Bernsteintränen
von Cúthalion


2. Kapitel
Früh am Morgen

Ihre Füße waren kalt.

Lily öffnete die Augen und starrte auf die Beine des Geschirrschrankes. Seltsam genug befanden sie sich auf Augenhöhe und sie sah dicke Staubflocken darunter. Ich glaube, ich muss Päonie Wurzelgräber mehr Geld geben, dachte sie, und dann merkte sie, dass sich das Licht völlig verändert hatte – nicht das tiefe Gold eines Spätnachmittags, sondern das dämmerige Halbgrau der Morgendämmerung.

Und jemand klopfte an die Tür.

Sie stützte sich auf die Hände und unterdrückte einen kurzen Schmerzensschrei; jedes Glied war steif, sie hatte einen fürchterlichen Geschmack im Mund und ihr Kopf tat weh.

Das Klopfen wurde lauter und sie stolperte zur Tür. Für einen kurzen, verstörenden Moment sah sie ihr Gesicht in dem runden Spiegel neben dem Fenster. Totenblasse Haut, ihr Haar ein zerzaustes Durcheinander und ihre brennenden Augen gerötet und trocken. Lass es eine Mutter mit Magenkrämpfen sein, dachte sie elend, und ich schicke sie nach Wasserau, damit sie dem neuen Heiler etwas vorjammert. Sie fuhr sich mit den Fingern durch die Locken und öffnete die Tür.

Es war Meriadoc Brandybock.

Sein Gesicht war genauso weiß wie das ihre, und er sah erschöpft und übermüdet aus. Nichts war von der hochfahrenden Art geblieben, die sie am Tag zuvor erlebt hatte... am Tag zuvor. Also hatte sie die ganze Nacht auf dem Küchenfußboden verbracht, und es war ein neuer Morgen mit dunklen Wolken und starkem Regen, und der Hobbit, der mit tropfenden Haaren draußen vor ihrem Smial stand, hatte sie des Diebstahles beschuldigt und sie eine kleine Hure genannt.

„Nein“, wisperte sie. „Nein. Nicht noch einmal.“ Und sie schlug die Tür zu.

„Fräulein Stolzfuß.“

Ihre Hände fummelten unbeholfen am Riegel herum, aber sie bekam ihn nicht durch den eisernen Halter.

„Fräulein Stolzfuß, bitte.“

„Nein“, stöhnte sie, „nein nein nein...“ Ihre Finger zitterten, und plötzlich erinnerte sie sich an den Abend, bevor Frodo zu seiner schicksalhaften Fahrt aufgebrochen war, den Abend, an dem er vor ihrem Smial stand und darauf wartete, zu erklären, sie um Vergebung zu bitten und sie dann zum ersten Mal zu verlassen. Die Bilder schienen sich in ihrem Geist zu verwirren, und plötzlich wurde ihr wieder übel. Sie ließ den Riegel los und machte ein paar unsichere Schritte den Korridor hinunter, bis sie die Mauer an ihrem Rücken fühlte. Sie sah zu, wie sich die Tür öffnete und wie seine überraschend hochgewachsene Gestalt den Eingang verdunkelte, und dann war er drinnen.

„Fräulein Stolzfuß?“

„Was... was willst du?“ hörte sie sich selbst mit einer müden, heiseren Stimme fragen. „Meinst du nicht, du hast schon genügend Schaden angerichtet?“ Dies war ein anderes Echo von Worten und Bildern, und zu ihrem Schrecken sah sie, wie die Welt ihre Konturen verlor und verblasste. Ihr Rücken rutschte an der Wand hinunter und ein gedämpftes Geräusch der Bestürzung kam aus seiner Richtung. Dann wurde sie von zwei Armen aufgefangen und hoch gehoben, sie wurde rasch durch den Raum getragen und im alten Schaukelstuhl ihres Vaters abgesetzt. Ein paar Minuten später wurde ein kühles, feuchtes Tuch auf ihre Stirn gedrückt. Sie wagte es, die Augen zu öffnen und holte tief Atem.

„Besser?“

Sie sah ihn an. Die graugrünen Augen waren dunkel umrandet und voller Besorgnis – und tiefer Scham.

„Ich weiß nicht.“

Er zögerte, dann straffte er den Rücken und räusperte sich.

„Fräulein Stolzfuß, es tut mir leid“, sagte er, „mehr als ich es ausdrücken kann. Ich hatte keine Ahnung. Ich...“ Er verfiel in Schweigen.

„Natürlich nicht.“ Sie seufzte. „Wir haben die Neuigkeit nicht gerade überall im Auenland verbreitet, oder?“ Sie schob das Tuch beiseite. „Wer hat es dir erzählt? Sam? Rosie?“

„Rosie.“ Er senkte den Kopf. „Ich bin in Beutelsend hereingeplatzt, den Samtbeutel mit Primulas Juwelen immer noch in der Hand, und ich stürmte in ihre Küche wie eine Kompanie Rohirrim in der Hitze des Gefechts. Als Sam sah, was ich mitgebracht hatte, wurde er so weiß wie saure Milch. Und Rosie... ich hab sie noch nie so wütend gesehen, nie im Leben.“ Ein winziges Lächeln hob einen seiner Mundwinkel und verschwand wieder.

„Was hat sie gesagt?“ fragte Lily, gegen ihren Willen fasziniert.

„Sie hat mich angefahren. ,Was hast du mit Lily gemacht, du blöder Rüpel von einem Brandybock?’ hat sie gesagt. Und die Hälfte meiner Anschuldigungen sind mir in der Kehle stecken geblieben.“ Er nahm ihre Hände und sie erwiderte instinktiv den Druck seiner warmen Finger. „Die nächste halbe Stunde hat sie damit verbracht, dein Loblied zu singen und ein Bild von dir zu malen, das dafür sorgte, dass ich mich wie der größte Schurke aller vier Viertel vorkam. Und so wie du vorhin an der Tür ausgesehen hast, fühle ich mich kein bisschen besser mit dem, was ich gesagt und getan habe, ganz und gar nicht.“ Eine kurze Pause und ein scharfer Blick. „Noch einmal, es tut mir leid – aber ist da irgend jemand, der sich jetzt um dich kümmern könnte? Soll ich Rosie bitten, herzukommen? Wann hast du zum letzten Mal etwas gegessen?“

„Frühst... nein, das war gestern. Und ich bitte dich, lass Rosie damit in Frieden.“

„Würdest du dann mir erlauben, dir etwas vorzubereiten?“

Sie sah die unausgesprochene Bitte in seinen Augen, den – höchst verständlichen – Wunsch, mit seinen Händen den Schaden zu beheben, den er mit seinem Mund angerichtet hatte. Sie wusste, dass er sein Bestes tat, sein Verhalten von gestern wieder gutzumachen, und sie war zu müde, ihre wütende Bitterkeit weiter zu nähren. Es war leichter, sich dieser unvertrauten, unerwarteten Fürsorge zu überlassen. Sie sah zu, wie er in die Küche ging und lauschte eine Weile dem Geklapper von Tellern, Pfannen und Besteck, bis ihr die Augen zufielen.

*****

Als er etwa eine halbe Stunde später mit einem vollen Tablett wiederkam, war sie fest eingeschlafen. Er schob einen kleinen Tisch neben den Schaukelstuhl, um das Frühstück abzustellen und fand einen Hocker, um sich hinzusetzen.

Er studierte sie; ein liebliches Gesicht mit einer Stupsnase, einem vollen Mund und einem festen Kinn, und ihr Haar hatte die warme, reiche Farbe von reifen Kastanien. Aber er konnte leicht die Spuren der Trauer in ihrem Gesicht verfolgen. Er hatte mehr als zwei Jahre damit verbracht, ängstlich solch unwillkommene Botschaften auf dem Gesicht seines älteren Vetters zu lesen, und ein schwacher Abglanz seiner Schmerzen spiegelte sich in den Zügen dieser geheimnisvollen Frau. Er versuchte immer noch, die erstaunlichen Einzelheiten, von denen er gestern erfahren hatte, in ein Universum vertrauter Erinnerungen einzufügen, das auf den Kopf gestellt worden war.

Er hatte viele Erinnerungen an Frodo, und sie waren immer noch klar und deutlich... der angebetete, ältere Vetter, der auf einem der üppig gepolsterten Sofas im Brandyschloss saß und ihm eine Geschichte vorlas, eine dünne Linie der Konzentration zwischen den Augenbrauen... der brandneue Herr von Beutelsend, der ihn und Pippin in der Tür des legendären Smial willkommen hieß, ein liebevolles Lächeln in den Augen... Frodo in Krickloch, heimlich erleichtert, dass sie sein Geheimnis entdeckt hatten und noch immer entschlossen waren, mit ihm zu gehen... Frodo auf der Reise, wie er sich langsam veränderte und mit Dämonen rang, die keiner von ihnen voll und ganz begreifen konnte... und dann der Frodo nach der Fahrt, der sich langsam aus der Welt zurückzog, die er gerettet hatte und an einen Ort entkam, wohin Merry ihm nicht folgen konnte.

Und nirgendwo in seinen Erinnerungen war diese Frau zu finden. Er war sich immer sicher gewesen, dass er Frodo so gut kannte, wie man überhaupt jemanden kennen konnte, dass er um seine Gewohnheiten wusste, seine Launen, die Dinge, über die er lachte und die, die ihn traurig machten. Merry hatte gewusst, dass Frauen Frodo anziehend fanden, und er war klug genug gewesen, nicht anzunehmen, dass sein Vetter in völliger Enthaltsamkeit lebte. Er hatte von ein oder zwei Affären in den Jahren nach Bilbos Abreise gewusst, und er hatte sogar den Grund herausgefunden, warum Frodo ein paar Jahre regelmäßig Besuche in Froschmoorstetten gemacht hatte (die fragliche Dame hatte am Ende jemand anderen geheiratet). Aber wenn Sam und Rosie die Wahrheit sagten – und Merry hatte keinen Grund, irgend etwas anderes zu glauben – dann hatten Frodo und diese Hebamme sich fast fünf Jahre lang leidenschaftlich geliebt, sich heimlich getroffen und viele Nächte geteilt. Es hatte eine schmerzhafte Trennung gegeben, eine lang ersehnte Wiedervereinigung und einen zweiten und endgültigen Abschied – und er hatte nichts davon gewusst. Und nun, da er in diesem kleinen Smial saß und das stille Gesicht der Frau betrachtete, die Frodo geliebt hatte, begriff er, dass diese verstörende Tatsache mehr als ein kleiner Teil seiner blinden Wut auf sie gewesen war.

Als er gestern Abend nach Beutelsend zurückgekehrt war, hatte Sam am Küchentisch gesessen. Er drehte einen Krug Bier in den Händen, während er ihm eine der unglaublichsten Geschichten erzählte, die er je gehört hatte. „Er hat ihr elbische Worte und Buchstaben beigebracht, Herr Merry, würdest du das glauben? Und ich weiß, sie hat sein Herz gewonnen. Er wollte sie sogar zur Frau nehmen. Er hat ein Liebesgedicht für sie geschrieben, bevor Gandalf kam, ich hab’s mit eigenen Augen gesehen...“ Keine leichtherzige Tändelei, sondern etwas Starkes, Tiefes, Dauerndes, etwas, das ein Herz in Stücke reißen würde, wenn das Schicksal die beiden für immer trennte.

Er streckte die Hand aus und berührte sie behutsam an der Schulter.

„Das Frühstück ist fertig, Fräulein Stolzfuß.“

Sie seufzte, öffnete die Augen und sah zuerst ihn an und dann das Tablett. Er hatte Rührei gemacht, Pfannkuchen und gebratene Pilze mit Speckwürfeln, und er hatte Töpfchen mit Butter und Kirschmarmelade und einen kleinen Korb mit geschnittenem Brot überall dazwischen gequetscht, wo noch Platz war. Ihr Blick kehrte mit mehr als nur einem Funken Ironie zu ihm zurück.

„Ich vermute, ich bin nicht die einzige mit einem leeren Magen“, sagte sie. „Du solltest dir einen Teller und Besteck holen, Herr Brandybock.“

Er gehorchte und sie teilten schweigend das Frühstück miteinander. Mit einiger Befriedigung registrierte er, dass ich Gesicht nicht mehr so bleich war; ein Hauch von Farbe kehrte in ihre Wangen zurück, und er ertappte sich mehr als einmal dabei, dass er sie unverhohlen anstarrte. Endlich hielt sie seinen Blick fest, ein kleines Lächeln um die Lippen.

„Was möchtest du wissen?“ Ihre Augen hatten die gleiche Farbe wie Primulas Ring, dunkel wie Tannenhonig. Sie ist schön, dachte er, wirklich schön, aber trotzdem...

Die Worte platzten aus ihm heraus, ehe er sie aufhalten konnte. „Wieso? Ich meine – wie? Wie hast du... warum hat er...“ Zu viele Fragen auf einmal, und die meisten davon viel zu intim, um sie wirklich zu stellen. Er saß da, hilflos gefangen im Netz seiner unbefriedigten Wissbegier, und er spürte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg.

„Du meinst, wieso hat der reiche, gebildete Herr von Beutelsend sich entschieden, mit einer schlichten Hebamme ins Bett zu gehen, Tochter eines ziemlich armseligen Zweiges der Stolzfuß--Familie, und mehr als fünfzehn Jahre jünger als er? Und warum er es dir nicht gesagt hat? Und wieso es dir nicht gelungen ist, etwas über diese Affäre herauszufinden, wo du doch klug genug gewesen bist, sein Geheimnis mit dem Ring zu entdecken?“

Merry starrte sie offenen Mundes an und sie lachte zum ersten Mal. Es war ein wundervolles Lachen, warm und herzlich. Plötzlich konnte er vor sich sehen, wie sie mit Frodo lachte, und dieses Bild, stark und bittersüß, ließ ihn schlucken.

„All das, und noch mehr“, gestand er. „Ich dachte immer, ich wüsste alles über ihn, und jetzt sieht es so aus, als ob ich... als ob ich...“

„... gar nichts weiß?“ Sie lächelte; Traurigkeit und Freude mischte sich in ihren Augen. „Ich werde dir so viel erzählen, wie es zu erzählen gibt – wenn du meinen Gefallen erwiderst und mir von der Zeit mit ihm erzählst, als er jünger war. Würdest du das für mich tun?“

„Das klingt nur gerecht“, sagte er, lächelte zurück und stapelte die leeren Teller auf dem Tablett. „Darf ich dir mit dem Abwasch helfen?“---

Sie redeten den ganzen Morgen miteinander, erst in der Küche, und dann, nach einem üppigen Mittagessen aus Rosies Kiste, im kleinen Wohnzimmer. Lily breitete Decken über den Steinfußboden und holte Poster und Kissen heran. Sie tranken Tee und lauschten mit tiefer Faszinationen den Geschichten des jeweils anderen, während Merry kurzen Prozess mit einem großen Nusskuchen machte, den Päonie Wurzelgräbers Schwester vor zwei Tagen vorbeigebracht hatte. Lily sah, wie sein müdes Gesicht sich entspannte, während er von seinen Kindheitserinnerungen sprach, und er hörte mit einer Art stiller Freude zu, während er von einer Facette im Leben seines Vetters erfuhr, die er sich nie zuvor hätte träumen lassen. Der Nachmittag schmolz in den Abend hinein und Merry machte Feuer, während Lily in den Keller ging, um eine Flasche Kirschwein zu holen. Und sie redeten immer noch. Manchmal lachten sie mit Tränen in den Augen, manchmal weinten sie ganz offen, bis Bilder und Erinnerungen verschwammen und in Merrys Kopf tanzten. Er schlief ein, auf den Polstern zusammengerollt wie das Kind, das einst seinem geliebten Vetter Frodo Beutlin gelauscht hatte, der ihm am Kamin Geschichten erzählte.

Lily ging in ihr Studierzimmer und holte eine warme, pelzgefütterte Decke, die Rosie ihr zum letzten Julfest geschenkt hatte. Sie breitete sie über ihren unerwarteten Gast und erinnerte sich daran, wie sie jene ganze Julnacht hindurch in ihrem Schlafzimmer gesessen hatte, in diese Decke gewickelt, und wie sie den klaren, fröhlichen Mitternachtsliedern der Kinder gelauscht hatte, während der Schlaf sich nicht einstellen wollte. Nun runzelte Merry unbewusst die Stirn, während er die Decke um sich zusammenzog, und murmelte etwas Unverständliches vor sich hin. Lily blies die Kerzen aus, schlich sich aus dem Zimmer und ging zu Bett.


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