Der Wind in jener Nacht (I remember the wind that night)
von illyria-pffyffin


Ich erinnere mich, dass es regnete, als wir uns das erste Mal küssten. Ich erinnere mich an den Wind in jener Nacht, der durch das halb offene Fenster kam und den Geruch nasser Erde mit sich trug, während er neben mir lag und mich in seinen Armen hielt.

*****

Ich erinnere mich an all die Noten, die die Musik seiner Liebe ausmachten. Ich erinnere mich an all die Augenblicke, in denen er meinen Namen sagte; samtweich und schwankend, beinahe scheu, als heiseren Gesang, während unser wilder Tanz sich zu einem ekstatischen Rausch steigerte, in einem halben Schluchzen, das von fassungslosem Staunen erzählte... in einem leisen Flüstern gegen meine Haut und gemurmelt im Schlaf. Ich erinnere mich an sein schlaftrunkenes Lachen, wenn ich ihn wachkitzelte. Ich erinnere mich an unsere müßigen Gespräche im Dunkeln; er wickelte eine meiner Haarlocken um seine Finger, und ich versuchte, nicht einzuschlafen, während ich auf den gleichmäßigen Schlag seines Herzens lauschte. Einmal sang er mit leiser, raunender Stimme eine alte, langsame Ballade und ich erinnere mich, wie ich ihn danach fragte. Er sagte, das Lied würde von einem Hobbit handeln, der seine wahre Liebe fand. Nie wieder sah er so glücklich aus wie in dieser Nacht Anfang April.

Dann musste etwas geschehen sein, wovon er mir niemals erzählte. Es ging das Gerede, er würde Hobbingen verlassen, und als ich fragte, sagte er nur, es sei wahr. In diesem September ging er fort, am Tag nach seinem Geburtstag. Er erklärt niemals warum, selbst nach seiner Rückkehr.

Irgendwo entlang der grausamen Pfade, die er beschritt, hatte sich seine Musik verändert; sie war verdreht, verstümmelt, zerbrochen. Seine Stimme war die eines Fremden: höflich und sanft, doch kalt und distanziert. Ich war voller Freude, ihn heimkehren zu sehen, aber bald begriff ich, dass nicht er es war, der zurückkam, geschmückt mit glänzenden Kleidern, die aus weit entfernten Ländern weit jenseits meiner Vorstellung stammten. Gedemütigt und zuletzt auch resigniert sah ich ihn einmal mehr verschwinden, diesmal direkt vor meinen Augen. Er lebte noch immer in seinem Smial oben auf dem Hügel, aber gleichzeitig war er fort. Und dieses Mal war ich sicher, dass er nie zurückkommen würde. Wo in meiner Seele einst sein Lied erklungen war, herrschte nur noch Schweigen.

*****

Dann hörte ich eines Abends ein Klopfen an meiner Tür, und als ich sie öffnete, war er da. Ich bat ihn herein, so wie ich einen entfernten Bekannten begrüßt hätte, der zum Tee kam. Zuerst war unsere Unterhaltung steif und gezwungen, aber als er plötzlich in sehr leisem Ton fragte: „Verzeihst du mir?“, da brach der Damm, und Worte und Tränen kamen in einem Strom herausgestürzt.

Er zog sich nicht wegen etwas zurück, was ich getan hatte. Seine Fahrt hatte ihn auf eine Weise verändert, die selbst er nicht völlig begriff, und er wollte mir diesen Schrecken und diese Qual ersparen. Nein, da gab es nichts, was ich tun konnte... niemand konnte irgendetwas tun, um die Erinnerung an seine Bürde zu lindern.

„Liebst du mich noch?“ fragte ich. „Erinnerst du dich daran, wie es war, mich zu lieben?“

Er hielt meine Hand in der seinen und ich sah die Lücke zwischen seinen Fingern. Als seine Augen den meinen begegneten, waren sie weder von Scham erfüllt noch von Furcht, aber die Traurigkeit und Leere darin ließ mich frösteln. Als er mein Gesicht streichelte, lag ein schmerzerfüllter Ausdruck in seinen Augen; als versuchte er sich mit aller Kraft daran zu erinnern, wie es sich anfühlte, zu lieben und zu begehren... daran, wie es war, sich mit Herz, Seele und Leib hinzugeben. Aber ich sah, dass seine Trauer und sein Schmerz ihm dieser Erinnerung beraubt hatten, und sein Verlust riss an meinem Herzen.

Als ich ihn zu meinem Bett führte und ihn im gedämpften Licht der Kerzen auszog, wünschte ich mir nicht den Überschwang, der uns zu einem einzigen Geschöpf verschmelzen würde, aus Flammen und Hitze geschaffen. Als meine Finger eine Spur über seine nackte Haut zogen, geschah es nicht, um die Vergangenheit wiederzuerwecken, die nun tief begraben lag. Als ich ihn küsste, geschah es, um ihm zu zeigen, dass der Teil meines Herzens, der ihm gehörte, die kalten, unsicheren Monate überstanden hatte, unbeschadet und unverändert. Als ich ihn an mich zog, tat ich das, um ihm zu danken und ihn wissen zu lassen, dass es mir gut gehen würde, dass er weiterziehen konnte, dass meine Liebe andauern würde.

Er streckte die Hand aus und ließ sie sanft über meine Wange gleiten. Ich erinnerte mich daran, dass seine Berührung sich angefühlt hatte wie feurige Funken, die auf meiner Haut prickelten. Ein bloßes Streifen unserer Finger hatte mich früher mit plötzlicher, brennender Sehnsucht nach dem warmen Druck seiner Hände auf meinem Körper erfüllt... nach seinen glühenden Zärtlichkeiten, die mich in schnellem Flug zu jenem Ort gelangen ließen, wo ich in grenzenloser Helligkeit und völliger Klarheit dahinschwebte. Seine Berührung war das offene Fenster zu seinem Herzen, das mir deutlicher als der bloße Anschein die Zartheit seiner Gefühle für mich bewies... denn selbst, wenn das Begehren in ihm aufloderte, lagen seine Finger sanft auf mir, als fürchtete er, mich zu verletzen. Das wilde Feuer der Leidenschaft in seinen Augen, seiner Stimme und in seinem gesamten, wunderschönen Körper, und im Gegensatz dazu die beinahe ehrfürchtigen Berührung seiner schlanken Hände auf meiner erhitzten Haut... das war eine der Erinnerungen an die Tage „davor“, die ich hütete wie einen Schatz.

Nun erinnerten mich seine Berührungen an den Tag, als wir nebeneinander am Ufer des Flusses saßen und ich meine Zehen in die Strömung tauchte, während das Wasser an meiner Haut entlangwirbelte. Seine Berührung war beruhigend und tröstend, aber auch flüchtig, wie das schnell dahinfließende Wasser in den Bächen. Ich erkannte diese Hände nicht, die über meine Haut strichen... diese Linke, die sich kälter anfühlte als der Rest seines Körpers, diese Rechte, an der der Ringfinger fehlte. Sie schienen einem anderen Hobbit zu gehören.

Seine Berührung gab mir ein Gefühl der Einsamkeit, denn als er mich für einen Moment mit dem Handrücken liebkoste, brannte ich noch immer, aber ich sah keinen Widerschein dieser Flamme in seinen Augen. Ich sah Sehnsucht, ja.... Sehnsucht und Liebe. Aber da war auch Schmerz, Schmerz und Bedauern, kalt und grau wie Asche. Und wie ein plötzlicher Regen, der einen stickigen Sommertag beendete, machte seine Berührung der Leidenschaft ein Ende, noch bevor sie sich entzünden konnte.

Wir lagen Seite an Seite und meine Finger malten ein wehmütiges Bild auf seiner blassen Haut und zeichneten die Narben nach, wo einst meine Lippen hungrige, ungeduldige Küsse hinterließen; sie versuchten den Hobbit wiederzufinden, der mich früher mit einer einzigen Berührung in Brand gesetzt hatte. Er war nicht da; was blieb, war die zerbrochene, verkohlte Hülle des strahlenden Juwels, das er gewesen war. Und als er mich wieder berührte, schauderte ich.

Doch ich wich nicht zurück, denn ihn zu lieben bedeutete mehr als Feuer und den Flug hinein in Sonne und Mond. Ihn zu lieben war wie das Atmen, selbst wenn die Luft so kalt war, dass sie in meinen Lungen brannte und mein Herz zu Eis erstarren ließ. Ich brauchte diese Liebe noch immer, genau wie er.

Ich wusste, dass er spürte, wie sehr ich mich nach dem sehnte, was gewesen war. Er wusste, dass mein einziger Wunsch war, das er blieb. Ich wusste um seine Traurigkeit darüber, was aus ihm geworden war. Er wusste, dass ich ihn trotz allem liebte.

Es war eine lange, stille Nacht. Aber bevor die Dämmerung anbrach, sang er ein Lied in einer Sprache, die ich nicht verstand und dann fielen seine lautlosen Tränen auf das weiße Kissen. Ich beruhigte ihn und tröstete ihn, und er schlief ein in meinen Armen.

Am Morgen sagte er mir, dass er fortging. Dieses Mal wusste ich, dass ich ihn niemals wiedersehen würde. Ich machte ihm Frühstück, und als ich seinen Tee eingoss, fragte ich ihn, was das für ein Lied gewesen war, das er in der Nacht zuvor gesungen hatte.

„Das war ein Lied der Hochelben.“ erklärte er leise. „Sie sagen, dass das Meer nach Tränen schmeckt.“

*****

Ich erinnere mich an den Wind in der ersten Nacht, nachdem er uns verließ. Er brachte einen scharfen Geruch nach Tang mit sich und schwache Geräusche, die ich nicht kannte. Ich erinnere mich daran, weil ich diesen Geruch letzte Nacht wieder wahrnahm; Jahre über Jahre, nachdem er fortging. Ich legte mich schlafen mit seinem Namen auf den Lippen und ich träumte von einer riesigen Wasserfläche, nur durch den Himmel begrenzt. Ich konnte seine Stimme hören. Sein Gelächter klang nun wieder nach Sonnenschein und fröhlichen Freudenfeuern im Sommer. Als ich erwachte, schmeckte ich Salz, und ich wusste, ich hatte das Meer gesehen.

Er wartet.


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