Bevor ich schlafen gehe
von Cúthalion


Epilog
„Der Klang deiner Stimme, deine zärtliche Hand...“

I hear him, before I go to sleep
And focus on the day that's been.
I realise he's there,
When I turn the light off and turn over…”
(“The man with the child in his eyes”, Kate Bush)

Untertürmen 1491, Ende September

„Mama?”

Das junge Mädchen öffnete das Gartentor vor dem kleinen Smial. Große Beete mit dem letzten blühenden Lavendel und eine schulterhohe Rosmarinhecke füllten die Luft des späten Vormittags mit ihrem würzigen Aroma.

„Mama?”

„Fíriel?”

Es war nicht die Stimme ihrer Mutter, sondern die einer alten Frau. Sie kniete neben einem Blumenbeet und streifte Lavendelblüten in eine Schüssel. Als sie die Schüssel abstellte und sich vom Boden erhob, rieb sie sich abwesend die Stirn und hinterließ einen Streifen dunkler Erde.

„Deine Mutter war hier, aber sie ist vor einer halben Stunde gegangen. Sie hat deine Tante Narzissa gesucht.“

„Wieso denn?“ Das junge Mädchen kam näher. „Ist jemand krank?“

„Ich, so wie es aussieht.“ Die alte Frau grinste und die Fältchen in ihren Augenwinkeln vertieften sich. „Wenn ich das täte, was Elanor Schönkind anordnet, dann würde ich meine Tage damit verbringen, in einem Schaukelstuhl zu dösen.“ Sie zwinkerte dem jungen Mädchen zu. „Ich nehme an, Narzissa soll mir den Kopf waschen. Armes Mädel – das kriegt sie niemals auf die Reihe. Sie hat Angst vor mir.“

„Das ist nicht wahr!“ Fíriel lachte. „Sie bewundert dich. Sie sagt, du hast mehr Wissen über das Heilen in einem Daumen als sie selbst in beiden Händen.“

Die alte Frau schnaubte.

„Mag sein, aber was ich ganz sicher habe ist mehr Erfahrung. Eines Tages wird deine Tante begreifen, dass es besser ist, wenigstens ein bisschen leichte Arbeit für seine Hände zu finden anstatt einzurosten. Und Lavendelblüten zu sammeln ist nicht sehr anstrengend. Nebenbei sollte Narzissa inzwischen zu Hause sein, oder dein Onkel Bungo verpasst sein Mittagessen. Wenn du jetzt nach Schönkindheim zurückgehst, dann findest du dort vermutlich beide, Narzissa und deine Mutter.“

„Oma Lily, du bist unverbesserlich.“ Fíriel seufzte.

„Nein, Kind, bloß stur.“ gab die alte Frau trocken zurück. „Das ist einer der wenigen echten Vorteile des Alters. Und jetzt solltest du gehen, bevor das nächste Mitglied der Schönkind-Familie hier aufkreuzt, diesmal auf der Suche nach dir.“

Fíriel kicherte, warf ihr einen Kuss zu und wandte sich ab. Die alte Frau folgte ihr mit den Augen, als das junge Mädchen den grasigen Abhang zwischen den Häusern und Smials hinunterging, die in der weiten Senke zu Füßen der Hügel verstreut lagen. Eine lange Straße mit vielen Abzweigungen wand sich durch die Siedlung, die vor fast vierzig Jahren gegründet würden war... Untertürmen, Heimat von Fíriel, Elanor und vielen Hobbits mit genügend hobbit-fremdem Sinn für das Abenteuer, um die bequeme Wiege des Auenlandes hinter sich zu lassen, auf der Suche nach neuen Wegen und Orten. Am östlichen Rand von Untertürmen lag Schönkindheim, der größte Smial; nicht nur lebte Fastred, der Verweser der Westmark mit seiner Familie dort, sondern es gab auch die einzige Bücherei, die in diesem Teil des Landes zu finden war. Fastred war ein verlässlicher, hart arbeitender Verwalter für diesen Winkel von König Elessars Königreich, aber er war auch ein Gelehrter und Dichter, der Bücher liebte. Er war wirklich die beste Wahl für dieses Amt, dachte die alte Frau. Sie hob die Schüssel auf und ging hinein.

Unter der Pumpe in der Küche wusch sie sich Hände und Füße. Die Lavendelblüten würden warten müssen; im Alter von einhundertsieben hatte sie jedes Recht, sich eine Pause zu gönnen. Sie ging langsam ins Studierzimmer, ihren Lieblingsraum im ganzen Smial. Da stand der kleine Schreibtisch, das Eichenholz immer noch glänzend, mit zwei Tintenfässern und einem Elfenbeinständer für eine Sammlung von Federn und Federhaltern. Da stand das hohe Regal, jetzt von oben bis unten vollständig gefüllt mit Büchern und Pergamentrollen. Sie war gezwungen gewesen, die alte Karte des Auenlandes zu ersetzen; die Tinte war verblasst, bis man die Zeichnung kaum noch sehen konnte, aber Elanor hatte eine Kopie für sie angefertigt, und die hing im selben Rahmen, den sie für das Original verwendet hatte.

Ein Buch lag auf der weichen, alten Schreibtischunterlage; nicht Amaranths Band mit Kräuterzeichnungen und Rezepten, sondern ein kleinerer, in verblasstes, blaues Leder gebunden. Die Frau berührte sanft die Umhüllung; jetzt war nicht die Zeit zum Schreiben, sie würde warten, bis die Sonne ihren Weg um den Smial herum fortgesetzt hatte. Erst die Lavendelblüten. Und vielleicht einen Pfefferminztee. Und ein Nickerchen? Nein... ein Nickerchen würde bedeuten, dass sie in die Welt ihrer Träume hinüber glitt und nicht zurückkam, bis die Nacht anbrach. Kein Nickerchen. Mit einem Seufzer ging sie in die Küche zurück, schürte das kleine Herdfeuer und füllte den Kessel.

Die Lavendelblüten waren abgestreift und sauber auf einem Holztablett zum Trocknen ausgebreitet, und die Teekanne war halb leer, als die Sonne die Westseite des Smial erreicht hatte. Jetzt strömte sie durch das Fenster des Studierzimmers, und wie immer setzte sie sich hinter den Schreibtisch und genoss die Aussicht.

Ihr Smial war der letzte an der Westseite von Untertürmen, und hinter diesem Fenster – doppelt so groß wie normale Hobbitfenster – stiegen die Hügel in einer Welle aus sanftem Grün in die Höhe. Als sie den Blick hob, konnte sie sie sehen: drei Türme, weiß, schlank und wunderschön, einer davon fast in der Mitte ihres Blickfeldes. Sie bezweifelte, dass viele außer ihr je von Gil-galad gehört hatten, der diese Türme für Elendil errichtet hatte, aber die Geschichte sprach noch immer zu ihrem Herzen... und zu den Herzen von Fíriel, Fastred und Elanor, natürlich; sie waren immer eine begeistertes Publikum für ihre Geschichten gewesen.

Nicht, dass sie ihnen alles erzählt hatte.

Sie sah auf ihre knorrigen Hände herunter, die auf dem blauen Leder ihres Buches ruhten. Amaranths Band war in Hobbingen zurück geblieben, als sie fort ging, um ihrer Nachfolgerin nützlich zu sein – der reizenden Päonie Stolzfuß, ihrer Nichte und der Tochter ihres Bruders Falco. Falco war bei ihrer Mutter in Bockland geblieben, ein treuer, sehr geduldiger Sohn... bis er während des Frühlingstanzes 1443 Campanula Straffgürtel von den Hagsend-Straffgürtels begegnete und sich in sie verliebte. Viola tat, was sie vermochte, um Falcos Schatz schlecht zu machen, und am Ende zog er nach einem gewaltigen Krach aus und heiratete Campanula ohne den Segen seiner Mutter. Im Herbst 1445 wurde seine Tochter geboren und es gab tatsächlich eine Art Versöhnung, aber bevor Viola die Gelegenheit hatte, sich an ihrer Enkeltochter zu freuen, starb sie kurz nach dem Julfest. Selbst jetzt kehrte sie nicht nach Hobbingen zurück; sie wurde in Bockland beerdigt und Lily besuchte ihr Grab nur ein einziges Mal. Als sie entschied, sich zur Ruhe zu setzen und den Rest ihrer Lebensjahre in Untertürmen zu verbringen, zog Falco zurück an den Ort, wo er geboren war. Und wieder gibt es eine Hebamme im Stolzfuß-Smial dachte sie mit stiller Befriedigung. Ganz entschieden eine Tradition, mit der ich leben kann.

Eine Hebamme, aber keine Weißnäherin oder Stickerin; sie hatte ihren letzten Stich vor mehr als zehn Jahren gemacht, ein paar Tage bevor Sam Gamdschie nach Untertürmen gekommen war. Er hatte gerade erst seine Frau beerdigt, und er kam allein und schmerzgebeugt, um bei der Familie seines ältesten Kindes zu sein – und um Lebwohl zu sagen. Nach drei Tagen in der Wärme und dem Trost von Schönkindheim hatte er seine Tochter, seinen Schwiegersohn und deren Kinder umarmt und den Weg zu ihrem Smial gefunden. Durch das große Fenster hatte sie ihn kommen sehen, das gerstenblonde Haar dünn geworden und so weiß wie Schnee.

*****

Sie öffnete ihm die Tür und er stand auf der Schwelle, vertraute, braune Augen in einem verwitterten, müden Gesicht... und sie zog ihn herein, schloss die Tür gegen den kühlen Wind von den Turmbergen und breitete wortlos die Arme aus.

Sie hielten einander fest, und sie spürte, wie er zitterte... kein Zeichen des Alters, sondern von Bewegung und tiefer Trauer, und als er sich endlich zurückzog, suchte er in seiner Westentasche nach einem Taschentuch, um sich die Augen zu trocknen.

Er wollte weder einen Elf-Uhr-Imbiss noch ein Mittagessen, aber er nahm dankbar eine Tasse Tee entgegen und saß in ihrem Studierzimmer; er bewunderte die Aussicht auf die Türme und den endlosen, durchsichtigen Himmel darüber. Sie sah ihm zu, wie er einen Schluck nahm, und plötzlich wusste sie, dass er bereits gegangen war... sein Geist eilte voraus auf der Straße, die an den Bergen vorbei und hinunter zur Küste führte, dreißig Meilen bis zu den sagenhaften Anfurten. Sie lebte jetzt seit fast einem Jahr hier, aber sie war nie dort hingekommen. Sie hatte es nie gewagt, sich den Ort anzusehen, wo er die Ufer von Mittelerde verlassen hatte.

„Sie hat von dir gesprochen“, sagte er und wandte ihr seinen Blick zu. „Rosie, weißt du... sie hat von dir gesprochen. ,Ich wünschte, du könntest sie mitnehmen, wenn du fort gehst’, hat sie an dem Abend gesagt, bevor sie starb, ,stell dir vor, wie überrascht er wäre, euch beide zu sehen!’ --- Du hast ihr gefehlt.“ Wieder putzte er sich die Nase, und sie drückte ihm tröstend die Hand.

„Sie hat mir auch gefehlt“, sagte sie still, „Ich wünschte, sie hätte mir erlaubt, sie zu sehen, bevor es zu spät war.“

„Sie wollte, dass du dich an sie erinnerst, wie sie war, bevor die Krankheit sie verändert hat“, erwiderte er ernsthaft. „Ich kann mich nicht beklagen. Wir hatten ein wunderbares Leben, sie und ich.“

„Ich weiß“, sagte sie. „Ihr wart meine Familie, ihr alle beide, und eure Kinder. Und ich kann nicht mit dir kommen, mein Freund. Mein Platz ist auf dieser Seite des Meeres. Aber...“

Sie stand von ihrem Stuhl auf, öffnete eine Schublade im Schreibtisch und zog ein flaches Päckchen heraus. Sie legte es ihm in die Hände und er entfernte die Umhüllung und schaute staunend darauf herunter.

Es war die schönste Weste, die er je gesehen hatte; aus tiefblauer Seide gemacht und mit Lilien und winzigen Kastanienblüten übersät, mit Fäden in sahnigem Weiß, sanftem Grün, Gold und Silber gestickt. Er wagte kaum, sie zu berühren; er hatte Angst, mit seinen rauen Fingern Schaden anzurichten.

„Würdest du ihm das geben?“ fragte sie. „Mein allererstes Geschenk für ihn war eine Weste, und ich dachte, es wäre eine gute Idee, dass mein allerletztes Geschenk an ihn auch eine ist. Das ist mein letztes Stück; meine Knöchel sind steif und geschwollen, und ich habe jetzt große Schwierigkeiten, längere Zeit eine Nadel festzuhalten.“

Er sah zu ihr auf; ein Lächeln spielte um seine Lippen.

„Sie wird ihm um so mehr bedeuten“, sagte er. „Natürlich werde ich sie ihm geben.“

Ich werde dich finden, Lily, ich verspreche es dir.

„Bitte sag ihm, dass ich... immer noch warte.“ sagte sie sehr leise.

Eine halbe Stunde später ging er. Sie sah, wie er in den Sattel seines Ponys kletterte und sein Gesicht der Straße zuwandte, die an den Türmen vorbei weit fort führte. Sie hob die Hand, um zu winken und er lächelte ihr zu... das Lächeln des Gärtners, der vor mehr als siebzig Jahren das Auenland für eine gefährliche Fahrt verlassen hatte, ohne Zögern und Zweifel, ein Lächeln voller Vertrauen und Hoffnung, und jung, so jung.

*****

Sie öffnete das Buch und klappte es wieder zu. Dies war ihr Erbe... nicht wie das Rote Buch, das Fastred in der Bibliothek aufbewahrte, der sorgsame Bericht über den Ringkrieg, abgeschrieben und vervielfältigt, um die Hobbits zu lehren, wie groß die Gefahr gewesen war, die Gefahr , ihre Heimat zu verlieren, ihre Freiheit und ihr Leben. Fastred wollte die legendären Abenteuer davor bewahren, vergessen zu werden, und sie war ihm für seine Bemühungen dankbar. Aber dies hier war ihre Erzählung, ihre eigene Geschichte, intim und persönlich, und wenn sie einmal nicht mehr war, dann würde Elanor diejenige sein, die sie las und aufbewahrte. Sie würde von Dingen lesen, über die sie niemals gesprochen hatten, trotz allem, was sie ihr erzählt hatte... Merles Tod, der Abend, an dem das Studierzimmer abgeschlossen war, das letzte Lebwohl an jenem Septembermorgen vor siebzig Jahren. Auch Folco Gutleib hatte einen Platz in ihrer Lebensgeschichte gefunden, geehrt und gepriesen für seine Freundschaft und Fürsorge während der Schwierigkeiten. Das Einzige, was vollständig fehlte, war die Nacht, als sich die Hände des Ringträgers um ihren Hals gelegt hatten...

Es war ein guter Gedanke, dass wenigstens Sams älteste Tochter und ihre Familie sich an sie erinnern würden, wenn es sie nicht mehr gab. Und die Zeit wurde knapp. Es war einfach, mit Fíriel über Elanors und Narzissas Besorgnis zu scherzen, aber wenn sie allein war, wusste sie, dass die beiden Recht hatten. Sie nahm seit Jahren Fingerhut und Weißdorn, aber selbst die besten Kräuter konnten nichts gegen die Ermüdung eines alt gewordenen Herzens ausrichten. Sie war zu erfahren, um die Anzeichen falsch zu deuten. Es gab eine Sache, die sie noch tun musste, und sie würde sie sehr bald tun müssen.

Morgen. Alles war geplant, alles vorbereitet. Da war sogar ein kleines Kästchen mit Primulas Halsband und einem Brief an Elanor... für den Fall, dass sie ihre Kraft überschätzte und von ihrer eigenen kleinen „Fahrt“ nicht zurück kam. Sam hatte ihr den Schmuck eine Woche nach Frodos Abreise gegeben, die Augen niedergeschlagen und die Stimme leise und bitter. Am ersten Jahrestag von Frodos Fortgehen hatte Herr Meriadoc ihn mit ungläubigen, zornigen Blick an ihrem Hals entdeckt. Er hatte sie des Diebstahls bezichtigt und sie dabei mit graugrünen Augen angesehen, die wie kaltes Feuer in einem weißen Gesicht brannten, und es war ein langes Gespräch mit Sam nötig gewesen, ehe er einen Tag später in ihren Smial zurückkehrte, um sich zu entschuldigen, erschüttert und sehr still.

Sie erinnerte sich an seinen Schmerz, so stark, so wütend... er hatte ein Echo in ihrem Herzen geweckt. Sie rief sich ins Gedächtnis, wie sie ihn nach einem langen Tag voller Fragen und Antworten in den Armen gehalten hatte, als er endlich weinte, den Körper von heftigem Schluchzen geschüttelt... bis er den Kopf gehoben hatte und sie küsste, eine Berührung voller Verzweiflung und kaum verborgenem Zorn. Sie hatte ihm Trost und Erleichterung geschenkt, nur ein einziges Mal, nur an diesem Tag, und noch immer erinnerte sie sich mit tiefer Zuneigung an ihn und bedauerte es nicht. Zwei Jahre später hatte er Estella Bolger geheiratet, eine wundervolle Frau und vertrauenswürdige Gefährtin. Die Herrin von Bockland hatte nie etwas über diesen Abend erfahren, und immer hatte eine tiefe Freundschaft zwischen dem Stolzfuß-Smial und dem Brandyschloss bestanden. Jetzt war Estella tot, ebenso wie Merry, und die Geschichte vom Herrn von Bockland, von Primulas Halsband und der Hebamme von Hobbingen war nirgendwo auf den Seiten ihres Buches zu finden... eines der Geheimnisse, die eines Tages mit ihr sterben würden.

Die Sonne war jetzt weg und Schatten füllten den Raum. Es gab nichts mehr aufzuschreiben und sie würde sich bald hinlegen; in letzter Zeit erwachte sie mitten in der Nacht und konnte nicht mehr einschlafen, ein Fluch des Alters und der Erinnerungen, und manchmal spürte sie, dass er neben ihrem Bett stand, dass er wartete und sie beobachtete, sein Gesicht ein verborgener Schemen in der Dunkelheit, seine Stimme ein sanftes Flüstern in ihrem Ohr.

Ich werde dich finden, Lily, ich verspreche es dir.

*****

Sie stand vor Anbruch der Dämmerung auf und füllte einen kleinen Korb mit dem Picknick, das sie gestern vorbereitet hatte; Brathühnchen und frisches Brot, grüne Äpfel, Nüsse und zwei große Tonflaschen mit Wasser und Dünnbier. Es würde ein langer Ausflug werden, und sie war entschlossen, ihr Ziel in guter Verfassung zu erreichen. Sie ging den Pfad zwischen den schlafenden Smials hinunter, bis sie die Ställe von Schönkindheim erreicht hatte.

Der Stallmeister erwartete sie; er hatte eine kleine Kutsche mit einem bequem gepolsterten Kutschbock vorbereitet und das Pony war schon angeschirrt... Kornell, eine kräftige, braune Stute mit einer sahneweißen Blesse und sanften Augen. Er gab ihr auch einen Hafersack und sie versprach, Kutsche und Pony so bald wie möglich zurückzubringen. Sie hielt noch einmal vor ihrem Smial an, um ein paar Decken zu holen, einen weichen Schlafsack und ihr Lieblingskissen, und eine halbe Stunde später war sie auf dem Weg. Sie nahm die selbe Straße, die Sam vor neun Jahren gewählt hatte.

Sie hatte Glück mit dem Wetter. Ein klarer Herbsthimmel wölbte sich über ihrem Kopf, das Sonnenlicht war mild und angenehm und ihre alten Knochen beklagten sich nicht. Die Türme hinter ihr wurden kleiner, aber sie waren noch immer sichtbar, weiße Nadeln am Saum zwischen Firmament und wogenden Hügeln. Als sie gegen Mittag eine lange Pause machte und das Pony abschirrte, damit es herumwandern und grasen konnte, wo es wollte, roch sie den ersten Hauch Salz in der Luft. Drei Stunden länger und die Straße würde sie hinunter zur Küste führen. Nicht schlecht für so eine alte Schachtel wie mich, dachte sie, während sie sich auf Decken und Schlafsack ausruhte, den Blick auf die wechselnden Muster der hohen, weißen Wolken gerichtet, aber Narzissa und Elanor werden einiges zu sagen haben über das hier, sobald ich wieder zurück bin, gar keine Frage. Sie lächelte und dachte an Sam.

Am frühen Nachmittag setzte sie die Reise fort. Kornell trabte vor ihr und kaute friedlich an ihrem Gebiss. Langsam senkte sich die Landschaft, und die Hügel beidseitig der Straße waren jetzt mit blassem Seegras bewachsen. Der Geruch nach Salz wurde stärker, und dann kam sie über die letzte Anhöhe und sah den Ozean.

Sie zog die Zügel an; Kornell wieherte leise und stand still.

Blau. Eine endlose, riesige, blaue Ewigkeit, vergoldet von der niedrig stehenden Sonne. Sie hatte ihn schon gesehen, jedes Mal, wenn sie auf die Elbentürme gestiegen war, um an Frodos Geburtstag seiner zu gedenken, aber dies war etwas anderes. Sie konnte ihn atmen sehen, das Auf und Ab der Wellen, sanft, kraftvoll und unendlich. Er war lebendig.

Vor ihr beschrieb die Straße einen weiten Bogen und erreichte die Anfurten. Elanor und Fastred waren vor Jahren hier gewesen, und sie erkannte Einzelheiten aus ihren Erzählungen wieder. Weiße Marmorgebäude, Türme und schöne, zarte Torbögen, aber nichts regte sich zwischen den leuchtenden Mauern. Elanors Stimme klang in ihrem Geist wider. Ich glaube, das Schiff, auf dem Papa gesegelt ist, war das letzte, das abfuhr. Sie haben die Anfurten verlassen.

Lily fuhr weiter, bis sie das erste Tor erreicht hatte; sie kletterte mit einigen Schwierigkeiten vom Kutschbock und schlang die Zügel um den schlanken Stamm einer Birke, die im hohen Gras neben der sauber gepflasterten Straße wuchs. Dann ging sie unter dem Torbogen hindurch.

Die Straße führte durch das alte Mithlond hinunter zum Wasser, schnurgerade hindurch zwischen hohen Gebäuden mit leeren Fenstern, des Lebens beraubt, doch nicht der Grazie. Sie ging Schritt für Schritt und schaute nach rechts und nach links; sie nahm feine Einzelheiten in sich auf, wie blattförmige Bodenfliesen hinter einer offen stehenden Tür und wunderbar behauenen Säulen mit Blumen und Vögeln aus einem durchscheinenden Stein, der wie Alabaster schimmerte. Dann hatte sie den Schatten der Häuser hinter sich und stand auf einem weiten Platz. Ein Kai deutete hinaus in die Förde wie ein langer, weißer Finger; ein halbes Dutzend Poller erhoben sich, wo über Zeitalter hinweg Schiffe angelegt hatten, um die an Bord zu nehmen, die den Wunsch hatten, Mittelerde hinter sich zu lassen.

Hier. Hier war seine Fahrt zu Ende gegangen. Und ihre hatte in gewisser Weise angefangen. Siebzig Jahre ohne ihren Liebsten, sein Bild ein stiller Schatten an ihrer Seite, seine Stimme eine Erinnerung an Freude, Leidenschaft und Trauer in ihren Träumen. Hier.

Sie ging den Kai hinunter, eine kleine, aufrechte Gestalt zwischen endlosem Himmel und endloser See. Am Ende des Kais erhob sich ein hoher Fahnenmast. Welche Banner hier gehangen und in der rastlosen Brise geflattert hatten, die von unbekannten Ufern im Westen kam, das wusste sie nicht.

Ihre Beine waren müde, ihre Füße taten weh und nach langen Stunden auf dem Kutschbock spürte sie endlich, wie jeder einzelne Knochen und Muskel in ihrem Leib protestierte. Langsam und vorsichtig ließ sie sich zu Boden sinken und lehnte den Rücken gegen den letzten Poller. Das war besser.

Die Sonne sank jetzt rasch; die See war ruhig und glatt wie ein tiefgoldener Spiegel. Selbst so konnte sie sehen, wie sie sich bewegte, und sie hörte das leise Rauschen der Wellen, die gegen Kai und Hafen schlugen. Und jetzt sah sie die Vögel, weiß und schlank; sie kreisten über dem Wasser und schossen manchmal mit hoher Geschwindigkeit in die Tiefe, um wieder aufzusteigen, das blitzende Silber frischer Beute im Schnabel.

Sie hatte keine Ahnung gehabt, wie es sein würde, die Grauen Anfurten mit eigenen Augen zu sehen... aber sie hatte den tiefen Frieden nicht erwartet, der ihr Herz erfüllte, die stille Schönheit der leeren Häuser und den überwältigenden Eindruck, dass sie genau das Richtige getan hatte.

Hier.

Sie schloss lächelnd die Augen.

*****

„Nein, Herr Fastred, sie hat mir nicht gesagt, wo sie mit dieser Kutsche hin wollte. Sie hat mit bloß gesagt, sie würde sie sicher wieder zurück bringen.“

„Aber hat sie dir nicht gesagt, wann das sein würde? Heute Nachmittag? Heute Abend? Nächste Woche?“

Der Statthalter der Mark starrte seinen Stallmeister durchbohrend an; der bedauernswerte Hobbit schrumpfte unter dem Blick seines Herrn sichtlich zusammen.

„Nein, hat sie nicht“, gestand er unglücklich, „Es tut mir leid, Herr Fastred.“

„Denk daran, was für einen Tag wir heute haben, Lieber.“ Elanor stand hinter ihm, ihre Hand auf seiner Schulter. „Sie würde keine Kutsche brauchen, um die Elbentürme zu erreichen; seit sie nach Untertürmen gezogen ist, ist sie ist jeden 22. September hinauf gestiegen.“

„Aber wieso...“ Plötzlich begriff er und drehte sich um. „Die Anfurten? Denkst du, sie ist zu den Anfurten gefahren?“

„Wo sollte sie sonst hinfahren?“

„Aber das – das ist Wahnsinn. Sie ist zu alt, um diesen Weg allein zu schaffen!“

„Wir fahren ihr nach, morgen“, sagte Elanor so beruhigend wie möglich. „Wir können kaum jetzt nach Mithlond, oder? Innerhalb der nächsten zwei Stunden wird es dunkel.“

„Du hast Recht, das können wir nicht.“ Er schüttelte verärgert den Kopf. Plötzlich schlossen sich kalte Finger um seine Hand.

„Papa?”

„Ja, Lämmchen?“

„Stimmt irgendwas nicht mit Oma Lily?“

„Nein“, Er zwang sich mühsam zur Ruhe. „Außer der Tatsache, dass sie ein stures altes Mädchen mit verrückten Einfällen ist.“ Er küsste Fíriel auf die Stirn. „Aber morgen bringen wir sie nach Hause, das verspreche ich dir.“

*****

Die Sonne war jetzt ein tiefroter Ball, und der Ozean flammte in himmlischem Feuer. Lily saß auf dem Kai, ihr Blick hing an dem prachtvollen Einklang von Licht und Wasser. Sie wusste, sie würde bald aufstehen müssen, bevor ihre alten Glieder ihr den Gehorsam verweigerten. Ihr Schlafsack, zwei warme Wolldecken und ihr Kissen warteten in der Kutsche, und sie entschied, zurückzugehen und ein einfaches Lager aufzuschlagen. Sie konnte ein Feuer machen, etwas von ihren Vorräten essen und die Nacht unter den Sternen verbringen. Wie seltsam... ich musste so alt werden wie die Berge, um so etwas zu tun.

Langsam und strauchelnd kam sie auf die Füße; für einen Moment schwankte der Kai vor ihren Augen und der Ozean schien sich schräg zu legen. Dann stand sie aufrecht und wandte sich vom Wasser ab, um zurück zu gehen. Jeder Schritt war mühsam, und irgendetwas stimmte nicht mit ihrem Herzschlag. Zu rasch, zu flach und stolpernd... soviel zum Thema Abenteuer in deinem Alter, Lily Stolzfuß. Alte Närrin.

Eine Brise berührte sie von hinten, blähte ihre Röcke und zerzauste ihr das Haar. Ohne nachzudenken, drehte sie sich um... und starrte.

Jemand stand ganz am Ende des Kais, gleich neben dem Fahnenmast.

Sie kniff die Augen zusammen, verzweifelt bemüht, deutlicher zu sehen. Das Sonnenlicht war wie ein blendender Schleier.

“Hallo…?”

Lily.

Sie machte einen zögernden Schritt vorwärts.

Lily. Meine Liebste.

Sie erstarrte. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, und noch einen... und dann raste es in ihrer Brust, ein wilder Trommelwirbel, der ihr den Atem nahm. Die Gestalt vor ihr war ein schwarzer Umriss gegen all das Rot und Gold, und sie kam näher.

Lily.

Sie wagte es, das Unfassliche zu glauben.

„Frodo…?”

Ja, natürlich. Ich habe es dir versprochen, erinnerst du dich? Ich habe versprochen, ich würde dich finden.

Die Sonne sank hinter den Horizont und das himmlische Feuer verblasste. Aber zu ihrer Überraschung war es keineswegs dunkel. Eine weiche, schimmernde Helligkeit breitete sich aus, und jetzt konnte sie ihn sehen, jetzt sah sie jede wundervolle Einzelheit.

Er ist jung, dachte sie; ihr schwindelte vor Staunen und ihre Brust zog sich zusammen. Aber er ist ja jung!

Dies war der Herr von Beutelsend, der sie auf den Tanzboden hinauf gezogen hatte, die Liebhaber ungezählter Nächte, der geduldige Gelehrte und Lehrer. Der Schmerz war dahin, und die dunklen Erinnerungen hatten sich in Weisheit und tiefes Verständnis verwandelt. Licht erfüllte seine Augen, von keinem Schatten getrübt und klar, das selbe, unvergessliche Licht, das sie vor einer halben Ewigkeit wahrgenommen hatte. Sie wagte nicht, sich zu rühren, sie beobachtete ihn, zitternd in ungläubiger, reiner Freude, bis er direkt vor ihr stand. Er berührte ihre Wange.

Seine Hand war warm. Oh Sterne...!

All die Worte, die sie vielleicht hätte sagen wollen, waren mit einem Mal verloren; es kümmerte sie nicht, es gab keinen Grund mehr, zu sprechen. Aber sie beugte sich vor und spürte seine Arme um sich, und in diesem Augenblick glitten die Jahre von ihrem erschöpften Körper ab wie ein abgetragener Mantel. Ihre Hände berührten seine Schultern unter der tiefblauen, seidenen Weste (Ihre Weste, er trug ihre Weste), und plötzlich waren die geschwollenen Knöchel schlank und geschmeidig unter einer glatten Haut.

Du bist zu mir gekommen.

Ja, ich bin gekommen, mein Liebstes. Und ich werde dich nie wieder verlassen.

Sie fuhr mit den Fingern durch ebenholzdunkles Haar, unberührt von jedem Silber, und er strich kastanienbraune Locken aus einem jungen, schönen Gesicht mit leuchtenden Augen. Er küsste sie, und Himmel und Meer fingen an zu singen.

*****

Sie fanden sie spät am nächsten Nachmittag. Sie lag auf dem verlassenen Kai der Anfurten wie in tiefem Schlummer, ein friedliches Lächeln auf dem Gesicht. Fastred hielt das Versprechen, das er seiner Tochter gegeben hatte; er brachte Lily nach Hause. Sie legten sie auf den Turmbergen zur Ruhe, mit dem Ozean in Sichtweite und den Möwen, die endlos über dem kleinen Grabhügel schrieen. Elanor fand Lilys Buch und sagte dem Steinmetzen, wie er den Stein schneiden sollte, und als er aufgestellt wurde, blühte eine kleine, zarte Blüte auf der Spitze und die Inschrift sagte:

Hier ruht INDIL
1384 – 1491
Vom Ringträger geliebt
„Der Klang deiner Stimme, deine zärtliche Hand...“

Lilys Geschichte wurde in der Schönkind-Familie gelesen und von Mutter zu Tochter und von Tochter zu Enkeltochter weitergegeben. Mit dem Lauf der Jahre wurde sie zu einer vertrauten Legende, wie die berühmten Geschichten über den Ringkrieg. Über Generationen verbreitete sie sich über den Westmark, und sie blieb wohlbekannt... eine dauernde Erinnerung an eine Liebe voller Freude und Schmerz, unerschüttert von Opfern und Verlust und erfüllt jenseits aller Grenzen der Zeit.


ENDE


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