Ein wirklich gutes Jahr (Pretty Good Year)
von Mary Borsellino, übersetzt von Cúthalion

Vorwort
1420

An den meisten Tagen wacht sie auf und liegt ganz still, während die Sonne ihre bloßen Arme liebkost und die Wärme der Quiltdecke sie noch halb in ihren Träumen hält. Frodo und Sam atmen leise, tief in Erinnerungen versunken, die für immer außerhalb von Rosies Reichweite bleiben. Ihre Wimpern flattern wie seltsam knochige Insekten, schwarz gegen die blaugrauen Schatten unter ihren Augen.
Früher oder später werden die beiden sie verlassen. Sie beißt sich auf die Lippe und kreuzt zwei Finger und wünscht sich, später möge niemals kommen; aber da ist ein Ort in ihnen – vielleicht noch deutlicher in Frodo mit seiner Stille und seinen Narben, aber ebenso sicher irgendwo in Sam – eine Wunde, die nicht heilen will. Ein ganz kleiner Raum ist es nur, eine winzige Leere.
Sie hat die Buchhaltung ihres Vaters in Ordnung gehalten, während sie noch in den Zwanzigern war und sie kann einen Saum schneller nähen als jeder Hobbit, den sie kennt. Sam seufzt manchmal und sagt, er wünschte, die Leute könnten sehen, was Frodo für sie alle getan hat. Und Rosie fragt sich, ob er sehen kann, was sie alles tut, hier und jetzt. Die Dunkelheit ist immer noch da, nach allem, was war, und sie muss immer noch bekämpft werden. Es ist nicht vorbei, bevor der Großputz getan ist, wie Sam selbst sagt, und da ist so vieles in ihnen, das gerade jetzt in Ordnung gebracht werden muss.
Rosie weiß, dass die zwei mehr als genügend Gründe haben zu gehen, und Schmerzen, die nicht einmal im Schlaf nachlassen. Aber jeden Tag sucht sie neue Gründe für sie, zu bleiben, und vielleicht sind eines Tages die Waagschalen wieder im Gleichgewicht.
Ihre Eltern mögen es nicht, dass sie nachts ihr Bett verlässt und in das Zimmer geht, wo Sam schläft. Aber Ehe ist für sie eine Frage des Versprechens, nicht des Zeitpunkts, und deshalb schelten sie sie nicht wirklich. Es passiert sowieso nichts. Sie liebt es nur, ihn in den dunklen Stunden vor der Dämmerung zu betrachten. Und Frodo und Sam haben so lange zusammen geschlafen, dass sie anscheinend vergessen haben, wie man das getrennt voneinander tut.
Zusammen schlafen. Das kann üblicherweise etwas anderes bedeuten, als wonach es klingt, aber Rosie hat nie ein Blatt vor den Mund genommen und schlafen ist alles, was in diesem Zimmer passiert. Wenn Rosie sich dicht anschmiegt und die Gerüche von Sam einatmet, dann regt er sich, ohne wach zu werden und macht ein wenig mehr Platz für sie. Er ist fast zu gut darin, Rücksicht zu üben; keine unwillkommene Arme um ihre Hüften, wenn sie erwacht, oder abhanden gekommene Decken. Manchmal schreit Frodo auf, wenn die Alpträume besonders übel sind, oder er tritt um sich, aber jenseits von diesen Augenblicken kann Rosie kaum sagen, dass sie ihr Bett überhaupt mit jemandem teilt. Selbst mit diesen beiden so dicht bei ihr ist es ein einsamer Schlaf.
Jetzt ist Sam fort; er pflanzt und baut und macht die Dinge wieder vollständig und neu. Rosie steht an der Vordertür und beobachtet das Kommen und Gehen von Karren und Leiterwagen den Weg entlang, und sie wünscht sich, er wäre hier bei ihr. Mach mich wieder vollständig und neu, Sam, möchte sie ihm sagen. Sie möchte selbstsüchtig sein, wünscht sich, dass auch er selbstsüchtig wäre. Haben sie das nicht verdient, wenigstens ein bisschen? Es scheint, als hätte sie darauf gewartet, dass ihre Lebensreise beginnt, aber es geht immer die selben alten und ausgetretenen Pfade im Kreis herum.
Wenn Sam gegangen ist, hält sich Rosie an ihr eigenes Bett, das gleiche Bett, in dem sie ihre ganze Mädchenzeit hindurch geschlafen hat, voller Träume von Ehemännern und Babys und Märchen. Frodo liegt in dem Bett, das ihr Vater für ihn hergerichtet hat. Sie macht sich Sorgen, dass er frieren könnte, aber mit Frodo ist es nicht das selbe wie mit Sam. Sam kann sie herumkommandieren, denn sie kennt ihn vorwärts und rückwärts, in- und auswendig, schon seit Jahren. Frodo jedoch ist ein anderes Geschöpf. Rosie weiß nicht einmal, an welcher Stelle sie damit anfangen soll, ihn zu enträtseln, und sie hat nicht die leiseste Ahnung, ob ihm ihre sehnsüchtige Nähe nach dem Gutenacht-Sagen etwas ausmacht.
Als Rosie ein Ei an der Schüsselkante aufschlägt, findet sie einen Blutwirbel im Dotter, und sie kann sich nicht erinnern, ob das ein böses Omen ist oder nicht. Es spielt wahrscheinlich sowieso keine Rolle. Sie setzt den Kessel zum Kochen auf und geht nachsehen, ob Frodo inzwischen aufgewacht ist. Die Tür ist angelehnt, und ihr Papa sitzt neben dem Bett. Frodos fiebrige Hände tasten nach seinen Ärmelmanschetten und nach dem Edelstein um seinen Hals.
„Er ist fort für immer,“ die Worte überstürzen sich in einem Gemurmel, geflüstert und atemlos. „Und nun ist alles dunkel und leer.“
„Ruhig jetzt,“ sagt Rosies Vater mit leicht unbehaglicher Stimme, im selben Tonfall, den er hatte, als Rosie nach Hennen und Gockeln fragte und nach neugeborenen Lämmern. „Ruh dich nur aus, Herr Frodo.“
„Ich werde nach ihm sehen, wenn du möchtest,“ Rosie macht das Angebot, bevor sie richtig begreift, dass sie spricht. Aber ach, es tut weh, Frodo so elend zu sehen. „ich habe heute morgen Zeit übrig.“
„Ich denke nicht, dass man viel nach ihm sehen muss. Er schläft mehr, als dass er wach ist.“Mit einem Achselzucken verlässt Rosies Vater seine Tochter und lässt sie Pflegerin spielen. Er hat nie wirklich gewusst, wie er mit seinem Mädchen umgehen soll, er möchte auf sie Acht geben, als sei sie noch immer ein Baby. Söhne sind eine einfache Sache, man kann sie heranziehen, wie man es mit einem Lehrjungen täte, aber Töchter erfordern alle möglichen Arten von Ritualen, die man besser dem Weibervolk überlässt.
„Frodo?“ fragt Rosie, und ihre Hand gleitet zwischen seine Finger, während sie sich niedersetzt. Der Raum ist verschlossen und abgedunkelt, aber da der Himmel draußen so grau ist, würde es wohl kaum etwas nützen, die Vorhänge zurückzuziehen.
„Sam?“ Frodos Augen sind halb geöffnet.
„Nein, ich bin’s, Rosie.“
Seine Hände zittern, der Herzschlag flattert wie ein verängstigter Vogel unter seiner Haut. Beim Klang ihres Namens scheint Frodo ein wenig aus seinem Fiebertraum aufzuwachen und gibt ein trockenes Glucksen von sich.
„Als du klein warst, hast du dich immer in die Gärten von Beutelsend geschlichen, wenn du dachtest, wir könnten dich nicht sehen. Du hast die Knospen der Rosen geklaut, wenn sie gerade erst Farbe bekamen. Bilbo fand das umwerfend.“
„Na ja, wir haben nicht halb so schöne Rosen hier in Wasserau,“ gibt Rosie zurück und umfasst Frodos klamme Finger fester, als ein neuer Krampf von Krankheit oder Schmerz ihn durchzittert und nach Luft schnappen lässt.
„Aber du hast nie gewartet, bis sie voll ausgewachsen waren; das hat Sam immer verblüfft. ,Rosen sind am schönsten, wenn sie blühen, warum kann sie nicht warten?´“ Frodo behält seinen leichten Ton bei, kann ein kleines Wimmern aber nicht zurückhalten.
„Ich bin nicht gerade von der geduldigen Sorte…“ Sie berührt Frodos Stirn und findet sie feucht und kalt. Er durchleidet Frost und Hitze zur gleichen Zeit, und es scheint kein anderes Mittel zu geben, als abzuwarten.
„Merry… Merry sagte, heimzukommen sei wie das Erwachen aus einem Traum.“ sagt Frodo und benetzt seine Lippen mit der Zunge. „Aber ich fühle mich, als würde ich geradewegs in einen hineinstürzen. Nichts… nichts fühlt sich im Moment an, als wäre es ganz echt.“
„Sprich nicht, wenn es wehtut.“
„Nein, ich möchte reden. Ich muss, das lässt es wahr werden.“ Frodo zwingt sich in eine sitzende Stellung gegen das Kissenpolster in seinem Rücken und rutscht zur Seite, um Platz zu machen, damit Rosie mit gekreuzten Beinen auf der Matratze sitzen kann. „Warum hat sich dein Vater nicht den anderen angeschlossen? Fast alle Hobbits mit ein bisschen Geld haben es getan.“
„Er ist aus einem guten Stall.“ meint Rosie schließlich. Sie hat nie zuvor darüber nachgedacht. „Sie hätten ihn vielleicht reicher gemacht, aber… geendet wäre er ärmer, falls das irgendeinen Sinn macht.“
„Jedermann hat seinen Preis.“ sagt Frodo, aber Rosie nimmt es ihm nicht übel. Sie weiß, dass er nicht mehr von ihrem Vater spricht. „Seinen wunden Punkt.“ Frodo klingt völlig verloren.
„Ich wünschte, ich könnte verstehen, was du und Sam durchgemacht haben.“ gibt Rosie zu. „Aber ich kann nicht. Es ist so unwirklich wie fliegende Ferkel oder kalt brennendes Feuer.“
„Das verlangt auch niemand von dir. Streicher – ich sollte ihn König Elessar nennen, nehme ich an, aber in meinem Kopf ist er immer noch Streicher – er hat Jahre seines Lebens damit verbracht, das Auenland zu schützen, und zwar mit der Absicht, dass die Hobbits nie von der Mühe wissen sollten, die er sich ihretwegen gemacht hat. Verstehst du?“
„Du bist ein Hobbit und du weißt es.“
Frodo schenkt ihr ein kleines, dünnes Lächeln, aber es ist mehr eine Grimasse und ihr wird klar, wie qualvoll die Schmerzen für ihn sind. Es dauert eine Weile, bis er wieder ruhig sprechen kann, und Rosie versucht sich zu erinnern, ob es im Auenland je eine Krankheit gegeben hat, die ihr den Weg zu einem Heilmittel weisen kann.
„Vielleicht wirst du eines Tages die weiße Stadt sehen und ihren Herrscher treffen.“ sagt Frodo. Rosie rümpft die Nase.
„Kann sein. Ich würde gern andere Länder sehen, aber es gibt größere Dinge als Könige. In Märchen sind sie immer die, denen man die Köpfe abschlägt und denen man die Schlösser zerstört.“
Frodo lacht ein bisschen, und der Klang macht Rosie das Herz etwas leichter.
„Du würdest eine gute Prinzessin abgeben, Rosie.“ sagt er, und sie lächelt höflich, obwohl sie seine Meinung nicht teilt.
„Denkst du nicht, du könntest ein bisschen essen? Es gibt Fleischbrühe, wenn du nichts Stärkeres verträgst.“
„Nein, ich glaube kaum.“
„Bitte…“ Sie will eigentlich nicht drängeln. Aber er ist so zerbrechlich, und das ist doppelt traurig anzuschauen, wenn man bedenkt, wie gesund und strahlend er einmal ausgesehen hat. Es ist, als seien all die zurückgehaltenen Jahre gleichzeitig auf ihn niedergefallen.
Frodo nickt, und Rosie geht, um etwas zu holen, das ihn wärmt und sättigt.
Das Schlimmste von allem ist, denkt sie, während sie nach einem sauberen Löffel fahndet, das Schlimmste ist, das sie in zwei Richtungen gleichzeitig hin- und her gerissen wird. Sie liebt Sam, aber sie hat soviel Zeit damit verbracht, sich dieser Fahrt wegen zu sorgen, dass sich alles untrennbar in ihrem Kopf verwirrt hat, und jetzt liebt sie Frodo genauso. Und es braucht nicht mehr als zwei gute Augen, um zu sehen, dass Sam in genau demselben Zwiespalt steckt.
Obwohl der Gipfel allen Übels der ist, dass es keinen wirklichen Zwiespalt gibt, denn Frodo ist nicht…
„Spar dir den Atem, um deinen Haferbrei abzukühlen, Rosie Kattun,“ schilt sie sich selbst, obwohl sie gar nicht laut gesprochen hat. Es hat keinen Sinn, Trübsal zu blasen wie ein nasses Kätzchen. Jemand muss sich an die Arbeit machen und tun, was getan werden muss. Wenn Frodo sie irgend etwas gelehrt hat, das Hobbits normalerweise nicht wissen, dann ist es dies.
Er scheint zu dösen, als sie wieder hereinkommt; schwer zu sagen bei der Verfassung, in der er vorher war. Aber die Linien in seinem Gesicht haben sich geglättet, und er atmet ruhiger. Rosie erinnert sich an eine der Geschichten, die sie früher nachspielte, als sie heranwuchs: die Geschichte von der Prinzessin, die nicht mehr aufwachte. „Sie stach sich an einer Spindel,“ flüstert Rosie, während sie die schreckliche Narbe betrachtet, mit der Frodos Fingerknöchel jäh endet. „Und sie fiel in Schlaf und niemand vermochte sie zu erwecken.“ Es erscheint ihr schmerzhaft treffend, und ein paar heiße Tränen fallen von Rosies Wangen in die Brühe. Es ist nicht gerecht.
Aber es gibt immer einen Weg, die Dinge in Ordnung zu bringen, in den Geschichten jedenfalls. Der Soldat nimmt den Tod in seinem Sack gefangen, der jüngste Sohn besiegt den Drachen, die Schwester wahrt ihr Schweigen und verwandelt ihre Brüder aus Rabengestalt zurück.
Ein Kuss erlöst Dornröschen, wenn es gelingt, einen Weg durch die Dornen zu schlagen.
Rosie beugt sich vor und stellt die Schüssel auf den Nachttisch, wo Frodo später essen kann, falls er wunderbarerweise Hunger haben sollte. Sein Atem ist kränklich-süß und feucht, kleine Stöße aus heißer Luft. Er regt sich kaum, als sie mit ihren Lippen über die seinen streift und sich wieder aufrichtet.
„Schlaf gut, aber nicht lange. Ich werde dich bald wecken.“ sagt Rosie zu ihm und schließt die Tür hinter sich, als sie geht.

 

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