonst all diese Tage im Studierzimmer verbracht“, erwiderte Lily sanft. „Er hat mir das Rote Buch gegeben.“

„Ich wollte nach ihm suchen“, sagte Sam unglücklich, „aber ich... ich hab mich nicht getraut.“ Das war sein schlimmstes Eingeständnis und vielleicht seine tiefste Niederlage; er hätte sein Leben willig dem geliebten Herrn in die Hände gelegt, aber nach der Szene von letzter Nacht hatte er Angst, seine Familie ungeschützt zu lassen – ungeschützt gegen den Ringträger und Retter von Mittelerde. Der Gedanke war unerträglich und ließ ihm neue Tränen in die Augen steigen.

„Er würde niemandem weh tun. Es ist nicht seine Schuld... und der Traum ist jetzt vorüber.“ Für einen winzigen Moment schwankte Lilys Stimme, aber sie nahm sich schnell wieder zusammen. „Und du solltest hier bleiben. Wenn ich ihn nicht finde, dann sollte er dich und Rosie haben, zu denen er nach Hause kommen kann.“ Ihr Ton wurde ein wenig weicher. „Wein nicht, Sam. Es war auch nicht deine Schuld. Mach den Dunklen Herrscher dafür verantwortlich und sein böses Schmuckstück, mach die dunklen Zeiten dafür verantwortlich, in denen wir gelebt haben, aber nicht Frodo. Er bezahlt einen grausamen Preis für seinen Mut und die Großzügigkeit seines Herzens.“

Sie seufzte, und für einen flüchtigen Augenblick spürte er ihre Hand auf der Schulter.

„Es gibt ein paar Dinge, über die er und ich reden müssen.“ Sie drehte sich um und ging in Richtung Tür. Er sah zu, wie sie sie öffnete, und als die frühe Morgensonne hereinströmte, sah er ihre schlanke Gestalt wie einen scharfen, schwarzen Scherenschnitt gegen das Licht. Dann schloss sich die Tür wieder hinter ihr und sie war fort.

*****

Lily ging zu all den Plätzen in Hobbingen, von denen sie wusste, dass sie ihm die liebsten waren, und gegen sechs Uhr früh hatte sie sie jeden abgesucht... aber nirgendwo eine Spur von Frodo. Wo konnte er sein? Er hatte keines der Ponys genommen; als sie die Ställe überprüfte, waren Lutz, Streicher und Weidenwicke noch da, nickten schläfrig und durchsuchten ihre Rocktaschen mit samtweichen Nasen nach einem Apfel oder einer Karotte. Hatte er einen Rucksack genommen und war in die Wildnis davon gewandert? War er zu diesem geheimnisvollen Bruchtal abgereist? Oder hatte er das Gefühl, dass er das große Geschenk der Elben nicht länger verdiente und hatte entschieden, fort zu laufen, ohne Plan und ohne Ziel?

Lily blieb auf der Brücke nach Wasserau stehen. Sie beugte sich über das Geländer und schaute in das klare Wasser hinunter.

Der Fluss.

Sie schloss die Augen.

Wie oft hatte sie ihn in seinen Träumen gesehen... seinen gewundenen Lauf unter den hundert Fenstern des Heimes seiner Kindheit? Frodo war unter dem Klang der kleinen, sich kräuselnden Wellen geboren, er war von Ufer zu Ufer geschwommen, den grünen Duft von Schilf und Wasserdost in der Nase. Es hatte Bootsrennen und Angelwettbewerbe gegeben, und dann hatte ihm der Brandywein seine Eltern genommen und ihm ihre Leichen vor die Füße gespieen. Er hatte sie betrauert, während er auf die graue Wasseroberfläche hinaus starrte, und er hatte den Strom verflucht. Er hatte Bockland den Rücken gewandt, aber er konnte noch immer das Lied des Wassers hören, er war noch immer ein Kind des Flusses.

Der Fluss.

Sie verließ die Brücke in Richtung Hobbingen und nahm den Pfad hinunter zum Ufer der Wässer. Über die längste Strecke war es deutlich sichtbar; nur ein paar wenige Trauerweiden ließen ihre Zweige in die sanfte Strömung hängen. Aber da war das kleine Wäldchen in der Flussbiegung, wo sie sich vor einer Ewigkeit versteckt hatten, um sich in einer heißen Sommernacht abzukühlen und sich endlich im Strom zu lieben. Sie erreichte die ersten Bäume. In ihrem Schatten verlor die frühe Sonne ihre Kraft und sie zog das Tuch – das alte Kastanien-Tuch, sie hatte es genommen, ohne nachzudenken – enger um ihre Schultern zusammen. Der Boden war mit hellen Flecken übersät von dem Licht, das durch die schwankenden Zweige fiel, tanzendes Grün und Gold, und es brauchte eine Weile, bis sie die stille Gestalt bemerkte, die dicht am Flussufer saß, an den Stamm einer alten, knorrigen Eiche gelehnt.

Sie hatte ihn gefunden.

Als sie näher kam, stand er langsam auf. Er hatte sie noch nicht bemerkt; sein Blick hing an dem blassen, sonnenfleckigen Silber der Wellen, Er ging dichter ans Ufer heran und in den Fluss hinein, bis er bis über die Knöchel im Wasser stand. Was hatte er vor? Wollte er---

„Frodo!”

Erst dachte sie, er hätte sie nicht gehört. Sie rannte die letzten paar Meter, bis sie kühle, nasse Erde unter den Füßen spürte; der Fluss leckte an ihren Zehen.

„Frodo!”

Er drehte sich um und sah sie, und für einen Moment war sein Gesicht erfüllt von schierer, unaussprechlicher Erleichterung.

„Lily! Bist du...“

Er streckte die Hände nach ihr aus, aber dann fielen sie herunter, und das Licht in seinen Augen erlosch.

„Was tust du hier?“ Seine Stimme war sehr leise, aber in der Stille unter den Bäumen trug sie weit genug. „Geh nach Hause, bitte.“

„Das werde ich nicht“, sagte sie. „das werde ich nicht, es sei denn, du kommst mit mir.“

Seine Schultern sanken herab.

„Ich habe kein Zuhause mehr.“ Er sprach mit grimmiger Gewissheit. „Ich habe unter dem Dach meines eigenen Smial versucht, die Frau, die ich liebe, umzubringen. Was für ein Recht ich auch immer gehabt haben mag, letzte Nacht habe ich es verspielt.“

Sie schwieg; sie wusste, dass ein falsches Wort ihn in die Flucht schlagen würde.

„Es war ein Alptraum.“ sagte sie endlich, behutsam ihren Weg ertastend. „Du hast nicht versucht, mich zu töten. Du hast versucht, Sméagol zu töten.“

„Was immer ich auch geträumt habe, meine Hände lagen um deinen Hals“, flüsterte er mit müder Stimme. „und es war nicht Sméagol, der in meinem Bett lag, sondern du.“

Zu ihrer Überraschung spürte sie, wie ein kleines Lächeln ihre Mundwinkel hob.

„Ich kann mir sowieso keinen Grund vorstellen, weshalb du dein Bett mit dieser schmierigen Kreatur teilen solltest“, gab sie trocken zurück, „und wenn ich ihn dort gefunden hätte, hätte ich ihn wahrscheinlich selbst umgebracht.“

Er gab ein winziges Glucksen von sich, aber dann war er wieder still, und wieder konnte sie die tiefe, beängstigende Verzweiflung in seinem aschgrauen Gesicht sehen.

„Ich weiß nicht, wie du es erträgst, in meiner Nähe zu sein“, sagte er und mied ihren Blick. „Ich verstehe nicht, was du hier tust... bist du gekommen, um mir zu sagen, dass du mich nach dieser Nacht nicht mehr heiraten wirst? Ich weiß, das war eine närrische Idee. Ich kann nicht der Ehemann sein, den du verdienst... ich wäre nichts als eine andauernde Gefahr.“

Sie schaute weg, entsetzt über die kalte Bitterkeit in seiner Stimme, die erbarmungslose Selbstanklage.

„Ich mache dir keinen Vorwurf“, sagte sie, mühsam um Fassung ringend; dies war nicht der Augenblick für Tränen. „Wenn irgend jemand daran Schuld hat, dann ist es der Ring. Oder der Dunkle Herrscher. Oder...“ Sie zögerte. „Du solltest die Tatsache dafür verantwortlich machen, dass deine Tat einen gewaltigen Preis hatte... und dass niemand dir vorher gesagt hast, dass du derjenige sein würdest, der ihn zahlen muss.“

Ein langes Schweigen.

„Ich weiß nicht, ob sie es wirklich wussten“, sagte er endlich. „Nur Gandalf... Er... Nachdem ich auf dem Weg nach Hause Bilbo in Bruchtal besucht hatte und wir die Brücke über den Bruinen überquerten, fühlte ich mich elend und schwach, und da war ein kalter, anhaltender Schmerz in meiner Schulter. Und er ritt neben mir und fragte plötzlich: ,Hast du Schmerzen?’, so als ob er es wüsste. Und als ich sagte, dass es so wäre, da sagte er: ,Es gibt Wunden, die nicht völlig geheilt werden können.’“

Frodo kam aus dem Wasser und stand neben ihr. Sie streckte die Hand aus und nahm seine, und nach einem kurzen Moment des Zögerns ließ er ihre Berührung zu.

„Hast du ihm geantwortet?“ fragte sie.

Er wandte seinen Kopf ab und sie musste sich konzentrieren, um seine Erwiderung zu hören.

„Ja, das habe ich.“ Er starrte auf den Fluss hinaus. Die Sonne stieg über die Baumwipfel des Wäldchens und die tanzenden Lichter auf dem Wasser wurden heller. „Ich habe gesagt: ,Messer, Stachel und Zahn haben mich verwundet, und die Bürde hat mich erschöpft. Wo soll ich Ruhe finden?’“ Jetzt sah er sie an, und seine Augen waren dunkel vor Schmerz.

„Ich weiß, dass du verwundet bist.“ Sie berührte seine Wange. „Während der letzten Wochen habe ich jede Nacht mit dir verbracht. Ich habe deine Erinnerungen gesehen... und nicht nur die hellen. Ich habe dich letzten Oktober in den Armen gehalten, als du in deinen Träumen wieder den Berg hinauf gekrochen bist, den Ring an seiner Kette um den Hals wie ein tödliches Gewicht. Ich habe dich in meinem Geist aufschreien hören – mehr als einmal.“

„Es tut mir leid.“ Seine Stimme war beinahe unhörbar. „Es tut mir so leid, Lily.“

„Hör auf damit!“ Zorn wallte in ihr auf, erstaunlich stark und roh, und er vertrieb den Kummer. „Sag nicht, dass es dir leid tut. Das führt uns nirgendwo hin.“ Sie schluckte. „Vielleicht bin ich es, die dich um Verzeihung bitten sollte. Ich liebe dich, Frodo Beutlin, mehr als mein eigenes Leben, aber ich werde dich nicht heiraten.“

„Natürlich wirst du das nicht.“ Die Erschöpfung in seiner Stimme vertiefte sich. „Nach dem, was letzte Nacht passiert ist, wäre es Wahnsinn, meine Frau zu werden.“

Nein, Frodo, nein.“ Lily umschloss sein Gesicht mit beiden Händen. „Ich habe diese Entscheidung schon vor letzter Nacht getroffen.“

„Du hast – was?“ Er stand völlig still, dann trat er zurück. Sein Gesicht war weiß und verwirrt.

„Ich habe zu viele von deinen Alpträumen gesehen.“ Sie sprach sehr leise. „Ich weiß nicht, wieso ich so leicht in deinen Geist eintreten kann, als ginge ich in meinem Smial von Zimmer zu Zimmer, aber seit du mich zum ersten Mal seit deiner Rückkehr geliebt hast, ist es so gewesen, jedes Mal, wenn wir beieinander geschlafen haben. Ich mag nicht ganz und gar wissen, was dieses goldene Ding dir angetan hat, aber ich kann der Spur deiner Träume folgen, mein Liebster, und sie führt in die Finsternis. Ich kann dich nicht heilen.“

Ihre Stimme brach und sie räusperte sich.

„Wenn ich irgendeine Möglichkeit sehen würde, dass du im Auenland bleiben kannst, der weise, belesene Herr von Beutelsend, Held zahlloser Abenteuer, die die Leute im Efeubusch bloß halb glauben... wenn ich sehen könnte, dass wir die Möglichkeit eines gemeinsamen Lebens haben... ich würde es sofort riskieren.“

Sie legte eine Hand auf seine Brust und spürte den schweren Herzschlag unter Stoff und Haut.

„Wenn ich glauben würde, dass du gesund werden kannst, wenn du hier bleibst, dass meine Liebe eines Tages endlich das Heilmittel sein könnte für das, was dich von innen her auffrisst... ich würde mich neben dich legen und jeden Alptraum ertragen, selbst wenn ich mitten in der Nacht aufwachen und feststellen müsste, dass du mir mit Stich geradewegs auf die Brust zielst.“

Frodo starrte sie an, und plötzlich setzte er sich in das taufeuchte Gras, als würden ihn seine Beine nicht länger tragen. Lily folgte seiner Bewegung und kniete sich vor ihn, ihre Augen auf gleicher Höhe.

„Ich hätte es dir eher sagen sollen“, fuhr sie fort. „Aber wir hatten so... so eine gesegnete Zeit miteinander. Ich wollte es nicht zerstören, so lange es dauerte. Es war, als würde ich den letzten Traum zerschmettern, der dich noch in Mittelerde hält. Es tut mir leid, Geliebter – wäre ich mutiger gewesen und weniger selbstsüchtig, dann wäre der Alptraum von letzter Nacht vielleicht nie passiert.“

„Es ist nicht selbstlos, sich so zu verschenken, wie du es getan hast.“ flüsterte er.

Sie schaute weg und rang darum, ihre Stimme gleichmäßig zu halten.

„Ja“, erwiderte sie und starrte auf ihre Hände hinunter, „Aber hätte ich dir gesagt, dass du mit den Elben segeln musst, als du mich gebeten hast, dich zu heiraten, dann hättest du die richtige Entscheidung viel eher getroffen. Ich wollte dich beschützen, und jetzt habe ich dich statt dessen verletzt.“

Er schwieg. Lily konnte hören, wie Hobbingen rings um sie her erwachte; ein schriller Hahnenschrei begrüßte den Tag, die Räder eines frühen Karrens ratterten den Weg jenseits des Wäldchens entlang und bald würden die ersten Frauen auftauchen, um ihre Wäsche ein Stück weiter im Fluss zu spülen.

„Hast du dir je gewünscht, du könntest die Zeit zurückdrehen?“ fragte er plötzlich.

Lily runzelte die Stirn. Sie antwortete nicht; sie wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Er beugte sich vor und nahm ihre Hände.

„Weißt du... in der Nacht, als Lotho dich zum ersten Mal überfallen hast, nach dem Frühlingstanz, da habe ich schon eine Entscheidung getroffen. Ich begriff plötzlich, wie viel zu mir bedeutest – nicht dass du mir vorher nichts bedeutet hast!“ fügte er eilig hinzu. „Aber plötzlich sah ich, wie sehr du ein Teil von mir geworden warst, wie verloren ich war ohne dich an meiner Seite. Und ich wusste, dass der beste Weg, dich vor Lothos Zudringlichkeit zu beschützen, der sein würde, dich zu meiner Frau zu machen. Er hätte nie in Hobbingen Boden gewonnen, und er hätte es nie gewagt, die Herrin von Beutelsend zu belästigen.“ Er seufzte. „Das war das erste Mal, das ich dir Primulas Ring geben wollte.“

„Die Nacht, ehe der Zauberer kam.“ Es war eine Feststellung, keine Frage.

„Ja.“ Er sah sie an; Trauer und Zorn mischten sich in seinen Augen. „Nach der Geschichte, die er mir erzählt hatte, und nach meinen brandneuen Wissen über Bilbos Erbstück verlor ich den Mut. Ich wünschte, ich hätte dich eher gefragt... das ist etwas, das ich mir nie verzeihen werde.“

Sie beugte sich vor; ihr Blick war plötzlich scharf wie ein Messer. „Sag das nicht.“ antwortete sie. „Quäl dich nicht selbst. Vielleicht hättest du mir – und dem ganzen Auenland – diesen elenden Baas ersparen können, aber du vergisst Scharker.“

„Scharker?“

„Ja, natürlich.“ Sie holte tief Atem. „Er wäre mit oder ohne Lotho hierher gekommen.“

Er schüttelte protestierend den Kopf. „Aber du wärst nie in Beutelsend gewesen. Ich hätte dich im Brandyschloss in Sicherheit gebracht, bevor ich von Krickloch aus aufbrach.“

„Und mich davon abgehalten, meine Arbeit als Hebamme weiter zu machen?“

„Ich weiß nicht.“ Er runzelte die Stirn. „Wahrscheinlich nicht. Ich hätte dich nie von etwas abgehalten, das du tun möchtest.“

„Siehst du?“ Lily schenkte ihm ein schwaches Lächeln. „Ich wäre hier geblieben, meine Familie bei mir in Beutelsend, um mich um die Frauen von Hobbingen und Wasserau zu kümmern, wie ich es immer getan habe. Und wenn Scharker gekommen wäre, hätte er herausgefunden, dass der Ringträger eine Frau zurückließ, als er auf seine Fahrt ging.“

Sie konnte spüren wie ihre Hände in seinem Griff zitterten.

„Erinnerst du dich, was ich dir über den Tag erzählt habe, als ich ihm begegnet bin? Ich habe nur aus einem Grund überlebt: er dachte, ich sei die wertlose Hure des Ringträgers, und nicht mehr. Und selbst so bin ich nur um Haaresbreite entkommen. Ich habe ihn mit den Erinnerungen an dich abgelenkt, und er verhöhnte mich und jagte mich davon. Wäre ich die Herrin gewesen, dann hätte er die Gelegenheit genutzt, sich für den Verlust seiner Macht zu rächen. Du wärst zu einer ermordeten Frau nach Hause gekommen... und vielleicht zu einem erschlagenen Kind. Möchtest du immer noch die Zeit zurückdrehen?“

Er schüttelte den Kopf, sein Gesicht kalkweiß. Jetzt strömten ihr die Tränen über die Wangen, aber es kümmerte sie nicht.

„Nein, mein Liebster... du wirst mit den Elben segeln, und ich werde hier bleiben. Ich werde Rosies vielen Kindern auf die Welt helfen – ja, ich habe sie in deinen Träumen gesehen – und ich wäre älter werden und mich an dich erinnern. Mein Haar wird grau werden und mein Gesicht voller Falten, und eines Tages werden mir die Gelenke weh tun, wenn ich den Springelring tanze. Aber ich werde meine Erinnerungen hüten wie einen kostbaren Schatz, und ich werde nie den Tag erleben, an dem du vor mir stehst und mich fragst, warum ich mich an dich geklammert und dich davon abgehalten habe, fort zu gehen, als die Tür in den Westen für dich offen stand.“

„Lily…”

Frodo bebte heftig; plötzlich krümmte er sich zusammen und streckte blind die Arme nach ihr aus. Lily fing ihn auf und er schluchzte, das Gesicht an ihrer Brust vergraben. Seine Tränen wuschen Schmerz und Bitterkeit fort, Zorn und Bedauern. Sie weinte mit ihm, bis er sich beruhigte, endlich erfüllt von einem zerbrechlichen Frieden. Sie kühlten sich die Gesichter im klaren, besänftigenden Wasser des Flusses, und dann nahm sie seine Hand und geleitete ihn nach Hause.

*****

Drei Tage später zog Lily Stolzfuß in ihren renovierten Smial zurück. Während sie sich um Rosie und ihre Tochter kümmerte, hatte Frodo Beutlin einen Zimmermann angeheuert, der die klappernden Fensterrahmen auswechselte und einen Maler, der die Wände in jedem Zimmer frisch weißte. Lily Kattun sammelte ein paar Gevatterinnen um sich, und neue Vorhänge wurde genäht. Frau Kattun bestand darauf, eine Truhe mit heimgesponnenem Leinen zu füllen – frische Bettwäsche, ein Dutzend Nachthemden, zwanzig ärmellose Unterhemden und einen großen Stapel feiner Leinen-Handtücher. „Ich hab keine Ahnung, wann sich Lily endlich einen Ehemann sucht – oder ob überhaupt – aber sie sollte in jedem Fall genug Haushaltswäsche haben.“ sagte sie zu ihrem Mann, „Wenigstens etwas, wofür ich sorgen kann.“ Und sie klappte die Kiste mit einem zufriedenen Knall zu.

Als Lily den Smial betrat, Sam Gamdschie mit ihrer Tasche hinter sich, erkannte sie ihr Heim kaum wieder. Neue braune Fliesen bedeckten den Boden, die Mauern grüßten sie mit sauberem Weiß und nirgendwo war auch nur eine Spur von Staub zu sehen. Ein schönes gelbes Tischtuch mit Gänseblümchen-Muster lag auf dem Küchentisch und eine Schüssel frischer Äpfel lud sie ein, einen herzhaften Bissen zu nehmen.

„Und neue Vorhänge!“ rief sie aus, die Augen groß vor Staunen. „Was ist denn hier passiert?“

Sam stellte die Tasche auf einen Stuhl und grinste.

„Rosies Mama ist hier passiert, ihre Freundinnen und ein gutes Dutzend von ,deinen’ Müttern.“ antwortete er. „Die sind gestern in diesen Smial eingefallen wie ein Schwarm Heuschrecken. Sollte es hier irgend welches Ungeziefer gegeben haben, dann ist es auf der Stelle vor Schreck gestorben.“ Er gluckste. „Komm, Lily. Herr Frodo hat mir gesagt, ich soll dir was zeigen.“

Sie folgte ihm aus der Küche und sie gingen den Korridor hinunter, bis sie vor dem Raum standen, der einmal das Schlafzimmer ihrer Eltern gewesen war. Sam öffnete die Tür und Lily trat ein.

Das alte Ehebett war verschwunden, der große Kleiderschrank war durch ein großes Regal ersetzt worden. Ein Dutzend Bücher mit Ledereinbänden stand in den Fächern, und an der Wand neben dem großen Fenster hing eine Karte, wunderschön mit vielfarbiger Tinte gezeichnet und sauber gerahmt. Sie zeigte das Auenland. Lily kannte das Bild; es gehörte Frodo und hing normalerweise an der Rückwand seines Studierzimmers. Ein kleiner Schreibtisch stand mitten in einem Teich aus morgendlichem Sonnenlicht, die Tischplatte poliert; er war aus Eiche, mit einer glatten Schreibunterlage aus Leder, einem großen Tintenfass und einem Elfenbeinständer mit einer neuen Feder. Der Sessel davor sah ausgesprochen bequem aus. Es gab auch einen neuen Teppich aus weicher Wolle in warmen Farben, mit eingewebten Efeuranken geschmückt.

Lily ging durch das Zimmer und sank in den Sessel. Sie hatte Recht gehabt; er war wirklich bequem.

„Die Möbel kommen aus einem der Lagerräume in Beutelsend“, beantwortete Sam ihre unausgesprochene Frage. „ Herr Frodo hat uns genau gesagt, was wir hierher bringen sollen. Er sagt, du kannst dir einfach andere aussuchen, wenn sie dir nicht gefallen.“

Frodo.

„Oh... ich mag sie, Sam, da tu ich wirklich.“ Lily sah zu ihm auf. „Ich bin ziemlich überwältigt.“

„Lily...“ Sam scharrte unbehaglich mit den Füßen. „Darf ich dich was fragen?“

„Natürlich.“

„Glaubst du, er wird je wieder so sein, wie er früher war?“

„Oh Sam...“ Lily seufzte. „“Du kannst die Zeit nicht zurückdrehen. Er wird nie wieder sein, was er war, ehe er herausfand, was die Macht eines bösen Schmuckstückes seiner Seele antun konnte. Du wirst nie wieder der einfache Gärtner von Beutelsend sein; die Leute singen Lieder über Samweis den Tapferen, und du bist ein Held, ob es dir gefällt oder nicht.“ Und ich bin auch verändert – durch die Liebe zu jemandem, dessen Taten für die Rettung von Mittelerde eine unheilbare Wunde in seinem Herzen hinterlassen haben... und die mir jetzt meines rauben.

„In diesen Tagen ist er so still.“ murmelte Sam.

„Lass ihm Zeit.“ Und hoffentlich findet er die richtigen Worte, dir zu sagen, dass er fort geht... und dass er nie wieder zurück kommt.

Sam ging eine halbe Stunde später nach Hause, und Lily packte ihre Tasche aus. Sie hatte gerade die letzte Bluse in den Schrank gehängt, als ein Karren vor dem Smial anhielt. Bungo Eichenzweig war gekommen, um sie für seine Frau zu holen; nach seinem ersten Sohn vor vier Jahren hatte ihm der Segen der Herrin ein zweites Kind beschert, und Lily verbrachte den Nachmittag und den ganzen Abend damit, Tulpe dabei zu helfen, eine gesunde Tochter auf die Welt zu bringen. Sie war unendlich dankbar für die täglichen Anforderungen ihrer Arbeit; das hielt sie davon ab, sich um Dinge zu sorgen, über die sie nicht nachdenken wollte – nicht jetzt.

Bei Sonnenuntergang kehrte sie rechtschaffen müde zum Smial zurück. In dem Korb, den Tulpe ihr aufgenötigt hatte, befand sich genug, um sie mit einem üppigen Abendessen zu versorgen, einem Frühstück und vermutlich mit jeder Mahlzeit der nächsten zwei Tage, aber sie hatte keinen Hunger. Sie füllte die Badewanne und weichte ihre steifen Glieder ein, bis die Abenddämmerung herabsank und das Licht in der Küche nachließ; dann kletterte sie aus dem Wasser, zündete die Kerzen in dem alten Messingleuchter an und wickelte sich in ein großes Leinenhandtuch aus Lily Kattuns Truhe.

*****

Er kam im Schatten der Nacht; er ging mit lautlosen Schritten den Gartenweg hinunter zum Küchenfenster. Die Vorhänge waren nicht vollständig geschlossen, und er sah, dass sie neben den brennenden Kerzen saß. Das flackernde Licht entzündete rotgoldene Funken in ihrem nassen Haar; sie kämmte es mit langsamen, regelmäßigen Bewegungen. Er konnte ihre weichen Rundungen unter dem Tuch erahnen, und mit einer Mischung aus bittersüßer Freude und Trauer spürte er, wie sein Körper darauf Antwort gab.

Nach jener schrecklichen Nacht hatte er sich von ihrem Bett ferngehalten, aus Furcht, in ihren Armen einzuschlafen und wieder zu träumen, aber er vermisste sie, er wollte sie, oh Sterne, er brauchte sie so sehr. Sie wusste, dass er da war, Noch bevor er sich bemerkbar machen konnte, wusste sie, dass er da war und öffnete ihm ohne ein Wort das Fenster. Er kletterte hinein; er fühlte sich unbeholfen und aufdringlich, und Lily stand vor ihm, still, mit einem kleinen, rätselhaften Lächeln. Er wollte etwas sagen, wollte sich dafür entschuldigen, dass er sie nicht in Frieden ließ, aber dann hob sie die Hand, und ihr Daumen zog die Linie seiner Lippen nach. Er sah ihre Augen, glitzernder Bernstein im Kerzenlicht, und das Handtuch glitt mit einem leisen Flüstern herunter und enthüllte ihren Körper, so vertraut, so wunderschön. Sein Herz setzte einen Schlag aus, und dann presste sie sich mit ihrer ganzen Länge an ihn und er küsste sie, lang und tief und hungrig und hörte, wie sie in seinen Mund hinein nach Luft schnappte, und dann waren Entschuldigungen nicht mehr nötig.

*****

Später sagten die Leute, der August 1421 sei beinahe so schön gewesen wie der August von 1420, dem legendären „Jahr des Segens“ – wenn nicht noch besser. Die Tage waren nicht zu heiß und die Nächte angenehm kühl; von Zeit zu Zeit erfrischte ein sanfter Schauer die Gärten, und die Kinder tanzten inmitten des sprühenden Wassers herum. Die Felder waren golden vom Weizen und die Apfel- und Zwetschgenernte würde wohl genauso spektakulär werden wie die letzte. Der Herr von Beutelsend machte lange Spaziergänge, und die, die ihn ein wenig besser kannten, fanden ihn freundlicher und zugänglicher als jemals zuvor, mehr noch als zu der Zeit, bevor auf diese eigenartige Reise gegangen war. Sam und Rosie entging nicht, dass er fast in jeder Nacht verschwand und kurz vor Sonnenaufgang zurück kam, sie stellten keine Fragen, denn sie wussten, wohin er ging.

Dann kam der September, und wieder übertraf die Ernte alle Erwartungen. Elanor krabbelte fröhlich durch den Smial und fing an, sich an jedem verfügbaren Hocker oder Tisch hoch zu ziehen, und kurz vor seinem Geburtstag bat Frodo Sam in sein Studierzimmer. Er sagte ihm, er würde nach Bruchtal gehen, um Bilbo zu sehen – vermutlich zum letzten Mal.

„Nun, Sam“, sagte Frodo, „ich möchte, dass du mit Rosie sprichst und herausfindest, ob sie dich entbehren kann, so dass du und ich gemeinsam losgehen können. Natürlich kannst du jetzt nicht weit oder für eine lange Zeit fort.“ sagte er ein wenig wehmütig.

„Nein, nicht sehr gut, Herr Frodo.“

„Natürlich. Aber mach dir nichts draus. Du kannst mich ein Stück begleiten. Sag Rose, du wirst nicht sehr lange weg bleiben, nicht länger als vierzehn Tage; und du wirst ungefährdet zurückkommen.“

„Ich wünschte, ich könnte die ganze Strecke bis Bruchtal mit dir gehen, Herr Frodo, und Herrn Bilbo sehen“, sagte Sam. „Und doch ist der einzige Ort, wo ich wirklich sein möchte, hier. Ich bin so entzweigerissen.“

„Armer Sam! So wirst du es empfinden, fürchte ich“, sagte Frodo. „Aber du wirst geheilt werden. Dir ist es bestimmt, heil und gesund zu sein, und du wirst es sein.“ *

Sam grübelte den ganzen Tag über diese letzten Worte nach, und als er und Rosie an diesem Abend in ihrem Bett lagen, meinte er plötzlich:“ Ich nehm’ mal an, das ist der Grund, wieso er nichts gesagt hat.“

„Wer hat wem nichts gesagt?“ Rosies Kopf lag auf seiner Schulter; sie hatte die Arme um ihn geschlungen und er spürte ihren Atem warm und sachte auf der bloßen Brust.

„Herr Frodo.“ erklärte Sam. „Er hat Lily nicht gefragt, ob sie ihn heiratet, noch nicht. Ich nehm’ mal an, er will erst Herrn Bilbo sehen und ihm davon erzählen. Schöner Gedanke, dass der alte Herr von Beutelsend den Tag erleben wird, an dem der junge sich endlich eine Frau nimmt.“

Rosie runzelte die Stirn.

„Zerbrich dir nicht den Kopf über Sachen, die dich überhaupt nichts angeh’n“, schalt sie milde; ihre Fingerspitzen malten ein träges Muster von Zärtlichkeiten auf seine sonnengebräunte Haut. „lass die beiden ihre Angelegenheiten selber regeln. Und er würde sich wohl kaum jede Nacht zum Stolzfuß-Smial hinunter schleichen, wenn er sie nicht lieben würde, oder?“

Sam lächelte in die Dunkelheit.

„Recht hast du, Mädel...“ Er fing ihre Hand ein und streckte den Arm aus, um seine Frau in einen Kuss hinein zu ziehen, der sich rasch vertiefte. „Lass uns einfach abwarten...“ jetzt war seine Stimme wein wenig atemlos,“ und sehen...“ köstliche Hitze schoss plötzlich durch seinen Körper, als Rosies Hand ihre Forschungsreise über seinen Bauch und tiefer hinab fortsetzte, „was passiert...!“ Und dies war das Ende der Unterhaltung, denn jetzt rollte er sie auf den Rücken und erstickte ihr Gelächter mit seinen Lippen.

„Mach dir keinen Kopf, du Dussel“, sagte er sich viel später, als Rosie in tiefem, gesättigten Schlummer neben ihm lag, „Du hast eine wunderbare Frau, ein wunderschöne Tochter und einen feinen Herrn. Er mag dieser Tage sehr schweigsam sein, aber seine Wunden heilen jetzt endlich. Lily wird ihn glücklich machen, und wir werden Gamdschie-Kleine und Beutlin-Kinder zusammen aufwachsen sehen. Ende gut, alles besser!“ zitierte er einen der Lieblingssprüche von Ohm Gamdschie und schlief ein.

*****

20. September, spät abends

Sie wusste nicht, ob er kommen würde. Sie hatte ihm gesagt, dass sie verstünde, wenn er die letzte Nacht in Hobbingen unter dem Dach von Beutelsend verbrachte, um sich an der Gesellschaft „seiner“ kleinen Familie zu erfreuen. Sie hatten sich an diesem Morgen im grauen Licht der Dämmerung umarmt, und sie hatte nicht gewusst, was sie sagen sollte. Wie konnte man jemandem Lebwohl sagen, der nicht sterben würde – sondern der die Grenzen dieser Welt hinter sich ließ, um in ein Land zu segeln, das so seltsam und anders war, dass sie vor dem bloßen Gedanken zurückscheute, sich vorzustellen, wie es sein mochte, dort zu leben? Morgen würde er fort gehen... sie wusste es, sie hatte ihm Mut gemacht, seiner Entscheidung treu zu bleiben, sie wusste, dass es das Richtige war... aber es war nicht wirklich, noch nicht. Sie stand im hinteren Garten, atmete den süßen Duft der schlafenden Blumenbeete ein und kämpfte gegen den wachsenden Eindruck an, dass die Welt um sie her ihre Konturen verlor und nichts zurückließ als einen Traum. Vielleicht wache ich morgen auf, dachte sie, und dann höre ich die Stimmen meiner Eltern, und Klein Marco wird in seiner Wiege schreien und die letzten zwanzig Jahre sind nie geschehen.

Aber dann war da die Berührung einer vertrauten Hand auf ihrer Schulter, und mit einem leisen Schnappen glitt die Welt an ihren Platz zurück. Sie drehte sich um; seine Arme hielten sie fest und sie musste ein Schluchzen herunterschlucken. „Du bist hier“, flüsterte sie, „du bist gekommen“, und sie vergrub ihr Gesicht an seiner Brust.

„Natürlich bin ich gekommen.“ Er sprach in ihr Haar hinein. „Wie könnte ich auch nicht?“

Sie seufzte. „Hast du Sam die Wahrheit gesagt?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein“, gestand er, „nein... er glaubt immer noch, dass ich nach Bruchtal gehe.“

„Er wird sich schrecklich aufregen.“ Sie sah zu ihm auf; sein Gesicht verschwand in der aufkommenden Dunkelheit.

„Ich weiß.“ Sie konnte seine Unruhe in dem Griff seiner Hände spüren, der sich verstärkte, und in der Anspannung seines Körpers. „ Aber ich habe einfach nicht das Herz gehabt, die Freude und das Vertrauen aus seinem Gesicht zu vertreiben. Verstehst du das?“

„Natürlich.“ Es gab nichts, was sie besser verstand.

In den Abendschatten geleitete Lily ihn zum allerletzten Mal in ihr Heim, an den brandneuen Vorhängen und frisch gestrichenen Wänden vorbei, hin zu der Kammer mit dem frisch gemachten Bett. Sie zündete eine Kerze an, lockerte ihr Mieder und öffnete die Haken an ihren Rock. Das Flüstern von Stoff und von seinen Knöpfen und das schwache Zischen der Kerze brannte sich tief in ihr Gedächtnis. Sie nahm die Düfte nach Geißblatt und Pfeife wahr, kaum ein Hauch in der Luft, aber für ihre sich verschärfenden Sinne klar und deutlich. Sogar das Zimmer selbst war unauslöschlich scharf umrissen. Sie ließ das Hemd von ihren Schultern gleiten und stieg aus den Stoffalten um ihre Füße.

„Lass mich dich anschauen.“ flüsterte er.

Sie wandte sich ihm zu mit Augen, die seinen Anblick in sich hinein tranken, um sich den Umriss von Fleisch und Knochen einzuprägen. Und doch schien sein nackter Körper, die Schale für seinen Geist und seine Flamme, dünner geworden zu sein und durchscheinend. Sein Licht drang hindurch und erleuchtete die Nacht; es brannte mit einem Feuer, das so süß und sterblich war wie das der Kerze.

„Ich will mich an dich erinnern“, sagte er, ein Echo ihrer Gedanken. Er streckte ihr die Arme entgegen und sie kam zu ihm; sie fühlte weder Eifer noch Widerstreben. Er legte seine Hände um ihre Mitte und streichelte sie mit stiller Ehrerbietung. Er nahm den Anblick ihres nackten Leibes in sein Gedächtnis, genau so, wie sie es mit dem seinen getan hatte... er webte einen Teil der Erinnerung, die ein Leben lang anhalten musste. Sie schaute auf sein Haar herunter, auf die glitzernden Silbersträhnen mitten im Dunkel, und sie beugte sich hinab, um seinen Kopf zu küssen. Sein süßer Moschusduft, dauerhaft und unveränderlich, hüllte sie ein wie eine warme Wolke. Sie sog ihn ein, als sie ihm die Arme um den Hals legte.

Warme Lippen liebkosten ihren Bauch, starke Arme zogen sie dicht heran. Ihr Kopf fiel nach hinten und sie blinzelte die aufsteigenden Tränen zurück. Es war keine Zeit zum Weinen... es blieb ihnen nur diese eine Nacht. Sie würde sie auch in sein Gedächtnis einbrennen.

Sie schob sich mit gespreizten Beinen über seine Hüften, und ihre zärtlichen Finger huschten über seinen Bauch zu den feinen Locken und der samtenen Haut darunter. Er holte scharf Luft, als sie ihn sanft in die Hand nahm und schloss seine strahlenden Augen, als sie sich auf ihm niederließ. Auf dem Bett kniend, die Hände auf seinen Schultern, fand sie einen Rhythmus; sie zog ihn aus sich heraus und trieb ihn in sich hinein, während er ihren geschmeidigen Körper gegen seine gefurchte Stirn presste.

Seine Finger gruben sich tief in ihre Hüften und er drückte sein tränenüberströmtes Gesicht gegen ihre Brust, als könnte er sich an das klammern, was keiner von ihnen imstande war festzuhalten. Sie spürte ihre eigene Flamme heiß in sich brennen, die rasenden Funkenschauer, die von der Spitze jeder einzelnen Haarsträhne hineinsangen in den Kern ihres Wesens. Sie warf den Kopf zurück, als die Leidenschaft anstieg, schluckte den Schmerz hinunter und umarmte die Ekstase ihrer schwindenden Einheit.

Sie gab ihm alles, was sie in sich hatte. Da war kein Grund, jetzt irgendetwas zurückzuhalten. Er war ihr Anker, ihr Mittelpunkt, ihr Leben, und sie öffnete ihr Herz und nahm ihn so tief in sich auf, dass sie sich fühlte wie ein Teil von seinem strahlenden Licht. Erst in den letzten paar Monaten hatte sie den Mut gefunden, sich so zu verlieren, aber nur dieses Mal, dieses eine letzte Mal begriff sie endlich. Es war nicht sein Licht, dem sie sich überließ, es war ihr gemeinsames. Keine sterbliche Liebe war stark genug zu überwinden, was ihn versehrte. Er würde gehen müssen, und früher als sie es ertragen konnte darüber nachzudenken, aber in diesem Augenblick wusste sie ohne den Schatten eines Zweifels, dass ihre Liebe die langen Jahre überdauern würde, die noch kamen.

Er zog sie mit sich zurück auf das Bett und bäumte sich auf in ihre Tiefen hinein, seine Hüften vor Anstrengung zitternd und sein Gesicht verzerrt zu der süßen Grimasse des Höhepunkts. Aber wie soll ich ohne dich weiterleben, Liebster? Er stöhnte, und sein tiefes, gutturales Lied hallte in ihrem Körper wider und schickte sie schreiend in neue Höhen. Indem du diese Flamme am Leben hältst. Wieder stieß er hinauf und in sie hinein und sie erreichte den Gipfel; ihre Liebe brannte eine weißglühende Spur durch ihre Seele. Ein letzter Stoß und er fiel zurück, und sie brach zitternd über ihm zusammen.

Die Kerze flackerte. Lily wandte sich davon ab und vergrub ihr Gesicht an seiner Brust, nicht länger imstande, die Tränen zurückzuhalten. Trauer grub ihre Krallen in ihren Leib, aber in seiner warmen, süß duftenden Umarmung konnte sie seine Stimme deutlich hören. Wieder und wieder flüsterte sie ihren Namen, wie eine Litanei, eine Beschwörung, ein Bollwerk gegen ihren Schmerz. Der Klang linderte ihr Schluchzen und dämmte ihre zermalmende Verzweiflung ein, bis sie endlich an seinem Körper zur Ruhe kam und einschlief.

*****

Sie erwachte in der Stunde vor der Morgendämmerung, und sie war von Musik umgeben. Plötzlich begriff sie, dass das, was sie hörte, seine Stimme war. Sie war leise und sanft... zu ihrer Überraschung entdeckte sie, dass er sang.

Herbstwind fegt nun alle Äste leer
Komm durch die Felder, komm zu mir her
Eil dich, Feinsliebchen, komm schnell zu mir!
Komm, und wir weisen dem Herbstwind die Tür.

Sie öffnete die Augen und regte sich in seinen Armen. Sie war sich sicher, dass sie es nie zuvor gehört hatte, aber irgendwie waren die Worte ihr... vertraut.

„Kenne ich das?“

„Ich habe es in der Nacht nach dem Frühlingstanz geschrieben, in dem Jahr, als ich auf die Fahrt ging. Ich habe es dir damals vorgesungen, während du in meinem Bett geschlafen hast, aber ich glaube nicht, dass du es gehört hast.“

Frodo seufzte.

„Es ist wohl kaum ein Meisterwerk. Es hatte vier Verse – nicht sehr gut, fürchte ich, und der letzte... nun, ich musste ihn ändern. Noch mal, es ist nicht mehr als ein armseliger Versuch.“

„Niemand hat jemals ein Lied für mich geschrieben.“ Sie drehte sich zu ihm herum und suchte seinen Blick im dämmerigen Licht des Schlafzimmers. „Sing es mir vor, bitte. Alle Verse.“

Er seufzte noch einmal, und dann begann er von vorne.

Blumen des Frühlings, fröhlich und licht
Ein Lied meiner Liebe sing ich für dich
Fort floh der Winter in die Berge hinauf
Feinsliebchen, schließ dein Herz für mich auf

Lavendel und Rosen, der Sommer ist da
Tanz mit mir, Feinsliebchen, sei mir ganz nah
Bleib bei mir und wir sind nie wieder allein
Nimm meine Hand, lass uns glücklich sein

Wieder schien sich die Welt vor ihren Augen aufzulösen, und obwohl sie nie zuvor auf dem Meer gewesen war, hatte sie plötzlich das Gefühl, dass sie auf salzigen Wellen segelte, eingewiegt vom sanften Klang seiner Stimme... vielleicht in dieses Land, das sie in den wundersamen Augenblicken gesehen hatte, als ihre Finger sich um das Geschenk der Elbenkönigin schlossen.

„Herbstwind fegt nun alle Äste leer
Komm durch die Felder, komm zu mir her
Eil dich, Feinsliebchen, komm schnell zu mir!
Komm, und wir weisen dem Herbstwind die Tür.

Schnee auf den Hügeln, der Bach starr von Frost
Flammen rot im Kamin, der Sturm weht von Ost
Lass mich dich halten, lass mich dich frei’n
Bleib bei mir, Feinsliebchen...“

Das Lied brach ab und sie spürte seine Lippen auf ihrer Wange. „… und werde ganz mein” flüsterte er. „Das war es, worum ich dich damals in diesem April bitten wollte, bevor Gandalf kam.“

Ich weiß, dachte sie, das Herz schwer wie ein Stein in ihrer Brust. Ich weiß.

„Ich habe einen neuen Vers geschrieben, vor ein paar Tagen, als ich die Arbeit am Roten Buch beendet habe. Möchtest du...“

„Ja. Natürlich.“

“Mein letzter Sommer hier, jetzt ist er gekommen
Das Schicksal hat mir meine Heimat genommen
Ich gehe nun fort, in ein Land, fern und fremd
Ein Land, dass dein Lachen , deine Lieder nicht kennt
Der Klang deiner Stimme, deine zärtliche Hand
bleiben immer und ewig ins Herz mir gebrannt
Ich muss gehen, mein Liebstes, es schließt sich die Tür
Doch ein Teil meiner Seele bleibt für immer bei dir.”

Er schwieg. Sie lag neben ihm, den Kopf auf seiner Brust, und lauschte auf seinen langsamen, regelmäßigen Herzschlag.

„Ich danke dir.“ sagte sie endlich. „Ich danke dir so sehr. Das war ein unerwartetes Geschenk... das schönste Lied, das ich je gehört habe. Es ist... wundervoll.“

„Ich möchte, dass du den Ring behältst.“

„Aber ich bin nicht deine Frau, Liebster.“

Er stützte sich auf die Ellbogen. „Es ist wahr, dass du mich nie geheiratet hast, aber für mich wirst du immer zu mir gehören. Das Halsband ist noch in Beutelsend. Ich werde Sam bitten, es dir zu geben.“

„Bist du sicher, dass du es nicht Elanor hinterlassen möchtest?“

„Ja, das bin ich. Wenn du es ihr eines Tages geben willst, dann ist das natürlich deine Entscheidung.“

Eines Tages – was bedeutet das? Ein Jahr? Zehn Jahre? Zwanzig?

Sie spürte, wie er aus dem Bett stieg und hörte das leise Zischen von Zunder, als er das Licht auf dem Nachttisch wieder anzündete. Er nahm seine Kleider und sie sah ihm zu, wie sie es ein paar Stunden zuvor getan hatte... das letzte Mal dachte sie, das allerletzte Mal, und noch immer war es nicht wirklich. Als er vollständig angezogen war, stand sie auf und folgte ihm durch das Zimmer. Er öffnete die Tür und die kühle, frische Luft eines sehr frühen Morgens kam mit einer Brise herein, zerzauste ihr das Haar und blähte ihr Nachthemd.

Frodo drehte sich zu ihr herum und streckte die Arme aus.

„Leb wohl, Lily“, sagte er leise,“Leb wohl, mein Liebstes. Was auch immer ich in dem wundersamen Land sehen werde, in das dieses Schiff mich trägt, du bleibst in meinem Herzen bis zum letzten Tag meines Lebens... und darüber hinaus.“

Sie küsste seine Hände und unterdrückte den Schauder, der ihr das Rückgrat hinunter rieselte.

„Versprich nicht zuviel, Liebster“, flüsterte sie. „Ich weiß nicht, was nach diesem Leben kommt. Das Einzige, was ich weiß, ist, dass du fort gehst.. und dass ich mein Bestes tun muss, ohne dich weiter zu machen.“

„Du hast Sam und Rosie“, sagte er sanft, „und sie haben dich. Ihr seid die Familie, die ich zurücklasse. Und wir werden uns wiedersehen, meine Indil... eines Tages, in dieser Welt oder in der nächsten. Ich werde dich finden, Lily, ich verspreche es dir.“

Er beugte sich herunter und ihre Lippen begegneten sich... zärtlich, beinahe keusch, wie der erste Kuss, den er an einem Februarabend vor einer Ewigkeit von ihr empfangen hatte.

„Ich werde warten, bis du zu mir kommst“, erwiderte sie mit fast unhörbarer Stimme. „Ich werde warten.“

Er zog sie dicht an sich und sie klammerte sich an ihn, aber nur für einen Augenblick. Sie war diejenige, die sich endlich aus seiner Umarmung löste, und sie stand aufrecht und still im Türrahmen, während er langsam den Weg hinunter ging. Vor dem Gartentor blieb er stehen und blickte über seine Schulter zurück.

„Ich liebe dich, Lily Stolzfuß.“ Sie streckte die Hand aus, als könnte sie die Worte auffangen und festhalten.

Ich liebe dich, Frodo Beutlin. In dieser Welt und darüber hinaus.

Er verschwand um die tausilberne Hecke und war fort.

*****

Acht Tage später

Den ganzen Nachmittag hatte es geregnet, und als Lily von ihrer Runde zurückkam und den Gartenweg entlang ging, spritzte Wasser um ihre Füße. Sie öffnete die Tür, trocknete ihre Füße mit dem Handtuch ab, das an einem Haken an der Wand hing und trat in die stille Küche.

Offensichtlich war Primula Wurzelgräber hier gewesen; der Fußboden glänzte sauber, die Teller von ihrem letzten Frühstück waren abgespült und standen im Schrank, wo sie hin gehörten. Ein leichter Geruch nach Seife hing in der Luft.

Lily war sehr müde; Margerite Straffgürtel, Aster Straffgürtels Schwiegertochter, hatte Zwillinge zur Welt gebracht, und es war eine schwere Aufgabe gewesen, sich um Mutter und Kinder zu kümmern. Sie war dankbar für die viele Arbeit, die sie tagsüber beschäftigt hielt und ihr nachts schlafen half, aber sie wusste, dass sie am Ende ihrer Kraft war. Und sie fürchtete sie beinahe noch mehr davor, was geschehen mochte, wenn es nicht mehr so viel zu tun gab. Zuviel Zeit zum Nachdenken war gefährlich.

Besuche waren ebenfalls gefährlich. Rosie hatte sie schon zweimal eingeladen, aber sie hatte jedes mal eine Entschuldigung gefunden, sich von Beutelsend fern zu halten. Der Tag, an dem es ihr möglich sein würde, über Frodo Beutlin zu reden, ohne das ihr das Herz wehtat und der Atem stockte, mochte sicherlich irgendwann kommen, aber er lag in weiter Ferne. Sie hatte keine Ahnung, wie sie Sam in die Augen sehen sollte, wenn er zurückkam. Wenigstens würde er derjenige sein, der zurückkam.

Als sie die Tür zur Speisekammer öffnete, entdeckte sie eine kleine Hackfleisch-Pastete; sie war noch warm und duftete angenehm. Daneben stand ein Krug frische Milch, mit einem Tuch abgedeckt, um die Fliegen abzuhalten. Die Pastete kam offenbar geradewegs aus Rosies Ofen, und Lilys schlechtes Gewissen vertiefte sich. Sie nahm Pastete, Milch und einen frischen Teller mit in die Küche, setzte sich an den Tisch und aß.

Nach ihrer Mahlzeit wanderte sie ins Studierzimmer hinüber; bleiches Sonnenlicht hatte sich seinen Weg durch die dicken Wolken gebahnt und malte helle Kringel auf den Schreibtisch. Ihr Blick fand die Karte an der Wand. Wie weit waren sie wohl bis jetzt gekommen? Sie folgte der langen, dunklen Linie mit einer Fingerspitze – Wegscheid, Michelbinge und die Oststraße, die in unbekannte Lande führte, zu den Fernen Höhen und darüber hinaus zum Meer.

Darüber hinaus.

Sie lehnte sich über den Schreibtisch und öffnete das Fenster. Feuchte Luft strömte herein; sie duftete nach abgeernteten Feldern und nach Holzrauch und sie atmete tief ein.

Wo bist du, mein Liebster?

Und als hätte ihre Stimme wunderbarerweise die Entfernung überwunden, kam ein plötzlicher Wind, und er fegte den Geruch nach feuchtem Bauernland und grünen Hügeln fort und brachte ein ganz neues Aroma mit sich, unbekannt und fremd... aber sie erkannte es sofort.

Salzwasser.

Lily starrte blind nach draußen, ihr Körper angespannt wie eine Bogensaite.

Das Schiff. Sie segeln fort.

Ihre Hände schlossen sich um das Fensterbrett und ihr Geist streckte sich hinaus in den frühen Abend, suchend, tastend... da war ein Schiff, ja, und die weiche, wiegende Bewegung von Wellen unter dem eleganten, weißen Rumpf, und der schrille, widerhallende Schrei unbekannter Vögel. Irgendwo am Rande von allem konnte sie Sam spüren; sein Herz floss über von einem Schmerz, der so tief und rau war wie ihr eigener. Lieber Sam... und dann war sie von einem Augenblick zum nächsten in Wärme und Licht gehüllt, so wirklich wie eine Umarmung, eine Wärme, die ihr Herz und ihren Leib ausfüllte, bis sie dachte, dass sie nichts mehr aufnehmen konnte...

Lily.

„Frodo…!?”

Ganz plötzlich war es vorüber. Sie blinzelte und sank in den Sessel; ihr Atem ging rasch und mühsam. Mit einer Hand brachte sie eine der Schubladen auf und fand den kleinen Samtbeutel. Der Ring glitt in ihre Handfläche und sie starrte auf die Bernsteinblüte hinunter, zitternd und blind vor Tränen.

„Mein Herz...“ flüsterte sie. „Oh, mein Herz...“

Ich wünsche dir, dass dich das Boot in Lande von Grün und Silber trägt, und dass das Licht der Sterne auf dich herab scheint, so hell wie das Licht in deiner Seele. Gute Reise, mein Liebster.

Sie drückte den Ring an ihre Lippen und saß völlig still, die Augen geschlossen, bis die Sonne hinter dem Horizont versunken war und der Himmel dunkel und grau war.

Ich werde warten.


*Die fünf Absätze vor diesem * stammen direkt aus „Die Rückkehr des Königs“.


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