Wolfsmond
von Cúthalion


Kapitel Drei
Die Medaille

Das Schicksal gönnte ihm eine Atempause; der nächste Besucher war nicht Ruta Lupin, die eine erste Schachlektion von ihm erwartete, sondern ein anderes Mitglied der Familie.

An einem kühlen Morgen schaute Stephen Seeker kurz nach dem Frühstück aus dem Küchenfenster und entdeckte Teddy Lupin, der neben einem der Beete kauerte. Er schaute auf etwas hinunter, das Seeker nicht sehen konnte. Aus Omas Schutzhaft entwischt, die kleine Nervensäge, dachte er und zog ein Gesicht; er schnappte sich die Jacke, die über der Stuhllehne hing und machte sich auf den Weg hinaus in den Garten.

Sein Schatten fiel über den Jungen.

„Was glaubst du, würde deine Tante wohl sagen, wenn sie wüsste, dass du hier bist?“ fragte er milde.

Teddy blickte blinzelnd zu dem hochgewachsenen Mann auf.

„Sie würde mir Hausarrest verpassen,“ erwiderte er fröhlich, „oder mich ohne Abendessen ins Bett schicken.“

„Keines von beidem scheint bedrohlich genug zu sein, um dich an der Leine zu halten,“ sagte Seeker trocken. „Und nachdem du dich schon in meinen Garten geschlichen hast, ohne mich um Erlaubnis zu bitten, würdest du mir dann wenigstens sagen, was du da machst?“

Teddy hatte soviel Anstand, zu erröten; er wich zurück und brachte ein kleines Häufchen getrocknetes Gras und dünne Zweige zum Vorschein, die er auf dem Boden neben der Steineinfassung des Beetes aufgetürmt hatte. Er machte eine kleine Geste mit der rechten Hand, und plötzlich schossen rote Funken durch Gras und Holz und eine kleine Flamme flackerte auf der Spitze des Häufchens. Jede Verlegenheit verschwand aus dem Gesicht des Jungen wie Tau in der Sonne, als ein dünner, blauer Rauchfaden sich in die windstille Luft kräuselte.

„Gran Dromeda hat mir verboten, dass ich das zu Hause mache... ich hab mal die Vorhänge in ihrem Wohnzimmer in Brand gesetzt. — Aber das war bloß ein Unfall!“ fügte er hastig hinzu.

„Ich verstehe,“ bemerkte Stephen Seeker und verbarg sein Erstaunen hinter einem ruhigen, unbewegten Gesicht. Ohne Zauberstab spontanes Feuer zu entfachen, das war eine ziemlich ungewöhnliche Fähigkeit für ein Zaubererkind. „Du kannst nicht erwarten, dass deine Großmutter allzu begeistert ist, wenn du versuchst, ihr Haus nieder zu brennen.“

„Tante Ruta hat Recht,“ sagte Teddy mit einem mutwilligen Grinsen. „Sie sind komisch. Sie sagt, Sie bringen sie zum Lachen.“

„Oh?“ Seeker war mehr als nur ein wenig verblüfft – und umso mehr, als er feststellte, dass das haselnussbraune Haar des Jungen sich plötzlich zu einem heiteren Fliederton verfärbt hatte. Ein Brandstifter und noch dazu der Sohn eines Werwolfes und eines Metamorphmagus – eine interessante Mischung von Blutlinien, aber wirklich.

„Du kommst besser mit hinein, ehe meine Muggelnachbarn anfangen, über den Zaun schauen und sich über deine Haarfarbe zu wundern.“ Teddy hob seine Augen von dem glosenden, kleinen Scheiterhaufen vor sich und wurde frontal von einem Blick getroffen, der einst Dutzende von Schülern dazu bewogen hatte, sich zu ducken und zu erstarren wie verängstigte Kaninchen. „Und wenn ich du wäre. Master Lupin, dann würde ich nicht versuchen, Feuer zu machen, so lange du dich in meinem Haus befindest.“

Teddy stand auf, trat die kleinen Flammen aus und folgte seinem Gastgeber in das Cottage, jeder Zoll die pure Verkörperung von kindlicher Unschuld und Demut.

*****

Stephen Seeker musste den Staub von Verblüffende Verkörperungen faszinierender Fähigkeiten blasen, bevor er „Brandstifter“ nachschlagen konnte. Natürlich stand es auf dem untersten Regal in seinem Studierzimmer, und wahrscheinlich konnte er noch froh sein, dass er überhaupt eine Ausgabe davon besaß; es handelte sich immerhin um ein Standardwerk. Er blätterte sich bis zur entsprechenden Stelle durch. Feuer zu entzünden war eine Fähigkeit, die er bei „seinen“ Schülern selten angetroffen hatte, aber er war glücklicherweise mehr als einmal dabei gewesen, als es darum ging, dieses Problem zu lösen. Die Hauptsache war, dem Kind eine Möglichkeit zu geben, mit unerwarteten Folgen klar zu kommen, und er brauchte ein paar Minuten, sich einen Gegenstand einfallen zu lassen, den Teddy zum Löschen verwenden konnte, falls seine gefährliche, kleine Gabe ihn in Schwierigkeiten brachte. Ein Taschentuch würde helfen – mit einer dauerhaften Variante des Aguamenti-Zaubers, der genügend Wasser aus dem dünnen Stoff produzierte, um auch mit einem brennenden Sofa fertig zu werden… selbstverständlich nur, falls der Junge ein Taschentuch besaß.

Er ließ das Buch auf seinem Schreibtisch liegen und ging, um nach seinem ungeladenen Gast zu sehen. Teddy saß noch immer auf dem Polstersessel im Wohnzimmer und war eingehend in das großartig illustrierte Buch über Drachen vertieft, das Seeker ihm gegeben hatte, um ihn zu beschäftigen.

„Hast du ein Taschentuch?“ fragte er.

Teddy fummelte in seiner Hosentasche herum und brachte ein makellos weißes Stück Stoff zum Vorschein. „Gran Dromeda sagt, man sollte immer ein Taschentuch bei sich haben,“ sagte er mit kindlicher Wichtigkeit.

Seeker pflückte es dem Jungen aus den Fingern. „Bleib hier,“ sagte er, sein Ton überaus Respekt einflößend. „Und du fasst nichts an!“

Teddy zog den Kopf ein und rutschte ein wenig unruhig hin und her. „Aber ich wollte doch zum Bäcker,“ protestierte er schwach. „Ich hab Hunger.“

Seeker lächelte in sich hinein. Es gab nichts Besseres als Essen, um ein Kind davon abzulenken, dass es etwas anstellte. „Bleib hier,“ wiederholte er etwas weniger streng, „dann lasse ich dir einen Imbiss hereinbringen.“

Winky stand vor der Spüle und dirigierte ein großes Stück Stahlwolle in eifrig schrubbenden Kreisen am Boden eines Topfes entlang, der gebackene Bohnen enthalten hatte.

„Winky, wir haben einen Gast.“

Ihre tennisballgroßen Augen wurden noch größer, und sie schluckte nervös.

„Einen Gast? Der Meister hat jemanden in sein Haus eingeladen?“ quiekte sie. „Aber das ist gefährlich!“

„Er hat sich selbst eingeladen,“ gab Seeker zurück, „und im Augenblick ist er kaum gefährlicher als ein tapsiger Welpe – bloß ein wenig ermüdend. Deine Erfahrungen aus Hogwarts sollten dir helfen, ihn anständig zu füttern.“ Er wandte sich mit einem schwachen Echo seiner früheren Arroganz ab, obwohl seine Lippen zuckten. Und möge ich am anderen Ende der Welt sein, wenn er einmal in seine Pfoten hinein gewachsen ist.

Bis er ins Wohnzimmer zurück kam, hatte Winky ihren häuslichen Zauber bereits gewirkt, und Teddy hatte sich scheinbar schon halbwegs durch einen Riesenteller mit überzuckertem Blätterteiggebäck gearbeitet. Der Duft nach heißer Schokolade kam aus einer Tasse, die neben ihm auf dem Tisch stand. Seine Haarfarbe war zu ihrer vernünftigen Haselnuss-Tönung zurückgekehrt, und beim Anblick seines Gastgebers erinnerte er sich plötzlich an seine Manieren.

„Danke fön!“ brachte er um einen Mund voll knusprigem Teig, Nussfüllung und Zuckerguss heraus. „Fmeckt fehr gug!“

„Mach den Mund leer,“ sagte Seeker liebenswürdig, „und stopf dich nicht bis zum Kragen damit voll. Ich möchte nicht für deinen verdorbenen Magen zur Verantwortung gezogen werden. – Und sobald du damit fertig bist, begleite ich dich nach Hause.“

Teddy schluckte.

„Ich kann alleine heimgehen!“ sagte er gekränkt, wischte sich den Mund mit dem Ärmel und wechselte hastig zu einer Serviette, als er den Blick von Seeker bemerkte. „Kann ich jetzt mein Taschentuch wiederhaben?“

Seeker holte das verzauberte Taschentuch heraus und zeigte Teddy, wie man es im Notfall benutzte. Er war aus der Übung – oder vielleicht taten sich Achtjährige noch etwas schwerer als ältere Kinder. Trotzdem hatte Teddy nach ein paar Minuten den Dreh heraus, wie man das Tuch richtig auswringen musste und brachte einen wahren Wasserschwall zustande. Der Junge war tief beeindruckt und ehrlich dankbar; er verstaute das nützliche Geschenk voller Ehrfurcht. „Jetzt verbrenne ich mir endlich nicht mehr die Sandalen!“

„Was eine eindeutige Verbesserung sein dürfte,“ bemerkte Seeker trocken.

„Bitte, Sir - glauben Sie, ich könnte Ihren Hauself mal kennen lernen? Onkel Harry hat einen. Er heißt Kreacher, und er ist schrecklich alt, aber er ist der einzige, den ich je gesehen hab. Onkel Harrys Frau heißt Ginny, und sie haben ein ganz neues Baby, einen kleinen Jungen. Wie heißt denn Ihr Elf?“

Seeker blinzelte angesichts dieses Wortschwalls aus Fragen und Informationen. Er war ganz eindeutig aus der Übung.

„Ihr Name ist Winky,“ meinte er endlich. „Du darfst in die Küche gehen und meine Hauselfe kennen lernen, wenn du möchtest – aber du benimmst dich besser, sie ist schüchtern und hat ein wenig Angst vor Fremden. Und sobald du das getan hast, solltest du nach Hause gehen, bevor deine Großmutter anfängt, sich Sorgen zu machen.“

Teddy nickte begeistert und zeigte ein ziemlich einnehmendes Lächeln. „Natürlich. Und ich erschrecke Ihre Elfe ganz bestimmt nicht, ich versprech’s.“

Seeker verbeugte sich kurz und formvollendet. „Ich bin sicher, sie wird für deine Rücksichtnahme unendlich dankbar sein. Winky?“

Ein runder Kopf mit Flatterohren und lampenhellen Augen kam in Sicht. Winky starrte den Jungen an, der vor seinem halbleeren Teller saß und Teddy starrte volkommen fasziniert zurück.

„Hallo,“ sagte er scheu. „Ich bin Teddy – und danke für den Kuchen und den Kakao. Das war sehr nett von dir.“

Der misstrauische Ausdruck auf Winkys Gesicht schwand sichtbar dahin.

„Möchte der junge Herr vielleicht einen Apfelsaft?“ fragte sie.

„Klar!“ Teddy hüpfte von seinem Stuhl herunter und folgte ihr in die Küche, wobei er glücklich über seine Lieblings-Süßigkeiten plauderte. Winky, die berechtigterweise stolz auf ihre Backkunst war, gab ihm noch mehr Leckereien, die er sich in die Taschen stopfen konnte, aber sobald sein Saft getrunken war, winkte der Junge der Hauselfe zu und lächelte seinen Gastgeber noch einmal strahlend an, bevor er zur Tür hinaus schoss, um jede mögliche Eskorte zu vermeiden. Stephen Seeker schüttelte den Kopf, aber die Sache machte ihm nicht wirklich Kummer. In einem so kleinen Dorf würde der Junge den Heimweg mühelos auch ohne Hilfe finden. Er sah, wie Teddy den Kiesweg hinunter und durch das Gartentor rannte, und durch das halb geöffnete Fenster konnte er ihn pfeifen hören.

Nachdem er solcherart seinen Besucher losgeworden war, kehrte Stephen Seeker in sein Studierzimmer zurück und las den Brief, den er geschrieben hatte, ein letztes Mal gründlich durch; er war an die einzige Person adressiert, die seine frühere Identität kannte, und die vor acht Jahren eine unschätzbare Hilfe gewesen war, als er sein Geld und die wenigen, persönlichen Dinge brauchte, die er behalten wollte. Er zog die Decke von dem Käfig, in dem ein brauner Waldkauz schlummerte. Der Kauz öffnete ein gelbes Auge und fiepte schläfrig, als er ihn herausholte und den Brief an seinem Bein befestigte. Seeker öffnete das Fenster und schaute zu, wie er davon flatterte und hinter dem kleinen Eichenwäldchen verschwand, das an das Gartenstück hinter seinem Cottage grenzte.

An diesem Abend übernahm Ruta die Aufgabe, Teddy Lupin aus der Badewanne und ins Bett zu locken, während Andromeda Tonks ein paar hilfreiche Zaubersprüche in die Richtung von Töpfen, Tellern und Besteck sprach und die Reste ihres Abendessens wegräumte.

Um die Wahrheit zu sagen, Ruta genoss das Geplänkel mit Remus’ Sohn, das Andromeda so erschöpfend fand; Teddy wusste sehr gut, dass die Freiheiten, die er sich mit seiner Großmutter herausnehmen konnte, ziemlich unmöglich waren, wenn es sich um seine Tante handelte. Anders als die alte Frau würde Ruta nicht zögern, ihn aus der Wanne zu hieven und ihn unter die Bettdecke zu manövrieren, und all das mit nicht mehr als einem kurzen Schlenker ihres Zauberstabes, wenn sie das Spiel satt bekam. Und Teddy war alt genug, es höchst peinlich zu finden, durch die Gegend bugsiert zu werden wie ein Kartoffelsack.

Also saß er nach einer mehr als vernünftigen Spanne Zeit auf der Patchwork-Steppdecke seines Bettes, in einem kuscheligen Bademantel gehüllt, wartete darauf, dass ihm seine Tante einen neuen Schlafanzug reichte und spielte mit einem Taschentuch herum.

„Heute hab ich deinen Freund besucht,“ erzählte er ihr.

„Meinen Freund?“ Ruta drehte sich stirnrunzelnd zu ihm um. “Wen meinst du… oh. Sprichst du von Mr. Seeker?“

„Ja,“ sagte er mit allen Anzeichen von Stolz, während er das Taschentuch sorgsam unter seinem Kopfkissen verstaute. „Und er war nicht mal sauer, als ich in seinem Garten Feuer gemacht hab.“

Teddy!“ Ruta warf ihm einen bunt gestreiften Pyjama zu. “Das hast du nicht getan!”

„Er war nicht sauer auf mich!“ wiederholte Teddy. „Und er hat mich in sein Haus eingeladen und ich hab seine Hauselfe kennen gelernt, und sie hat mir Kuchen und Kakao gegeben!“

„Du…“ Ruta schüttelte den Kopf. “Meine Güte, Teddy! Du kannst dich doch nicht jemandem auf diese Art aufdrängen!”

Sie brauchte ihre ganze Selbstbeherrschung und Geduld, um die Bestürzung, die sie empfand, aus ihrer Stimme zu verbannen. In all diesen Wochen, seit sie den neuen Bewohner des Cottages am Ende der Straße kennen gelernt hatte, hatte sie sich nie weiter vor gewagt als bis zum Gehsteig vor seinem Zaun. Sie wusste, dass er sich in ihrer Gegenwart mehr und mehr entspannte, und dass er sich manchmal sogar auf ihre regelmäßigen, zwanglosen Nachmittagstreffen zu freuen schien. Aber er war noch immer äußerst wachsam; Ruta war leicht entsetzt und gleichzeitig ehrlich verblüfft, dass jemand, der so menschenscheu war wie dieser komplizierte, geheimnisvolle Mann, tatsächlich Teddys unverschämtem Charme erlegen war.

Sie las das T-Shirt und die Hosen ihres Neffen vom Fußboden auf und durchsuchte automatisch die Taschen nach den Überbleibseln eines Jungentages… Blätter und aufgerollte Bindfäden, aber auch scheußliche Überraschungen wie tote Frösche und Regenwürmer. Aha. Dieses Mal war es nur eine Münze. Sie zog die Finger zurück und schaute auf den kleinen Gegenstand in ihrer Handfläche.

Es war keine Münze. Es war eine Art Medaille, geformt wie ein Achteck. Ein Edelstein war genau in die Mitte eingesetzt; er glühte im Licht des Kerzenhalters wie ein Blutstropfen. Das Ding erinnerte sie an irgendetwas – aber an was?

„Teddy? Wo hast du das hier gefunden?“

Schweigen.

Teddy?”

Sie hob den Kopf und ihre Augen begegneten sich; er erwiderte den Blick mit einem Ausdruck ahnungsloser Unschuld, durch den sie sich nicht eine Sekunde lang täuschen ließ. Sie ging zum Bett hinüber und setzte sich neben ihn; er hatte sich abgewandt und starrte auf die Decke hinunter, den Rücken eigenartig steif.

„Noch einmal, Teddy: wo hast du das gefunden?“

Als er sprach, war seine Stimme sehr leise. „In einer Schublade.“

„Wo? In Mr. Seekers Haus?”

„N… nein. Ich meine… ja.”

Ruta räusperte sich.

„Hast du ihn zuerst um Erlaubnis gebeten?“

„N… nein.“

„Hat er dich dazu eingeladen, seine Besitztümer zu durchforsten?”

„Nein.“ Zum ersten Mal sah er sie wieder an und wurde rot. „Er hat gesagt… er sagte, sie wären privat.“

„Aha.“ Sie war überrascht über die Heftigkeit ihres Zorns. Dummer, ungehorsamer Bengel. Als sie fortfuhr, schwang in ihrer Stimme ein mehr als spürbarer Hauch von Frost. „Schauen wir mal, ob ich das richtig zusammenfassen kann. Erst stürmst du den Garten eines vollkommen Fremden und spielst Klingelmännchen, was ich extrem kindisch finde. Du entschuldigst dich und versprichst, es nie wieder zu tun. Drei Wochen später kommst du wieder und versuchst, seinen Garten in Brand zu setzen.“

„Ich hab doch gar nicht…“

„Theodore Remus Lupin, ich bin noch nicht fertig! Aus irgendeinem Grund, den ich nicht begreifen kann, ignoriert er deine Unverschämtheit und belohnt dich sogar noch mit deiner Lieblingsleckerei. Er ist unvorsichtig genug, dir Zutritt zu seinem Haus zu gewähren und dir etwas zu Essen zu geben, und sobald er dir ein paar Minuten lang den Rücken zudreht, durchwühlst du sein Eigentum und stiehlst sogar noch etwas?“

Teddy ließ den Kopf hängen. Sie stand vom Bett auf und schaute auf ihn hinunter; sie war zur gleichen Zeit traurig und fassungslos.

„Mir fehlen die Worte, dir zu sagen, wie schrecklich enttäuscht ich bin. Du wirst dieses Haus für wenigstens zwei Wochen nicht verlassen. Morgen wirst du Mr. Seeker einen Brief schreiben und dich entschuldigen. Und denk nicht einmal daran, wieder dort hinzugehen; wenn man deine merkwürdige Vorstellung von Ehrlichkeit bedenkt, wäre das ganz und gar keine gute Idee!“

Ruta wirbelte herum und ignorierte entschlossen den kurzen, inkonsequenten Stich der Schuld beim Anblick seines elenden, kleinen Gesichtes; sie blies die Kerzen aus, verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

*****

Sie würde sie natürlich zurückbringen müssen… so bald wie möglich.

Ruta saß in ihrem eigenen Wohnzimmer; die Medaille lag vor ihr auf dem Tisch. Langsam zog sie den Umriss mit einer Fingerspitze nach und versuchte noch immer, herauszufinden, wo um Himmels willen sie etwas wie das hier schon einmal gesehen hatte. Es war schwer genug, um aus Gold zu sein, und der Edelstein hatte die auserlesene, himbeergetönte Farbe eines Rubins. Die Oberfläche war mit einem verwickelten Muster aus Linien überzogen – keltisch, vielleicht.

Ein Familienerbstück? Eine Art ehrenvoller Auszeichnung für tapfere, lang vergangene Taten?

Aber in dem Fall, dass dies eine Auszeichnung war, musste es doch sicher irgendeine Art Inschrift geben – und da war keine. Und nebenbei – das war mitnichten ihre Angelegenheit. Die Medaille gehörte einem Mann, der zweifellos überhaupt nicht erfreut sein würde, wenn er von Teddys Diebstahl und ihrer Neugier erfuhr.

Ihr wissbegieriger Ravenclaw-Geist und ihre natürliche Zurückhaltung trugen einen heftigen Kampf in ihrem Herzen aus. Sie wusste, dass sie ihm diesen Gegenstand zurückbringen musste, möglichst ungesehen, möglichst unerforscht… aber gleichzeitig verspürte sie die wachsende Gewissheit, dass sie endlich den Schlüssel zu einem wichtigen Teil des Rätsels, das Stephen Seeker war, in den Händen hielt.

Ruta seufzte und rieb sich die Stirn.

Sie war kein Stück besser als Teddy.

Besiegt öffnete sie die Schublade an der Vorderseite des Tisches und zog ihren Zauberstab heraus. Sie zielte damit auf die Medaille und dachte angestrengt nach. Vielleicht…

Veritas Revelio!”

Nichts geschah. Der Rubin erwiderte ihren schuldbewussten, frustrierten Blick wie ein spöttisches, rotes Auge.

Zwei Möglichkeiten waren noch übrig; entweder war dieses Ding nichts anderes, als was es zu sein schien… ein schönes Schmuckstück. Oder ihr Lösezauber war nicht stark genug. Und wenn das der Fall war, dann hatte Stephen Seeker sich wirklich Mühe gegeben, dieses Ding gegen unwillkommene Augen zu schützen.

Wieder deutete sie auf die Medaille, nahm an Macht zusammen, was sie besaß und konzentrierte sich mit aller Kraft.

Finite Incantatem!”

Dieses Mal passierte etwas. Das Muster aus Linien begann zu fließen, und regelmäßige Wellen aus Gold verbreiteten sich kräuselnd über die Oberfläche, als hätte sie einen Kiesel in einen Teich geworfen. Der Rubin funkelte und schien sich von der Medaille aus in die Luft zu erheben, und dann, ganz plötzlich, war er verschwunden und die Linien ließen sich zu ihrer endgültigen Anordnung nieder.

Sie schaute auf die Medaille hinunter und hielt den Atem an. Sie war nicht aus Gold gemacht, sondern aus Messing, und jetzt wusste sie, wo sie etwas wie dies hier schon einmal gesehen hatte.

Es war ein Orden des Merlin. Der Orden des Merlin Erster Klasse war Remus posthum verliehen worden… gerade noch rechtzeitig, um ihn damit zu beerdigen. Sie erinnerte sich an den bitteren Morgen, als sie an seinem offenen Grab gestanden hatte, einen Arm um die zitternde Gestalt von Andromeda Tonks gelegt, gezwungen, die beiden Särge mit den gefallenen Liebenden zu betrachten. Sie erinnerte sich daran, was sie gedacht hatte: Ein Orden… was für eine armselige Entschädigung für verlorene Leben und verlorene Chancen.

Ihre Finger drehten die Medaille um. Und endlich konnte die sie eingravierten Worte auf der Rückseite lesen. Im nächsten Moment flog eine Hand an ihren Mund und sie saß da und starrte die schön geformten Buchstaben an, betäubt vor Schreck.

Für einen heimlichen, selbstlosen Kampf, für unbeirrte Treue und ein überaus nobles Opfer
Severus Snape (1960 – 1998)


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