Bernsteintränen
von Cúthalion


3. Kapitel
Vor der Dämmerung

Mitten in der Nacht wachte sie auf. Der Smial war sehr still; sie konnte den leisen Trommelwirbel von Regen auf dem grasigen Dach hören. Aber da war noch etwas anderes, und sie brauchte eine Weile, um es zu identifizieren.

Jemand weinte.

Merry. Sie lag ganz still, die Augen weit geöffnet. Wie konnte sie ihm helfen? Sollte sie es überhaupt versuchen? Wäre es nicht besser, ihn in Ruhe zu lassen? Vielleicht würde er verlegen oder sogar wütend sein, wenn er wusste, dass sie Zeugin seines stillen Kummers war. Das Einvernehmen zwischen ihnen war zu frisch und zu zerbrechlich, um es zu belasten, aber sie konnte das Echo seines Schluchzens in ihrem eigenen Herzen hören, und seine bittere Trauer zog sie zu ihm wie ein Magnet. Sie schlüpfte aus dem Bett.

Merry saß auf dem Boden vor dem Kamin, die pelzgefütterte Decke um die Schultern gelegt. Er hatte das Feuer geschürt, und die frischen Flammen zeichneten sein Gesicht mit Rot und Gold und ließen die Tränenspuren aufglänzen, die sich von seinen Augen bis zu den Mundwinkeln herunterzogen. Sie setzte sich neben ihn auf die Polster und spürte mehr als dass sie es sah, dass er den Kopf in ihre Richtung wandte.

„Bitte...“ Ein heiseres Wispern und ein schmerzhafter Atemzug, während er versuchte, seine Gefühle unter Kontrolle zu bringen. „Würdest... würdest du mich bitte alleinlassen?“

„Das kann ich nicht.“ Ihre Stimme war ruhig. „Ich weiß, was du durchmachst. Und glaub mir... Einsamkeit hilft nicht.“

„Gesellschaft auch nicht.“ murmelte er.

„Vielleicht noch nicht jetzt. Aber eine Zeit wird kommen, wenn die Erinnerung ihren Stachel verloren hat und wenn es dir möglich sein wird, mit Freude an ihn zu denken und nicht mit Bedauern.“

„Weise Worte.“ Aus ihren Augenwinkel sah sie, dass er sich wieder den Flammen zugewandt hatte. „Hast du diesen Seelenfrieden gefunden?“

Lily öffnete den Mund. „Ich...“

Plötzlich spürte sie den starken, fast schmerzhaften Griff seiner Hand um ihre Finger. Und ehe sie dagegen ankämpfen konnte, öffnete sich ihr Geist einer Flut von Bildern und Erinnerungen, die nicht die ihren waren. Ein kleiner Junge, der auf dem Schoß eines jungen Frodo saß, sein Gesicht ohne Falten und die tief eingegrabenen, schmerzhaften Linien... ein alter Mann, sein Bart weiß, seine Augen leuchtend, einen einzelnen Edelstein in der Krone auf seinem Kopf... eine erstaunlich schöne Frau, deren langes Haar ihr über die Schultern fiel wie ein Strom aus bleichem Gold... und dann ein Schlachtfeld und ein kleiner Krieger, der sein Schwert gegen etwas Unaussprechliches hob, einen verschatteten Schemen mit Augen aus kaltem Feuer... und bevor sie schreien konnte, änderte sich die Szenerie zu Räumen aus Marmor mit hohen Decken und Spitzbogenfenstern, und da war eine hohe Gestalt mit dunklem, grau gesträhnten Haar und sanften Händen. Dann verschwanden die Räume und sie sah die hundert Fenster vom Brandyschloss, die den rastlosen Strom überblickten... und endlich einen weiten Hafen, in goldenem Licht gebadet, und ein Elbenschiff, das sich rasch vom Kai fort bewegte. Sein Schmerz überspülte sie, rau und brennend wie eine frische Wunde, und sie zuckte hastig zurück und verschloss ihr Herz und ihren Geist gegen die allzu vertraute Qual.

Langsam kam sie wieder zu sich. Sie saßen Auge in Auge, ihr Atem laut und schwer in dem stillen Zimmer.

„Du hast es gesehen, oder nicht?“ flüsterte er. „Du hast es gesehen! Aber wie...“

„Ich weiß nicht.“ Sie holte tief Atem. „Aber seine Erinnerungen habe ich auch gesehen, seine Wunden und seine Furcht. Und deswegen wusste ich, dass ich ihn aufgeben und an einen Ort schicken musste, wo er geheilt werden konnte. Ich wusste, das es der einzige Weg war. Das tue ich immer noch. Wenn ich das nicht glauben würde, hätte ich das letzte Jahr nicht überlebt.“

„Ich bin nicht sicher, das ich das nächste überlebe.“

Seine Stimme brach in einem Schluchzen. Ohne nachzudenken zog sie ihn in ihre Arme. Er vergrub sein Gesicht an ihrer Brust und sie spürte, wie seine Tränen den Stoff ihres Nachthemdes durchweichten. Sie sank auf die Fersen zurück und wiegte ihn wie ein trauerndes Kind. Ihre Stimme war ein leises, dunkles Summen, „Schsch... schsch...“ und sie legte ihre Wange auf seinen zerzausten Haarschopf.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Merry den Kopf hob. Seine Augen waren eigenartig blind, erfüllt von einem Gefühl, das zwischen Zorn und Verzweiflung schwankte. Und dann zogen seine starken Hände sie zu sich heran und Lily fühlte seine Lippen auf ihrem Mund, heiß und feucht und salzig. Sie konnte sich ihm nicht entziehen. Sie stieß einen erstickten Schrei aus, die Handflächen auf seiner Brust, aber die Muskeln unter ihren Fingern waren so hart wie Eisen. Sie musste ihren Geist nicht öffnen, um sein Bedürfnis nach Wärme, seinen überwältigenden Hunger nach dieser einfachsten Form des Trostes zu spüren, und obwohl ihr Verstand entsetzt protestierte, gab ihr Körper ihm Antwort... er erwachte plötzlich nach einem langen Schlaf der Verweigerung und der erfrorenen Einsamkeit. Ihre Haut prickelte unter seiner machtvollen Berührung, und er schnappte nach Luft und küsste sie noch einmal; seine Zunge glitt zwischen ihre Zähne. Richtig oder falsch, sie war nicht imstande ihn zurückzuweisen. Die Worte, mit denen er sie erst gestern verletzt hatte, waren spurlos verschwunden, aufgelöst in der Heftigkeit ihres gemeinsamen Verlustes.

Sie fand sich auf der pelzgefütterten Decke wieder und ergab sich der Forschungsreise seiner Hände und dem Gewicht seines Körpers, als er sich über sie schob. Er erwies ihr keine Zärtlichkeit und sie erwartete sie nicht; ihr Fleisch war Brot und Wasser für einen verschmachtenden Geist, und alles, was zählte, war das brennende Verlangen, das in seinem – und in ihrem! – Blut siedete. Sie nahm ihn in sich hinein, hielt ihn fest an sich gedrückt und fing seine drängenden Stöße auf, bis er einen schnellen, gewaltsamen Höhepunkt erreichte. Er sank auf sie hinunter, Stirn and Stirn; er flog am ganzen Körper und seine Stimme war ein atemloses Murmeln in ihren Ohren. „Es tut mir leid... ich weiß, ich hätte nicht... oh Sterne, es tut mir so leid...“, und frische Tränen fielen auf ihr Gesicht.

Lily schaute zu ihm auf; ihre eigenen Augen flossen von einem allzu lang unterdrückten Kummer über. Sie legte ihm die Hand auf den Mund und schnitt seine hilflosen Entschuldigungen ab. „Sei nicht zornig auf dich selbst...“ flüsterte sie. „still jetzt, still...“ und sie strich mit den Fingern durch dunkelblondes Haar und ließ sie über breite Schultern und seinen Rücken hinunterwandern... fremd, er fühlte sich fremd an, sogar sein Geruch war völlig anders, eine Mischung aus warmer Erde und würzigem Grün... Sie folgte der Kontur seiner festen Hinterbacken, und als sie seine Schenkel liebkoste, erschauderte er von Kopf bis Fuß, stützte sich auf die Ellenbogen und begann wieder, sich zu bewegen. Nun war sie mehr, als Arme, die ihn hielten und williges, passives Fleisch, das seine Härte empfing... jetzt war sie ein wirklicher Teil des uralten Tanzes. Nun dachte er auch an sie und nutzte seinen ganzen Körper, um ihr für die Großzügigkeit und den bittersüßen Trost zu danken, den sie ihm erwiesen hatte. Sie wölbte sich ihm entgegen... sie stöhnte und biss sich in der betäubenden Selbstvergessenheit der Lust auf die Lippen... sie warf ihren Kopf hin und her, bis er sie mit sich auf den Gipfel nahm und ihr Aufschrei der Erlösung in seinem gemächlichen, sanften Kuss erstarb.

*****

Die Dämmerung des neuen Tages nahte heran und die Sonne stieg an einem klaren, wolkenlosen Himmel auf. Merry wachte auf, Pelz und warme Wolle auf der bloßen Haut. Er war allein, aber er hörte ein vertrautes Geräusch aus der Küche; jemand fegte einen Kaminrost.

Er schloss die Augen und kämpfte gegen ein Gefühl von Verblüffung und tiefer Verlegenheit gleichzeitig an, während er über die letzten beiden Tage nachdachte. Er war aus Bockland gekommen, um sich gemeinsam mit Sam und Rosie an Frodo zu erinnern, nur um herauszufinden, dass es da eine Frau gab, die ein wichtiger Teil vom Leben des Ringträgers gewesen war. Er hatte sie des Diebstahls bezichtigt (und ihr noch etwas anderes vorgeworfen, und die Erinnerung an sein niederschmetterndes Benehmen ließ ihn erneut zusammenzucken). Er hatte ihr mehr von seinen Kindheitsgeschichten erzählt, als sogar Pippin wusste, und er hatte... er hatte... oh Sterne, hatte er das wirklich getan?

„Guten Morgen, Herr Brandybock.“

Lily Stolzfuß stand auf der Türschwelle, voll bekleidet, ihr langes Haar geflochten und zu einer Krone aufgesteckt. Er starrte mit offenem Mund zu ihr hoch, zum ersten Mal in seinem Leben gänzlich um Worte verlegen.

„Ich hab in der Küche ein heißes Bad vorbereitet“, sagte sie. „Und vor einer Weile bin ich nach Beutelsend hinaufgegangen, um Sam und Rosie zu sagen, wo ihr Gast abgeblieben ist. Es wäre wohl keine so gute Idee gewesen, einen der Jungs aus der Nachbarschaft zu schicken – es sei denn, du möchtest, dass sich die Tatsache, dass du die letzte Nacht in meinem Gästezimmer verbracht hast, in ganz Hobbingen verbreitet. Ich bin jetzt in meinem Studierzimmer; wenn du fertig bist, dann ruf mich bitte und ich hole die Salbe, die Rosie haben wollte. Sie wartet mit einem der köstlichsten Elf-Uhr-Imbisse auf dich, die ich je gesehen habe.“

Sie lächelte ihm freundlich zu und verschwand. Merry machte den Mund zu, befreite sich aus der Decke und ging in die Küche, wo er von einer kleinen Badewanne begrüßt wurde. Er glitt ins Wasser und fragte sich, ob die letzte Nacht vielleicht nur ein verrückter Traum gewesen war. Seine Kleider hingen über einer Stuhllehne und ein großes Leinenhandtuch lag auf dem Tisch. Als das Wasser sich abkühlte, kletterte er aus der Wanne, trocknete sich ab, zog sich an und verließ die Küche.

Als er im Korridor stand, kam sie aus dem Studierzimmer.

„Fertig?“

„Ja.“ Er kämpfte mit den Knöpfen seiner Weste. „Danke für deine... Gastfreundschaft.“

„Es war mir ein Vergnügen.“ Sie reichte ihm einen kleinen Tontopf. „Das ist die Salbe, die Rosie haben wollte.“

„Danke.“ Er folgte ihr zur Tür. Sie öffnete, und das blasse Sonnenlicht eines milden Herbstmorgens strömte herein. „Werden wir... werden wir uns heute sehen? In Beutelsend vielleicht?“

„Ich denke nicht.“ Sie warf ihm ein kleines Lächeln zu. „Ich habe vorgestern einen Korb voll Mädesüß gesammelt, und als du mich so unerwartet besucht hast, habe ich ihn völlig vergessen. Jetzt sind die Blüten verwelkt und kaum noch zu gebrauchen, fürchte ich. Ich werde meinen Vorrat erneuern müssen.“

„Das tut mir leid.“

„Es gibt nichts, was dir leid tun müsste.“ Sie erwiderte seinen Blick sehr ruhig, und was immer er über die vergangene Nacht hatte sagen wollen, erstarb ihm auf den Lippen. Da war kein Bedauern in ihren Augen und keinerlei Vorwurf, aber er verstand die stille Warnung sehr gut und nahm sie wortlos hin. „Ich habe deine Gesellschaft genossen, Herr Brandybock, und zwar sehr. Manchmal findet man Trost an unerwarteten Orten.“

„Und bei unerwarteten Freunden.“ Seine Stimme war weich, und plötzlich erinnerte er sich an etwas. Er langte in seine Westentasche, nahm ihre Rechte und schloss ihre Finger über die kühle Kette von Primulas Halsband. Dann nahm er ihre Linke und ließ den Bernsteinring sanft über ihren Mittelfinger gleiten.

„Ich würde mich freuen, dich wiederzusehen, Fräulein Stolzfuß“, sagte er. „Es ist ein Jammer, dass wir uns nicht schon früher begegnet sind.“

„Aber das sind wir, Herr Brandybock, das sind wir!“ Sie lachte leise. „Erinnerst du dich, wie du an einem Mittsommerabend vor sechs Jahren die Flöte gespielt hast? Dein Vetter hat mit einem jungen Mädchen getanzt. Das war ich. Und du...“ Jetzt funkelte das Lachen in ihren Augen, „du wurdest von einem anderen jungen Mädchen geküsst... sehr hübsch, mit rotem Haar und grünen Augen.“

In seiner Verblüffung machte er einen stolpernden Schritt rückwärts.

„Estella? Wie hast du...?“ Er schüttelte voller Staunen den Kopf. „Wanderst du immer so leicht durch die Träume von anderen?“

„Nein, das tue ich nicht.“ Ein plötzlicher Schatten verdunkelte ihr Gesicht. „Und es ist nicht immer eine wünschenswerte Gabe. Aber du solltest dein hübsches Mädchen besuchen. Vielleicht wartet sie ja immer noch auf dich.“

Er nahm ihre Hand und küsste sie ehrerbietig.

„Ich werde versuchen, das herauszufinden.“ Er lächelte auf sie hinunter. „Leb wohl, Lily Stolzfuß.“

„Leb wohl, Meriadoc Brandybock.“

Er wandte sich ab und ging an den Asterbeeten vorbei, und als er zurückschaute, um ein letztes Mal grüßend zu winken, war die dunkelblaue Tür geschlossen. Die Luft war kühl und frisch. Er wandte seinen Blick zur Straße, sein Herz leichter, als es seit Monaten gewesen war. Er würde den Rest des Tages zusammen mit Sam und Rosie verbringen, und morgen würde er vielleicht die Straße ins Ostviertel nehmen. Balgfurt war kaum einen Tagesritt weit entfernt. Die Welt war voll von neuen, strahlenden Möglichkeiten und während er den Bühl hinaufwanderte, fing er an zu singen.

Die Straße gleitet fort und fort,
weg von der Tür, wo sie begann,
doch um die Ecke, kommt’s mir vor,
da führt noch ein geheimes Tor
zu Pfaden, die wir nie geseh’n,
es kommt der Tag, da muss ich geh’n
auf unbekanntem Weg davon
westlich vom Mond, östlich der Sonn.*


ENDE

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*Die Originalübersetzung der letzten zwei Zeilen ist offiziell anders. E.-M. von Heymanns Version (© Klett-Cotta) geht so:

...es kommt der Tag, da muss ich gehn
und unbekannte Wege ziehn,
wohl Mond vorbei und Sonnen hin.

Und bei aller Liebe... aber das ist einfach Mumpitz. Wohl Mond vorbei und Sonnen hin? Wohl Rumpeldeutsch und was weiß ich...? Zur Erinnerung: So heißt es im englischen Original...

A day will come at last when I
Shall take the hidden paths that run
West of the Moon, East of the Sun.

Und man kann das sehr wohl wörtlich übersetzen und dabei die sanfte Poesie des Originals bewahren. Meine Version gefällt mir besser.


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