Winterfeuer
von Cúthalion

Epilog 2:
Ein Traum vom Frühling

(nachträglich geschrieben auf speziellen Wunsch von jodancingtree, meiner Freundin und meinem großartigen Beta)


Dezember 2003, kurz vor Weihnachten

Gestern ist zum ersten Mal Schnee gefallen; die Reifen der Autos, die vor dem Hospiz vorbeifahren, klingen gedämpft, und als der Mönch die Treppe zur Mansarde hinaufsteigt, hört er das gleichmäßige Kratzen der Schneeschaufel des Hausmeisters auf dem vereisten Gehsteig.

Er zieht den Schlüssel zu Sabrina Steinenbergs ehemaliger Wohnung aus der Tasche seiner Kutte und schließt auf. Die Räume sind gut gelüftet und es wird regelmäßig Staub gewischt; es scheint, als sei die Bewohnerin nur kurz verreist.

Er knipst die Leselampe im Wohnzimmer an und lässt sich Sabrina’s Ohrensessel nieder; es ist eines der wenigen Erbstücke, die sie aus ihrem Elternhaus mitgebracht hat. Sie hat ihm einmal erzählt, dass ihre Mutter immer in diesem Sessel saß, wenn sie ihr abends Märchen vorlas. Er hat es der jungen Frau nie gesagt, aber er hat sie unendlich dafür bewundert, dass sie imstande war, ihre Vergangenheit loszulassen und ihr Leben so radikal zu verändern. Er hat sie damals sehr genau beobachtet, um sicherzugehen, dass sie imstande war, den völligen Wechsel ihrer Lebensumstände zu verkraften... aber alles was er gesehen hat, war ein Mensch, der leichten Herzens hinter sich ließ, was ihm zur Last geworden war, und der sich aus ganzen Herzen einer neuen Aufgabe verschrieb, ohne zurückzuschauen.

Sabrina.

So viel Mut und soviel Schmerz.

Kurz bevor sie verschwand, hat sie sich noch einmal verändert. Er hat immer ihre Sehnsucht nach dieser fremden Welt gespürt, die er nur aus Tolkien’s Büchern und aus ihren leidenschaftlichen Erzählungen kennt. Er hat immer gewusst, dass sie dorthin zurückwollte, und er hat in den zwei Jahren ihrer Freundschaft voller Mitgefühl beobachtet, wie sie unter Qualen darum rang, zu akzeptieren, dass dies wohl nicht möglich war.

Aber vor diesem schicksalhaften zweiten Abendspaziergang hat er ein neues Licht in ihren Augen gesehen... als hätte sie etwas erfahren, das ihre Meinung änderte. Über Tage hinweg umgab sie so etwas wie ein ungläubiges Staunen, und er hat sie mehrmals in der Kapelle des Hospizes vorgefunden... ganz still, die Hände im Schoß gefaltet, die Augen weit offen, als stünde sie vor der gänzlich unerwarteten Lösung eines Rätsels. Er hat damals nicht gefragt; er war zuversichtlich, dass sie ihm zur rechten Zeit sagen würde, was sie beschäftigte, so wie sie es immer getan hatte, seit er sie mitten in der Nacht nass und verzweifelt in der Kirche fand. Aber es ist nicht mehr dazu gekommen.

An der Wand neben dem Ohrensessel hängt ein Regal; die Bücher von Tolkien stehen darin aufgereiht. Der Mönch zieht den Band mit den gesammelten Briefen heraus. Er ist relativ neu und noch nicht so oft in die Hand genommen worden wie die Trilogie, die deutliche Spuren jahrelangen Lesens zeigt. Das Buch öffnet sich von allein an einer Stelle, die durch ein Lesezeichen markiert ist.

Aus einem Brief an Mrs. Eileen Elgar, liest er. Es ist ein langer Brief aus dem Jahr 1963, und er handelt von Frodo, von seinen Entscheidungen an den Schicksalsklüften und von seinem Weg in den Westen, und es gibt gleich drei Fußnoten. In der letzten sind ein paar Sätze dünn mit Bleistift angestrichen.

Ihr Verzicht und ihr Leiden waren mit Frodos Schicksal verwandt und verknüpft. Beide waren sie Teil eines Planes zur Erneuerung der Menschen. Ihre Bitte konnte daher besonders wirksam sein, und für ihren Plan sprach eine gewisse Billigkeit des Austausches. Ohne Zweifel war Gandalf die Autorität, die ihrer Bitte stattgab.

Der Mönch lässt das Buch sinken und starrt ins Leere, die Stirn gerunzelt. Dann liest er die Stelle noch einmal; seine Lippen bewegen sich lautlos. Er lehnt sich in den Sessel zurück, das aufgeschlagene Buch im Schoß, und er sitzt lange Zeit reglos im warmen Lichtkreis der Leselampe. Der Raum ist ganz still; das einzige Geräusch ist das leise Ticken einer alten Uhr an der Wand. Der Tag ist lang und anstrengend gewesen, und er ist müde; nach einer Weile schließen sich seine Augen, und sein Atem wird tief und regelmäßig. Das Buch rutscht aus seinen Händen und landet auf dem Teppich.

Er öffnet die Augen und der Winter ist vorüber... jedenfalls an dem Ort, an dem er sich in seinem Traum befindet. Er steht am Ufer eines schnell dahinströmenden Flusses; er führt Hochwasser, und unter den Bäumen wachsen Winterling, letzte Schneeglöckchen und wilde Narzissen. Das Land um ihn her ist von jubelndem, jungen Grün und von einer überwältigenden Frische.

Der Mönch entfernt sich langsam vom Flussufer; er spürt das feuchte, hoch sprießende Gras unter seinen bloßen Füßen und das Sonnenlicht, das durch dichte, neu belaubte Zweige dringt und wohltuend sein Gesicht wärmt. Vor ihm öffnet sich eine Lichtung. Am anderen Ende dieser Lichtung steht ein Haus, das er noch nie gesehen hat, aber es ist ihm trotzdem vertraut. Jetzt weiß er, wo er ist, und er weiß auch, wer in diesem Haus lebt. Plötzlich hört er ein Rascheln hinter sich. Sein Herz schlägt rascher; er tritt zurück und seine braune Kutte verschmilzt mit dem Schatten der Bäume.

Dann sieht er sie. Ihr Haar fällt offen über ihren Rücken; sie trägt ein langes, schlichtes Gewand im blassen Grün der Frühlingsblätter, das größtenteils von einem weiten Reiseumhang verdeckt wird. Keine zehn Meter von ihm entfernt tritt sie auf die Lichtung. Als sie das Haus bemerkt, bleibt sie jäh stehen; er hört einen Schrei, leise und hoch und sofort wieder von ihren Händen unterdrückt. Sie macht wieder ein paar Schritte, zögernd und unsicher. Und dann hört er den gedämpften Klang von Hufschlägen.

Er wendet den Kopf und sieht das Pferd, das auf die Lichtung trabt. Der Reiter, der im Sattel sitzt, trägt einen kurzen, dunkelblauen Mantel, Hosen aus weichem Leder und hohe Stiefel. Vor dem Gartentor steigt er ab, klopft dem Pferd den Hals und führt es hinüber zu einem kleinen Stall auf der linken Seite. Für ein paar Minuten bleibt er verschwunden.

Der Mönch schaut zurück zu ihr. Ihr Gesicht hat alle Farbe verloren, und doch sieht es lebendiger aus als in den gesamten zwei Jahren, in denen er sie gekannt hat. Sie bewegt sich langsam quer über die Richtung auf den Stall zu, eine Hand ausgestreckt. Dann hört er, wie die Stalltür aufgestoßen wird.

Der Mann tritt ins Freie, leicht unter dem Türsturz gebeugt, dann richtet er sich auf. Langes, dunkles Haar fällt ihm in Wellen bis auf die Schultern hinunter. Er hat ein klares, schön geschnittenes Gesicht mit leuchtenden, grauen Augen, aber der Mönch, erfahren von vielen Jahren der Seelsorge, erkennt die Spuren, die ein tiefer Kummer auf der Stirn und um die Mundwinkel herum hinterlassen hat. Er weiß, wer das ist. Er hat ihn nie gesehen, aber er erinnert sich an ihre Beschreibungen, an die tiefe Liebe in ihren Augen, wenn sie von ihm sprach und an ihren Schmerz, der dem dieses Mannes glich wie ein Spiegelbild.

„Damrod...!“

Der Mann erstarrt, dann schaut er in die Richtung, aus der der halb erstickte Ruf gekommen ist und seine Augen weiten sich. Er wird so blass wie die Frau, die jetzt kaum noch drei Meter von ihm entfernt steht, die Arme ausgestreckt, das Gesicht tränenüberströmt. Dann, als löste sich ein Bann, macht er drei, vier lange Schritte vorwärts.

Sie rennt ihm entgegen, die Röcke gerafft, und vor dem Gartentor treffen sie zusammen und er fängt sie auf. Der Mönch sieht ihre Umarmung, die so aussieht, als würde sie niemals enden, und er sieht, wie der Mann ihre Wange berührt, ungläubig und zart. Dann küssen sie sich, und wieder presst der Mann die Frau an sich, als würde er sie nie wieder loslassen. Der Mönch steht im Schatten der Bäume und das Lächeln auf seinem Gesicht ist so warm wie das Sonnenlicht. Er wartet geduldig, bis sie sich nach einer Ewigkeit voneinander lösen und Hand in Hand durch das Tor und den Garten zum Haus gehen; keiner von ihnen nimmt auch nur für einen Moment den Blick vom Gesicht des anderen. Dann schließt sich die Tür hinter ihnen.

Bruder Anselm schreckt hoch. Er braucht eine Weile, bis ihm klar wird, wo er ist, dann rappelt er sich hoch, hebt das Buch auf und stellt es ins Regal zurück. Er schaltet die Leselampe aus, geht langsam durch den Raum und tritt ans Fenster. Die eisige Kälte hat es mit Eisblumen bemalt, die im Licht der Straßenlaterne glitzern, und draußen fallen große, weiche Schneeflocken. Der Mönch schaut hinaus, seufzt leise und lächelt; die Wärme in seinem Inneren ist groß genug, um den Eindruck des wunderbaren Frühlings in seinem Traum andauern zu lassen.

„Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.“* zitiert er, und die Erinnerung an das, was er gesehen hat, erfüllt ihn mit Staunen und einer tiefen Freude, ungetrübt von jeglichem Zweifel. „Deo gratias, mein liebes Mädla. Deo gratias, wirklich.“

Er verlässt die Wohnung und schließt die Tür hinter sich ab. Dann steigt er die Treppe hinunter, geht an dem Weihnachtsbaum in der Eingangshalle vorbei und streift das Bild von Sabrina mit einem lächelnden Blick. Er wiederholt leise die Worte, die er den Mann in seinem Traum hat sagen hören, als er seine Geliebte endlich an der Hand nahm und in Haus führte.

„Willkommen daheim, Noerwen.“


ENDE


*aus der Bibel (Altes Testament, Jesaja 54,10)

** „Gott sei Dank“


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