Unterwegs mit dem anderen Zauberer - Eine Reise zur Heilung
(Following the other Wizard - A Journey into Healing)
von jodancingtree, übersetzt von Cúthalion



Kapitel 16
Freunde und Feinde

Sie reisten viele Wochen gemeinsam. Radagast setzte die Orks bei den Arbeiten ein, die er und Frodo nicht allein tun konnten; sie räumten blockierte Bäche frei, damit sie wieder fließen konnten und den ausgedörrten Boden bewässerten.

„Vielleicht werdet ihr hier eines Tags wieder Kaninchen jagen,“ sagte er ihnen. „Wenn diese Zeit kommt, werdet ihr sie dann alle töten, oder lasst ihr genug übrig, dass sie sich vermehren können?“

Canohando schnaubte. „Solche Narren sind wir nicht, alter Mann, dass wir unser eigenes Land vernichten! Das wurde von anderen für uns getan.“

Entlang der Straße kamen sie an zerstörten Festungen vorbei, und die Orks betraten jedes einzelne davon, wenn auch mit Vorsicht, ihre Bögen gespannt; offensichtlich behielten sie den Überraschungsangriff in den Bergen im Gedächtnis. Eines Tages kamen sie mit einem weiteren Bogen zurück, den sie in dem verlassenen Wachhaus gefunden hatten. Canohando brachte ihn dorthin, wo Frodo auf dem Rücken lag, die Hände hinter dem Kopf verschränkt; er war müde von seinem Tagwerk und schaute zu, wie die Sonne unterging.

„Aufstehen, Kümmerling,“ grollte er. „Lass mich sehen, ob der hier deine Größe hat.“

Frodo verspürte nicht den Wunsch nach einem Bogen, am allerwenigstens einen aus einer Ork-Waffenkammer, aber er hielt es für besser, nicht zu streiten. Er stand auf und ließ zu, dass der Ork an ihm Maß nahm.

„Der wird’s tun. Morgen kommst du mit mir und lernst jagen.“

„Ich habe meine Arbeit mit Radagast,“ begann Frodo, aber zu seiner Bestürzung gluckste der Zauberer und sagte: „Nein, geh, und lass ihn dich unterweisen. Lash und Yarga können mir helfen, Esel.“

Die Unterweisung dauerte viele Tage. Frodo hatte nicht mehr mit einem Bogen geschossen, seit er ein Junge war, und das war ein Spielzeug gewesen, geschnitzt von seinem Vater. Canohando grummelte, während er hinter ihm stand und ihn in die richtige Schussposition schubste.

„Wie hast du so lange überlebt, Kümmerling? Ohne den Zaubersack des alten Mannes würdest du verhungern. Wie alt bist du?“

Aber als Frodo es ihm sagte, starrte er ihn an. „Das ist alles? Dann bist du ein Kind! Wie konnte ein Kind – dies – tragen? Die Macht des Herrschers von Mordor?“  

Frodo lachte. „Unter meiner eigenen Art bin ich kein Kind; ich bin nicht einmal jung. Scheinbar leben wir nicht so lange wie Zwerge oder Orks. Lebt deine Rasse genau so lang, wie Mittelerde andauert, wie die Elben?“

„Wir leben, bis wir erschlagen werden.“ Der Ork gluckste grimmig. „Wenn keine Feinde zur Hand sind, um uns diesen Dienst zu erweisen, dann bringen wir uns gegenseitig um. Aber ich kann mich daran erinnern, wie der Hexenkönig nach Mordor kam. Ich war in der Horde, die mit ihm marschierte, um den Männern von Gondor Minas Morgul wegzunehmen.“

„Vor tausend Jahren!“ staunte Frodo. „Ich glaube, das du leben wirst, bis Arda nicht mehr ist, wie die Elben.“

Canohando bleckte unangenehm die Zähne.“ Orks sind keine Elben, kleine Ratte, und wir haben keine Liebe für sie. Ich werde leben, bis ich erschlagen werde, aber ich habe bereits länger gelebt als du… deine Rasse ist wie ein Sommergewitter, ein Blitz, und ihr seid weg. Aber du lebst vielleicht ein wenig länger, wenn du schießen kannst. Schau an deinem Arm entlang, und dann ziel mit dem Pfeil durch dieses Fenster.“

Die Übungsstunden wurden in jeder alten Festung abgehalten, die ihnen zupass kam, und wenn er es müde wurde, Frodo zu unterrichten, dann ging Canohando ernsthaft auf die Jagd. Frodo hätte draußen in der Sonne gesessen und auf ihn gewartet, aber das wollte der Ork nicht zulassen.

„Komm mit mir, Kümmerling. Zur Jagd gehört mehr als bloß geradeaus zu schießen – und wenn ein Stein unter meinem Fuß weg rollt und mich dort hinunter wirft,“ er nickte zu einem tiefen Loch im Inneren der Festung hinüber, um das sie auf der Suche nach Beute herumkletterten, „dann kannst du mich wieder herausziehen. Nur ein Narr jagt in einer solchen Ruine ganz allein.“

Und Frodo stellte fest, dass die Tatsache, dass der Ork sich auf seine Hilfe verließ, ihn merkwürdig rührte.

Als der Sommer kam, wurde die Hitze von Gorgoroth für Frodo und Radagast unerträglich, und sie wanderten näher an die Berge heran und suchten sich ihren Weg zu den Hängen zu ihren Füßen, wo es kühler war. Die Orks wurden mit jedem Tag unruhiger, aber als der Zauberer vorschlug, dass sie allein ins Inland zurückkehren sollten, weigerte sich Canohando.

„Wer wird euch schützen, alter Mann, wenn ihr einer anderen Orkbande begegnet? Die meisten werden nicht warten, bis sie herausgefunden haben, ob ihr Feinde seid! Selbst die Männer von Gondor könnten euch erschlagen, bevor sie sehen, dass ihr zu ihnen gehört.“

Frodo dachte, dass Lash und Yarga wohl gegangen wären. Die Orks führten lange Diskussionen in ihrer eigenne Sprache, wenn er und Radagast nachts in ihre Decken eingerollt im Dunkeln lagen und scheinbar schliefen.

„Wieso gehen sie nicht fort?“ flüsterte er.  

„Ich bin mir nicht sicher, Esel. Canohando hat, glaube ich, das Gefühl, in meiner Schuld zu stehen, weil ich seine Wunde geheilt habe – die Entzündung ging sehr tief und hätte ihn mit der Zeit umbringen können. Gleichzeitig ist seine Reaktion seltsam – in einem Ork Dankbarkeit zu finden ist etwas, das man fast nicht glauben kann. Und Lash und Yarga werden ihn nicht verlassen, obwohl sie bei jedem Schritt um ihr Leben fürchten. Ihre Ergebenheit verblüfft mich ebenso sehr wie seine Dankbarkeit. Ich frage mich…“

„Ist es deswegen, weil sie glauben, sie wären von allen Orks in Mordor die einzigen, die noch übrig sind?“

„Das ist sicher ein Teil davon. Der Schrecken, Saurons Reich zerstört zu sehen – alles in einem einzigen Augenblick – das könnte ihre gegenseitige Ergebenheit erklären, aber nicht, weshalb sie bei und bleiben. Ich denke, hier ist noch etwas anderes am Werk, die Auflösung einer dunklen Schöpfung…“ 

Er schwieg eine Weile, und Frodo wäre beinahe eingeschlafen. Die nächsten Worte des Zauberers weckten ihn wieder auf; er fuhr zusammen und war mit einem Schlag wieder hellwach.  

„Ich glaube, dass sie dir folgen, Esel. Du hast den Ring getragen, und etwas von seiner Ausstrahlung hängt noch immer an dir. Die Prägung durch die dunkle Macht, mit der du gerungen und die du überwunden hast – ich denke, das ist es, was sie anzieht, und ganz besonders Canohando, weil er der Hellsichtigste ist von den dreien.“

Frodo schauderte. „Nein, Radagast! Ich will nicht glauben, dass ich dieses – Zeichen – noch immer an mir trage. Ich habe diese Macht nicht überwunden; sie hat mich beinahe zerstört!“

„Ah, Esel, aber genau das ist der Punkt: du wurdest nicht zerstört. Für einen Augenblick bist du überwältigt worden, aber sobald der Ring ins Feuer gegangen war, hast du weitergekämpft. Es war ein langer Kampf für dich, aber ich denke, du kannst jetzt mit Sicherheit sagen, dass du die Schlacht gewonnen hast. Alles, was bleibt, ist eine Art Narbe, wie die Narben, die du an deinem Körper trägst. Und diese Orks schlagen ihre eigene Schlacht gegen das, was ihrer Art in ferner Vergangenheit zugefügt wurde. Ich glaube, sie folgen dir der Hoffnung wegen, die du ihnen gibst.“

„Was für eine Schlacht schlagen sie denn? Was hat das mit mir zu tun?“  

Der Zauberer regte sich in der Dunkelheit, und Frodo spürte seine Hände auf den Schultern. „Dreh dich um, Esel, und ich reib dir den Rücken. Keine Angst, du hast den Schatten abgeschüttelt.“ Die kräftigen, biegsamen Finger gruben sich in seine starren Muskeln und er fing an, sich zu entspannen. „Du weißt, wovon die Orks abstammen… von Elben, die in einem anderen Zeitalter durch eine böse Macht gequält und schrecklich verwandelt wurden. Viel von diesem Übel wurde in den Ring eingebunden, und jetzt ist es zerstört. Das allein wird die Erschaffung der Orks nicht ungeschehen machen, fürchte ich, aber für diese drei könnte es ausreichen. Aus Schrecken und Entsetzen, als Sauron fiel - ihrer Einsamkeit wegen, als sie sich nur einander zuwenden konnten – haben sie bestimmte Entscheidungen getroffen. Einander ergeben zu sein, sich gegenseitig zu verteidigen. Hilfe von mir anzunehmen und nicht zu versuchen, uns zu töten.“

„Zu versuchen, uns zu töten?“

Radagast gluckste. „Sie würden es schwer gefunden haben, mich zu töten, Esel, wenn sie es versucht hätten, und dich hätte ich beschützt. Yarga war äußerst überrascht, als sein Schuss weit daneben ging – er ist nicht gewöhnt, sein Ziel zu verfehlen, und für jemanden, der Ratten gejagt hat, warst du ein großes Ziel.“

„Ich hätte es wissen müssen!“ Frodo erstickte ein Lachen an seinem Arm. „Werden sie wieder Elben sein?“

„Nein. Sie wurden als Orks geboren; es liegen Generationen von Orks zwischen ihnen und diesen armen, verstümmelten Elben. Aber sie könnten zu etwas Neuem unter der Sonne werden; Orks, die sich aus eigenem Willen vom Bösen abgewandt haben. Du hast diese Schlacht geschlagen, als du den Ring getragen hast, und noch lange danach hast du den Bann bekämpft, unter dem er dich hielt. Ich denke, Canohando beginnt zu verstehen, warum er in deiner Nähe sein möchte, und die anderen spüren es, ohne es zu begreifen. Du hast ihnen einen Weg gewiesen.“

Frodo schwieg. Es war, als hätte er einen Stern betrachtet, der sich in einer Tasse mit Wasser spiegelte, und jemand hätte seine Aufmerksamkeit stattdessen gen Himmel gelenkt. Er hatte gedacht, dies sei einzig und allein sein eigenes Ringen, und er verspürte Demut bei der Vostellung, dass er für diese ungewöhnlichen Kämpfer gegen die Finsternis eine Quelle der Hoffnung war.

Am Morgen sprach Radagast mit den Orks.

„So dicht an den Bergen fühlt ihr euch nicht wohl, und ich fange an zu denken, dass ihr Recht habt. Wir sind hier nicht sicher; doch ist die Hitze des Gorgoroth im Sommer zu viel für jeden, der kein Ork ist! Ich glaube, wir sollten uns einen verborgenen Platz suchen und uns versteckt halten, bis es genügend abkühlt, um die Hügel zu verlassen.“

„Eine Höhle,“ sagte Frodo. „Wenn wir eine Höhle finden könnten, und Wasser in der Nähe - “

„Eine Höhle könnte eine Falle sein, wenn dein Feind dich findet, während du drin bist. Hast du Seil da in deinem Sack, alter Mann?“ fragte Canohando.

Radagast langte in den Sack, der neben ihm auf dem Boden lag und zog eine Rolle Seil heraus; es war dünn, sah aber kräftig aus, wie das Seil von Lothlorien. Der Ork nahm es zimperlich entgegen, rümpfte die Nase und zog ein Stück davon zwischen den Händen stramm, um seine Stärke zu testen.

„Stinkt nach Elben, aber es wird gehen,“ grollte er endlich. Er gestekulierte zu Lash und Yarga hinüber und sie verteilten sich; jeder von ihnen hielt ein Ende Seil fest. Während Frodo fasziniert zuschaute, bewegten sie sich vor und zurück, reichten das Seil unter einander von Hand zu Hand und webten und knoteten mit Geschick und Übung. Binnen einer Viertelstunde hatten sie ein Gewebe hergestellt, das länger war als Frodo in der Höhe maß, und breit genug, dass er es zwei oder dreimal um sich herum hätte wickeln können.

„Wenn du noch mehr Seil hast – und wenn wir irgendwo in dieser Einöde einen Baum finden – dann könnten wir die Tage außer Sichtweite in Hängematten verbringen.“

„Ich habe dir einen guten Namen gegeben,“ sagte Radagast. „Du hast einen raschen Geist.“ Er brachte noch mehr Seilrollen zum Vorschein. „Komm, Esel – während die Orks unsere Hängematten machen, werden wir unsere Wasserflaschen füllen und sicher stellen, dass unsere Anwesenheit keine Spuren hinterlassen hat. Ich werde allmählich genauso unruhig wie sie.“

Bis sie sicher waren, dass es keine Spuren gab, war eine weitere Hängematte fertig. Radagast ging zur Spitze des Hügels und blickte suchend in alle Richtungen. Frodo folgte ihm, aber die Orks blieben zurück, besorgt, sich nicht vor dem Horizont sehen zu lassen.

„Nicht viele Bäume,“ meinte der Zauberer, „und keine, die groß genug wären für unsere Zwecke. In einem der tiefen Täler, wo es  noch fließendes Wasser gibt, könnten wir welche finden. Da unten.“ Er deutete hinüber.

Sie wanderten den ganzen Tag zwischen verkümmerten Büschen und Flecken aus halb verdurstet aussehendem Unkraut hindurch. Von Zeit zu Zeit fanden sie einen  jungen Baum, nicht dicker als des Zauberers Stab, der in der trockenen Erde ums Überleben kämpfte.

„Wenigstens gibt es ein paar Bäume,“ sagte Frodo. „Schau, wie jung sie sind – sie müssen alle erst Wurzeln geschlagen haben, nachdem der Dunkle Herrscher gefallen war.“

„Früher gab es einmal Bäume, aber die wurden alle abgehauen,“ sagte Lash. „Für Kriegsmaschinen, und um die Schmelzöfen zu füttern, zum Waffenschmieden. Es gab ganze Horden von Orks, Tausende von ihnen, die in die Hügel geschickt wurden, um Bäume abzuschlagen und sie nach Gorgoroth zurückzuschleppen.“ Er ließ seine Hand am Stamm eines der Setzlinge hinuntergleiten, den sie gefunden hatten. „Ich mag, wie sich das anfühlt – lebendiges Holz.“

Yarga schnaubte, aber Canohando nickte; sein Gesicht war nachdenklich.

Sie gingen weiter, in den Schatten einer tiefen Kluft zwischen den Hügeln hinein. Der Boden wurde rauer, brüchig und felsig, und sie kamen zu einem flachen Strom, der zwischen hohen Ufern dahinrauschte. Sie folgten ihm und kletterten ungeschickt über die Gesteinsbrocken, and dann fiel das Land vor ihnen ab und der Strom stürzte plötzlich über einen scharfen Vorsprung hinunter. Als sie in die Tiefe blickten, sagen sie, dass der Wasserfall in einen Teich gute vierzig Fuß weiter unten sprudelte, bevor das Wasser wieder in einem schmalen Bach davonfloss. Dort unten gab es Bäume, ein gutes Dutzend etwa, mit dicht belaubten Kronen.

„An die sind sie nicht herangekommen,“ sagte Radagast befriedigt. „Der Absturz kam zu plötzlich, und es ist so tief, dass sie vielleicht nicht einmal gewusst haben, dass die Bäume hier sind. Würden sie für deine Hängematten ausreichen, Canohando?“

Die Orks suchten bereits nach einem Weg in die kleine Klamm hinunter. Sie tasteten sich zwischen den Felsblöcken hindurch, die den steilen Abhang übersäten, und Frodo und der Zauberer folgten ihnen. Als sie die Talsohle erreichten, war die Luft kühl und holzduftend wie das Auenland. Nach der ausgedörrten Wüste des Gorgoroth fühlte es sich an wie der Himmel.

Frodo warf sich auf den moosigen Boden und schloss die Augen. „Jetzt, wo wir das hier gefunden haben, kriegt ihr mich vielleicht nie wieder nach Mordor!“

Lash lag auf den Felsen ausgestreckt und zog die Hände durch das Wasser. Sein verfilztes Haar tropfte; er hatte seinen Kopf einfach in den Teich getaucht, um zu trinken.

„Das ist Mordor,“ sagte er und setzte sich auf. „Das ist das Mordor, an das ich mich erinnere, wild, und voller Beute zum Töten. Früher, bevor die Uruk-hai kamen, und der Dunkle Herrscher mit seinen Kriegen und dem Hin- und Hermarschieren auf Straßen aus Stein, mit einer Peitsche auf deinem Rücken und nie genug zu essen.“

„Hast du in diesen Hügeln gelebt, bevor Sauron zurückkehrte?“ fragte der Zauberer.

„In den Bergen, mit Bäumen überall und den Strömen voller Fische.“ Lash stand auf, watete ins Wasser und folgte ihm flussabwärts. Während sie zuschauten, bückte er sich und tauchte die Arme in den Strom, glatt und ohne zu spritzen, und dann richtete er sich auf und ein Fisch wand sich zwischen seinen Händen. „Mach ein Feuer, Halbling! Heute Abend werden wir Fisch essen!“ Er warf den Fisch ans Ufer und Canohando hob ihn auf.

„Wir haben immer die Flossen abgerissen – so,“ sagte er. Er packte einer der Seitenflossen und verdrehte sie, bis sie sich in seiner Hand löste. Der Fisch zuckte und kämpfte, das Maul weit offen, und Frodo wandte sich ab; ihm wurde übel. Canohando blickte von ihm zu dem Fisch, der noch immer in seinen Händen zappelte. „Es war ein dummes Spiel,“ murmelte er und zog sein Messer. Er tötete den Fisch mit einem sauberen Streich.

„Hier, Kümmerling,“ sagte er grob. „Jetzt ist er tot – kannst du ihn ausnehmen? Wir werden genug fangen für uns alle, wenn du und der alte Mann sie kochen.“

Frodo nahm ihm den Fisch ab und ging ein Feuer machen, und der Ork watete zu Lash und Yarga ins Wasser; sie bewegten sich langsam flussabwärts, fingen mit bloßen Händen einen Fisch nach dem anderen und warfen sie ans Ufer. Radagast ging dicht am Wasser entlang, sammelte die Fische ein und tötete sie rasch.

Die folgenden Wochen waren wie eine Art merkwürdiger Ferien. Sie befestigten die Hängematten tief in die Baumkronen, so dicht beieinander, wie sie es fertigbrachten, damit sie sich leise unterhalten konnten. Aber die meisten Stunden des Tageslichtes verschliefen sie; die Blätter umgaben sie mit tiefen Schatten, und es schien, als seien sie alle miteinander müde, selbst die Orks.

In der Abenddämmerung kletterten sie hinunter, machten ein kleines Feuer und bereiteten mit den Vorräten aus dem Sack des Zauberers eine Mahlzeit zu.

„Lasst die Fische in Frieden,“ sagte er den Orks, als sie noch mehr fangen wollten. „Es gibt wenig genug Leben in Mordor – ihr hattet eure Jagd, als wir angekommen sind; jetzt lasst sie leben und sich vermehren.“

Als sie gegessen hatten und es dunkel wurde, gingen sie auf Erkundung. Sie folgten dem Strom viele Meilen weit, bis er in einen anderen Fluss aufging, und dann wandten sie sich wieder zurück.

„Wenn wir ihm weit genug folgen würden, dann könnten wir bis an das Núrnen-Meer kommen, denke ich. Ist einer von Euch schon dort gewesen?“ fragte Radagast die Orks.

Sie schüttelten die Köpfe. „Wir kommen vom Ephel Dúath,“ sagte Canohando, „aber in jenen Tagen kannten wir einander noch nicht. Es gab viele Orkbanden, die in den Bergen lebten und um Jagdgründe kämpften, bis der Hexenkönig kam und uns sammelte, um die Männer von Gondor zu bekämpfen. Diese Hügel sind unser Heimatland, aber sie sind nicht mehr sicher für uns.“

„Ihr habt den Krieg nach Gondor getragen, und sie haben ihn wieder zu euch zurückgebracht,“ sagte der Zauberer nüchtern, und der Ork knurrte und ging weg.

Sie blieben den ganzen Sommer dort, verbrachten die Tage in ihren Hängematten und wanderten des Nachts durch die Hügel. Sie fanden moch mehrere andere tiefe Täler, wo die Bäume nicht abgehauen worden waren, und manchmal überraschten sie ein Kaninchen, das im grauen Licht vor der Morgendämmerung graste.

Monatelang hatten sie kein Zeichen von irgendjemandem außer ihnen selbst gesehen, und vielleicht waren sie sorglos geworden. Wie auch immer, ausgerechnet Canohando lief geradewegs in eine Gruppe Männer hinein, die im Schatten eines großen Felsens standen, und die anderen Orks waren dicht hinter ihm. Sie hatten keine Zeit, ihre Bögen zu spannen, ehe sie umzingelt und entwaffnet waren.

„Nimmt es mit diesem Ungeziefer in Mordor denn nie ein Ende?“ rief eine Stimme in der Dunkelheit aus. „Jedes Mal, wenn ich denke, wir haben den letzten Rest ausgeräuchert, finden wir ein anderes Nest! He, ihr da! Gibt es noch mehr von eurer Sorte?“ Es folgte ein Geräusch wie ein heftiger Schlag.

Plötzlich flammte ein Licht auf; Frodo trat vor und hielt das Sternenglas hoch wie eine Fackel. Die Männer zogen sich zurück und beschirmten ihre Augen, und die Orks, deren Hände bereits hinter ihnen zusammengebunden waren, wandten blinzelnd die Köpfe ab.

„Einen guten Abend Euch, Hauptmann,“ sagte Frodo und blickte von Gesicht zu Gesicht, auf der Suche nach dem Anführer der Streife. Es waren wenigstens zwanzig Mann. Radagast trat ins Licht und stand hinter ihm, seinen Stab in der Hand.

„Guten Abend? Das mag sein, Halbling, und dann auch wieder nicht. Wer seid ihr, und mit wessen Erlaubnis treibt ihr euch im Dunkeln in diesen Hügeln herum? Das ist jetzt das Land des Königs.“

„Mordor!“ sagte Canohando schroff und spie aus. „Dies ist Mordor. Mein Land! Das Land der Orks!“

Der Mann, der gesprochen hatte, drehte sich um und versetzte dem Ork mit lässiger Brutalität einen gezielten Schlag auf die Kehle, wobei er die Handkante benutzte. Canohando krümmte sich, würgte und rang nach Luft, und er wäre gefallen, wenn sein Wächter ihn nicht an den Armen festgehalten hätte. Die anderen Orks kämpften gegen die Männer an, die sie gepackt hielten, und knurrten vor Wut.

„Ich bin ein Freund des Königs,“ sagte Frodo fest. Er ging zu Canohando hinüber und legte ihm die freie Hand auf die Schulter. „Und diese hier sind meine Freunde. Der Schatten ist besiegt, Hauptmann, und selbst ein Ork mag ein Freund sein.“

Der Mann starrte ihn finster an. „Freund des Königs, das ist leicht gesagt, Kleiner, aber du solltest besser imstande sein, es zu beweisen. Dass du mit Orks gut Freund bist, das ist leicht zu erkennen, und es könnte dein Verderben sein. Und wer ist der alte Mann?“

„Ich bin Radagast der Braune, und des Königs Freund ist auch der meine – ebenso wie diese drei Orks. Ich bin von Gandalfs Orden. Mithrandir,“ fügte er hinzu, als er das blanke Unverständnis im Gesicht des Mannes sah.

Von den anderen Männern kam Gemurmel. „Mithrandir! Denethor hatte wenig Liebe für ihn!“

„Er war aber ein naher Ratgeber des Königs.“

„Das ist Jahre her. Er ist in Gondor nicht mehr gesehen worden seit - “

„Seit er über das Meer gegangen ist, mit Elrond, dem Vater eurer Königin. Nichtsdestotrotz, ich bin von seinem Orden, und dieser Halbling ist wahrhaftig des Königs Freund, und hoch in seiner Gunst. Ihr würdet gut daran tun, ihn ehrenvoll zu behandeln.“

Der Hauptmann betrachtete Frodo neugierig. „Also schön, Halbling. Wer bist du, dass ich dich ehren sollte?“

Frodo spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg. „Ich bin Frodo, der Ringträger,“ sagte er. Er hielt seine verstümmelte Hand mit dem fehlenden Finger ins Licht. „Frodo von den neun Fingern. Du musst mich nicht ehren, aber bitte, lass meine Freunde frei.“  

„Der Ringträger.“ Der Hauptmann beäugte ihn zweifelnd. „Neun Finger hast du, aber das ist kein Beweis. Und ich mag die Wahl deiner Freunde nicht! Meine Mutter war eine Heilerin in Minas Tirith, und sie hat Geschichten erzählt… Dann sag mir doch, Ringträger, was für ein Geschenk hat die Königin dir gegeben? Denn meine Mutter hat es mir gesagt, aber das war etwas, das nicht weithin bekannt war.“

„Königin Arwen gab mir einen Edelstein, den sie selbst um den Hals trug, um mir bei bösen Erinnerungen Trost zu geben.“ Frodo langte in sein Hemd und zog den weißen Juwel an seiner Kette heraus. Der Hauptmann sank auf ein Knie und nahm ihn zwischen die Finger; er drehte ihn hierhin und dorthin, damit er das Licht einfing, und auf seinem Gesicht zeigte sich Ehrfurcht.

„Vergebt mir meine Unhöflichkeit, Herr,“ sagte er endlich und stand wieder aud. „Ihr seid tatsächlich der Freund des Königs, und niemand könnte höher in seiner Gunst stehen. Aber ich begreife nicht, weshalb Ihr und Euer Gefährte in der Dunkelheit durch unsere Hügel wandern, und in solcher Gesellschaft.“ Er betrachtete die Orks mit Abscheu.

Frodo wandte sich zu Canohando und zog sein Messer heraus; er schnitt die Seile durch, die die Handgelenke des Orks zusammenbanden, hakte die eigene Wasserflasche von seinem Gürtel los und reichte sie ihm. Er schaute zu Yarga und Lash hinüber, aber Radagast kümmerte sich um sie, und er wandte sich zu dem Mann zurück.

„Wollt Ihr einen deiner Männer ein Feuer machen lassen, Hauptmann? Ein heißes Getränk würde uns allen gut tun, denke ich, und dann werde ich Euch sagen, weshalb ich in solcher Gesellschaft unterwegs bin.“

Die Streife hatte keinen Tee bei sich, sehr zu Frodos Enttäuschung, aber es gab ein Pulver, das, wenn man es mit heißem Wasser mischte, eine sehr schmackhafte Brühe ergab. Er und Radagast setzten sich mit dem Hauptmann über drei Becher von dem Zeug hin und versuchten, ihm zu erklären, weshalb sie in Mordor waren. Der Mann schien den Sinn der Sache nicht zu erfassen.

„Um das Land zu heilen, sagt Ihr? Wozu die Mühe? Mordor ist eine Einöde, und war es für ein Jahrtausend oder mehr. ,Das Schwarze Land’ ist sein Name in der Allgemeinen Sprache – für nichts anderes gut als für brütendes Ungeziefer.“ Er ruckte mit dem Kopf zu den Orks hinüber, die dicht hinter Frodo und dem Zauberer saßen. Frodo begriff plötzlich, dass man ihnen nichts von der Brühe gegeben hatte, und er reichte seinen eigenen Becher nach hinten zu Canohando.  

„Ihr behandelt diese Bestie, als wäre sie ein Mensch,“ grummelte der Mann.

Frodo schaute ihm in die Augen. „Ich war ein Gefangener von Orks,“ sagte er. „Sie haben mich ausgezogen, sie haben mich geschlagen – aber zu essen gegeben haben sie mir auch. Und Canohando ist mein Freund.“ Canohando trank ein paar Schlucke aus dem Becher, dann gab er ihn weiter an Yarga. Der Hauptmann beobachtete ihn, dann stand er auf und holte drei weitere Becher; er füllte sie und gab sie Frodo und den Orks.

Als er sie nicht davon überzeugen konnte, mit ihm nach Ithilien zurückzukehren, ließ er sie endlich gehen.

„Ich werde meinem Befehlshaber Bericht erstatten müssen, dass ich euch hier gefunden habe, und er wird dem König davon berichten. Es wird sehr übel aussehen, dass ich euch zurückgelassen habe, während ihr in der Wildnis herumwandert, anstatt euch in Ehren zurückzubringen, um ihn zu besuchen.“

„Streicher wird das verstehen – er war selbst für viele Jahre ein Wanderer. Sagt dem König – uind auch der Königin! – dass Frodo mit dem Braunen Zauberer reist, um seiner eigenen Heilung willen, und für die Heilung des Landes. Ich denke, sie werden sich über diese Nachricht freuen.“

„Das werden sie wirklich,“ sagte Radagast mit einem Lächeln. „Sagt dem König genau das, Hauptmann, und sagt weiterhin, dass der Ringträger Heilung mit sich bringt, selbst nachdem er sie für sich selbst schon gefunden hat.“

Der Hauptmann schaute angesichts dieser Botschaften verwirrt drein, aber er versprach, sie zu überbringen. Dann stand er auf und gab seinen Männern Befehle, und sie machten sich zum Aufbruch fertig.

„Ihr würdet gut daran tun, eure – Freunde – tiefer ins Inland mitzunehmen,“ wante er sie. „Gondor geht jetzt in diesen Hügeln Streife, und das wird auch weiterhin so sein. Ein zweites Mal wird unsere Verteidigung nicht versagen! Und Gondor steht nicht auf freundlichem Fuß mit Orks.“

Frodo verneigte sich. „Ich danke Ech für Euren Rat. Hauptmann, und für Eure Gastfreundschaft. Wir werden morgen aufbrechen, wenn wir geschlafen haben. Und ich würde Euch außerdem bitten, dem Herrn Faramir meine Grüße auszurichten. Er war mir ebenfalls ein Freund, als ich dringend einen nötig hatte.“

Sie erreichten ihre Zuflucht kurz nach der Dämmerung und kletterten erschöpft in ihre Hängematten. Frodo war schon fast eingeschlafen, als Canohando ihn ansprach. „Kümmerling? Wieso hab ihr euch nicht versteckt gehalten, du und der alte Mann? Die wussten nicht, dass ihr bei uns wart.“

Frodo gähnte. „Ihr habt uns von Anfang an gesagt, dass die Menschen von Gondor jeden Ork töten, den sie finden. Hättest du Yarga und Lash im Stich gelassen, wenn du nicht selbst gefangen worden wärst?“

„Ich hätte aus dem Hinterhalt geschossen und so viele von ihnen getötet, wie ich konnte. Ich wäre nicht mitten in sie hinein gelaufen!“

„Ich bin kein Ork – und ich bin der Freund des Königs. Ich würde seine Männer nicht aus dem Hinterhalt erschießen, selbst wenn ich es könnte.“

„Was, wenn sie dir nicht geglaubt hätten? Sie hätten dich gemeinsam mit uns umbringen können.“

„Möglich. Ich dachte aber nicht, dass sie es tun würden.“

„Und wenn sie uns sowieso umgebracht hätten, selbst, wenn wenn ihr ungeschoren geblieben wärt? Hättest du getötet, um uns zu retten?“

Frodo verstummte. Für Sam würde er töten, wenn er es musste. Aber für die Orks? „Ich weiß nicht,“ sagte er endlich. „Ich bin froh, dass es nicht dazu gekommen ist.“ Es dauerte lange, bis er einschlief.

Sie hatten es eilig, die Hügel zu verlassen, und um der Schnelligkeit willen reisten sie tagsüber.

„Sie sind vielleicht nicht die einzigen Männer, die hier auf Streife gehen, und manche von ihnen könnten Ausgestoßene sein, die den Namen des Königs nicht respektieren würden. Wir werden vorsichtig sein, aber wir sollten besser sehen, wohin wir gehen,“ sagte Radagast.  

Er ging mit Lash und Yarga voraus, die ihre Bögen bereit und gespannt hielten, aber Canohando blieb mit Frodo zurück.

„Kommt es dir seltsam vor, Königsfreund, mit Orks zu reisen und vor den Menschen von Gondor zu flüchten?“

Frodo grinste wehmütig. „Das ist nicht das erste Mal, dass ich vor den Menschen von Gondor geflüchtet bin. Ich denke, die Ents würden sagen, sie sind ein hastiges Volk.“

Der Ork runzelte die Stirn. „Ents? Was weißt du von Ents, Kümmerling? Der alte Mann hat nichts über sie gesagt, als er deine Geschichte erzählte.“

„In meiner Geschichte kommen sie nicht vor. Zwei von meinen Gefährten sind Ents begegnet, als sie Orks entkamen, die dabei waren, sie nach Isengard zu verschleppen. Alles, was ich über die Baumhirten weiß, haben sie mir erzählt.“

„Deine Gefährten sind auch den Orks entkommen? Waren sie von gleicher Art wie du?“

„Hobbits, ja. Wir sind Hobbits.“

„Und drei – nein, vier, du hattest einen Freund im Turm, nicht? Vier von euch kleinen Dingern, hilflos wie die Karnickel, und ihr entkommt kampfgestählten Orks.“ Er schüttelte den Kopf. „Und die anderen gingen zu den Ents, sagst du? Und überlebten, um es zu erzählen?“

„Überlebten und wurden von Enttränken groß. Fast so groß wie du, Canohando, wenn auch nicht so kräftig.“

„Und du – du hast das Messer des Hexenkönigs überlebt, und den Biss der Spinne, und du hast im Maul des Berges gestanden, als der Feuer spuckte. Du bist schwer zu töten, Kümmerling. Ich frage mich, ob ich es fertigbrächte.“

Ohne Vorwarnung warf er Frodo einen Arm um den Hals und zerrte den Hobbit an sich heran. Fast mit derselben Bewegung holte er ein Messer mit einer grausamen, krummen Klinge heraus und presste es gegen Frodos Bauch. Frodo hing fast erstickt im Griff des Orks, gelähmt von diesem plötzlichen Angriff, und eine lange Minute kroch dahin.

„Ich könnte dich töten, Kümmerling. Ich könnte dich ausnehmen wie einen Fisch.“

Er ließ den Hobbit fallen und stieß ihn weg; er stolperte und wäre fast gefallen. Frodo erlangte sein Gleichgewicht zurück und blieb einen Augenblick stehen. Er massierte seine Kehle und machte tiefe, gnädige Atemzüge. Endlich schluckte er ein ein paar Mal und strich seine Kleidung glatt, bevor er sich umdrehte und den Ork ansah.

„Was ist das mit dir, Königsfreund? Ich könnte dich in einem Herzschlag umbringen, aber – ich will es nicht.“

„Wieso solltest du das wollen?“ Frodo zitterte unwillkürlich; obwohl es warm war, zog er den Mantel eng um sich zusammen.

Canohando schaute verwirrt drein. „Du bist ein Feind. Es ist dein Werk, dass Mordor von Orks verwaist ist, und dass der König es für sich beansprucht. Deine Gefährten sind zu den Ents gegangen und haben zu essen bekommen – ich würde nicht eine Nacht in Fangorn überleben, wenn ich hineinginge. Aber du hast mich Freund genannt, obwohl ich zweifle, dass du töten würdest für mich – und du hast mein Leben vor den Menschen von Gondor gerettet, ohne zu töten.“

„Ich töte nicht gerne,“ gab Frodo zu.

„Hast du es jemals getan?“

Frodo nickte. Es hatte einen Ork gegeben – oder vielleicht zwei – in Moria. Sméagol hatte er nicht getötet! Sméagol war gefallen, von seiner Gier nach dem Ring überwältigt…

„Ich möchte nicht töten,“ sagte er.

Der Ork streckte die Hand aus und berührte ihn am Hals. „Das gibt einen blauen Fleck,“ sagte er und seufzte. „Ich möchte dich nicht töten, kleiner Kümmerling – aber ich bin froh, zu wissen, dass ich es könnte.“

Sie setzten schweigend ihren Weg fort, bis sie Radagast und die anderen eingeholt hatten.


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